Letzte Entscheidung - Tom Clancy - E-Book

Letzte Entscheidung E-Book

Tom Clancy

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Beschreibung

Korea testet erstmals erfolgreich Raketen mit Mehrfachsprengköpfen, was im Westen und in China größte Besorgnis auslöst. Die Reaktion lässt nicht lange auf sich warten. Um den massiven Sanktionen zu entgehen, schmiedet der nordkoreanische Geheimdienst einen perfiden Plan, dessen Verwirklichung nicht nur die Fundamente des »unzuverlässigen Verbündeten« China, sondern auch den gesamten Westen aus den Angeln heben könnte. Jack Ryan muss sich den neuen Dimensionen der Cyberkriegführung stellen.

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TOM

CLANCY

UND

MIKE MADEN

LETZTE

ENTSCHEIDUNG

THRILLER

Aus dem Amerikanischen von Reiner Pfleiderer

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Point of Contact

bei G.P. Putnam’s Sons, New York.

Redaktion: Werner Wahls

Copyright © 2017 by The Estate of Thomas L. Clancy, Jr.;

Rubicon, Inc.;

Jack Ryan Enterprises, Ltd.; Jack Ryan Limited Partnership

Copyright © 2020 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung © Nele Schütz Design

unter Verwendung von shutterstock/Eky Studio,

Titima Ongkantong, S. Bachstroem

Herstellung: Helga Schörnig

Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich

ISBN 978-3-641-24679-2V001

www.heyne.de

Das Buch

Nordkorea testet erstmals erfolgreich Raketen mit Mehrfachsprengköpfen, was im Westen und in China größte Besorgnis auslöst. Die Reaktion lässt nicht lange auf sich warten. Um den massiven Sanktionen zu entgehen, schmiedet der nordkoreanische Geheimdienst einen perfiden Plan, dessen Verwirklichung nicht nur die Fundamente des »unzuverlässigen Verbündeten« China, sondern auch den gesamten Westen aus den Angeln heben könnte. Jack Ryan muss sich den neuen Dimensionen der Cyberkriegführung stellen.

Letzte Entscheidung ist der 23. Band aus dem Jack-Ryan-Universum. Bei Heyne erschien zuletzt Anschlag auf den Präsidenten.

»Eins ist sicher: Tom-Clancy-Thriller sind so stark wie eh und je.« Publishers Weekly

Die Autoren

Tom Clancy, der Meister des Technothrillers, stand seit seinem Erstling Jagd auf Roter Oktober mit all seinen Romanen an der Spitze der internationalen Bestsellerlisten. Er starb im Oktober 2013.

Mike Maden ist Koautor und Experte für internationale Friedens- und Konfliktforschung sowie für Technologie im internationalen Zeitalter, worüber er seine Doktorarbeit schrieb.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Hauptpersonen

Regierung der Vereinigten Staaten

JACK RYAN: Präsident der Vereinigten Staaten

SCOTT ADLER: Außenminister

MARY PAT FOLEY: Direktorin der Nationalen Nachrichtendienste, DNI

ROBERT BURGESS: Verteidigungsminister

JAY CANFIELD: Direktor der CIA

ARNOLD VAN DAMM: Stabschef des Präsidenten

Der Campus

GERRY HENDLEY: Direktor von Hendley Associates/Direktor des Campus

JOHN CLARK: Operationsleiter

DOMINGO »DING« CHAVEZ: Leitender Außenagent

DOMINIC »DOM« CARUSO: Außenagent

JACK RYAN JUNIOR: Außenagent/Leitender Analyst

GAVIN BIERY: Leiter der IT-Abteilung

ADARA SHERMAN: Außenagentin

BARTOSZ »MIDAS« JANKOWSKI: Außenagent

Weitere Personen

PAUL BROWN: Forensischer Buchprüfer, Hendley Associates

WESTON RHODES: Ehemaliger US-Senator, Vorstandsmitglied von Marin Aerospace

DR. GORDON FAIRCHILD: Generaldirektor von Dalfan Technologies

LIAN FAIRCHILD: Sicherheitschefin von Dalfan Technologies (Gordon Fairchilds Tochter)

YONG FAIRCHILD: Finanzvorstand von Dalfan Technologies (Gordon Fairchilds Sohn)

CHOI HA-GUK: Vorsitzender, Demokratische Volksrepublik Korea (DVRK)

RI KWAN-JU: Vizedirektor, Direktorat für allgemeine Verwaltungsdienste (DVRK)

TERVEL ZVEZDEV: Ehemaliger Mitarbeiter des bulgarischen Komitees für Staatssicherheit

1

Nordsee-Ölfeld Albuskjell, Norwegen,56° nördliche Breite, 3° östliche Länge

Erfrieren oder ertrinken.

Er wusste nicht, was zuerst geschehen würde. Es war eigentlich auch egal. Jack Ryan junior war überzeugt, dass er so oder so in den nächsten zwei Minuten sterben würde.

Unter einem wolkenverschleierten Mond pflügte das Gefechtsschlauchboot F-470 Zodiac durch die kabbelige See. Mit beiden Händen umklammerte Jack die Halteleine am Süllrand, um nicht über Bord geschleudert zu werden. Adara Sherman, die vor ihm saß, tat dasselbe. Sie bekam mehr als er ab. Bei jedem Hüpfer des Boots klatschte ihnen Gischt ins Gesicht. Jacks Nachtsichtbrille war vereist. Die Gläser abzuwischen war zu riskant, solange er dieses bockende Wildpferd ritt. Dabei konnte er die Bohrinsel eine halbe Meile vor ihm noch immer kaum erkennen. Ihre Beleuchtung war ausgeschaltet, ihre klotzige Gestalt ein schwarzer Schatten über der wogenden See. Das war Jack ganz recht. Im Schutz der Dunkelheit würde ihr Kommen eher unbemerkt bleiben.

Jacks Zähne klapperten, und die Kälte lähmte seinen Verstand. Der eisige Nordseewind schnitt durch seinen fünf Millimeter dicken Neoprenanzug, und der peitschende Eisregen fühlte sich an, als würde ihm eine abgebrochene Bierflasche über die bloße Haut gezogen.

