Leonard Bernstein - Michael Horowitz - E-Book

Leonard Bernstein E-Book

Michael Horowitz

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Beschreibung

"In Bernsteins Konzerte gingen die Leute auch, wenn er der schlechteste Dirigent der Welt wäre", sagte einst Arturo Toscanini. Die Begeisterung für Musik begleitete Leonard Bernstein von klein auf – und übertrug sich später bei zahlreichen Auftritten nahtlos auf sein Publikum. Mit 25 Jahren hatte Leonard Bernstein seinen ersten großen Auftritt: Als Dirigent des New York Philharmonic Orchestra sprang er kurzfristig für den erkrankten Bruno Walter ein – der Beginn einer beispiellosen Weltkarriere. Dirigent, Komponist und Pianist, war Bernstein auch Schöpfer des Musicals "West Side Story" und gilt als eines der größten Musikgenies des 20. Jahrhunderts. Der psychisch labile Ausnahmekünstler – gleichzeitig ein barocker Bonvivant – erlebte Phasen von exzessiver Lebensgier, die sich mit Zeiten der Angst vor künstlerischem Versagen abwechselten. In seiner großen Jubiläumsbiografie lässt Michael Horowitz zahlreiche prominente Weggefährten Bernsteins zu Wort kommen: von Christa Ludwig bis Otto Schenk, von Gundula Janowitz bis Rudolf Buchbinder. Auch Clemens Hellsberg, Heinz Marecek und Kurt Rydl erinnern sich an den Magier der Musik. Mit einem besonderen Gespür für die Spannungsmomente in dessen Biografie erzählt Horowitz ein großes Leben neu.

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Seitenzahl: 318

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Michael Horowitz

LEONARD

BERNSTEIN

MAGIERDER MUSIK

Die Biografie

Mit 32-seitigem Bildteil

Bildnachweis

Die angeführten Seitenzahlen in Klammer beziehen sich auf den Bildteil.

Michael Horowitz (1), Library of Congress, Music Division (2, 3, 11 unten), Library of Congress, Prints & Photographs Division, NYWT & S Collection, LC-USZ62-127784 (4), Ruth Orkin (5, 24/25), Bettmann/Getty Images (6/7), BSO Archives/© Howard S. Babbitt Jr. (8 oben), BSO Archives/© Will Plouffe (8 unten), Alfred Eisenstaedt/The LIFE Picture Collection/Getty Images (9), AP/picturedesk.com (10/11 oben), Photo: Don Hunstein © Sony Music Entertainment. Mit freundlicher Genehmigung von Sony Classical, www.sonyclassical.de (10 unten, 28/29), Ken Heyman (12/13), Siegfried Lauterwasser (14), CSU Archives/Everett Collection/Bridgeman Images (15), Oscar Horowitz (16–19), Leemage/Bridgeman Images (20/21), Gordon Parks/The LIFE Picture Collection/Getty Images (22/23), Barbara Pflaum/IMAGNO/picturedesk.com (26), Archiv Heinz Marecek (27), ÖNB-Bildarchiv/picturedesk.com (30 oben, 31 unten), Osamu Honda/AP/picturedesk.com (30 unten), Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung, Wien/VGA Sig.: E10-431 (31 oben), Achim Neumann (32)

Der Verlag hat alle Rechte abgeklärt. Konnten in einzelnen Fällen die Rechteinhaber der reproduzierten Bilder nicht ausfindig gemacht werden, bitten wir, dem Verlag bestehende Ansprüche zu melden.

Besuchen Sie uns im Internet unter: amalthea.at

© 2017 by Amalthea Signum Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Elisabeth Pirker/OFFBEAT

Umschlagfotos: Cover: Leonard Bernstein bei der Generalprobe zu Mahlers Fünfter mit den Wiener Philharmonikern, Musikverein, 16. April 1972 © Oscar Horowitz; Rückseite: © Alfred Eisenstaedt/The LIFE Picture Collection/Getty Images

Lektorat: Maria-Christine Leitgeb

Herstellung und Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten

Gesetzt aus der 11,1/14 pt Minion Pro

Designed in Austria, printed in the EU

ISBN 978-3-99050-099-6

eISBN 978-3-903083-75-2

Meinem Vater Oscar gewidmet.Wie Leonard Bernsteins Vorfahrenwuchs er in einem Stetl in Galizien,im Armenhaus der Monarchie, auf.

Inhalt

Vorspiel

Im Armenhaus der Monarchie

Fischmarkt als Universität

Jüdisches Penicillin

Der Fensterbrettpianist

Der Partyheld, der Klavier spielen konnte

Verwirklichung des Amerikanischen Traums

Austern und 75 Cent Gage

Rachmaninow für Rehe

Gott sagte: Nimm Bernstein

Beifall wie von einem Riesentier im Zoo

Stolz wie ein Pfau

Mazurka im Maxim

Zehn Grad nördlich von fantastisch

Der kleine Dämon

Das Ungeheuer Einsamkeit

Musikalischer Messias

Hexenmeister mit dämonischer Begabung

Advokat der Abrüstung

35 Minuten Filmmusik

Kultur ohne Schwellenangst

All That Jazz

Klassik für Kinder

Der Dirigentenkrieg

We love you – stop smoking!

Skandal in der Sowjetunion

Vulkan und Jesusgestalt

Pompöses Getöse

Ernste Musik, die jeder versteht

Wiener West Side Story-Triumph

Gauner, Mädchenhändler, Menschenfresser

Fleischgewordene Elektrizität

Wiener Liebesaffäre

Hexentanz der Freude

Gefühle bedingungslos in Liebe umsetzen

Luxusausgabe der Heiligen Drei Könige

Meilensteine auf dem Weg zur Unendlichkeit

Eine Kerze, die an zwei Enden brennt

Ambivalente Begegnung

Topfenpalatschinken für den Maestro

Im Schaukelstuhl Kennedys

Einfach in die Luft schauen

Eine Messe als Show

Beethoven und Jimi Hendrix

Frischzellenkur, Triumph und Abschied

Party für Black Panthers

Den Ring küssen – nicht den Mund

Verzweiflung und Exzesse

Tanz auf dem Vulkan

Seelenverwandtschaft

Let’s go to Gustl

Menschliche und musikalische Naturgewalt

Popgigant und Bundeskanzler

Musikalischer Traumtänzer

Good bye, Lenny

Danksagung

Leonard Bernstein 1918–1990

Bibliografie

Personenregister

Vorspiel

Ich bin jeden Morgen beim Aufstehen überrascht, dass ich da bin und dass noch immer eine Welt um mich ist, die weitergeht. Ich glaube, ohne dieses Element der Überraschung könnte ich mir nicht die Begeisterung für Leben und Kunst bewahren, die ich empfinde.*

