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Es wird die Geschichte erzählt des jungen Schauspielers Leon, der mit seiner ersten Hauptrolle und seinen neu gewonnenen Freunden und Kollegen die weiten Gefilde der Schauspielkunst von der ersten Probe bis zur Premiere durchlebt. Seine unbändige Spielfreude muss er vorerst in brauchbare Bahnen lenken und sich in kleineren Aufgaben beweisen. Wir erfahren, wie unser Held die Höhen und Tiefen seiner Theaterwelt meistert, wie er sich aus seinen eigenen Bedrängnissen herauswindet und seine Persönlichkeit mit der Arbeit an seinen Theaterfiguren wächst. Eine besondere Freundschaft verbindet ihn mit dem smarten Siegertyp, Schauspieler und Frauenheld Max und dem von der Straße aufgegabelten, sehr talentierten schottischen Straßenmusiker Ben. Als Regieassistent in einem Stück mit Max und Ben wird Leon Zeuge, wie sich die Leidenschaft der zu spielenden Figuren auf die Darsteller persönlich überträgt und sie eine intime Beziehung miteinander eingehen. Der erfahrene Schauspieler Max ist es dann, der Leon in der Rolle als "Don Carlos" zur Seite steht und ihn als Freund durch das Labyrinth der Theaterwelt begleitet. Unter dem Feuer verschiedener Begegnungen sowie unter der eisernen Hand seines Regisseurs Alexander Brückner wächst Leon langsam in seine Figur hinein und hat am Ende Mühe, sich selbst wiederzufinden.
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Seitenzahl: 481
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Uwe Zerbe
Leon, Don Carlos und Ich
Ein Theaterroman
Impressum
Texte: © 2024 Copyright by Uwe Zerbe
Umschlag: © 2024 Copyright by Heide Zerbe
Foto von Uwe Zerbe © Copyright by Gerlind Klemens
Verantwortlich für den Inhalt: Uwe Zerbe,
Homepage: www.uwezerbe.de
Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Inhalt
Leon und Ich
Der alte Laubbaum
Vor einem Jahr
Unter der Trauerweide
Recherchen
Freunde
Blutsbrüder
Eingeschlossen im Kellertheater
Olivia, der Paradiesvogel
Anton, der Gemüsehändler
Max und Leon als Roderich und Carlos
Henrik und Vanessa als Romeo und Julia
Konzeptionsprobe
Bei einem Bier in der Kantine
Erste Proben
Theo Körner und Leon
Im Park von Aranjuez
Außer Kontrolle
Eleonore
Im Feuer der Kritik
Die Wogen glätten sich
Die Eboli-Szene
Im Wirbel der Gefühle
Sie finden zueinander
Der Buchladen
Der Meißel in Brückners Hand
Kathedrale im Konzimmer
Party bei Vanessa
Letzte Probenwoche
Das Kostüm
Unter acht Scheinwerfern
Endproben
Tanz auf dem Vulkan
Nach der Premiere
Epilog
Dank
Quellen
Autorenprofil
In meinen Kindheitsträumen flog ich auf dem Mondschein durch die Welt, und wenn mich der Groll meines Vaters zu erdrücken drohte, besiegte ich ihn wie Lanzelot den Drachen. Den Kampf mit den Unbilden der Erwachsenen konnte ich nur in meiner Traumwelt führen und nahm mir vor, nie so zu werden wie sie.
Später, als mich die Zwänge eines unerwünschten Berufes einengten und ich nach Auswegen suchte, flog ich, von meinen Wünschen getragen, in die Arme der Theaterwelt, die der geliebten Traumwelt meiner Kindheit schon immer so nahestand. Ich wurde Schauspieler.
Nichts ist besser geeignet als das Theater, um Träume zum Leben zu erwecken. Sie sind dort so irreal und doch so wirklich, zwingen zum Nachdenken, sie erheitern oder erzürnen, verarbeiten Ungerechtigkeiten und kehren das Unterste zuoberst. Sie erzählen von verschämt verborgenen oder von verheimlichten Ereignissen, die im alltäglichen Leben verschlossen bleiben, aber auf der Bühne in aller Öffentlichkeit entlarvt und verarbeitet werden. Ernst oder heiter, jedenfalls immer dramatisch.
Der Weg in meine Vergangenheit bringt mich mehr und mehr in Bewegung. Ich versuche, aus dem Ozean meiner Erkenntnisse die vielen Erinnerungen in einer autobiografischen Geschichte zu bündeln. Ich sehe, wie Bilder meines Schaffens aus dem Nebelemporsteigen, spiele sie neu durch und entdecke dabei andereZusammenhänge, forme Charaktere nach meinem Ermessen und mache sie zu Helden, zu Deppen oder zu charakterfesten und unumstößlichen Persönlichkeiten. Daraus entwickeln sich neue Situationen. Figuren entstehen aus den Eigenschaften erlebter Personen, die ich geschätzt, geliebt oder auch verachtet habe. Sie lassen mich an ihrer Entstehung teilhaben, toben zwischen Pubertät und Midlife-Crisis, zwischen Gegenwart und Vergangenheit.
Es tauchen Orte auf, die schon meinem Gedächtnis längst entschwunden waren. Orte, die sich in meiner Fantasie jetzt neuformieren, sich zu Handlungsorten zusammenfügen, aber keinem geografisch bestimmten Ort entsprechen.
Aus diesen Erinnerungen und Beobachtungen erwächst der Protagonist meiner Geschichte, eine Figur, in der ich mich mit vielen erlebten oder ersehnten Begegnungen wiederfinde. Ich nenne ihn Leon. Er stellt sich mir in seiner offenen und unbeschwerten Art entgegen. Ein inniges, aber turbulentes Spiel beginnt zwischen seiner und meiner Welt, ein Geben und Nehmen. Mit ihm erlebe ich, was war, und sehe, was hätte sein können. Leon ermöglicht es mir, die bewegenden Begegnungen mit Freunden und Kollegen noch einmal zu erleben. Ich sehe, wie sie in seine Entwicklung zum Schauspieler eingreifen, sehe, wie er über sich hinauswächst, wie das Theater sein Leben formt. Ich erlebe die Freuden und Leiden, die Höhen und Abgründe Leons bei der Erarbeitung einer Rolle. Vor meinen Augen entsteht ein Held. Ein Held, wie auch ich es gern gewesen wäre.
Während er sich in mir immer mehr Raumverschafft, tauche ich noch einmal in die weiten Gefilde der Schauspielkunst ein und dringe mehr denn jein die Tiefe meiner Seele vor.
Ich schaue in den Spiegel und frage mich, ob ich in der Lage sein werde, meinen Figuren das zu geben, was sie benötigen, um in meinem Roman zu bestehen. Betroffen sehe ich, wie Leon in meinem Spiegelbild Gestalt annimmt und zu mir spricht: „Hoffentlich wirst du nicht bedauern, dass du mich erfunden hast.“
„Ich arbeite daran“, erwidere ich scheinbar gut gelaunt.
„Wir werden es nicht einfach miteinander haben“, sagt er voller Tatendrang.
Mir fällt nichts Besseres ein als: „Das Leben ist nun mal so.“
Er lacht, winkt mir zu und sagt: „Lass uns anfangen“, und dann verschwindet er in meinem Roman.
Seit zwei Tagen weiß Leon, dass er mit der Rolle des Carlos besetzt ist. Sein Name, Leon Brandt, strahlte ihm von der obersten Reihe der Besetzungsliste entgegen. ,Es wird Zeit‘, dachte er und lächelte glücklich in den Schaukasten, der neben der Pförtnerloge im Bühneneingangsbereich prangte. Der triste Vorraum nahm sogleich fürstliche Formen an und die Luft, die er atmete, erschien ihm viel frischer und würziger.
Heute, am späten Vormittag, verlässt er die Wohnung, zieht die Wollmütze über sein struppiges blondes Haar, legt die Kopfhörer um und wirft den Rucksack über die Schulter. Darin Smartphone, Zeichenblock, Zeichenkreide und natürlich das Rollenbuch Don Carlos, Infant von Spanien. Seine angespannten Nerven bewirken Freudensprünge. Große schauspielerische Fähigkeiten werden bei dieser Arbeit von ihm erwartet. Er braucht Ausdauer und Durchsetzungskraft. Leon ist fest entschlossen, allen zu zeigen, was in ihm steckt.
Gestern Abend ließ er in seiner WG gleich eine Flasche guten Rotweins springen. Mit Antipasti und Kerzenlicht wurde es gemütlich in der geräumigen Wohnküche der Dreier-WG am Rande des Stadtparks. Das gemeinsame Projekt von Friedrich Schillers Don Carlos verbindet sie, Maike, Frederik und Leon. Maike erarbeitet die Dramaturgie und Frederik das Bühnenbild. Beide sind nicht wesentlich älter als er. Sogleich diskutierten sie über das Stück und über Leons Rolle. Er wird also den Sohn des mächtigsten Herrschers Europas und Enkel des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation spielen. Ein leichtes Unbehagen schlich aus der Magengrube in sein Bewusstsein. Maike und Frederik sprachen darüber, dass dieser historische Carlos ein sehr kurzes Leben gehabt hatte und dieses kurze Leben ganz und gar nicht einfach gewesen war. Sie schauten sich alte Bilder an und stellten fest, dass Carlos‘ Vater und Großvater nicht gerade sympathische Erscheinungen waren. Mit ihren langen Köpfen und roten Haaren, mit den hervorquellenden Augen, dem kräftigen Unterbiss und der vorgestreckten Unterlippe des Habsburger Herrschergeschlechts hätten sie Leon schon beim bloßen Anblick in Stillschweigen versetzt. Dazu erfuhr er, dass sie obendrein noch mächtige Säbelrassler waren, von Machtstreben und Skrupellosigkeit geprägt. In SchillersStückhaben sie die Niederlande beim Wickel. Das bringt die Figuren um Don Carlos so richtig auf Trab. Da verwundert es nicht, dass Leon letzte Nacht böse Träume hatte.