All dem Unbill zum Trotz knüppelte Bartosz »Midas« Jankowski den Motor mit Vollgas und hielt dabei die mit einer Brille geschützten Augen fest auf sein GPS gerichtet. Eigentlich hätten sie sich leise annähern sollen, aber sie waren spät dran. Und der heulende Wind verwehte den Lärm zum Großteil, den der schallgedämpfte 55-PS-Außenborder produzierte.

Wegen des starken Winds kam auch eine Helikopterlandung nicht infrage, geschweige denn ein schnelles Abseilen vom Heli – Jacks neue Lieblingsübung. Alle drei wurden kräftig durchgerüttelt, und die Zeit lief gegen sie. Wenn sie die Ölplattform nicht in den nächsten zwei Minuten erreichten, würde der Einsatz scheitern.

Vorausgesetzt, wir überleben die nächsten zwei Minuten überhaupt, rief sich Jack in Erinnerung.

Außerdem waren auf der Bohrinsel Bewaffnete, mit denen sie fertigwerden mussten. Im Moment erschienen ihm bewaffnete Killer allerdings als das kleinere Übel.

Wie aufs Stichwort bäumte sich eine Monsterwelle unter dem dahinjagenden Boot auf und hob die Backbordseite aus dem Wasser. Jack hatte die Stiefelspitzen zwar vorsorglich unter die Sicherheitsleine geschoben, die um das Gummideck herumlief, spürte aber trotzdem, wie er über die Seite kippte. In letzter Sekunde griff Midas mit sicherer Hand in die Bergeschlaufe seiner Weste und verhinderte so, dass er kopfüber in die brodelnde, schwarze See stürzte.

Jack spähte nach rechts zu dem anderen, nur wenige Meter entfernten Schlauchboot. Durch den Grünschleier der vereisten Nachtsichtbrille sah er, wie Dom Caruso ihm mit behandschuhtem Daumen ein kurzes »Alles in Ordnung?« signalisierte. Jack antwortete mit gerecktem Daumen. Keine Zeit für Geplauder. Doms Boot wurde von Ding Chavez gesteuert, der kein Auge von seinem GPS-Ortungsgerät wandte.

Die fünf Außenagenten des Campus waren ein eingespieltes Team und bildeten die Speerspitze des privaten, »inoffiziellen« Geheimdienstes, von dessen Existenz nur Präsident Ryan und ein paar Auserwählte aus seinem engsten Beraterkreis wussten. Sie waren eine kleine Organisation, leisteten aber wichtige Arbeit, die in keinem Verhältnis zu ihrer Größe stand. Diese Mission war dafür ein Beleg. Sie erfüllten Aufträge, die staatliche Geheimdienste wie etwa die CIA nicht übernehmen konnten. Oder wollten.

Der heutige Nachteinsatz bildete da keine Ausnahme.

Jack vergegenwärtigte sich noch einmal den Grundriss der Ölplattform, besonders die Lage von Kontrollraum und Maschinensaal – seinen beiden Zielen. Gavin Bierys fabelhafte IT-Künste waren wieder einmal zum Tragen gekommen. Wenn er nicht wäre, wären sie ziemlich orientierungslos.

Das von Gavin erstellte Lagebild bestätigte, dass sich vier Geiseln und sechs bewaffnete, ausgebildete Öko-Terroristen von der Green Army Faction auf der Bohrinsel befanden. Doch Informationen zu einer Geiselbefreiungsaktion wie dieser waren immer mit Vorsicht zu genießen. John Clarks Warnung klang Jack noch in den Ohren: »Seht euch vor da draußen. Ihr wisst nicht, was ihr nicht wisst.«

Wie wahr.

»Es ist so weit«, flüsterte Dings Stimme aus allen Ohrstöpseln.

»Verstanden«, bestätigte Midas.

Jack beobachtete, wie Dings Boot in einem scharfen Winkel abdrehte und eine Wasserfontäne unter der schussfesten Armorflate-Gummihaut hervorspritzte. Die kleine Bohrinsel hatte zwei Zugangsleitern. Das Trio um Jack sollte die vordere nehmen, Ding und Dom die hintere. Bei den Übungen mit dem norwegischen MJK (Marinejegerkommandoen, vergleichbar mit den Navy Seals) in der letzten Woche hatte zwar kaltes, aber ruhiges Wetter geherrscht, sodass sie ihre Zeitpläne exakt hatten einhalten können. Das konnten sie heute Nacht hier draußen auf der rauen Nordsee vergessen.

Der Einsatz hatte zwei Ziele: die Geiseln befreien und die Geiselnehmer gefangen nehmen oder töten. Die Green Army Faction drohte nicht nur damit, die gefangenen Ölarbeiter zu töten, wenn ihre Lösegeldforderung nicht erfüllt wurde, sondern auch die Bohrinsel in die Luft zu sprengen und dadurch eine Ölpest auszulösen, verheerend wie beim Untergang der Deepwater Horizon. Die amerikanische Politik war auf Forderungen von Terroristen noch nie eingegangen, da dies unweigerlich zu noch mehr Terror führen würde. Das wusste jeder Geschichtsstudent. Doch einige Regierungen und Unternehmen beschäftigten sich offenbar nicht mit der Geschichte.

Die nahm die Green Army Faction ins Visier. Und mit Erfolg.

Allerdings deutete in diesem Fall der Hinweis eines Informanten darauf hin, dass die Gruppe auf der Bohrinsel nicht beabsichtigte, die Aktion nach dem Geldtransfer abzubrechen. In ihren kranken Hirnen planten sie, »die Erde zu retten«, indem sie das Meer vergifteten, um die öffentliche Empörung über die Ölindustrie zu schüren. Die Ermordung der Ölarbeiter war dabei eine Art heiliger Zusatzakt wie das Abschlachten gefangener Ungläubiger beim IS.