Leonard Bernstein – ein Magier der Musik. Arturo Toscanini bemerkte einmal: »In Bernsteins Konzerte gingen die Leute auch, wenn er der schlechteste Dirigent der Welt wäre.« Ein Ausnahmekünstler, der sowohl die europäische Musiktradition von Bach, Beethoven, Mozart, Mahler und Richard Strauss beherrschte als auch amerikanische Formen populärer Musik. Er war ein besessener Dirigent, Komponist, Pianist und Pädagoge und eine strahlende Persönlichkeit des Kulturlebens im 20. Jahrhundert. Er war ein unkonventionelles Universalgenie, voller Verve, Charisma und Enthusiasmus. All das hat er vor allem auch jungen Musikern vermittelt wie dem Dirigenten Gustavo Dudamel. Dieser meint: »Bernstein is still around. He never died …« Die Unterscheidung zwischen ernster und leichter Musik gab es für Leonard Bernstein nicht. Manche Klassikpuristen verstörte er mit Aussagen wie: »Man kann nicht das Wort gut benützen, um eine einzige Art von Musik zu beschreiben. Es gibt guten Bach u n d guten Bob Dylan.«

Hinter dem Ruhm, hinter seiner scheinbar lockeren Art zu leben, verbargen sich Stress, Spannung, Zerrissenheit und Konflikte seiner Sexualität. Bernstein führte ein Leben voller Leidenschaft, in dem aber auch Disziplin ihren Platz fand. Er war ein Verführer, wusste das und genoss es. Er brauchte, er suchte die menschliche Nähe und blieb – inmitten äußeren Trubels – immer ein Einsamer, trotz Ovationen, Kuss- und Umarmungsorgien. Es war ein wildes, unruhiges, oft trauriges Leben. Phasen exzessiver Lebensgier wechselten mit Zeiten tiefer Depression und Angst vor dem künstlerischen Versagen. Leonard Bernstein, der Kosmopolit, der charismatische Renaissancemensch, der durch ein ungeordnetes Privatleben taumelte, exzessiv feierte, bis zu hundert Carlton täglich rauchte und reichlich Ballantine’s Whisky trank. Immer wieder versuchte er, in Entwöhnungstherapien von Alkohol und Zigaretten loszukommen.

»Das Wunderbare am Dirigieren ist«, meinte er, »dass man dabei nicht raucht und Sauerstoff in rauen Mengen einatmet.« Wie konnte ein Mensch, der sich privat dem Leben hemmungslos hingab, so versunken in die Musik sein und so konzentriert seine Tätigkeit als Dirigent, Komponist, Pianist und Pädagoge ausüben? Eines der Rätsel im Leben des phänomenalen Leonard Bernstein …

Entspannung fand der Suchtmensch beim Schreiben von Gedichten, oder wenn er Kreuzworträtsel löste. In sechs verschiedenen Sprachen: Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch, Hebräisch, Spanisch. Oder bei einer Canastapartie mit Freunden. Egal wo: im Flugzeug, in Hotelhallen, Warteräumen – und sogar im Taxi, die Kartenhäufchen auf dem Schoß balancierend … Versuche der Entspannung für einen ewig Rastlosen.

Leonard Bernstein war ein Ausnahmekünstler, dessen musikalische Lebenslinie sich schon als Bub abzeichnete. Er gab schon Klavierstunden, obwohl er selbst noch Unterricht bekam. Er war ein Vollblutmusiker, ein Vermarktungsgenie, das auch die Klaviatur der Publicity – Herbert von Karajan ähnlich – brillant beherrschte. Beide Herren waren dem Medienzeitalter viele Jahre voraus.

Leonard Bernstein war der Euphorie fähig, aber auch der Zurückhaltung. Er gab hinter Umarmungen der Gesellschaft nur einen kleinen Teil seines Seelenlebens preis. Seine wilden, hemmungslosen Gesten haben viele Hörer und Kritiker irritiert. Sie stellten jedoch einen Teil seiner völligen Hingabe an die Musik dar. Er dirigierte immer, als sei er der Komponist, und zwar von Anfang an so extravagant und mit solch rauschhafter Begeisterung – voller kalkulierter Ekstase –, dass ihn manche des Exhibitionismus bezichtigten.

Das Time Magazine verdächtigte ihn, er fülle die Konzertsäle »mit Hilfe eines Sexappeals, den er von sich gibt wie ein exaltierter Zitteraal«. Seine Gegner – für Kritikerlegende Joachim Kaiser die »vereinigten Gehörlosen« – meinten, er inszeniere beim Dirigieren immer nur sich selbst. Er tanze auf dem Podium nur herum. Kritiker Joachim Kaiser sah es anders: »Bei Bernstein erlebt man ein Fluidum von Wahrheit und Leidenschaftlichkeit. Seine Unmittelbarkeit, seine dramatische Vergegenwärtigungskraft, ist das Gegenteil von bloßer Selbstdarstellung.«

Längst wurden Bücher und Dissertationen über das Leben Bernsteins verfasst. Wer sich in das Leben des Universalgenies vertiefen will, dem sei die Leonard Bernstein Biographie (Albrecht Knaus Verlag) von Humphrey Burton empfohlen. Diesem umfassenden Werk verdanke auch ich viele Informationen. Rund dreißig Jahre arbeitete der Brite Burton – Schriftsteller, Dozent an der Universität von Cambridge, BBC-Direktor und Regisseur klassischer Musikdokumentationen – an dem 800 Seiten starken Band.

Das vorliegende Buch über Leonard Bernstein, der 2018 seinen hundertsten Geburtstag feiern würde, ist kein musikwissenschaftliches Werk. Accelerando und Adagio, Pizzicato und Presto, Staccato und Stringendo sind nicht die Bausteine dieses Bandes. Ich habe versucht, bunte Mosaiksteine aus dem Leben einer der prägendsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts zusammenzutragen. Dabei brachten mir unter anderem in Gesprächen und Beiträgen Gundula Janowitz und Christa Ludwig, Kurt Rydl und Otto Schenk den Menschen und Musiker Leonard Bernstein näher.

Dieses Bernstein-Buch wurde auch zu einem Kaleidoskop des 20. Jahrhunderts. Kaum eine Zeit hat die Geschichte der Menschheit so geprägt wie die Jahre zwischen 1900 und 1999, einem Jahrhundert der Kriege, des Holocaust und des Kommunismus, der Entdeckungen, der Massenkommunikation und des gesellschaftlichen Wandels.