Freude, aber auch Bedenken, Zweifel und Erfolgszwang geistern durch seinen Kopf, als er auf dem Weg ist, das gutbürgerliche Wohnhaus zu verlassen. Seit einem Jahr hat er hier im dritten Geschoss sein Zuhause gefunden. Das Gute an diesem Haus wurde allerdings schon von der Zeit aufgebraucht, die abgetretenen, ächzenden Treppenstufen erinnern mit jedem Schritt an das alte Bürgerliche.
Stimmengewirr hinter den Wohnungstüren begleitet ihn bis zur Haustür. Schimpfen, Stöhnen, ein Hund bellt, zwei Kinder krachen gegen die Wohnungstür. Ein in die Jahre gekommener Nachbar im 1. Stock, allein und neugierig, verwickelt ihn manchmal in ein Gespräch. Heute schaut er geräuschvoll durch den Türspion. Die drei aus der WG sind ihm suspekt, sind vom Theater, da ist Achtsamkeit geboten.
Kraftvoll stemmt Leon die Schulter gegen die eichene Haustür, hält seinen Kopf in den Wind und lässt seine spannungsgeladenen Gedanken mit dem stürmisch wirbelnden Herbstlaub davontragen. Der Sommer liegt in den letzten Zügen. Der Herbst setzt erste Zeichen, malt die Blätter der Bäume in seinen Farben und bringt Bewegung in den müden Altweibersommer. Am Rande des Hofes steht ein alter Laubbaum, der seine mächtige Krone gegen den Wind stemmt. Er hat etwas Vertrautes, weckt in Leon Erinnerungen an sein früheres Zuhause. Sein Großvater kommunizierte mit den Bäumen, redete mit ihren rauschenden und säuselnden Blättern, so als wären sie einzigartige Wesen. Mit der stattlichen Linde in der Mitte seines Gartens sprach er gern und Leon hörte ihm zu. Sie war so wie der Baum hier im Hof seines neuen Zuhauses. „Mit ihren tiefen Wurzeln kann sie den Stürmen des Lebens trotzen“, pflegte sein Großvater zu sagen und dann wünschte sich Leon ebenso tiefe, feste Wurzeln. Er muss jetzt darüber lächeln. Sein Großvater malte die Linde und er bewunderte ihn. Die groben Farbstriche, mit denen er über die Leinwand fuhr, gaben dem Stamm seine reale, ganz bestimmte und einzigartige Gestalt. „Wenn du ihm zuhören könntest, würde er dir erzählen, wie das Leben geht. Hinter dem ineinander verschlungenen Geäst verbirgt sich eine geheimnisvolle Welt aus vielen Jahrhunderten“, erklärte sein Großvater und Leon spürte, wie sich das Astwerk mit jedem Pinselstrich um seinen Körper wand. „Du musst dich mit ihm zusammentun, ein Teil von ihm werden, seine Geschichte erzählen. Wenn du das machst, wirst du auch andere mit deiner Kunst berühren.“
Leon verbrachte viel Zeit mit seinem Großvater. Er wollte ebenso sein, wollte auch so malen. Weil er ihn ständig mit Fragen nervte, schenkte ihm sein Großvater eines Tages ein Buch mit vielen Bildern über die Malerei und das Leben des Malers Claude Monet. Es steht jetzt neben den Theaterbüchern auf dem Bord über seinem Bett. Die Leidenschaft seines Großvaters für die Kunst hatte sich auf ihn übertragen. Wenn er anfangs auch nicht ganz begriff, worum es ging, nicht gleich alles einordnen konnte, brachten ihn die vertraulichen Gespräche und gemeinsamen Beobachtungen auf seinen jetzigen Weg. Und dieser Leon eilt jetzt wachen Schrittes durch den Stadtpark und möchte hier am Theater tiefe und feste Wurzeln in das Erdreich des Lebens graben. Er wird dem Carlos seine Gestalt geben, ihm seine Geschichte aufdrängen und hoffentlich die anderen damit berühren.
Dahinten, ganz am Ende des Parks, umschlossen von Baumgruppen und Gebüsch, erhebt sich ein stattliches Gebäude aus der Gründerzeit. Wie aus dem Boden gewachsen schaut es über die Baumwipfel: das Theater, sein Theater. Die Wände strahlen in lichtem Ocker, die Stuckornamente und die Einrahmungen der Fenster sind abgesetzt in hellem Beige. Steinputten schmücken den Bereich rechts und links der Fenster und des Eingangsportals. Vor einem Jahr, in den ersten Tagen seines Engagements, ging er meist zwei-, dreimal um das Haus herum, bevor er es betrat. Nicht nur aus Achtung vor dem imposanten Bau. Er konnte es einfach nicht fassen, dass er es geschafft hatte. Ein turbulentes Jahr lag jetzt hinter ihm, der Weg bis hierher war nicht einfach.
Schon bevor alles begann, war Leon in seinem Elternhaus abgestempelt als eigensinniger Querkopf. Mit seinem unangemessenen Berufswunsch rüttelte er am mühselig erschaffenen Sockel der Lebensgrundlage seines Vaters, der nicht gerade auf festem Boden stand. Vater und Bruder taten seine Offenbarung als eine seiner üblichen Fantasien ab, warfen ihm vor, er würde sich in Lebensbereiche begeben, die keiner mehr überschauen kann. Für sie entsprangen Schauspieler einer imaginären Kinowelt und waren nicht greifbar. So einer wie er könne unmöglich zu dieser Kategorie gehören. „Du wirst nie ein Schauspieler werden“, schimpften sie und waren auch gleich bereit, es zu begründen. „Richtige Schauspieler müssen von Glanz und Größe umgeben sein, müssen das R auf der Zunge rollen.“ Seitdem rollte sein Bruder, wenn sie darüber sprachen, dieses R und sah ihn dabei süffisant grinsend an. Zur verschreckten Mutter gewandt, verteidigte der Vater seine Ansichten mit den Worten: „Mit dieser brotlosen Kunst wird er der Familie konstant auf der Tasche liegen und zu einer unzumutbaren finanziellen Belastung werden.“ Sein Bruder nickte ihm hämisch grinsend zu, rang wie üblich als der Erstgeborene um die Vormachtstellung und machte abfällige Bemerkungen. Zu mehr als dem dritten Pagen von links würde er es ohnehin nicht bringen. Leons Verteidigungsversuche winkte der Vater mit der üblichen Geste ab, hieß ihn zu schweigen und sagte nur: „Kommt sowieso nichts Gescheites dabei heraus.“ Damals lag es Leon nicht, geschickt mit Worten umzugehen, schon gar nicht seinem Vater gegenüber, also ließ er das Reden und handelte. Er brach die Beziehung zu seiner Familie ab. Ein wenig litt Leon unter dem Entzug seiner familiären Bindung, aber das Studium an der Schauspielschule wie auch das Engagement am Theater brachten ihm die ersehnten Freudenschauer. Das mit der Familie würde sich schon wieder einrenken. Er nickt besorgt und schiebt die schlechten Erinnerungen beiseite. Auf dem Weg durch den Stadtpark bestimmt jetzt das Buch in seiner Tasche den Fortlauf seines Denkens. Er hat es gelesen, etwas über seine Rolle erfahren und wieder gelesen, war dann hinübergedämmert und in seinem Zimmer eingeschlafen. Im Traum erschienen ihm Schillers Figuren, verschmolzen zu einer riesigen, tobenden Wolkenmasse. Tief hängende schwarzblaue Wolken standen den schnell umhertreibenden, helleren bedrohlich gegenüber, türmten sich weit in die Atmosphäre, umhüllten ihn mit ihrem spannungsgeladenen Kampfgetümmel. Darüber sah er das Himmelsgewölbe in einem zarten, unschuldigen Blau. Ein alles überspannendes Dach, unter dessen Obhut das Leben gut behütet und geschützt sein Dasein fristet.
Jetzt schaut Leon den dahinfliegenden Wolken hinterher. Sie erinnern an den Traum, schaffen in ihm lustvolle Vergleiche mit dem Stürmen und Drängen in Schillers Drama. Dazu das Grollen, Donnern und Blitzen in der Ferne. Es klingt, als wollte sich das eine dem anderen nicht kampflos ergeben. Leon spürt, wie sich sein Carlos in ihm einzurichten beginnt.