Die stillgelegte Bohrinsel lag in einem aufgegebenen Ölfeld mitten in der Nordsee in internationalen Gewässern. Ein Ölsucherteam aus Texas entwickelte neue Fracking-Techniken, um versiegte Unterwasserquellen wieder zum Sprudeln zu bringen. Die GAF hatte Wind davon bekommen und zugeschlagen.

Als klar wurde, dass die Geiseln getötet werden sollten, rief der verzweifelte Sicherheitschef des Unternehmens seinen Freund John Clark an. Vielleicht konnte Clark seine alten Beziehungen zu Rainbow Six spielen lassen. Da aber nur ein Zeitfenster von vier Stunden blieb, war das keine Option.

Doch es gab eine andere.

Wie es der Zufall wollte, hatte John Clark für die Außenagenten des Campus nur zwei Stunden entfernt eine Übung mit MJK-Agenten für genau diese Art von Einsatz organisiert. Die norwegische Regierung verweigerte dem MJK zwar die Erlaubnis, den Angriff zu unterstützen, doch Clark forderte ein paar Gefallen ein und sorgte dafür, dass die Møvik – ein in Schweden gebautes Kampfboot der CB90-Klasse – das Team absetzte. Danach war es auf sich allein gestellt.

Der hastig entworfene Plan sah vor, dass die beiden Campus-Teams gleichzeitig die Leitern erklommen, dann simultan drei der vier Gebäude angriffen und dabei Gegner ausschalteten. Jacks Team sollte den vorderen Teil der Plattform einnehmen. Midas und Adara sollten die Mannschaftsquartiere attackieren, in denen sie die Geiseln vermuteten, während Jack den Kontrollraum sichern und weiter zum Maschinensaal vorstoßen sollte. Auf der hinteren Seite der Plattform sollte Dings Zwei-Mann-Team zunächst das Bohr- und das Verarbeitungsmodul angreifen, an denen höchstwahrscheinlich die Sprengsätze angebracht waren. Hatten sie die unter Kontrolle gebracht, sollten sie je nach Bedarf den Angriff auf die Mannschaftsquartiere oder auf den Maschinensaal unterstützen. Jedes Team sollte bis zum Zentrum der Anlage vorstoßen, dort noch lebende GAF-Kämpfer in die Enge treiben und zur Aufgabe zwingen – oder liquidieren.

So jedenfalls lautete der Plan.

Alle Beteiligten waren sich darin einig, dass klare und ständige Kommunikation der Schlüssel zum Erfolg war. Unabhängig davon, wie sich die Lage auf der Plattform tatsächlich darstellte und wie viele Terroristen und Geiseln es genau waren.

Das größte Problem heute Nacht war neben dem miserablen Wetter ihre beschränkte Feuerkraft. Jedes Teammitglied trug die gleichen zwei Waffen mit Schalldämpfer bei sich: eine kurzläufige SIG-Sauer-MPX-Maschinenpistole und eine SIG-Sauer-P229-Pistole, beide Kaliber 9 mm. Aus Angst vor zu hoher Durchschlagskraft verwendeten sie kein stärkeres Kaliber, und der Einsatz von Sprengkörpern oder gar Blendgranaten kam in der höchst feuergefährdeten Umgebung nicht infrage. Grips, Muskelkraft und eine ruhige Hand waren ihre einzigen Trümpfe. In Anbetracht der Zusammensetzung des Teams sollte das in Jacks Augen auch genügen.

Der Bug des Schlauchboots senkte sich, als Midas Gas wegnahm. Das bedeutete, dass sie fast am Ziel waren. Das Boot schaukelte zwar immer noch heftig im hohen Seegang, doch jetzt konnte Jack gefahrlos die Hände heben und die Nachtsichtbrille abwischen. Das Boot war nur noch wenige Meter von der Leiter der Bohrplattform entfernt. Das Zodiac auf der anderen Seite war von hier kaum zu erkennen. Der Eisregen ging in dichten Schneefall über, was die Nachtsichtbrille praktisch nutzlos machte.

»Zehn Sekunden«, flüsterte Midas in den Ohrstöpseln.

»Verstand… wir …«, antwortete Ding.

»Bitte wiederho…«, flüsterte Midas.

Keine Antwort.

»Was ist los?«, fragte Jack in sein Funkgerät.

Er sah, dass Midas die Lippen bewegte, hörte aber nichts in seinem Ohrstöpsel.

Funkgeräte ausgefallen!

Jack hatte den Gedanken kaum gefasst, da stieg Midas auch schon auf Handzeichen um.

Das Schlauchboot wurde noch langsamer. Adara griff nach der Leine mit dem Hartgummienterhaken, während Midas den Motor abstellte. Eine weitere hohe Welle hob das Boot empor und drückte es heftig gegen einen der dicken Stahlpfeiler, auf denen die Plattform ruhte, doch das aufgeblasene Gummi prallte unbeschadet ab und wurde in Richtung der nahen Leiter geworfen. Adara schleuderte den Haken und erwischte schon beim ersten Versuch eine Leitersprosse. Sie und Jack zogen kräftig an der Leine, bis das Boot so dicht neben der Leiter lag, dass sie es daran festmachen konnten.

Jetzt kam es auf das andere Boot an. Es war von entscheidender Bedeutung, dass beide Teams gleichzeitig die Leitern hinaufstiegen. Jack hob sein Taclight und ließ es zweimal in Dings Richtung aufblitzen. Einen Augenblick später blinkte es zurück.

Jack signalisierte Midas und Adara »startklar«. Beide bestätigten, und Adara übernahm die Führung. Sie hob einen Fuß vom schwankenden Deck auf den Süllrand, stimmte den nächsten Schritt mit dem anderen Fuß auf die Leiter auf den Wellengang ab, zog sich mit einer Hand nach oben, als das Boot den höchsten Punkt erreichte, alles in einer einzigen, mühelos geschmeidigen Bewegung. Sofort nahm sie die beschwerlichen dreißig Meter Aufstieg in Angriff.