Leonard Bernstein war ein Phänomen musikalischer, aber auch menschlicher Vielseitigkeit. Dieses Buch will auch die Geschichte des Humanisten und Idealisten Bernstein, der einen Teil seiner Gage Amnesty International und dem Kinderhilfswerk UNICEF spendete, erzählen.

Ich habe Leonard Bernstein immer wieder in Wien und Salzburg getroffen – und war beeindruckt von einem großen Musiker und einem ganz großen Menschen.

Michael Horowitz, Herbst 2017

* Sämtliche Zitate, die den Kapiteln vorangestellt sind, stammen von Leonard Bernstein.

KAPITEL 1

Im Armenhaus der Monarchie

Um sich auf die Suche nach der Wahrheit begeben zu können, muss man trunken von der Fantasie sein.

Beim Pianisten Vladimir Horowitz, mit dem der Autor dieses Buches nicht verwandt ist, liegen Dichtung und Wahrheit nah beieinander. Vladimirs Vater besaß auch viel Fantasie. Um seinem Sohn den Militärdienst zu ersparen und ihm eine Ausreisegenehmigung zu verschaffen, hat ihn der jüdische Elektroingenieur um ein Jahr jünger gemacht. Auch der offizielle Geburtsort Kiew trifft nicht zu. Vladimir wurde in der kleinen, von Pogromen heimgesuchten Stadt Berditschew geboren. Die Familie Gorowitz – auch den Namen änderte der Vater später in Westeuropa – zog erst nach der Geburt Vladimirs in das Zentrum der Ukraine, nach Kiew, um. Wenn Wolodja, das gehätschelte Musikgenie, ruhte, trugen die Eltern Filzpantoffeln. Seine Launen und melancholischen Anwandlungen wurden im Hause Horowitz gerne geduldet – man war selig, ein musikalisches Wunderkind in der Familie zu haben. Als Fünfzehnjähriger musste er erleben, dass Bolschewiken den Flügel aus dem ersten Stock des väterlichen Hauses stürzten. Das Leben wurde immer gefährdeter und gefährlicher.

Auf dem Konservatorium in Kiew erregte Vladimir sehr bald Aufsehen und Bewunderung, trotz Hochmut, Wutanfällen und entrückten Eigenheiten. Komponist Sergei Rachmaninow, selbst ein gefeierter Pianist, war vom kapriziösen Einzelgänger begeistert und meinte 1931: »Bis ich Horowitz hörte, verstand ich nichts von den Möglichkeiten des Klaviers …« Ein Jahr später fand Vladimir die Begegnung seines Lebens: Der in die USA ausgewanderte »liebe Gott unter den Klavierspielern« trifft Arturo Toscanini. Bald ist Vladimir Horowitz sein Lieblingssolist – und Schwiegersohn und entwickelt sich zu einem der schillerndsten Musiker des 20. Jahrhunderts.

Launen, Marotten und das ewige Flirten mit der Einmaligkeit seiner Genialität prägen sein Leben: »Wenn ich spiele, bin ich Engel und Teufel zugleich.« Er schläft bis mittags in komplett verdunkelten Räumen und gibt Konzerte nur um vier Uhr nachmittags. Der bekennende Hypochonder reist mit einer Mini-Wasserdesinfektions- und Entkalkungsanlage um die Welt, mit eigenem Bettzeug und tiefgefrorenen Hühner- und Seezungenfilets. Das Musikgenie aus dem Stetl in Galizien pflegt ein Leben lang das Image vom kapriziösen Klavierakrobaten: »Ich fühle mich wie ein Gladiator, der im Kolosseum vor einem blutgierigen Publikum kämpfen muss.« Als eine Verehrerin von Vladimir Horowitz auf der New Yorker Fifth Avenue fragte, ob sie ihn berühren dürfe, schäkerte der Adorierte: »Das kommt darauf an, wo …«, und ließ sich die Hände küssen. Im Mai 1987 tröstet das 82-jährige »senile Wunderkind« Besucher, die für das Konzert im Großen Musikvereinssaal keine Karten mehr ergattern konnten: »In fünfzig Jahren komm’ ich sowieso wieder …« Zwischen seinem ersten und zweiten Wien-Gastspiel waren sogar 52 Jahre vergangen.

Die Erinnerung an Leid, Demütigung und Unterdrückung im »Armenhaus der Monarchie« blieb für viele jüdische Künstler ein Leben lang präsent. Und so mancher versuchte, traumatische Erinnerungen, die tragische Familiengeschichte im Stetl, ein Leben lang zu kompensieren. Sie blieben »überall als Fremdling kenntlich, das Pathos des Außenseiters im Herzen«, wie es Thomas Mann 1907 formulierte, von Ängsten geplagt, von Ehrgeiz getrieben, von Depressionen gepeinigt. Man versuchte oft, das Leid der Kindheit, der Jugend wettzumachen: durch entrückte Besessenheit, durch manische Lebensgier, durch hemmungslose Exzesse. Oft auch hinter einer Maske der Arroganz in einem prallen, wilden, glanzvollen – und oft traurigen – Leben.

In Polen und Russland mussten während der ersten Pogrome zwischen 1881 und 1914 rund drei Millionen Juden ihre Heimat verlassen. Fast jeder Dritte davon war Musiker. Jüdische Emigranten, die während der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts im westlichen Musikbetrieb für Furore sorgten, waren die Dirigenten Otto Klemperer, Fritz Reiner, George Szell und Bruno Walter und Instrumentalisten wie Jascha Heifetz und Vladimir Horowitz, Nathan Milstein und Artur Rubinstein, Menschen und Musiker voller Witz, Sentimentalität und Schwermut, oft auch gepeinigt von inneren Kämpfen und Zerrissenheit, mitunter auch von Beziehungsschwierigkeiten.

Die »Spezialität der Melancholie« (Joseph Roth) versuchte auch Vladimir Horowitz ein Leben lang zu überwinden. Er stammte aus dem »wilden Osten«, dem äußersten Nordosten der Donaumonarchie, wie auch Moses Joseph Roth, der Poet des sterbenden Habsburgerreichs, der in der galizischen Provinzstadt Brody geboren worden war. Bis zur russischen Grenze waren es kaum zehn Kilometer, aber mehr als 800 in die imperiale Hauptstadt Wien. Von 1772 bis 1918 war Galizien das größte Kronland der Monarchie. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert herrschte hier bittere Armut, jährlich starben mehr als 50 000 Menschen den Hungertod.