Wer hoch hinauswill, sollte ganz unten anfangen. Das war die tiefe Überzeugung des Oberspielleiters Alexander Brückner und seines Intendanten Bernhard Hofweiler. Folglich wiesen sie Leon die Rolle eines reitenden Boten zu. Eine kurze, wenn nicht sogar winzige Rolle. Beide meinten, dass ein zurückhaltender Typ wie Leon es auf diese Weise gründlicher lernen könne, mit dem Theatergeschehen umzugehen. So erwerbe er leichter die Fähigkeit, sich in größeren Rollen zu behaupten. Auch wenn Leon die Besetzung nicht so stark fand, so hatte er jedenfalls viele starke Begegnungen, die er zu nutzen wusste. Er sammelte Erfahrungen und lernte, mit den Kollegen umzugehen. „Kleine Rollen sind undankbar“, sagten sie mitleidig, lächelten und erinnerten an ihre eigenen Anfänge. Statt dem dramaturgischen Zweck zu dienen, neigten auch sie dazu, Auftritte mit allen möglichen naturalistischen und sozialen Gesten zu füllen, wollten mit übertriebenen Darstellungen eine vermeintlich stärkere Wirkung erzeugen, letztlich mehr Aufmerksamkeit auf sich lenken. Leute, die alles richtig machen, sind dem Theaterensemble ohnehin ein Gräuel. Besonders dann, wenn sie gerade ihr erstes Engagement antreten. Leon, der erst einmal alles falsch machte, aber aufmerksam zuhören konnte und nichts Übel nahm, war hier genau richtig. Als klassischen Einstieg servierte er dem Ensemble mit großem Eifer aus der Tiefe seiner selbst den reitenden Boten in dem Stück Der zerbrochene Krug von Heinrich von Kleist. Er gab einen vom langen Ritt leicht gebeutelten Mann, bei dem man noch das Pferd zwischen den Beinen zu sehen glaubte. Er war der Bedienstete des Gerichtsrates Walther, der eben jenen beim Dorfrichter Adam zur Revision ankündigen sollte. Von Dreck besudelt, die Haut zerschunden, die Kleider zerfetzt, verkündete er aufgebracht, dass der Gerichtsrat mit samt der Kutsche im Hohlweg umgeworfen, dass die Deichsel gebrochen und der Schmied bestellt sei. Regisseur Alexander Brückner musste über Leons Bemühen schmunzeln. Mit euphorisch gesteigertem Körpereinsatz flog Leon fast über das Gerichtsgeländer, dem Gerichtsschreiber Licht in die Arme und sprengte den noch im Aufbau begriffenen szenischen Ablauf. Dabei lenkte er die Aufmerksamkeit auf all seine schauspielerischen Gebrechen und besonders auf die großzügig zum Schritt hin aufgerissene Hose. Dieser alles vereinnahmende aufwendige Auftritt machte die dort agierenden Kollegen bei weitem betroffener als die überbrachte Nachricht des von ihm gespielten Boten.
Alexander Brückner ließ sich von Leons Wucht nicht beeindrucken und meinte gelassen, er müsse nicht alles überstrahlen wollen, sondern sollte sich bemühen, ein Teil des Ganzen zu werden. „Wenn du so viel an dein äußerliches Rumgetue denkst, fühlst du ja von deinem Inneren überhaupt nichts mehr. Bei mir entsteht der Eindruck, als sei der Teufel hinter dir her, als wolle er dir an die Gurgel oder sonst wohin fassen.“ Dabei deutet Brückner auf Leons aufgeschlitzte Hose. „Es sieht so aus, als sei der Bedienstete im Hohlweg niedergerissen, ausgezogen und zu sexuellen Handlungen genötigt worden.“ Brückner fand alles sehr amüsant und rief: „Das würde dem Stück mal eine neue Sichtweise, dem allgemeinen Stückablauf eine nicht beabsichtigte Wende geben. Auch würde es von den sexuellen Nötigungen des Adam der Eve gegenüber, also vom eigentlichen Geschehen ablenken und dem jungen hormonstrotzenden Bediensteten in dieser Angelegenheit den Vorrang verschaffen. Durchaus interessant, aber nicht gewollt.“ Auch wenn die Figur, wie Leon sie gerade darbot, weniger den Fortlauf des Geschehens unterstützte, sie sich beinahe verselbstständigte, kein Rad im Getriebe des Ganzen bildete, war Brückner voller Freude über Leons Enthusiasmus.
Leon fühlte sich weder von den hämischen Blicken seiner Kollegen noch von dem Regisseur gemaßregelt. Hinter seinem stürmischen, emotionalen Auftritt stand nur der Drang nach schauspielerischem Aufbegehren. Von der Kritik des Regisseurs motiviert, begann er, gelassen und souverän die Worte zu setzen. Nach wie vor, wenn auch mit mehr Bedacht, stürzte er mit dem entsprechenden Schwung in die laufende Szene und gab dem delikaten, aber recht heiklen Geschwätz zwischen dem Schreiberling Licht und dem Dorfrichter Adam eine noch heiklere, dramatischere Wende. Jetzt waren es nicht nur die Worte, die Gesten oder sein körperlicher Einsatz, die ihn zum Sprechen bewegten, sondern das Spiel zwischen den Worten. „Ja, du musst nichts Überirdisches tun, vielleicht aus Angst, nicht gesehen zu werden. Du musst es machen wie im Leben, nur besser, genauer. Auf der Bühne wollen wir nichts zufällig entstehen lassen. Du als Bediensteter kündigst nicht nur den Gerichtsrat Walther an, du kündigst auch den dramatischen Höhepunkt des Stückes an. Der Auftritt des Gerichtsrates wird dem Adam schließlich zum Verhängnis. Also halte dich mit äußerlichen Mätzchen zurück, besinn dich auf die große Wirkung deiner Erscheinung.“
‚Na gut‘, dachte Leon, ließ das Pferd draußen, hielt sich mit der überschwänglichen Spielweise zurück. Seine Probenkleider, kaum die Blöße bedeckend, hingen nach wie vor an ihm herab. Schließlich habe er den Gerichtsrat samt der Kutsche aus dem Schlamm gezogen, verteidigte er sein Probenangebot. Sein blonder, struppiger Haarschopf, vom Regen nass, war kaum vom Hut bedeckt. Die zerschlissenen offenen Beinkleider, so Alexander Brückner, müsse er so präsentieren wie die jungen Leute heute ihre Jeans im Destroyed-Look. Dabei schaute er mit zweifelhaften Blicken auf die zerrissene, enge Jeans des im Zuschauerraum rumhängenden Schauspielers Winfried.
Winfried, ein in die Jahre gekommener, aber recht drahtiger Schauspieler, spielte den Gerichtsrat Walther. Winfried war in Leon verknallt und wollte ihn glücklich sehen. Er hatte gelegentlich auch schon Annäherungsversuche gemacht unter dem Vorwand, ihm zu helfen, aber jedes Mal beteuert, nichts von ihm zu wollen. Angesichts des Geschehens auf der Bühne konnte er sich auch jetzt nicht zurückhalten, seinen Senf beizutragen und rief laut, den Regisseur übertönend: „Der Bedienstete muss so tun, als wäre er gerade einem Cadillac entstiegen.In der feinsten Livree dort stehend, muss er als Sprecher seiner Obrigkeit dem Bauernpöbel umwälzende Neuigkeiten verkünden.“
Leon bedacht, es jedem recht zu machen, versuchte, um Haltung ringend und die Kleiderfetzen ordnend, den Text stark gestikulierend an den Mann zu bringen.
„Das ist zu viel des Guten“, rief Alexander Brückner dazwischen, „es kommt einer toten Theater-Else gleich, die den Ruf hat, den Hauptagierenden den Rang abzulaufen. Die Zuschauer sind dann nur damit beschäftigt, durch die Lücken seiner Hosenrisse einen Blick auf die Ausmaße seiner zu verbergenden Teile zu erhaschen. Damit kann er auf der Love-Parade seine Anhänger finden, doch hier ist weniger mehr.“
Leon fragte, indem er besorgt in die zu groß gewordenen Lücken seiner zerrissenen Kleider schaute: „Mit den Teilen meinen Sie meine Hose oder was?“, das nun wieder zu hellem Gelächter anregte. Es war aber kein Gelächter schlechthin, es war wohlwollend und voller Zuneigung seiner Kollegen.
Winfried setzte sich sogar für Leon mit einer kleinen Protestbekundung ein und meinte, die Teile zu erahnen, also nicht zu sehen, wäre viel erotischer. Mehr Einblick könnte zu sehr vom Spiel ablenken. Alexander wies Winfried an, den Mund zu halten und den Zuschauerraum zu verlassen, was Winfried dann auch tat. Im Abgang beteuerte er aber, dass er sich nach der Probe unbedingt gleich mal mit Leon zu einer Auswertung in der Kantine treffen müsse.
Alexander Brückner unterbrach die Probe bis zum Heranschaffen neuer Beinkleider. Es gab viel Aufregung um Leons winzige Szene. Schauspieler mit größeren Auftritten müssten sich schon mehr ins Zeug legen, um für einen derart interessanten Gesprächsstoff im Hause zu sorgen.