Jack beobachtete sie im flimmernden Grün der Nachtsichtbrille. Von hier unten im schaukelnden Boot sah es so aus, als kletterte Adara durch das Tor einer rostigen Stahlhölle.

Das Boot sackte wieder nach unten, als Midas in Position ging. Am Scheitelpunkt der nächsten Welle hob er den Fuß, setzte den schweren Stiefel auf eine Sprosse, zog seine breite Gestalt mit starken Armen hoch und kletterte zügig nach oben.

Wieder sackte das Boot nach unten, und mit ihm Jacks Magen. Es setzte so hart im Wellental wieder auf, dass Jack fast die Knie einknickten. Der Seegang wurde rauer.

Jack zog an seiner MPX und vergewisserte sich, dass der Gurt noch fest saß, dann richtete er sich wieder auf und stellte den rechten Fuß auf den Süllrand. Im nächsten Augenblick spürte er eine mächtige Welle unter sich, und das Boot schoss nach oben, doch gerade als er absprang, prallte es mit solcher Wucht gegen die Stahlleiter, dass er nach vorn geschleudert wurde. Er bekam gerade noch mit beiden Händen eine vereiste Sprosse zu fassen, als er mit den Knien gegen den kantigen Stahl schlug. Einen Moment lang hing er zappelnd in der Luft. Dann fanden seine Füße eine Sprosse, und er war gerettet. Seine Augen folgten der Welle, die gegen einen anderen Stahlpfeiler krachte.

Sein Herz raste. Das war knapp.

Er hielt kurz inne, holte tief Luft und sammelte sich.

Ein schwerer Fehler.

Aus dem Augenwinkel sah er die nächste weiß schäumende Monsterwelle heranrollen.

Er drückte sich im selben Moment an die Leiter, als die Welle über ihn hereinbrach.

Zu spät.

2

Festhalten und Pobacken zusammenkneifen, mehr konnte Jack jetzt nicht tun. Die Welle rammte ihn wie ein großer, grauer Stier und schmetterte seinen behelmten Kopf mit der Seite gegen die Stahlleiter, aber irgendwie ließ er nicht los.

Eine Sekunde verging, und das wütende graue Monster brauste davon in die Dunkelheit.

Jack konnte sein Glück kaum fassen und wollte es nicht weiter herausfordern.

So schnell er konnte, löste er den Klammergriff und machte sich an den Aufstieg, wobei er einiges an salzigem Meerwasser ausspuckte und hustete. Er kletterte so zügig nach oben, wie er es auf dem vereisten Stahl wagen konnte, angetrieben von John Clarks Reibeisenstimme, die in seinem Kopf widerhallte: »Aller bösen Dinge sind drei.« Der Ausfall der Funkgeräte und die Monsterwelle standen für zwei. Er wollte jetzt nicht darüber nachdenken, was Nummer drei sein könnte.

Die ersten paar Schritte fielen ihm leicht, obwohl er vor Nässe triefte, doch auf der nächsten Sprosse rutschte sein linker Fuß weg. Wieder begann sein Herz zu rasen, doch seine schnellen Reflexe verhinderten, dass er von der Leiter stürzte. Er war wieder klarer im Kopf – dem Tod zu entrinnen hatte diese Wirkung auf das menschliche Gehirn. Sofort setzte er den gefährlichen Aufstieg fort und kletterte vorsichtig, aber zügig nach oben.

Erst nach mehreren Sprossen spähte er nach oben, um festzustellen, wo die anderen waren. Sie kletterten schnell und waren schon fast oben, nicht ahnend, dass er nur knapp dem Tod entronnen war. Offensichtlich wurde Adara von der Schussverletzung am Bein, die sie letztes Jahr in Chicago erlitten hatte, nicht behindert.

Jacks Tritte wurden sicherer, und er legte einen Zahn zu. Das Adrenalin befeuerte ihn jetzt und milderte die Kälte, obwohl er völlig durchnässt war, und die körperliche Anstrengung hielt ihn trotz des Schneetreibens warm. Das Brennen in seinen Oberschenkeln war ein gutes Zeichen. Er lebte noch. Und das Salzwasser, das noch in seinen Nebenhöhlen juckte, half ihm sogar, den Kopf wieder klar zu bekommen.

So weit, so gut.

Er drosselte das Tempo, als er das Fallschutzgitter am Ende der Leiter erreichte, denn er rechnete damit, dass ihn Adara per Handzeichen zum Warten auffordern würde. Laut Plan sollten sie sich am Einstieg sammeln, dann aufteilen und ihre jeweiligen Ziele angreifen, die rund dreißig Meter auseinander lagen. Er streckte den Kopf über die Kante und ließ den Blick über die Plattform huschen.

Adara und Midas waren verschwunden. Was zum Teufel …?

So viel zum Plan.

Er kletterte aus dem Fallschutzgitter und ging auf dem Gitterrostboden, der die Ansammlung von Meerwasser verhindern sollte, in die Hocke. Der meiste Schnee fiel durch, sodass keine deutlichen Fußstapfen zu erkennen waren, denen Jack hätte folgen können.

Er spähte nach links, wo die Mannschaftsquartiere lagen. Er entdeckte weder Midas noch Adara, doch laut Plan mussten sie diese Richtung eingeschlagen haben. Wie aus dem Grundriss der Plattform hervorging, befand sich die Eingangstür hinter der Ecke vor ihm. Wenn sich die beiden dort postiert hatten, konnte er sie jetzt ohnehin nicht sehen.

Er blickte auf seine Uhr. Wenn das andere Team an seinem Platz war, würde es in den nächsten dreißig Sekunden eine Tür eintreten.

Zeit, sich an die Arbeit zu machen.

Jack lud die MPX durch. Die Terroristen würden bei dem Wetter alle drin sein. Keine Frage. Er grinste in sich hinein. Welcher Idiot würde bei so einem Sauwetter schon rausgehen? Es schneite und windete mittlerweile so stark, dass man fast von einem Schneesturm sprechen konnte. Jack wischte die Eiskruste von seinen Handschuhrücken.