Seine literarischen Arbeiten verfasste Moses Joseph Roth als Joseph Roth. Wollte er durch das Weglassen des Vornamens Moses, den er seinem Urgroßvater, einem Steinmetz, verdankte, nicht als Jude erkennbar sein? Doch seine Heimat in Galizien an der österreichisch-russischen Grenze ließ den ruhelos durch die Welt ziehenden Joseph Roth nie los. Der auch hier geborene Schriftsteller Karl Emil Franzos nennt Galizien, den letzten Vorposten europäischer Kultur, einen von polnischen Feudalherren beherrschten, fruchtbaren Landstrich, »Halbasien«. Deutsche, Armenier, Ungarn und viele andere Volksgruppen prägten den Alltag. »Der Wind, der über Galizien weht, ist bereits der Wind der Steppen, bereits der Wind von Sibirien«, schrieb Joseph Roth.

Immer wieder kam es zu Spannungen, Kriegen und Grenzverschiebungen, sodass die Region ständig wechselnden Staatsgebilden angehörte. Ohne sich nur einen Zentimeter von der Stelle gerührt zu haben, fanden sich Familien als minder geachtete Bewohner der russischen Ukraine wieder. Die dunkelsten Momente in der Geschichte dieses Zwischenreichs waren die Demütigung und Unterdrückung der Juden – bis hin zu den Pogromen, den Massakern an der jüdischen Bevölkerung. Allein im Umkreis von Ternopil wurden während der Kriegsjahre 200 000 Juden ermordet. Rund sechzig Kilometer westlich von der einstigen Hauptstadt Krakau entfernt, liegt das Vernichtungslager Auschwitz.

Im 1924 erschienenen Essay Reise durch Galizien schildert Joseph Roth noch voller melancholischer Sehnsucht seine Heimat, die untergegangene Welt der osteuropäischen Juden, die sein Denken und Empfinden ein Leben lang prägte: »Auf den Märkten verkauft man primitive, hölzerne Hampelmänner wie in Europa vor 200 Jahren. Hat hier Europa aufgehört? Galizien liegt in weltverlorener Einsamkeit und ist trotzdem nicht isoliert; es ist verbannt, aber nicht abgeschnitten; es hat mehr Kultur, als seine mangelnde Kanalisation vermuten lässt; viel Unordnung und noch mehr Seltsamkeit. Viele kennen es aus der Zeit des Krieges, aber da verbarg es sein Angesicht. Es war kein Land. Es war Etappe oder Front. Aber es hatte eine eigene Lust, eigene Lieder, eigene Menschen und einen eigenen Glanz; den traurigen Glanz der Geschmähten.«

Joseph Roth hatte durchdringende, listige Augen eines Beobachters, Jägers, Reporters, eines Romantikers mit dem scharfen Blick eines Realisten. Er schrieb nicht nur viel, er trank auch viel. Zu viel. Die Getränke konnten nicht scharf genug sein. Der Alkohol, mit dem sich der große Dichter betäubte, beendete sein Leben. »Er hatte Glück bei den Frauen und wenig Glück mit ihnen«, meinte sein Freund, der Essayist Hermann Kesten, »… er beherrschte die Sprache wie Rastelli seine Bälle, wie Paganini seine Geige«.

Personal musste oft Frau, Familie und Freunde ersetzen, wie etwa die junge Wirtin in dem kleinen Café in der Pariser Rue de Tournon, die den kranken Poeten wie einen Freund betreute. In einer Lade unter der Schank verwahrte sie bis zu seinem Ende sorgsam seine Dokumente und Manuskripte. Winselnd vor süchtigem Verlangen, starb Joseph Roth 45-jährig in einem Pariser Armenspital. Ein Heimatloser voller Weltschmerz, ein ewig Rastloser, »… wissend und hoffnungslos. Man ist durch ein Feuer gegangen und bleibt gezeichnet für den Rest seines Lebens.«

KAPITEL 2

Fischmarkt als Universität

Das Leben ist ein dauerndes Bemühen.

Bei Leonard Bernsteins Familie kann – anders als bei Familie Horowitz und ihrem Potpourri aus Dichtung, Fantasie und Wahrheit – die Abstammung bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zurückverfolgt werden. Der Name Bernstein stammt vermutlich von früheren Bernsteinhändlern. Vorfahren waren Rabbiner und Schriftgelehrte, Leonards Urgroßvater Bezalel, um 1840 geboren, war Hufschmied. Weithin wurde der fromme, gesellige und wodkaliebende Handwerker geschätzt und respektiert: Er war so stark, dass er ganz allein eine Droshky, eine Kutsche, heben und ein Rad wechseln konnte. Als knapp Dreißigjähriger kam er bei einem Feuer in seiner Werkstatt ums Leben. Die Nachricht vom tragischen Tod des vierfachen Familienvaters verbreitete sich rasant.

Man lebte in der Kleinstadt Beresdiw, in einem der Stetln Osteuropas, innerhalb eines Ansiedlungsrayons der Provinz Wolhynien zwischen Kiew und Rowno am Ufer des Kortschik, einem der Gebiete, das der jüdischen Bevölkerung Wohn- und Arbeitsrecht zugestand. Das Toleranzedikt der liberalen Katharina II. von 1773 hatte noch irgendwie Gültigkeit: »Humanitäre Grundsätze erlauben es nicht, dass einzig die Juden von der Gunst, die allen gewährt wird, ausgeschlossen bleiben, sofern sie sich wie bisher, als getreue Untertanen dem Handel und Handwerk widmen …« Dennoch litt die jüdische Bevölkerung jahrhundertelang unter Schikanen. Antisemitismus war salonfähig, das Ghetto wurde zur Institution.

Wenn man aus dieser bedrohlichen Stetlatmosphäre ausbrechen wollte, waren die Möglichkeiten sehr begrenzt. Es gab den Traum von Amerika, die Illusion Südafrika und Lateinamerika, wo die Einwanderung von Juden erlaubt, manchmal sogar erwünscht war. Der kürzere Weg in ein anderes europäisches Land war zumeist nur mit Ablehnung verbunden. Ein mittelloser Jude aus dem fernen Galizien war nicht willkommen. Die Mutigsten beschlossen, den langen Weg nach Amerika zu wagen. Während der letzten zwei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts verließ mehr als eine Million Juden Russland, um in den Vereinigten Staaten ihr Glück zu suchen.