Den weiteren Verlauf der Szene verfolgte Leon vom Zuschauerraum aus. Das tat er schon, um Winfrieds Einladung zu umgehen. Er lehnte sich genüsslich in die Polster der Sitze und ließ das Spiel seiner Kollegen an sich vorüberziehen.Sein besonderes Interesse erweckte die Schauspielerin Beatrice als Eve. Im Wortgefecht mit Adam, ihrem Liebhaber Ruprecht und ihrer Mutter Marthe überraschte sie Leon, wie sie mit ihrer sprachlichen Gewandtheit das Spiel beherrschte, wie sie konsequent und fordernd auftrat und trotz ihres temperamentvollen körperlichen Einsatzes nie ihre für Leon so liebenswerte Art verlor. Ihr rotblondes Haar war zu einem Zopf gebunden. Die mit wenigen Sommersprossen besprenkelte Haut verlieh ihr leicht herbe Gesichtszüge. Haltung, Wortwahl und Sprachgestus verwiesen auf eine Person, die aus dem Ländlichen kam. Wobei zu bedenken ist, dass das Stück anno 1685 in einer Gerichtsstube des Dorfes Husum bei Utrecht in den Niederlanden spielt und Beatrice mit entsprechenden Gestaltungsmerkmalen des kleistschen Textes umgehen musste. Auf sie hatte der Dorfrichter Adam ein Auge geworfen. Der wurde von Theo Körner dargestellt und war im Gegensatz zu der zierlichen Eve von mächtiger Statur. Theo ist Schauspieler der ersten Riege des Hauses und verheiratet mit Eleonore, die die Rolle der Marthe, der Mutter Eves verkörperte. Adam, von der Idee besessen, mit Eve eine Liebesnacht zu haben, schleicht zur Kammer Eves und will sie mit dem Angebot verführen, ihren Verlobten Ruprecht vom gefährlichen Militärdienst freistellen zu lassen. Skrupellos lügt er das aus dem Hals heraus. Doch Eve wehrt ihn lautstark ab. Beunruhigtvom Lärm aus Eves Kammer eilen Mutter Marthe und ihr wütender Verlobter Ruprecht herbei. Sie durchbrechen die Tür. Das Dilemma nimmt seinen Lauf. Adam wird ertappt, kann jedoch im Schutze der Dunkelheit, wenn auch schwer angeschlagen, unerkannt durch das Fenster über das Rosenspalier entkommen.
Leon hatte Bedenken, als er sich das nächtliche Treiben in Eves Kammer mit dem dicken Theo vorstellte. Dass bei diesem Gerangel das Corpus Delikti, besagter Krug, zu Bruch gehen musste, war klar. Wie aber der beleibte Herr aus dem Fenster und am Rosenspalier unbeschadet herunterkommen konnte, warf schon einige Fragen auf. Dass er sich dabei eine klaffende Wunde zuzog und den Verlust seiner Perücke beklagen musste, sprach für einen lebensbedrohlichen Abgang aus dem Fenster. Wie auch immer, der Morgen darauf war nicht der beste. Der Fall wird vor Gericht gebracht.
Leon konstatiert: ‚Sehr amüsant, Dorfrichter Adam soll in der Verhandlung über ein Vergehen Recht sprechen, das er selbst begangen hat. Er ist Täter und Richter zugleich, versucht aber diesen Umstand zu verschleiern.‘ Leon fand es äußerst belustigend zu sehen, was sich der dicke Theo Körner in der Rolle des Adam einfallen ließ und wie er sich aus der schlüpfrig heiklen Situation herauswand.
Als Leon den Schauspieler Max in der Rolle des Ruprechts auf der Bühne agieren sah, bemerkte er, dass dessen smarte, elegante Erscheinung dieser bäurischen, ruppigen Rollenfigur so gar nicht entsprach. Jedoch begeisterte ihn seine Arbeitsweise und so schloss Leon ihn gleich in sein Herz.
Max suchte emsig nach Mitteln, um der Rolle zu entsprechen. Dabei hatte er alle Hände voll zu tun, um den Angeboten seiner Partnerin Beatrice gerecht zu werden. Anfangs noch unbeholfen suchend, tastete er sich vorsichtig heran, versuchte verschiedene schauspielerische Möglichkeiten, um die Figur in den Griff zu bekommen. Im Laufe der Proben verpasste er seiner Rolle eine gewisse rüde, schlaksige Haltung und bedachte sie mit einer kraftstrotzenden Sprachgewalt. Als er dann glaubte, auf dem rechten Weg zu sein, flogen die Worte nur so aus ihm heraus und ließen den Max zum Ruprecht werden. Aus dem Gentleman, der er eigentlich war, erwuchs ein liebenswürdiger, bauernschlauer Ruprecht. Leon beneidete ihn, erinnerte sich seiner eigenen schmalen Probenangebote und hoffte darauf, eines Tages die gleiche Perfektion zu erreichen. Leon wurde nicht müde, dem Spiel der Schauspieler und Schauspielerinnen zuzuschauen. Er genoss es, wie sie sich langsam an die Rollen herantasteten. Dabei lernte er fast das ganze Ensemble des Hauses kennen.
Die Probenhaltung von Beatrice als Eve berührte Leon immer wieder auf besondere Weise. Bei aller Inanspruchnahme ihrer Mittel machte sie zwar einen zurückhaltenden Eindruck, schien aber mit ihren schauspielerischen Angeboten etwas zu kokettieren. Mit Vergnügen beobachtete er, wie sie mit ihren Worten nicht nur den Kleist’schen Inhalt mitzuteilen gedachte, sondern bestrebt war, ihre eigene Erlebniswelt darin zum Ausdruck zu bringen. Beatrice hatte das Probengeschehen im Griff und war ihren Partnern immer ein paar Schritte voraus. Für die Mitagierenden war das nicht zum Vorteil. Man hatte wenig Zeit, eigene Darstellungsabsichten einzubringen oder sich mit den Texten zu beschäftigen.
Zwischen den Schauspielern entflammte des Öfteren ein Gerangel, bei dem es nicht um den besagten zerbrochenen Krug ging, sondern um die besseren Plätze im szenischen Prozess. Alexander Brückner hatte große Mühe, alles in richtige Bahnen zu lenken.
Trotz aller Schwierigkeiten beneidete Leon Beatrice um ihre Souveränität. Vor lauter Zuneigung mochte er sogar ihre exzentrische Art und übersah die daraus entstehenden Komplikationen. Denn es geschah schon mal, dass sie im Eifer des Gefechts die Partnerbeziehung verlor und ohne auf Unzulänglichkeiten ihrer Kollegen Rücksicht zu nehmen, ihre Figur in ihrem Sinne vorantrieb, was zu heftigen Wortgefechten anregte. Beatrice begegnete dem mit lustigen, teils auch ironischen Bemerkungen und bestimmte nach wie vor das Bühnengeschehen. Leon konnte sich nicht zurückhalten, ihr hinter der Bühne seine Bewunderung entgegenzubringen. Sie war entzückt und ließ es ihn wissen. Mit einem züchtigenKuss auf Leons vor Eifer gerötete Wange bedankte sie sich bei ihm und meinte, sie habe auch schon viel Spaß gehabt, ihn bei der Probe zu beobachten und hoffe auf eine größere gemeinsame Arbeit.Dieser Wunsch sollte sich bald für beide im Don Carlos erfüllen. Er in Gestalt des Carlos, sie als Prinzessin Eboli.
Leons offene, unbeschwerte Art brachte ihm schnell das Wohlwollen des Regisseurs wie auch des Ensembles ein. Alexander Brückner beobachtete Leon und war von seinem darstellerischen Einsatz und seiner Herangehensweise an die Rolle bald so überzeugt, dass er ihn mit der Titelrolle in Schillers Drama Don Carlos, Infant von Spanien besetzte. Das tat er nicht ohne zu betonen, dass selbst Friedrich Schiller nach Leons Besetzung gedrängt hätte. Brückner sah in Leon einen Carlos, dessen sanfte Augen unter seinem wirren Haarschopf nach einem erfüllten Leben Ausschau hielten. Hinter aller Sanftmut verbargen sie Leidenschaft und Widerborstigkeit. Der leichte Silberblick gab seinen Gesichtszügen darüber hinaus etwas Sinnliches, etwas Unfertiges, eine gewisse Asymmetrie, die Aufmerksamkeit weckte. All seine Charakterzüge, sein gütiges Wesen, gemischt mit Leidenschaft, Gerechtigkeitssinn und Eigenständigkeit werden seine Theaterfigur zum Leuchten bringen, vorausgesetzt, dass er seine Arbeit gut machen wird.
Der in der Luft hängende Duft des Spätsommers beruhigt Leon. Vorbei an alten Eichen, Buchen und Erlen führt sein Weg durch den Stadtpark hinunter zum Teich. In der Ferne leuchtet das Schloss mit der Orangerie, früher der Wohnsitz von Fürsten des Landes, heute für Ausstellungen hergerichtet. Unter der Trauerweide kommt er zur Ruhe, streckt sich aus, blättert in seinem Rollenbuch Don Carlos, Infant von Spanien und beobachtet, wie die langen, tief hängenden Zweige über die spiegelglatte Fläche des Teiches wedeln. Ihre schmeichelnden Bewegungen vermischen sich mit der Musik, die Leon über die Kopfhörer seines Smartphones empfängt, die Vier Jahreszeiten von Antonio Vivaldi. Die Weidenzweige bewegen sich scheinbar im Rhythmus der melodischen Klänge und lassen kleine Wellen über die Wasseroberfläche kräuseln. Mit der Musik fliegt sein Blick über den kleinen See, hinüber zur Wiese, hin zu den herbstfarbenen Baumgruppen. Ein belebendes Wohlgefühl überkommt ihn. Seine Gedanken, die vor der großen Herausforderung in Aufregung gerieten, gleiten hier in ruhigeren Bahnen. Klassische Musik war Leon von Hause aus nicht gewohnt. Den Zugang zu ihr gewann er durch romantische Momente mit seiner Freundin Sarah. Er denkt oft an sie. Manchmal möchte er sie bei sich haben. Nach der Schauspielschule bekamen sie Engagements an verschiedenen Theatern. Bald darauf trennten sich ihre Wege.