Er probierte noch einmal das Funkgerät, erhielt aber keine Antwort. Selbst wenn Adara und Midas direkt neben ihm gekauert hätten, hätten sie nicht miteinander sprechen können – bei dem Wind hätten sie schreien müssen und dabei riskiert, ihre Position zu verraten.

Jack sah zu, wie die Sekunden heruntertickten. Er war dankbar für die langen, ermüdenden Trainingsstunden, die er in der letzten Woche auf einer Bohrplattform zugebracht hatte, die so ähnlich wie diese hier war, besonders jetzt, wo er, von Orkanböen gepeitscht, in Kälte und Dunkelheit hockte und die Zeit knapp wurde. Er sah wieder auf die Uhr.

Los!

Er rannte geduckt an einem Gitterkasten vorbei und bog um die Ecke, als ihm etwas auf dem Deck ins Auge stach. »Augen offen halten!«, hatte ihm Ding bei den Übungen immer wieder zugebrüllt. Es rettete ihm auch diesmal den Arsch.

Jack blieb abrupt stehen, die Stiefelspitze nur Zentimeter vor einer Linie aus Schnee.

Ein Stolperdraht. Er war über den Stahlgitterrost gespannt, und große Schneeflocken hockten darauf wie fette Tauben auf einer Stromleitung.

Jack ging in die Knie, schaltete das Taclight an seiner Waffe ein und folgte dem Draht bis zu seinem Endpunkt – eine MRUD, die jugoslawische Kopie einer Claymore-Mine.

Hinterhältige Scheißkerle.

In Gavins Lagebild war von Minen keine Rede gewesen, aber Clark hatte ihnen eingeschärft, dass sie mit allem rechnen sollten. Vielleicht hatten diese Arschlöscher von der Green Army auch einen Störsender am Laufen, der ihre Funkgeräte lahmlegte. Aber jetzt fragte sich Jack: Hat der Gegner nur einen Schutzzaun gezogen oder hält er noch Schlimmeres für uns bereit?

Er stieg vorsichtig über den Stolperdraht und hielt im wirbelnden Schnee und flimmernden Grün seiner Nachtsichtbrille aufmerksam nach weiteren Ausschau. Er entdeckte keine. Dann erreichte er seine Position rechts neben der nach außen aufgehenden Stahltür.

Nach dem Grundriss, der ihnen vorgelegen hatte, maß der quadratische Kontrollraum, an dessen Außenwand er jetzt lehnte, zehn auf zehn Meter – genau wie die anderen drei Module auf der Plattform. Jack sollte auf der Ostseite eindringen. Gegenüber in der Westwand war eine weitere Tür, die in die Wohnquartiere führte. In der Nordwand war eine Tür zum Maschinensaal. Der war sein Ziel.

Wenn ich lebend durch den Kontrollraum komme, rief er sich in Erinnerung.

Im Kontrollraum gab es keine Innenwände. Alle Steuerkonsolen, Schreibtische und Arbeitsplätze reihten sich an den Außenwänden. War er erst einmal drin, konnte er nirgends in Deckung gehen.

Er sah wieder auf die Uhr. Noch zehn Sekunden. Er legte eine behandschuhte Hand auf den Türknauf und drehte ihn vorsichtig. Unverschlossen. Gut.

Schüsse ertönten vom anderen Ende der Plattform. Klang nach AK-47. Das bedeutete, dass Ding und Dom drin waren. Aber die hatten keine AKs. Er hörte keine Feuererwiderung. Vielleicht drang das dumpfe Husten der schallgedämpften Waffen bei dem Wind nicht bis zu ihm.

Jack spürte, wie ihm das Blut durch die Adern schoss. Seine Freunde waren in Schwierigkeiten. Auf einmal war ihm überhaupt nicht mehr kalt. Zeit zum Losschlagen.

Jack riss die Tür auf, sprang zur Seite und drückte sich gegen die gewellte Stahlblechwand, überzeugt, dass die Terroristen auf die Türöffnung feuern würden.

Doch es geschah nichts.

Jack spähte hinein und zuckte nach einer Sekunde wieder zurück. Durch die Nachtsichtbrille hatte er nichts gesehen, nur die Tür an der Nordseite des Raums, die halb offen stand. Er war dankbar für die Segnungen der Nachtsichttechnik.

Er huschte geduckt durch die Tür …

Wums!

Licht stach wie Dolche in seine Augen.

Seine weit geöffneten Pupillen hinter der Nachtsichtbrille verwandelten das Licht der Deckenleuchten in Photonenschrapnells. Jack warf sich zu Boden und rollte sich in dem Moment zur Seite, als aus der halb offenen Tür in der Nordwand Gewehrfeuer losbrach. Blind riss er seine Waffe hoch, betätigte den Abzug und jagte einen Feuerstoß in Richtung des Lärms, doch der GAF-Schütze stellte sofort das Feuer ein, als sein Magazin leer war.

Jack schnellte in die Höhe, riss die Brille herunter und rannte, sich die geblendeten Augen reibend,zur Nordwand. Als er sich dort neben der Tür an die Wand warf, war sein Sehvermögen fast wiederhergestellt. Er fragte sich, ob ein Bewegungsmelder oder eine flinke Hand das Licht im Raum eingeschaltethatte.Aber eigentlich spielte es keine Rolle.

Ein kurzer Check bestätigte, dass er nicht getroffen worden war. Das wunderte ihn, denn an der Stelle, wo er sich hingeschmissen hatte, war der Linoleumboden zerfetzt.

Er dachte nur: Aller bösen Dinge sind drei. Und das war Nummer drei gewesen.

Aber sein Gefühl sagte ihm, dass bei drei noch nicht Schluss war.

Er schob ein frisches Magazin in die Waffe und lud durch.

Die Tür in der Nordwand führte, wie er wusste, auf ein kurzes Freideck und weiter zum Maschinensaal. Dort erwartete ihn eine weitere Tür, die nach außen aufging.

Und vermutlich auch das Arschloch, das gerade auf ihn geschossen hatte.

Und vielleicht sogar seine Freunde.