Leonard Bernsteins Vater Schmuel Josef wollte wie sein Vater und wie viele seiner früheren Vorfahren Rabbiner werden. Er war ein Mensch voll glühender Frömmigkeit, das Textbuch seines Lebens war der Talmud – die Sammlung der wichtigsten jüdischen Religionsgesetze –, den Schmuel als Wegweiser, als oberste Richtschnur sittlicher und gesellschaftlicher Moral empfand. »Wenn er eine Rede halten soll, beginnt er unweigerlich mit einem Talmud-Zitat. Er übergeht ihn auch nicht im täglichen Gespräch …«, erinnerte sich Leonard Bernstein in einem Aufsatz für das Gymnasium in Boston im Februar 1935, »… der Talmud ist sein unfehlbares Konversationslexikon … Er findet größeres Vergnügen an den vielen Geschichten, die der Illustration biblischer Feinheiten dienen, als an irgendeinem Roman. Er kennt kein einziges englisches Gedicht, weil ihm die Musik der talmudischen Prosa genug Zerstreuung bietet.«

Doch die Verlockung der weiten Welt, die Sehnsucht des jungen Schmuel Bernstein nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, war grenzenlos. 1903 floh sein Onkel Herschel Malamud gerade rechtzeitig vor Ankunft der zaristischen Stellungskommission – als Soldaten des Zaren mussten auch Juden dienen – aus seiner Heimatstadt Korez. Entschlossen begab er sich auf die ungewisse Seereise. Als Onkel Herschel in einem Brief berichtete, dass er in Hartford, einer Stadt in Connecticut, gelandet sei und als Friseurlehrling Woche für Woche einige Dollar verdiene, wusste Schmuel Josef, der seine Bar Mizwa schon hinter sich hatte, dass auch er die waghalsige Flucht unternehmen musste. Unter allen Umständen. Er erkundigte sich bei den Fluchthelfern seines Onkels, wie man sich über die Grenze nach Preußen und Danzig stehlen konnte, wie man Kontakt mit der jüdischen Hilfsorganisation aufnahm, um das Geld für die Überfahrt nach Amerika zu bekommen – und wie man sich über Wasser hielt, wenn man schließlich angekommen war.

Schmuels Familie erfuhr von den Fluchtplänen. Man weigerte sich entschieden, ihn ziehen zu lassen. Als ältester Sohn hatte er zu Hause zu bleiben und für die Familie den Lebensunterhalt zu sichern. Und irgendwann würde er ja sowieso Rabbi werden. »Was konnte Amerika ihm bieten? Nichts außer primitiven Menschen und wilden Tieren. Er würde kaum bis Danzig kommen. Und selbst dann würde ihn der Ozean verschlingen …«, berichtet Burton Bernstein, der jüngere Bruder Leonards, achtzig Jahre später im Buch Family Matters über die Bedenken der Verwandten. Was hätte die Familie damals im Stetl am Ende der Welt bloß gesagt, wenn sie geahnt hätten, dass Burton, Autor des Magazins New Yorker, einer der Kandidaten für eine (abgesagte) Journalistenreise in den Weltraum war.

1908 traf aus Connecticut ein Brief des Onkels Herschel Malamud – der seinen Namen längst amerikanischen Verhältnissen angepasst und auf Harry Levy geändert hatte – an den sechzehnjährigen Schmuel ein. Im Kuvert befand sich auch etwas Geld. Genug, um bis Danzig und vielleicht auch auf ein Schiff zu gelangen. Schmuel war für das Abenteuer seines Lebens bereit: In eine zusammengerollte Decke packte er ein paar Kleidungsstücke. Er verabschiedete sich von seinem Bruder und seinen Schwestern und musste schwören, aus Amerika bald Geld zu schicken, damit sie ihm nachkommen konnten. Der drei Jahre alte Bruder Schlomoh weinte bitterlich. Er wollte unbedingt mitkommen. Voller Angst und Schuldgefühl wagte Schmuel nicht, sich von seinen Eltern zu verabschieden, und schlich sich nachts aus dem kleinen Haus in Beresdiw.

Zu Fuß ging es unter Umgehung sämtlicher Grenzposten quer durch Polen in westliche Richtung – mit Brot und Erdäpfeln von Verwandten als Proviant. Richtung Danzig. Die große Hafenmetropole an der Ostsee, damals die Hauptstadt von Westpreußen, war schon immer Dreh- und Angelpunkt für die großen Auswanderungswellen osteuropäischer Juden gewesen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kannten sie nur ein Ziel: Amerika! Später auch Kanada und Palästina. Zwischen 1919 und 1925 emigrierten mehr als 60 000 Juden über den Danziger Hafen. Arbeiter, Handwerker und ziehende Händler, die zuvor im Armenhaus der Monarchie mit Socken und Schuhbändern, Knöpfen und Leinenballen hausiert hatten.

In der großen, beeindruckenden Stadt Danzig kaufte sich Schmuel ein Ticket für das Zwischendeck eines Transatlantikdampfers, dessen Endstation Liverpool sein sollte. Dort hoffte er, von einer jüdischen Hilfsorganisation Geld für die Überfahrt nach New York zu bekommen. Geprägt von Angst und Zweifel begann die zwei Wochen dauernde Schiffsreise in die Zukunft des sechzehnjährigen Schmuel Bernstein, der von Anfang an auf der Fahrt durch die raue Ost- und Nordsee seekrank war. Bis zum Schluss blieb es ungewiss, ob das Schiff jemals sein Ziel erreichen würde.

Schließlich legte der überfüllte, von Wanzen befallene Dampfer in Liverpool an. Man bot den erschöpften Emigranten nach Wochen mit verdorbenem Essen Gemüsesuppe an. In einer Lagerhalle am Hafen durften sie übernachten. Die hygienischen Missstände und das Ungeziefer im Bauch des Schiffs blieben Papa Bernstein ein Leben lang in Erinnerung: Regelmäßig musste seine Frau noch Jahrzehnte nach dem Zwischendeckaufenthalt im Jahre 1908 penible Reinlichkeitsfeldzüge durchführen. Sobald er verschüttetes Essen im Kühlschrank oder eine einzelne Ameise entdeckte, erschütterte ein Zornanfall das Haus.

Am nächsten Morgen bestieg Schmuel den Auswanderungsdampfer mit dem heiß ersehnten Ziel Amerika. Nach wilden Wochen auf der Fahrt über den Atlantik erreichte das Schiff die überfüllte, chaotische Einwanderungsstelle Ellis Island. Irgendwie fand Onkel Harry Levy den erschöpften, aber überglücklichen Schmuel. 25 Dollar als Bürgschaft für den neuen Amerikaner hatte er zuvor schon hinterlegt. Bald bekam auch Schmuel einen passenden Namen: Sam. Wie sein Onkel Jahre zuvor begann er im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ganz unten auf der Karriereleiter: Er nahm auf dem Fulton Street Market gegenüber von Manhattan Barsche und Dorsche, Heringe und Makrelen aus. Hier war die erste Anlaufstelle vieler Einwanderer: Es wurde nicht lange gefragt, man bekam ein scharfes Messer und einen Fischschupper in die Hand gedrückt. Gruppen von zehn Männern standen um die Metalltische. Alle paar Minuten dröhnte ein donnerndes Geräusch durch die Halle: Die nächste Lawine von Fischen schoss sintflutartig von oben auf den Tisch. Mit durchtränkten Schuhen in glitschiger Brühe watend, auf Haut, Haaren und Arbeitskleidung Fischblut und -eingeweide: Der Aufstieg für den schmächtigen Sechzehnjährigen auf der amerikanischen Erfolgsleiter konnte beginnen.