Gerade bricht das Tongemälde des Gewitters im letzten Satz des Sommers über Leon herein und vereint sich mit dem Rauschen der vom Wind bewegten Bäume. Nach Leons Überzeugung ist sie die passende Musik für seinen Carlos, sie stimuliert ihn. Sarah dagegen würde eine andere Musik aus Carlos‘ Zeit bevorzugen und schon lägen sie im Meinungsstreit, ob Barock- oder Renaissancemusik, aber was soll's?Jetzt genießt Leon die Frische des übermütigen Einstiegs einer Sologeige im ersten Satz der Herbstkomposition. Die flirrenden Klänge vermischen sich mit dem ewigen Plätschern des in den Teich sprudelnden Flüsschens, schaffen in ihm eineemotionale Verbindung und lassen seine Fantasie lebendig werden. Heute empfindet er alles neu, ganz besonders und aufregend. Auf der gegenüberliegenden Seite breitet sich eine bunte Landschaft aus. Am Ufer steht kurzes, messerscharfes Schilf. Er kann einige Seerosen und abgewelkte Wasserlilien erkennen. Im Frühjahr, wenn sie in leuchtend weißer und blauer Blüte stehen, erinnern sie ihn an das Seerosenbild des französischen Impressionisten Claude Monet. Sie sind wie der Gesang sich vermischender Farbtöne, verbreiten gute Laune, schärfen den Blick, Natur und Menschen genauer zu betrachten. Sie machen Lust, mit Farben zu spielen, dabei eigene Emotionen freizusetzen. Für Leon sind sie anregend und inspirierend, selbst zum Pinsel zu greifen und wie Monet die Farben ineinander zu verweben, sie zum Klingenzu bringen, eine Geschichte zu erzählen. Sein Großvater hatte ihm beigebracht, mit Farben umzugehen. Er lehrte ihn, mit den Augen eines Künstlers zu sehen, zu spüren, wie Malen hilft, ins seelische Gleichgewicht zu kommen. Das war für Leon nicht einfach. Sein Großvater verstand es, den Unebenheiten im Leben gelassen zu begegnen, was nicht heißen soll, dass er schon immer dazu in der Lage war. Er erklärte, dass ihn sein entbehrungsreiches Dasein geformt hat und weiter formen werde und dass dieser Weg auch Leon bevorstehen würde. Als Leon sich später entschloss, Künstler zu werden und zur Schauspielschule zu gehen, sagte sein Großvater zu ihm: „Weißt du, Leon, du als Mensch bist schon allein ein Kunstwerk. Das Leben haut an dir herum wie mit Hammer und Meißel. Es formt dich bis zum letzten Tag.“ Dabei hieb er von einem groben Stück Holz feine Späne ab, so als wollte er zeigen, wie es geht, das Leben zu formen. „Man muss nur das Zeug haben, ein Kunstwerk darin zu erkennen.“ Seine Augen tasteten Leons Gestalt ab, als wolle er sehen, ob sich darin ein Schauspieler verbarg, den es hervor zu meißeln galt und schmetterte mit jedem Schlag seines Meißels die Sätze aus sich heraus: „Du wolltest schon immer in einen anderen schlüpfen, dich hinter einer Figur verstecken; Lanzelot sein, der den Drachen besiegt; ein Held sein; es allen zeigen, was in dir steckt; deine Sehnsüchte zum Beruf machen.“
Leon muss jetzt darüber schmunzeln. Seine Schauspiellehrer hatten ganz andere Argumente, ihm den Weg zu weisen. Sie zeigten ihm, wie man das Leben genau beobachtet, es beschreibt, es nachgestaltet. Er lernte, seine Persönlichkeit in die Arbeit einzubringen, richtig zu sprechen, zu laufen, ganz neu zu denken. Sie lehrten ihn, mit Misserfolgen umzugehen. „Jeder Ton, jede Geste von dir hat seinen Platz in deinem Körper, du musst ihn nur finden.“ Leon suchte und suchte und lernte im Szenenstudium, sich zu behaupten, sich aus seiner Verschlossenheit herauszuwinden, zu öffnen, die Möglichkeiten seines Körpers, seines Geistes und seiner Seele so zu ergründen, dass er sie bei der Arbeit an der Rolle bestmöglich zu vereinen verstand.
„Es gibt keine todsicheren Tipps“, sagten sie, „nur Übung und das Sammeln von Erfahrungen hilft. Mit jeder Aufgabe wirst du erwachsener. Was da auf dich zukommt, kannst du vorher nicht wissen. Du und deine Figur lernen sich erst bei der Arbeit kennen. Das gilt auch für später, wenn du schon viele Rollen gespielt hast. Die jeweils neue Arbeit zwingt dich, ganz andere Wege zu gehen. Dass dabei alles glattläuft und du eine schnelle Bestätigung bekommst, kannst du vergessen. Die Hauptsache ist, du hast sie vollendet und die Figur mit dir in Übereinstimmung gebracht.“ So sagten sie und Leon spürt, wie es in dem Buch unter seinem Arm sachte zu rumoren beginnt, wie sein Carlos Gestalt annehmen will. „Es dauert jedoch, bis deine Figur über dein Bewusstsein in dein Unterbewusstsein dringt und mit dir am Biertisch sitzt.“
Um die Studienarbeit an der Schauspielschule zu bereichern, nahmen sie bisweilen die Denksprüche des großen Theatermannes Max Reinhardt zu Hilfe. Reinhardt gehörte zu den bedeutendsten Theatermachern seiner Zeit. Er war auch Begründer der ersten Schauspielschule Deutschlands. Einige seiner Sprüche hatten sich im übertragenen Sinn in Leons Gedächtnis besonders eingegraben: Der wahre Schauspieler ist von der unbändigen Lust getrieben, sich unaufhörlich in andere Menschen zu verwandeln, um am Ende sich selbst zu entdecken … oder: Der Schauspieler ist ein Mensch, dem es gelungen ist, seine Kindheit in die Tasche zu stecken und damit auf Wanderschaft zu gehen … in Leons Taschen hatte sich schon einiges angesammelt. Doch die Schauspielschule füllte noch die Lücken, bereicherte sie mit Wissen und Erfahrungen. Ein alter, besonders erfahrener Schauspieler aus der Dozentenrunde, der mit seinen Kommentaren Leon im Stillen begeisterte, lehrte ihn: Was deine Arbeit als Schauspieler vorantreibt, ist nicht nur das richtige Gespür, das Gefühl, es ist das Wissen darum, dass es das richtige Gespür und das richtige Gefühl ist. Viele Fragen blieben trotzdem unbeantwortet, besonders solche, die die Praxis betrafen. In der Schule lernte er, das Leben zu gestalten, doch es sinnvoll zu leben, lernte er nicht. Sein Großvater würde ihm raten: „Nicht so viel reden, lieber machen. Es ist alles in dir drin, du musst nur richtig damit umgehen, dir deine Fähigkeiten bewusst machen.“
Im Geiste hörte er seinen alten Schauspiellehrer widersprechen: „Nein, nein, nicht nur bewusst machen. Die Grundvoraussetzung, ein guter Schauspieler zu werden, ist das Talent, aber der Drang, der Hunger danach, es auszuleben, ist von gleicher Wichtigkeit. Das Talent ohne diese Gier ist nahezu wirkungslos“. Leon wollte zeigen, dass er nicht nur Talent besaß, sondern auch den festen Willen hatte, es im Szenenstudium mit all seinen Fähigkeiten kraftvoll umzusetzen. „Ja, gut, gut“, hörte er dann wieder seinen Lehrer, in deinen Rollen bist du der, der du gern sein möchtest, du musst aber der sein, der du wirklich bist. Leon verstand nicht. Er machte sich auf die Reise, um es herauszufinden. Mit seinem Carlos wird er den Weg, sich selbst zu entdecken, fortsetzen. Er wird Fähigkeiten und schauspielerische Mittel herausfinden, um so zu sein, wie er als Carlos ist.
„Ja, ja, mach nur immer“, würde sein Großvater dazwischenreden, „im Bemühen, es allen recht zu machen, haben manche es verlernt, so zu sein, wie sie wirklich sind.“ Um dem ganzen Gerede ein Schlusswort zu verpassen, würde er noch hinzufügen: „Das richtige Leben lernst du ohnehin erst in der Praxis, wenn du genügend Fehler gemacht hast, so wie du das Schauspielerhandwerk erst richtig auf der Bühne lernst, mit allen Erfolgen und Misserfolgen.“
Leon liebte die groben Sprüche seines Großvaters, auch wenn sie für ihn nicht immer überzeugend waren. Mit ihm bekamen die Dinge um ihn herum einen Namen. Sie nahmen Gestalt an. Die Linde vor seinem Haus, Steine in seiner Hand oder das Stück Holz, das er gerade beim Wickel hatte. Er beneidete ihn wegen seiner inneren Ruhe, seiner Ausgeglichenheit und wegen seiner Lebensklugheit. Aus ihm strahlte ein volles und reiches Leben. Leider strahlt er nur noch durch Leons Seele und wird ihn bei seinen Erfolgen und Misserfolgen begleiten. Schade. Der Großvater hätte seinen inneren Reichtum auch auf seinen Sohn, Leons Vater, übertragen sollen. Bei dem hatten Hammer und Meißel kein gutes Werk getan, da blieb alles im Verborgenen eingesperrt und abgeklemmt. Als Leon seinem Vater freudig verkündete, dass man ihn an der Schauspielschule angenommen hatte, war das für ihn wie ein Paukenschlag, sozusagen wie der aus der 94. Symphonie von Joseph Haydn. Der brachte ihn in eine völlige Schieflage. Er fauchte: „Na und? Was habe ich davon? Kostet nur wieder.“ Für diese Art der Beschäftigung seines Sohnes fehlte ihm jedes Verständnis. Seiner Vorstellung nach sollte Leon etwas Handfestes lernen. Er verschwand mit rollenden Augen, um seine Gefühlswucht woanders abzureagieren. Selbst der Großvater mit seiner Hammer-und-Meißel-Theorie konnte ihn nicht mehr in eine bessere Form bringen.