In einiger Entfernung hörte er wieder Schüsse. Möglich, dass sein Team noch kämpfte. Oder die Gegenseite brachte gerade die Geiseln um.

Ohne Funkkontakt konnte er nur raten.

Keine Zeit zu verlieren.

Jack ging in die Knie und streckte den Kopf zur Tür hinaus. Das kurze Freideck war leer, die Tür am anderen Ende zu.

Sie wussten, dass er kam. Sie brauchten nur die Tür aufzustoßen und das Feuer auf ihn zu eröffnen. Zwischen den Geländern würde er in der Falle sitzen – außer er beschloss, über die Reling in den tosenden blauen Abgrund zu springen.

»Sieben Atemzüge«, sagte er sich. Eine Faustregel aus dem Hagakure.

Er rannte los wie der Teufel.

Das Stahlgitter schepperte unter seinen schweren Stiefeln. Er heftete die Augen fest auf die geschlossene Tür und wartete darauf, dass sie aufschwang.

Sie tat es nicht.

Mit einem dumpfen Schlag prallte er gegen die Außenwand des Maschinensaals. Sie wussten, dass er kam. Es brachte nichts, in der eisigen Dunkelheit herumzuhampeln.

Er wünschte, er hätte eine Blendgranate. Aber er hatte keine. Nur seinen Mut. Der musste genügen. Sein Team zählte auf ihn. Und die Geiseln auch.

Er vergegenwärtigte sich noch einmal den Grundriss des Maschinensaals. Zehn auf zehn Meter. Sechs Räume – genauer gesagt Verschläge mit nur zwei Wänden jeweils. Holzlatten und Wellblech. Werkzeug und Maschinen in jeder, wie er vermutete – Drehbänke, Schweißgeräte, was auch immer.

In welcher würde der Schütze stecken?

Jack riss die Tür auf, verharrte aber neben der Öffnung. Er spürte, wie großkalibrige Geschosse über seinem Kopf in die Wand einschlugen. Schielte kurz nach oben. Sah, wie dreißig Zentimeter über ihm schartige Stahlblüten aufgingen.

Das bedeutete, dass der Schütze wahrscheinlich in der Nordwestecke steckte. Er schoss miserabel – oder stand Todesängste aus.

Oder er wollte, dass Jack das dachte.

Jack musste etwas tun, um den Schützen abzulenken. Er hielt die MPX um den Türrahmen herum und gab einen kurzen Feuerstoß ab, wobei er hoch auf die hintere Wand zielte, um nicht in der Nähe befindliche Geiseln oder Teamkameraden zu treffen. Er jagte einen zweiten Feuerstoß hinterher, stürmte durch die Tür und hechtete in den ersten Verschlag zur Linken. Er schlitterte in einen großen Werkzeugschrank.

Am anderen Ende des Raums schrie eine Frau.

Ein kurzer Feuerstoß bellte in einiger Entfernung.

Verdammt! Jack hob den Kopf. An einem Haken an der Wand gegenüber hing ein Hammer mit kurzem Stiel. Er huschte hinüber und ergriff ihn.

»Das könnte jetzt wehtun«, rief er und warf den Hammer wie eine Handgranate. Das Ding rutschte holpernd über den Gitterboden und blieb vor dem letzten Verschlag zur Linken liegen, in dem Jack den Gegner vermutete. Er hoffte, der Bastard würde es für eine Blendgranate halten und aus der Deckung kommen.

Das war zumindest der Plan.

Noch bevor der Hammer zum Liegen kam, war Jack aus seinem Verschlag in den zweiten an der gegenüberliegenden Wand gestürmt und hatte seine Waffe auf die Nordwestecke gerichtet.

Der Blick durch das Zielfernrohr zeigte ihm einen bärtigen Kämpfer mit einer kurzläufigen AKS-74U, die fast wie eine Maschinenpistole aussah. Jack hätte ihn am liebsten umgenietet, doch er versteckte sich hinter zwei Technikerinnen in ölverschmierten Overalls, einer Brünetten und einer umwerfend aussehenden Blondine. Selbst von hier aus konnte er deren blaue Augen erkennen. Der Bärtige hielt die beiden Frauen mit einer Hand an ihren Kragen fest, sodass er ihnen halb die Luft abschnürte. Mit der anderen Hand richtete er seine Waffe auf ihre Köpfe.

»Waffe fallen lassen!«, rief Jack.

»Ich erschieße beide.«

Der rote Leuchtpunkt in Jacks Visier ruhte für einen Moment auf dem Gesicht des Mannes. Jacks Finger zuckte, zog aber nicht durch. Die oberste Regel bei jedem Einsatz lautete, wenn irgend möglich die Geiseln zu retten. Diesem Kotzbrocken eine Kugel zu verpassen war zweitrangig. Das Risiko war zu groß. Der Bastard hatte Angst. Vielleicht konnte Jack ihn noch zum Aufgeben überreden.

In diesem Augenblick des Zögerns veränderte der Terrorist seine Position und verschwand wieder hinter den Frauen. Selbst wenn Jack hätte schießen wollen, jetzt war es zu spät.

»Waffe fallen lassen!«, rief er wieder.

»Fick dich, Kapitalist!«

Jack hob eine Hand. »Seien Sie nicht dumm. Lassen Sie die Waffe fallen. Ich garantiere für Ihre Sicherheit.« Jack rührte sich nicht vom Fleck. Er hoffte inständig, dass der Spinner sich wieder eine Blöße gab.

Stattdessen schob der Terrorist die beiden Frauen wie einen Schutzschild vor sich her aus dem Verschlag und arbeitete sich auf diese Weise weiter in Richtung der Stahltür an der Ostwand, die zum Bohrturm führte.

Jack flitzte geduckt nach links und rechts, um kein leichtes Ziel zu bieten, denn er hatte keine Deckung – warum schoss der Typ nicht einfach auf ihn? In der Hoffnung, selbst einen Körpertreffer landen zu können, hielt er die Waffe weiter auf den Typ gerichtet. Wenn er ihm entkam, könnte er seine Freunde außer Gefecht setzen und die Bohrinsel in die Luft jagen. Aber wenn Jack danebenschoss, würde er die Geiseln töten.