Er arbeitete von sechs Uhr früh bis sechs Uhr abends an sechs von sieben Tagen inklusive des Samstags, des jüdischen Sabbats, für einen Wochenlohn von fünf Dollar. Zu Mittag gab es eine Portion Salzheringe. Nicht nur in der kurzen Mittagspause träumte Sam von einer Karriere als Briefträger. Doch beim Bewerbungsgespräch versagte er. Später bezeichnete Sam Bernstein den Fulton Fischmarkt immer wieder als »meine Universität«. Beim Ausnehmen und Schuppen der Fische lernte Sam Bernstein, wie man von fünf Dollar pro Woche leben konnte, und seine ersten Brocken Englisch, hörte hitzige Argumente für die Demokraten und lernte auch, wie man Freunde gewinnen und Menschen beeinflussen konnte. Er entdeckte immer mehr, dass in Amerika alles möglich war.

KAPITEL 3

Jüdisches Penicillin

Ich glaube, ich hätte ein ganz annehmbarer Rabbiner werden können. Doch davon konnte keine Rede sein, denn Musik war das Einzige, was mich erfüllte.

Im Frühjahr 1912 erhielt Sam in seiner winzigen Unterkunft an der New Yorker unteren Eastside Post von Onkel Harry, der ihn nach Hartford in Connecticut einlud. Gemeinsam wolle man Pessach, das jüdische Osterfest, feiern. Und Harry deutete in dem Brief auch an, dass Sam vielleicht in Hartford bleiben könne, um in seinem Friseurgeschäft zu arbeiten. Der Laden liefe gut, inzwischen verkaufe man auch Zöpfe und Damenperücken. Der vom Schmutz und Gestank am Fulton Street Market frustrierte Sam fuhr bereits am nächsten Tag mit dem Zug nach Hartford. Bald begann er im Frisiersalon des Onkels als Lehrling zu arbeiten. Er befreite den Boden von Haaren, säuberte Kämme und Scheren und wusch Arbeitsmäntel – auch nicht gerade der Traumjob für Sam im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, aber noch immer besser, als zwölf Stunden pro Tag Fische auszunehmen.

Eines Tages bemerkte der Vertreter der New Yorker Firma Frankel & Smith – Lieferanten von Friseur- und Kosmetikartikeln – den Lehrbuben in Onkel Harrys Geschäft und engagierte ihn für die neue Filiale in Boston als Lagerarbeiter. Eine baldige Beförderung hinge nur vom Fleiß des jungen Mannes ab. Haarteile boomten, das Geschäft blühte auch in Boston. Sam sortierte Bündel von Menschenhaar, das aus Asien importiert wurde. Nach der chemischen Reinigung wurde das Haar für modebewusste Amerikanerinnen in Perücken geflochten. Sams Aufstieg begann. Bald war er einer der erfolgreichsten Mitarbeiter bei Frankel & Smith. Und bald gründete er eine eigene Firma – die Samuel Bernstein Hair Company.

1916, er war nun 24 Jahre alt, amerikanischer Staatsbürger und hatte einiges zusammengespart, konnte er langsam an die Gründung einer Familie denken. Der steife weiße Kragen sowie seine dunklen dreiteiligen Anzüge und der geglättete schwarze Lockenschopf ließen ihn wie einen jungen Mann auf dem Weg nach oben aussehen. Sam Bernstein hatte es geschafft. Im Frühjahr 1917 trat Amerika in den Krieg ein, Sam wurde in die Armee eingezogen. Doch wegen seiner Kurzsichtigkeit wurde er ehrenhaft entlassen. Ein paar Monate später, an einem Sonntag im Herbst, heiratet Sam Bernstein die neunzehnjährige Jennie Resnick. Auf ebenso abenteuerliche Weise wie er war Jennie bereits im Alter von sieben Jahren mit ihren Eltern aus einem Stetl ganz in der Nähe der Heimatstadt Sams nach Amerika gekommen. Früh hatte Jennie in einer Fabrik zu arbeiten begonnen und sie besuchte mehrmals pro Woche eine Abendschule, um Englisch zu lernen. Die Resnicks lebten in Lawrence, vierzig Kilometer nördlich von Boston. Jahre nach der Trauung behauptete Jennie, ihre Mutter hätte eine Verlobungsfeier organisiert und den Tag der Hochzeit fixiert, ohne der Tochter irgendetwas zu sagen. Einer bescheidenen Feier in der Synagoge folgte jedenfalls ein aufwendiges Fest im Hause Resnick. Tagelang bereitete die Familie unter den strengen Anweisungen von Mama Pearl Spezialitäten der ostjüdischen Küche zu: Gefillte Fisch (Karpfen mit Fischinnereien gefüllt), Borscht (Rote-Rüben-Suppe), jiddischen Kaviar (Hühnerleber mit Zwiebel und Gänseschmalz), Latkes (Erdäpfelpuffer) und vorbeugend fürs ganze Leben einen Riesentopf Hühnersuppe, jewish penicillin.

Die Flitterwochen nach dem üppigen Gelage bestanden aus einer einzigen schlaflosen Nacht im Essex Hotel im Zentrum von Boston. Der Lärm der Züge des nahen Bahnhofs hielt die beiden wach. Jennie musste jedoch ihrer streng religiösen Mutter versprechen, die Ehe nicht zu vollziehen. In der Hektik der Hochzeitsvorbereitungen hatte die Mutter vergessen, mit ihrer Tochter in die Mikwe, zum rituellen Reinigungsbad, zu gehen. Bereits am nächsten Tag zogen die Brautleute in eine winzige Wohnung im Armenviertel Mattapan ein. Hier konnte man schließlich die Hochzeitsnacht nachholen. Zehn Monate später kam das erste Kind der Bernsteins zur Welt. Als der Erstgeborene erwartet wurde, wollte Jennie bei ihrer Familie sein. Daher kam Leonard Bernstein am Sonntag, dem 25. August 1918 in Lawrence zur Welt. Die 100 000-Einwohner-Stadt galt als Immigrant City, weil viele Menschen aus Kanada, Irland und Italien, Litauen und Polen hierherkamen, um Arbeit zu finden. Trotz seiner damaligen geringen Fläche von nur 15,5 km2 hatte Lawrence mehr Einwanderer pro Einwohner als jeder andere vergleichbar große Ort der Welt.