‚Wo nichts da ist, kann auch nichts Großes geschaffen werden‘, dachte Leon und ging seinen Weg ohne des Vaters Segen. Die Schauspielschule legte den Grundstein für den gewaltigen Umbruch in seinem Leben. Plötzlich stand alles Kopf und verlief auf ganz anderen Bahnen. Das Theater wurde sein neues Zuhause.
230Jahre nach Schillers Don Carlos Aufführung sitzt Leon nun hier im Stadtpark wie damals Carlos in Aranjuez und steht vor der Herausforderung, ihm an diesem Theater zu neuem Leben zu verhelfen. Seine Recherchen mit dem Smartphone brachten einige Neuigkeiten ans Licht.
Über vier Jahre lang hatte sich Schiller bemüht, diesen kaum zu zähmenden Sohn Philipps II. und Enkel von Kaiser Karl V. in Szene zu setzen und mit seiner Geschichte die Zuschauer zu rühren, sie aber auch mit erschütternden Szenen in Schrecken zu versetzen. Aus den historischen Ereignissen um 1568 machte Schiller eine Tragödie für die Zuschauer des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die das höfische Leben mit all seinen Intrigen, Konflikten, politischen Ursachen und deren Auswirkungen darstellt. Bevor Schiller diesen Infanten Spaniens aus seinem Dornröschenschlaf erwachen ließ, war er nicht unbedingt der löwenkühne Jüngling, der sein Jahrhundert in die Schranken weisen sollte. Der historische Carlos galt als physisch und psychisch schwach. Mit dem Erbe der Weltmacht schien er gänzlich überfordert. Es anzutreten, war ihm nicht vergönnt. Er starb schon sehr früh, doch nicht eines heroischen Todes, sondern ganz unspektakulär an einer Influenza. Leon kann sich vorstellen, dass dieser Wesens-schwache, spät pubertierende Jüngling dem Schiller überhaupt nicht in den Kram passte. Also wich er von dem historischen Carlos ab und gab seinem Protagonisten einen entsprechenden Charakter nach eigenen Vorstellungen. Aus dem etwas labilen, nahe am Wasser gebauten Jungen wurde ein zu großen Empfindungenfähiger junger Mann mit innerem Feuer. Leon ist als sein künftiger Darsteller sehr zufrieden mit ihm. Je intensiver er sich damit beschäftigt, umso mehr nehmen seine Freude und Achtung zu, diesem Carlos seine Gestalt geben zu dürfen.
Als Leon im Alter von 15 Jahren das erste Mal ein Theater betrat, beherrschte ihn ein Gefühl der Ehrfurcht und Erhabenheit. All seine kleinen Sorgen fielen von ihm ab. Er war voller angespannter Erwartung, was nun geschehen würde. Mit genügend Abstand und das nicht nur, weil er in der letzten Reihe saß, folgte er dem Geschehen auf der Bühne, wo das Stück Don Carlos gespielt wurde. Dort zeigte man, wie die Menschen vor rund 230 Jahren miteinander verkehrten, aber die Handlungs- und Denkweisen der Figuren kamen ihm sehr bekannt vor. Es waren ähnliche Begegnungen, wie er sie heute erleben könnte, wo es um Liebe und Hass geht, wo sich starke aufeinanderprallende Charaktere in familiären und politischen Konflikten ereifern und sich in außergewöhnlichen Verhaltensweisen äußern. Begegnungen, in denen sich Menschen mit schändlichen Intrigen, mit betrogenen Hoffnungen, Liebe, Eifersucht, persönlichem Machtstreben und egoistischem Nischendenken auseinandersetzen müssen.
Als stiller Mitspieler litt Leon mit den Figuren, spürte aber ein verhaltenes Vergnügen trotz aller Anteilnahme an ihrem Schicksal. Es bereitete ihm Lust zu sehen, wie sie sich nach dem Leben trachteten, es einander schwer machten, sich schlugen, ihren Glauben verteidigten oder nach sexuellen Begegnungen gierten. ‚Alles sehr zeitnah‘, dachte er, ‚eine Groteske, eine Farce, die nichts weiter als unglückliche Menschen hervorbrachte. Dabei gehörte nicht viel dazu, ihr tragisches unwürdiges Leben, wie es sich da auf der Bühne darstellte, wieder menschenwürdiger zu machen.‘ Leon war mächtig engagiert, sah sich als ein Teil des Bühnengeschehens, fühlte sich angesprochen, verarbeitete und wertete es nach seinem Ermessen. Vor allem aber verfolgte er das Spiel der Schauspieler mit kritischen Blicken. Es waren für Leon beeindruckende Erkenntnisse. Dass die Inszenierung eine derartige Wirkung erzielte, lag aber nicht nur an Schillers Fähigkeiten, sondern auch an der Inszenierungsgewalt des Regisseurs sowie an der schauspielerischen Umsetzung. Jetzt also ist Leon gefragt. Hier im Park unter der alten Weide lässt er sich nun endlich von den Worten Schillers langsam und bedacht in das Werk hineinziehen.
Es beginnt im Park von Aranjuez, ganz wie eine Liebesgeschichte, inmitten von Vogelgezwitscher, Blätterrauschen und Flussgeplätscher. Dort, wo Carlos mit seinem Freund Roderich noch unbeschwerte Zeiten verbrachte, wo sie über die weiten Wiesen stürmten, sich in den Flüssen tummelten und auf die Bäume kletterten, an diesem idyllischen Fleckchen entwickelten sich bösartige Intrigen, politische Streitigkeiten und kriegerische Machtkämpfe. Das beunruhigte die beiden Freunde und rief sie zu Taten auf. Als sie die Schulbank der hohen Schule in Alcalá drückten, mit neuem Wissen überhäuft wurden, stürmte und drängte es gewaltig durch ihre Gehirnwindungen, brachte sie zu neuen Denkweisenund ließ sie nicht mehr zur Ruhe kommen. Es war das gleiche Drängen nach Freiheit und Veränderung einer Welt, wie es durch die hitzigen Adern des Poeten Schiller stürmte, der aus dem jugendlichen Aufbegehren der beiden jungen Männer schließlich sein Bühnenwerk schuf. Dass Schiller es dabei mit den tatsächlichen Begebenheiten um 1568 nicht so genau nahm, stört Leon nicht. Letztlich stehen die Realität und die Fantasie des Schöpfers so im Einklang mit dessen Wahrheit, dass das Fantasiegebilde ihm wahrhaftiger erscheint, als es die ursprüngliche reale Geschichte hergeben würde. Schiller gab also Carlos und Roderich ein revolutionäres Programm mit auf den Weg. In wilden Gedankengängen schienen sie von einem Extrem zum anderen zu jagen. Jede dazwischen gewonnene Erkenntnis führte zu dem Entschluss, sich des alten feudal-absolutistischen Zeitalters zu entledigen und Neues zu erschaffen.
Aus seinen Recherchen erfährt Leon, dass Carlos 1545 in die Geschichte hineingeboren wurde. Bevor Schiller in das Geschehen des heranreifenden Monarchen Carlos eingriff, durfte dieser noch über viele Jahre in Aranjuez unbeschwerte Zeiten verbringen. Leon fragt sich: ‚Was heißt denn bei denen unbeschwert?‘ Der Heranwachsende wurde strenger Beobachtung ausgesetzt. Schließlich sollte er zum Monarchen erzogen werden. Dafür wurde ausgesuchtes künstlerisches, wissenschaftliches und philosophisches Fachpersonal hinzugezogen. Das bot ihm Bildung in allen Richtungen, allerdings unter Einhaltung der Vorschriften eines konsequenten Erziehungsrituals mit Zuckerbrot und Peitsche. Unter der königlichen Erziehung in dieser abgeschiedenen Welt hatte sein Carlos also mächtig zu leiden. Zur Stärkung seiner Wesens-schwachen Züge wünschte er sich sehnsuchtsvoll einen starken Freund an seiner Seite. Das kann Leon nachvollziehen. Ihm ging es oft ebenso. Er denkt dabei an seinen Freund Robert. Mit ihm verbrachte er ebenso schöne Zeiten, die sein Wesen stärkten und seine Liebe zur Natur wachsen ließen, während sie ihn auch von der bedrohlichen, bedrückenden Welt der Erwachsenen abgrenzten. Leon glaubte damals, dass es besser wäre, nie erwachsen zu werden. Er kann seinen Carlos gut verstehen, warum er heimlich ein neidisches Auge auf den starken, sich unbeschwert gebenden Roderich gerichtet hatte. Mit ihm schien es leichter, dem groben Leben zu trotzen. Er bewunderte und liebte den kühnen, starken Roderich und wollte mit ihm in enger Freundschaft verbunden sein. Damals ahnte er nicht, dass dieser später als Marquis von Posa eine wesentliche Rolle in seinem Leben spielen würde.
Roderich stammte aus dem Hause eines Markgrafen, der am Hofe zu Diensten war. Ihm war es vergönnt, gelegentlich mit dem Infanten Carlos spielen zu dürfen und damit am höfischen Treiben teilzuhaben. Carlos wollte Roderich gefallen, doch dem war jegliches Bemühen, sich ihm freundschaftlich zu nähern, nicht geheuer. Einem Königssohn ging man respektvoll aus dem Wege, bat um Verzeihung, wenn man ihm zu nahekam. So hatte er es schon seit seiner frühesten Kindheit eingebläut bekommen. Auch war ihm nicht entgangen, dass stets ein überwachendes Auge auf dem Spiel des Infanten ruhte. Da aber Carlos im ständigen Bemühen um ihn nicht lockerließ, fand sich ein Zufall, der zumindest insgeheim beide eng zusammenführte.