Der Bärtige erreichte die Tür. Die Hand mit der Waffe tastete nach dem Türknauf, doch seine Augen blieben auf Jack gerichtet. »Denk nicht einmal dran!«

»Nein, Mann, wir bleiben cool.«

Die Tür öffnete sich einen Spalt, und der Grünarmist drückte sie mit dem Rücken weiter auf. Dann plötzlich stieß er die beiden Frauen nach vorn und schlug die Tür von außen zu.

Die Frauen kamen schreiend und weinend in Jacks Richtung gerannt.

Jack wollte zur Tür stürzen, doch die Frauen packten ihn und schlangen die Arme um ihn. »Danke! Vielen Dank!«

»Zurück! Bitte!«

Jack griff ihnen um die Taille und schob sie zu ihrem eigenen Schutz sanft, aber bestimmt von der Tür weg. »Sind Sie verletzt?«

Beide schüttelten den Kopf. »Nein, nein. Uns fehlt nichts. Wir danken Ihnen.«

Jack hörte zwei Schüsse auf der anderen Seite der Tür.

»Warten Sie hier!«

Die Frauen nickten gehorsam und wichen an die Wand am anderen Ende zurück.

Jack hob die Waffe und näherte sich der Tür.

»Jack? Bist du da drin?« Es war Dings Stimme. Sie kam von der anderen Seite der Tür.

Gott sei Dank. Jack seufzte erleichtert. »Ja. Ich bin’s.« Er ließ die Waffe sinken.

»Alles klar?«

»Alles klar.«

Die Tür schwang auf. Ding trat herein, ein breites Grinsen im Gesicht. Dom folgte direkt hinter ihm.

»Wo sind die anderen?«, fragte Ding, während Doms Lächeln einem entsetzten Ausdruck wich.

Hinter Jack krachte ein Pistolenschuss. Er spürte den Luftzug der Kugel an der Wange. Sie traf Dom in die Brust. Einen Wimpernschlag später fiel ein zweiter Schuss, und eine Kugel fuhr neben Ding in die Wand.

Jack wirbelte herum und riss die Waffe hoch, um auf die Brünette zu schießen, die eine Pistole in der Hand hielt, doch es war die Blondine, an der sein Blick hängen blieb, als sie ihm grinsend eine zwanzig Zentimeter lange Messerklinge in den Bauch rammte.

3

Die Spitze des schwarzen Tanto-Messers von KA-BAR prallte auf eine der Körperschutzplatten aus keramischem Verbundwerkstoff von Jacks Schutzweste, die den Stoß dämpfte. Die schwere Klinge glitt an der Platte ab, durchdrang sie aber nicht. Die Wucht des Stoßes warf Jack ein paar Zentimeter zurück und lähmte ihn für einen Moment. Sofort holte die blonde Terroristin wieder aus, um ihm das Messer ins ungeschützte Gesicht zu stoßen, doch da ertönten drei schallgedämpfte Schüsse. Ihr Hals zerplatzte zu einer roten Wolke, und warmes Blut spritzte auf Jacks Haut. Die Blondine wurde herumgerissen und sackte in sich zusammen wie eine kaputte Marionette.

Jacks adrenalingeflutetes Hirn bremste den Vorgang auf Schneckentempo herunter, während sich seine Reflexe beschleunigten. Er blickte zu der Brünetten, die gleichzeitig mit ihrer Komplizin aufs Deck gestürzt war. Ihre Pistole war klirrend auf den Gitterboden gefallen, und auf ihrer Brust breiteten sich zwei rote Flecken aus.

Adara stürzte zu Jack, in der Hand ihre MPX, deren Lauf noch rauchte. Sie riss sich die Sturmhaube vom Kopf, um besser sehen zu können. Ihr kurzes blondes Haar war schweißverklebt. Sie betastete die Stelle, wo das Messer seine Weste getroffen hatte. Der Stoff war zerfetzt, und die Keramikplatte schaute darunter hervor. »Bist du verletzt?«

»Nein – sieh lieber nach Dom.« Jack befürchtete das Schlimmste. Sein Cousin war einer seiner besten Freunde.

Adara hatte Jacks Aufforderung nicht abgewartet und war nach seinem »Nein« sofort zu Dom geeilt, der an die Wellblechwand gelehnt auf dem Boden saß. Ding hatte bereits seine Schutzweste geöffnet, als Adara ihn beiseitestieß und sich hinkniete. Die frühere Navy-Sanitäterin hatte in Afghanistan verwundete Marines verarztet. Sie hatte Schlimmstes gesehen und erwartete nichts Geringeres, als sie Doms Wunde betastete, aber sie wusste, dass sie damit umgehen konnte.

»Verdammt! Das tut weh!«, stieß Dom zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Adara untersuchte die linke Brusthälfte, wo ihn die Kugel getroffen hatte. Auf seiner Haut bildete sich eine große rote Schwiele von der Form der Panzerplatte, die ihm das Leben gerettet hatte. »Das wird einen hässlichen blauen Fleck geben, Cowboy, aber du wirst leben.« Adara kämpfte gegen die in ihr aufwallenden Gefühle an. Im Kampfeinsatz waren sie Teamkameraden, kein Liebespaar. Sie drängte alle Gefühle zurück und sparte sie sich für später auf. Es gab noch zu tun. Sie stand auf.

»Jemand verwundet?«, fragte sie.

»Ich glaube, wir sind alle in Ordnung«, antwortete Ding. Der kleinste Mann im Raum sprach mit der Autorität eines gestandenen Anführers. Langjähriger Dienst bei der Infanterie, der Antiterroreinheit Rainbow und der CIA hatte ihm den verdienten Respekt aller Campus-Mitarbeiter eingebracht, namentlich den John Clarks.