Ursprünglich wurde das erste Kind der zwanzigjährigen Jennie Bernstein nach ihrem Zayde, dem Großvater, Louis genannt – das blieb sein Name, bis sich der sechzehnjährige Bernstein das Auto der Mutter ausborgte und mit seinem frisch erworbenen Führerschein von Boston nach Lawrence fuhr, um seinen Vornamen offiziell in Leonard ändern zu lassen. Zu Hause wurde er schon längst Len oder Leonard genannt, und vor allem Lenny. Fast wäre Leonard Bernstein auf dem Küchenboden zur Welt gekommen. Als um drei Uhr morgens die Wehen einsetzten, rief die Mutter den Hausarzt an. Doch noch bevor dieser eintraf, platzte die Fruchtblase. Um die Nässe aufzusaugen, schob die Mutter alte Zeitungen unter den angespannten Körper Jennies. Bald erschien der Arzt und brachte die Gebärende unter heftigen Wehen ins Allgemeine Krankenhaus von Lawrence. Gegen ein Uhr mittags – Jennie erinnerte sich an die Wanduhr in der Entbindungsstation – kam der Bub zur Welt, ein schwächliches, von Heuschnupfen und Asthmaanfällen geplagtes Kind, das sehr viel Zeit seiner Kindheit bei Ärzten und in Spitälern verbringen musste. Wenn Lenny nur nieste, wurden die Eltern schon blass vor Angst, wenn er wegen seines Asthmas plötzlich blau anlief, dachten sie jedes Mal, der Bub würde es nicht überleben. Nächtelang blieb die Mutter wach, hielt heiße Tücher und Töpfe mit dampfendem Wasser bereit, um ihm das Atmen zu erleichtern. Immer wieder litt Lenny auch an Koliken, vom Vater hatte er einen empfindlichen Magen geerbt. Die erste Frage Sams, sobald er spätabends aus dem Geschäft kam, war immer: »Wie geht’s Lenny?«

KAPITEL 4

Der Fensterbrettpianist

Die Klänge sind in meinem Kopf – und sie müssen heraus.

Viele Jahre später erinnerte sich Leonard in einem Gespräch mit Peter Gradenwitz, einem befreundeten Musikwissenschaftler: »Ich war ein kleiner, schwacher, kränklicher Junge, blass, unglücklich, hatte immer Bronchitis oder Ähnliches …« Erst im Alter von zehn Jahren »… passierte das mit dem Klavier. Plötzlich fand ich meine Welt. Ich wurde innerlich stark, ich wuchs, wurde sogar sehr groß. Ich trieb Sport, gewann Medaillen und Pokale, war der beste Taucher. Es geschah alles gleichzeitig. Es veränderte mein Leben. Das Geheimnis, die Erklärung ist, dass ich ein Universum fand, in dem ich sicher war: die Musik. Ich war in ihm beschützt, ich hatte in ihm ein Heim. Niemand konnte mir mehr etwas anhaben, mir wehtun. Auch nicht mein eigener Vater. Niemand konnte mich verletzen, wenn ich in meiner Welt der Musik war, wenn ich am Klavier saß. Das war meine Sicherheit.« Aus Platzmangel hatte eine Tante ihr altes, verstimmtes Klavier bei der Familie Bernstein deponiert. Samuel Bernsteins Schwester Clara, die in der Nähe gewohnt hatte, war nach New York gezogen. Ihr Piano blieb bei Bruder Sam zurück.

Der zehnjährige Lenny stürzte sich mit einer für den Vater fast beängstigenden Leidenschaft auf das Instrument, um sich Melodien und Akkorde zusammenzusuchen. Das Klavier hatte ein Mandolinenpedal, wenn man es betätigte, ertönte ein verknautschter Mandolinenklang. In jeder freien Minute hämmerte der Bub, sehr zum Missvergnügen des Vaters, auf dem Klavier herum, um bekannte Schlager, die er im Radio gehört hatte, nach dem Gehör zu rekonstruieren. Die erste Nummer, die Leonard Bernstein auf Tante Claras Klavier spielte, war Goodnight Sweetheart. »Ich war im siebten Himmel«, erinnerte er sich später. Seit Tante Claras altes Klavier im Haus war, verbesserte sich Lennys labiler Gesundheitszustand, und er wurde selbstbewusster.

Schon als kleiner Bub war Leonard Bernstein von Musik fasziniert gewesen: Die Orgelklänge und der fast opernhafte liturgische Gesang des Chors in der strengkonservativen Mischkan-Tefila-Synagoge rührten ihn immer wieder zu Tränen. Auch die chassidischen Melodien aus dem Victrola-Grammophon, einem Erbstück von Jennies Vater, die Papa Sam lautstark unter der Dusche mitsang, begeisterten Lenny. »Leonard war zu klein, um an die Aufziehkurbel zu reichen«, erinnerte sich Mama Jennie, »er weinte fürchterlich, die Tränen liefen ihm über das Gesicht. Dann schrie er: ›Moinik, Moinik‹ – ›Musik, Musik‹ –, ich stellte das Grammophon an, spielte ihm eine Platte vor und augenblicklich hörte er auf zu weinen.« Jennie nannte ihren Sohn schon sehr früh den »Fensterbrettpianisten«, denn er saß oft im Zimmer zur Straße auf dem Fensterbrett und lauschte dem Victrola-Grammophon und populären Schlagern wie Oh by Jingo. Er klopfte rhythmisch zur Musik, während er durch das Fenster Passanten beobachtete.

Später faszinierte den jungen Lenny der Radioapparat. Seine Kindheit fiel in jene Zeit, während der die große Ära des Rundfunks begann. Im Alter beschrieb er wehmütig, wie er lange Nachmittage an den drei Skalen eines Atwater-Kent-Überlagerungsempfängers gedreht und gelauscht hatte: »Mit einigem Glück hatte man den Sender schließlich drin. Man hörte jede Menge Knistern und Rauschen, doch irgendwie konnte man Rudy Vallee (Ende der Zwanzigerjahre) und Jack Benny (Anfang der Dreißigerjahre) heraushören.« Sein ganzes Leben lang konnte Bernstein die Namen und Erkennungsmelodien von mehr als zehn Musiksendungen herunterträllern, die er während seiner Kindheit im Rundfunk verfolgt hatte.