Beim Spiel der Kinder im Garten von Aranjuez traf der Federball, natürlich ohne Absicht, das Auge einer Hofdame. Der Übeltäter sollte sich melden und hervortreten. Es war Roderich, der sich wegen der zu erwartenden harten Strafe versteckt hatte. Carlos sah die passende Gelegenheit, für Roderich nützlich zu sein. Er trat statt seiner hervor und bekannte sich zu der Tat. Als Sohn des Königs hoffte er auf Nachsicht, denn es war doch nicht mit Absicht geschehen. Er entschuldigte sich, aber sein Vater entschied sich für eine harte Strafe und ließ Carlos vor aller Augen ausprügeln. Den schmerzvollen Blick auf Roderich gerichtet, hielt Carlos wie ein Held der Bestrafung stand. Dieses Ereignis brachte Carlos und Roderich unumstößlich und für immer zusammen.
‚Okay‘, sagt sich Leon, ‚so richtig königlich sind die auflehnenden Gebärden meines Carlos nicht. Im Grunde war er sich am Hofe ziemlich selbst überlassen, ohne Liebe.‘ Auf Leon wirkt er unausgegoren, mit Anzeichen eines ausgeflippten Jugendlichen, der sich cool schminkt, rüschig kleidet und einen auf melancholisch macht, vielleicht auch jähzornig sein kann. Mit seinem Wesens-schwachen Getue ging er womöglich allen mächtig auf die Nerven und lag damit nicht in der Norm des allgemeinen Verhaltens.
‚Es sei ihm verziehen‘, denkt Leon, ‚er war eben ein Suchender. Unter den Bedingungen des höfischen Lebens war es auch schwer, seine ganz eigene Identität zu finden. Ein wenig Distanz zu dem, was hier am Hofe geschah, wäre ohnehin angebracht, insbesondere seinem Vater gegenüber, der ihn bespitzeln ließ, ihm seine Verlobte vor der Nase weggeschnappt hatte und manchmal sogar zum Wahnsinn neigte. Des Vaters rechte Hand, Herzog Alba, Unterdrücker der Niederlande und Initiator übler Strafexpeditionen gegen die Aufständischen sowie dessen Busenfreund Pater Domingo, Beichtvater des Hofes mit heißem Draht zum Großinquisitor, standen auch ganz außerhalb der Sehnsüchte von Carlos. Sein Lebenstraum schien sich augenblicklich auf das Begehren nach der einst versprochenen Prinzessin Elisabeth zu begrenzen, mit der er frühzeitig verlobt, aber ihr nie begegnet war. Sie war die älteste Tochter Heinrichs II. von Frankreich und seiner Gemahlin Catarina de Medici aus dem französischen Herrscherhaus der Valois-Angoulème. Man munkelte, Philipp wolle mit der Heirat dem Frieden mit Frankreich die Krone aufsetzen.‘ Leon glaubt, dass sich hinter dieser Verbindung noch andere Vergnügungen als politische Erwägungen verbargen. Das ist sicherlich nicht nur ihm klar, auch sein Carlos muss das so gesehen haben. Als er Elisabeth leibhaftig vor sich sah, war er kaum noch zu bremsen, sie zu besitzen. Geradezu benebelt war er von ihrer zierlichen Figur, ihrem glänzenden dunklen Haar, den leuchtenden Augen, ihrem schönen, ebenmäßigen Gesicht mit dem hellen Teint. Er war entzückt von ihrer modernen Kleidung, von ihrem eleganten Verhalten. Angesichts dieser neu geschaffenen Lebensaussichten entdeckte Carlos eine Männlichkeit in sich aufsteigen, von der er vorher nicht allzu viel erfahren hatte. Sein Vater fand sie ebenso begehrenswert und meinte, sie sei zu schade für seinen Sohn, annullierte die Verlobung und machte sie zur Königin.
Leon sieht seinen Carlos mit zornig heißen Blicken missgestimmt durch die Gegend irren, sodass Vater Philipp sich veranlasst sieht, ihn überwachen zu lassen nach dem Motto: Man kann nie wissen, was in so einem betrogenen, gemaßregelten Sohn vor sich gehen könnte. Philipp wusste das aus eigener Erfahrung. In Leon baut sich innerer Widerstand auf. Er lacht und muss seine Meinung über seinen Carlos revidieren. Er würde, genau wie Schiller es wollte, dem Vater an die Gurgel gehen. ‚Warum nicht?‘, denkt Leon, ‚schließlich trägt er die Gene eines Herrschers in sich. Nach all dem, was dieser Typ durchmacht, kann er keine schwache, zurückgebliebene Heulsuse sein, kein Psychopath, der kränkelnd um einen Freund ringt und schon gar nicht sich rüschig kleidet oder melancholisch tut. Er wird auch seiner Elisabeth nicht verklemmt nachsteigen. Vielleicht ist er am Anfang noch ein kleines Sensibelchen, aber bald wird er des Kampfes fähig sein.‘
Hinter den pathetischen Worten, die Schiller ihm gegeben hat, verbirgt sich ein gekränktes Herz.
Carlos zieht in den Kampf gegen die Mächtigen am Hofe Philipps. Leon muss überlegen: ‚Wer sind eigentlich bei Schiller die Mächtigen am Hofe?‘ Ihm fällt Pater Domingo ein, dargestellt von dem Schauspieler Leopold und Herzog Alba, gespielt von Winfried. Gleich zu Beginn seines Engagements lernte er beide im Zerbrochenen Krug kennen. Dann ist da noch Theo als mächtiger König Philipp, dem er auch bei der Arbeit an seinem Adam zusehen konnte, und nicht zu vergessen die Prinzessin Eboli, von seiner geliebten Beatrice gespielt. Als er beobachtete, wie sie die Eve probierte, war er gleich verknallt in sie. Hier, bei Schiller, soll sie allerdings dazu beitragen, ihn ans Messer zu liefern. Eigentlich hat er sich die Arbeit mit ihr anders vorgestellt, würde gern um ihre Liebe ringen, um Anerkennung. So wie Schiller das will, ringt er aber um die Liebe seiner Elisabeth und kämpft mit seinem Jugendfreund Roderich um die Verwirklichung ihrer Ideale. Das heißt, er sollte kämpfen, vergisst es aber wegen dieser Leidenschaft. Sein Roderich dagegen ist aus ganz anderem Holz geschnitzt. Der wird zum Malteserritter geschlagen und darf sich fortan würdevoll Marquis von Posa nennen. Als Abgeordneter sorgt er in den besetzten Niederlanden für Recht und Ordnung. Ein ziemlich ehrgeiziger Typ, muss Leon sich eingestehen. Über all seinen Erfolgen vergisst er es nicht, an den Plänen zu arbeiten, die er einst mit Carlos schmiedete und die er jetzt gefährdet sieht. Also ist Roderich von den Hormon-strotzenden Gefühlsausbrüchen seines Carlos nicht gerade begeistert, eher entsetzt. Der Sohn liebt seine Mutter, das gibt Ärger. Insbesondere durch die Geschehnisse um die Prinzessin Eboli, die verflossene Mätresse seines Vaters, artet dieser Ärger in lebensbedrohliche Exzesse aus.
Leon klappt sein Buch wieder zu und denkt: ‚Es wird viel heroisches Zeug auf der Bühne gesprochen, aber nichts Heldenhaftes vollbracht. König Philipp steckt bis zum Kinn in seinem selbst geschaffenen Sumpf, muss tüchtig Federn lassen, ist von Eifersucht und Zweifel geplagt, tobt durch die Gänge seines Palastes und reitet sich immer weiter in den Schlamm hinein. Alba und Domingo legen den von Philipp geschaffenen Sumpf trocken, machen sich den Rachefeldzug der gekränkten Prinzessin Eboli zu eigen und lassen die Gerüchteküche brodeln. Die Eboli sitzt wie ein gerupftes Huhn auf der Stange, flattert gackernd und flügelschlagend durch den Palast und verstrickt sich immer mehr in ihre selbst geschaffenen Intrigen. Elisabeth hat als Opfer dieser Machenschaften das Gruseln gelernt … Carlos und Posa haben einiges begriffen, aber leider zu spät. Am Ende muss sich der Großinquisitor mit ihrer Asche begnügen. Man schlägt sich die Köpfe ein und doch bleibt alles beim Alten. Ein Familiendrama, das zu einem knallharten Polit-Krimi ausartet, mit leidenschaftlicher Liebe, harter Machtpolitik und höfischen Kabalen.‘
Leon schaut über den von Wind und Wetter bewegten Stadtpark und kann sich nun vorstellen, warum Schillers Werk in Aranjuez, der Sommerresidenz des spanischen Hofes beginnt.
Dieses idyllische Fleckchen Erde mit der nach Leben und Selbsterhaltung strebenden Natur schafft in ihm einen krassen Gegensatz zu den mordlüsternen und kriegerischen Umtrieben seiner Herrscher.
So wie Carlos in seiner frühen Jugend nach einem Freund Ausschau hielt, verlangt es Leon nach einem Partner an seiner Seite. Einem, der nach seinem Empfinden stärker ist als er und mit dem er nicht nur die schlüpfrigen Gefilde des Theaters durchforsten, sondern auch dem Schiller zu Leibe rücken könnte. Die Besetzung mit Max als Posa kommt ihm da sehr gelegen.