Doch weder im Kindergarten noch in seiner ersten Schule, der William Lloyd Garrison Grammar School in Roxbury, die Lenny vom sechsten bis zum elften Lebensjahr besuchte, erkannte man seine musikalische Begabung. Er erinnerte sich später nur, dass ihm »von einer wunderbaren Lehrerin Namens Miss Donnelly, in die ich sehr verliebt war« eine simple Methode des Notenlesens beigebracht wurde, worin er »der Beste in der Klasse war«. Er hatte nur angenehme, wohltuende Erinnerungen an die ersten Schuljahre und an seine Lehrerinnen: »Alles, was sie mir beibrachten, lernte ich mit Freude, ob Geschichte oder Rechtschreibung, ob so Lustiges wie Zeichnen mit Kreide oder so Langweiliges wie Schönschreiben. Sie hatten einfach Spaß am Unterrichten und wir haben entsprechend mitgemacht. Für mich waren die schönsten Stunden natürlich die Singstunden; Mrs. Fitzgerald brachte uns einige Dutzend Lieder bei … nie vergesse ich diese reizenden Damen; sie hatten eine ganz besondere Art, vielleicht weil sie gute, altmodische Bostoner Katholikinnen waren.«

Nach sechs glücklichen Schuljahren wurde der Elfjährige 1929 in die bereits 1635, ein Jahr vor der Harvard University, gegründete renommierte Boston Latin School aufgenommen. Eine liberale Bastion, die älteste noch existierende Schule der USA, stand Schülern jeglicher Herkunft offen. Nur die Leistung zählte. Gerne erinnerte sich Leonard Bernstein an seine Aufnahmeprüfung in der High School, die er gemeinsam mit seinem Freund Sammy Kostic absolvierte: »Wir standen mit klopfenden Herzen in einer langen, langen Reihe von Bewerbern und legten schließlich unsere Zeugnisse jemandem vor, der das Wort exempt darauf stempelte. Wir hatten keine Ahnung, was dieses Wort bedeutete; wir dachten, es hieß ausgeschieden, denn exempt klingt irgendwie nach aus, doch in Wirklichkeit bedeutete es von weiteren Prüfungen ausgenommen. Mit anderen Worten, wir waren zugelassen – wir sprangen vor Freude in die Luft.«

Einer von Lennys High School-Professoren war der Englischlehrer Philip Marson, der sich zu einer der ersten Vaterfiguren Bernsteins entwickelte. Der erfahrene Pädagoge wurde sehr bald zu einer verständnisvollen, bestimmenden Persönlichkeit für Lenny und zu einem Gegengewicht zu seinem despotischen, intoleranten Vater. Philip Marson lehrte Lenny liebevoll, wie man lernt. Er erinnerte sich, wie sein Schüler »alles gierig aufnahm, was ich an Dramen und Gedichten bieten konnte, und mit voller Aufmerksamkeit auf dem ersten Platz in der zweiten Reihe saß.«

Das Haus der Familie war viele Kilometer von der Schule entfernt. Lenny musste »sehr früh aufstehen und mit verschiedenen Hoch- und Straßenbahnen fahren, die unter lautem clang, clang, clang auf Schienen rollten. Während der ersten beiden High School-Jahre kehrte ich nach dem Unterricht eilig nach Roxbury zurück, um noch den Hebräisch-Unterricht in der Synagoge zu besuchen.« Danach konnte der passable fire baseman hinter dem Haus noch eine Runde Baseball spielen. »Doch gegen halb sechs sagte ich dann immer: ›Tut mir leid, Jungs, ich muss gehen.‹ Ich wurde mit Schreien, Pfiffen und höhnischen Sprüchen wie ›Homo, Homo, Weichling‹ niedergemacht – eine unvorstellbare Peinigung. Ich ging, um meine Hausaufgaben zu machen …«

KAPITEL 5

Der Partyheld, der Klavier spielen konnte

Früher oder später trotzt jeder Sohn seinem Vater,streitet mit ihm, verlässt ihn, nur um zu ihm zurückzukehrenund – wenn er Glück hat – sich bei ihm geborgener zu fühlen als zuvor.

Wann immer die Familie Bernstein bei Freunden mit einem Klavier eingeladen war, klimperte Lenny drauflos. Seine Liebe zur Musik war bald für alle erkennbar. Die Mutter zeigte sofort Verständnis für die erwachende Musikalität ihres Sohnes. Doch sie hatte im Hause Bernstein nicht viel zu sagen. Der autoritäre Vater hielt nichts von den musikalischen Anwandlungen Lennys: »Er war beunruhigt, er liebte mich, er wollte für mich nur das Beste«, erinnerte sich Lenny später, »Sicherheit für meinen Lebensweg war für ihn das Wichtigste. Ich sollte in sein – allmählich florierendes – Geschäft, die Bernstein Hair Company, eintreten oder wie unsere Vorfahren Rabbiner werden. Aber Musik? Vaters Vorstellungen von einem Berufsmusiker stammten noch aus dem russischen Ghetto; er hatte das Bild eines Klesmer vor Augen, der kaum mehr darstellte als einen Schnorrer, der mit einer Klarinette oder Violine von Stadt zu Stadt zog und für Almosen, ein paar Kopeken und ein kostenloses Essen, nächtelang auf Hochzeiten oder Bar Mizwas spielte. Er wollte nicht, dass sein Sohn ein Bettler würde.«

Eines Nachts wurde die Familie durch Lennys Klavier-Klimpern aufgeweckt: »Bist du meschugge? Es ist zwei Uhr früh«, schrie der Vater. Sein Sohn antwortete ihm: »Ich muss spielen, die Klänge sind in meinem Kopf und sie müssen hinaus.« Irgendwann kapitulierte Sam Bernstein und fand sich damit ab, dass der Bub jede freie Minute am Klavier verbrachte. Der Weg Lennys schien vorgezeichnet zu sein. Und auf dessen Bitten willigte Sam schließlich ein, ihm bei einer in der Nachbarschaft wohnenden Lehrerin Unterricht geben zu lassen. Für einen Dollar pro Stunde. Zwei Jahre lang kam die »dunkle, unglaublich attraktive und exotisch aussehende Frieda Karp« Woche für Woche zu den Bernsteins in die Wohnung und brachte Leonard Tonleitern und Stücke für Anfänger bei. Schon sehr bald beherrschte der übereifrige Schüler Melodien wie Mountain Belle oder On to Victory. Lenny lernte sehr schnell: »Es dauerte nicht lange, bis ich lauter und schneller spielte als Frieda Karp – ob auch besser, weiß ich nicht.« Nach weniger als einem Jahr musste die Klavierlehrerin schon Chopin- und Bach-Präludien mitbringen und bald darauf Chopin-Nocturnes. »Bei dem es-Dur Nocturne