Anfänglich war Leons Beziehung zu Max eher zweckgebunden, immer einer Aufgabe, einem Ziel zugeordnet. Sie trafen sich auf der Bühne oder in der Kantine, arbeiteten zusammen, sprachen über ihre Rollen, aber mehr auch nicht. Leon konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Max ihm mit dem Respekt begegnete, den man einem Anfänger zukommen lässt. Neulinge sind oft unsicher, vorsichtig, übersensibilisiert. Man muss sie mit Bedacht und väterlicher Fürsorge behandeln. Leon nahm das gelassen hin und bewunderte ihn trotzdem, fast so, wie Carlos seinen Roderich. Dass sich sein Verlangen nach einem echten Freund dem von Carlos ähnelte, irritiert Leon heute, ja amüsiert ihn sogar ein wenig. Damals verfolgte er jedenfalls sein Ziel mit einer gewissen Beharrlichkeit und hatte schließlich auch bald Erfolg.
Schon während der Arbeit an seinem ersten Stück Der zerbrochene Krug beobachtete Leon Max, bewunderte ihn, wie er mit den Mitteln des Theaters umzugehen vermochte. Später beneidete er ihn sogar, wie er bei den Inszenierungen Der Besuch der alten Dame und Romeo und Julia seine Figuren leicht und locker darzustellen verstand sowie komplizierte Situationen meisterte. Mit einer engeren Freundschaft wollte es allerdings nicht so recht klappen. Auch ein Zwischenfall wie der mit dem Federball aus Schillers Werk bot sich nicht an.
An Max’ Seite stand meist sein Freund Ben. Als Leon sie kennenlernte, wirkte ihre Beziehung locker und unkompliziert. Wenn sie sich längere Zeit nicht gesehen hatten, deutete ihr Wiedersehensritual auf mehr als nur Freundschaft hin: Umarmen, Klaps auf den Hintern oder die Faust in den Bauch. Eine vertraute Beziehung, wie Leon sie bislang nicht erlebt hatte. Sie war für ihn jedoch nicht ganz durchschaubar und bei näherer Betrachtung auch nicht so unkompliziert, wie er anfangs dachte. Ben liebte die Männer, während Max‘ Zuneigung eher den Frauen galt, denen er sich auch mit überschwänglichem Eifer widmete. Leon dachte: ‚Außergewöhnlich. Anregend, dem auf den Grund zu gehen.‘
Max wurde von Leon als ein agiler, kraftstrotzender, aber smarter Typ wahrgenommen. Sein glattes, schwarzes Haar hängt ihm locker in die Stirn. Auf den ersten Blick ein junger, dynamischer Typ, ein rechter Siegertyp. Leon lernte ihn im Laufe ihrer Begegnungen etwas besser kennen und erfuhr, dass Max mit seiner Zwillingsschwester aufgewachsen war und aus wohlhabendem Hause kam. Die Eltern waren in der Modebranche tätig. Sie hatten viel zu tun, sodass die Geschwister meist sich selbst überlassen waren. Auf Leons Frage, ob sie zurechtkamen, nickte Max scheinheilig und sagte: „Ganz prima, gelegentlich kam mal die eine oder andere Nanny, die jedoch schnell wieder abhaute. Das musste an unserem ausgeprägten Zusammengehörigkeitsgefühl gelegen haben.“ Max lachte, aber Leon wusste von Ben, dass die Trennung von seiner Schwester ihm zu schaffen machte. Sein Erfolg am Theater glich zwar einiges aus, aber die Sehnsucht nach ihr und nach der vertrauten Zweisamkeit blieb. Ein richtiges Zuhause hatte er nicht. Auch wenn er unter der Trennung litt, verlor er nie seine Lebenskraft und würde auch nie seine verrückte Lebensweise verbergen. Mal glich er einem Lebemann – leicht, lässig, unbedacht – mal ließ er in die Tiefe seiner Seele blicken, verstand es aber immer, wenn nötig, seinen Partner mit einem gewissen Feingefühl aus Bedrängnissen zu befreien.
Ben kam aus Schottland, hatte anfangs in Irland gelebt. Bevor er mit seinem Freund Luc auf Tour durch Europa gegangen war, hatte Ben viel Zeit im schottischen Hochland verbracht, das Land durchstreift und Berge bestiegen, wo auch immer er ihrer habhaft werden konnte. Dort war Ben in seinem Element. Von hier aus speiste er all seine Lebenskraft. Als Leon mit Ben darüber sprach, sah er ihn zum ersten Mal mit geöffneten Augenlidern an. Meist schaute er so, als würde die Sonne ihn blenden. Leon glaubte zu sehen, wie sich die schönen Bilder seiner Heimat in seinen Augen spiegelten. Es waren die Bilder der Berge, von denen auch Leons Großvater manchmal gesprochen hatte und mit denen Ben gut umzugehen verstand.
Leons Großvater nahm gerne die Berge zu Hilfe, wenn er mit ihm über das Leben fabulierte. Einmal sagte er:„Jede Arbeit, jedes Projekt, was du dir vornimmst, ist wie ein zu besteigender Berg, voller Tücken und Gefahren. Solch ein Berg ist stärker als du. Wenn du unachtsam bist, unbedacht vorgehst, stürzt du ab. Gehe also ruhig und besonnen vor, verliere nie den Respekt vor deiner Aufgabe, wie groß sie auch sein mag. Eigentlich ist das ganze Leben wie ein Berg. Ihn zu besteigen ist nichts für Feiglinge.“ Von seinen Worten ist Leon immer noch beeindruckt und wird sich nun mit seinem Carlos zum Aufstieg in die schwindelnden Höhen seines Schauspielerdaseins begeben. Gerade deshalb muss Leon an Ben denken, als er so durch den Park läuft.
Dass MaxjetztCarlos’ Freund,denPosa spielt, also sein Spielpartner wird, steigert Leons Begeisterung für die Arbeit. Wie Carlos seinen Roderich, hat er nun Max an seiner Seite. Besser können sich die Umstände nicht fügen. Dass er oft im Erfolgsrausch lebt, missfällt ihm zwar, aber er braucht das, schon um den Verlust der familiären Geborgenheit zu kompensieren. Wenn Max die Frauen wie die Rollen auf der Bühne wechselte, von einer unglücklichen Beziehung in die andere stolperte und für jedes ausgefallene Abenteuer offen war, dann war es Ben, der ihm wieder die Ruhe gab und einiges von seinen Verrücktheiten abfederte.
Max liebt es eben, extravagant zu sein. Auch die Frauen lieben das an ihm, aber meist nur für kurze Zeit. Max nimmt das hin. Er steht dazu. Das ist eben so. Wenn er auch ein wenig traurig darüber ist, gibt er dem unsteten, turbulenten Leben am Theater den Vorrang. Er ist lieber ein unzufriedener, ruheloser Mensch, als auf den Siegeszug am Theater zu verzichten.
Bei einer ihrer Kaffeepausen in der Kantine äußerte Ben, dass Max eigentlich mit Frauen überhaupt nicht zurechtkomme. Mit ihnen Sex zu haben, sei wie ein Sieg über sie. Max protestierte: „Ja, was soll ich denn machen?“ Breitete hilflos seine Arme aus und suchte nach Worten. „Mein Adrenalin und …“, um die Haltlosigkeit seines Zustandes noch zu erhöhen, „und auch mein Dopamin-Spiegel ist nach der Vorstellung dermaßen in Wallung, dass ich mit der Kraft einer geballten Ladung von Glückshormonen immer wieder direkt in den Armen einer Frau lande.“ Um nicht ganz so haltlos zu erscheinen, räumte er beschwichtigend ein, dass er mit Ben an seiner Seite mehr Ruhe als bei seinen Frauen finde. Dabei schaute er seinen Freund liebevoll an und sagte zu Leon: „Mit Ben in den Bergen ist wie eine Wellness-Kur. In seiner Gegenwart strahlst du wie das weite schottische Hochland.“
Leon verstand nicht, musste aber über Max‘ Verteidigungsversuche lachen. „Und wie strahlt man da?“, fragte er und war ein wenig eifersüchtig, wohl bemerkt nur so viel, dass er sich noch im Griff hatte und selbst über sich erstaunt sein konnte.
Max erzählte, wie er diesen Schotten mit den irischen Wurzeln auf der Straße aufgegabelt hatte. Bens Augen funkelten glücklich unter seinen dichten, rötlich-braunen Haaren. Sein von Wind und Wetter gebräuntes Gesicht mit einigen Sommersprossen und einem leicht flaumigen Dreitagebart ließen auf einen rechten Naturburschen schließen. Max berichtete, wie fasziniert er von Bens Geigenspiel gewesen war und davon, wie er gesteppt und seine Lieder gesungen hatte. Als er ihn damals auf der Straße beobachtete, sang er gerade von Stephen Gately den emotionalen Song No Matter What. Max schwärmte: „Mir war, als schwimme seine Stimme wie ein Blatt auf der Strömung eines Flusses dahin, weit in die Ferne.“ Er spürte, wie hinter seiner leicht wehmutsvollen, fragilen Art eine gewisse Kraft unter Bens Stimme lag. Es war eben diese irisch-schottische Herkunft, von der er allerdings noch nichts ahnte. „Ich verstand damals nicht, woher er diese Melancholie in der Stimme nahm und warum er mit dieser selbstverständlichen Hingabe sang, aber eines verstand ich“, sagte Max triumphierend, „ich verstand es, diesem Typen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern.“