Midas nickte in Richtung der toten Blondine, die halb enthauptet auf dem Deck lag. »Ich schätze, sie wird ein Pflaster brauchen.«

»Guter Schuss, übrigens«, sagte Jack. »Du hast mir das Leben gerettet.«

»Ich habe zwar auf ihren Kopf gezielt, aber gern geschehen«, erwiderte Midas und klopfte Jack auf die Schulter, während er sich ein Stück Kautabak zwischen die bärtigen Backen schob. Adara hatte zwei Schüsse auf die Brünette abgegeben, die ihrem Liebsten ans Leben gewollt hatte.

»Ich möchte einen kurzen Lagebericht, Leute«, sagte Ding. »Wie ist der Stand?«

»Neun Gegner sind tot, die beiden eingerechnet«, antwortete Midas. Die Anmerkung, dass ihre Informationen falsch gewesen waren, konnte er sich sparen.

»Vier überlebende Geiseln in den Belegschaftsquartieren«, meldete Adara. »Eine leicht verwundet, verarztet und stabil. Die anderen drei stehen unter Schock, sind sonst aber wohlauf.«

Ding runzelte die Stirn. »Was ist mit den dreien, die es nicht geschafft haben?«

»Die waren schon vor unserem Eintreffen tot. Die Dreckskerle haben ihnen die Kehlen durchgeschnitten.« Zur Verdeutlichung fuhr sie sich mit dem Finger über die eigene.

Ding drehte sich um. »Dom?«

»Ein einfacher Zünder. Entschärft. Ein paar Blöcke C-4 sind noch an Ort und Stelle, im Bohrbereich, aber die gehen nicht so leicht hoch.«

»Ich habe vorn einen Stolperdraht entdeckt, der mit einer nachgebauten Claymore-Mine verbunden ist«, sagte Jack. »Da draußen könnten noch mehr sein. Deshalb Augen auf. Wir sollten die Plattform absuchen und die Zivilisten einsperren, bis wir Entwarnung geben können.«

»Gute Idee«, befand Ding und trat zu den beiden Leichen. Er kniete sich hin und nahm sie genauer in Augenschein.

Schweigend lauschte Jack dem heulenden Wind draußen. Lockere Bleche schepperten, Ketten und Flaschenzüge klirrten.

Zufrieden richtete sich Ding wieder auf und drehte sich um. »Alles in allem gute Arbeit, Leute. Wir haben Leben gerettet und Bösewichte ausgeschaltet, ohne uns dabei die Ärsche wegschießen zu lassen. Die Nachbesprechung halten wir ab, wenn wir wieder auf der Basis sind.«

»Was ist für heute Abend geplant?«, fragte Midas. Der ehemalige Aufklärer und Colonel der Delta Force war es gewohnt, das Kommando zu führen, aber wie alle großen Führungspersönlichkeiten konnte er auch Befehle befolgen, und diese Operation wurde von Ding geleitet.

»Bei dem schweren Sturm können wir die Zivilisten nicht wegbringen, geschweige denn, mit ihnen die Leitern runtersteigen, deshalb übernachten wir hier«, antwortete Ding. »Midas, schnapp dir dein Taclight, geh raus auf die Plattform und signalisiere den Norwegern, dass unsere Funkgeräte streiken und dass wir mit vier überlebenden Geiseln hier übernachten. Bitte sie, wiederzukommen, wenn der Sturm nachlässt.«

»Verstanden«, sagte Midas. »Kann ich sonst noch was tun?«

»Ich hasse es, keinen Funkkontakt zu haben. Sieh zu, ob du den Störsender findest, den die Arschlöcher platziert haben. Und stell fest, ob die Bohrinsel so was wie einen Funkraum hat.«

»Wird gemacht.« Midas fuhr auf dem Absatz herum und strebte zur Tür.

»Adara, du kehrst zu den Geiseln zurück und machst es ihnen so angenehm wie möglich. Wie Jack gesagt hat: Lass sie nicht raus, bis wir Entwarnung geben. Erkläre ihnen die Situation. Dass sie außer Gefahr sind und dass wir die Bohrinsel erst verlassen können, wenn der Sturm vorbei ist, voraussichtlich morgen früh. Brauchst du noch etwas von uns?«

Adara klopfte auf ihr Med-Kit. »Ich bin startklar.« Sie wandte sich zur Tür. In der Hoffnung, dass es niemand bemerkte, streifte sie Dom, der immer noch saß, im Vorbeigehen mit der Hand an der Schulter.

»Dom, wenn du wieder fit bist, möchte ich, dass du die C-4 sicherst. Schnapp dir einen von uns, wenn du Hilfe brauchst.«

Dom stand auf und verzog dabei das Gesicht. »Bin schon unterwegs.« Auf dem Weg zum Bohrmodul schüttelte er sich ein paar Verspannungen aus den Gliedern.

»Jack, wir beide entschärfen zuerst die Sprengfallen. Anschließend durchsuchen wir die Taschen der Grünarmisten nach Hinweisen und nehmen ihnen Fingerabdrücke und DNA-Proben ab, damit die Leute in Langley sie überprüfen und katalogisieren können.«

»Und hinterher werfen wir sie ins Wasser?«

Ding nickte. »Für mich sind sie Fischfutter. Das hier ist kein Tatort, der genau untersucht werden muss.«

Was der Campus heute Nacht hier machte, war nach Dings Verständnis rechtens. Es war nur nicht ganz legal. Sie mussten ihre Spuren verwischen.

Von seinem Vater, einem ehemaligen Marine, hatte Jack gelernt, ehrenvoll Gefallene mit Respekt zu behandeln, doch in diesem Fall konnte er Ding nur zustimmen. Die Terroristen hätten ihn und sein Team fast getötet. Als kaltblütige Fanatiker, die unschuldige Zivilisten abschlachteten, hatten sie das Recht verwirkt, mit Respekt behandelt zu werden, im Leben wie im Tod.

»Alles okay?«, fragte Ding und legte dem Größeren eine Hand auf den Arm. Jack nickte, mit den Gedanken woanders.

»Ja, bin nur am Verarbeiten.«

»Weiter nichts?«

Jack konnte Ding nicht anlügen. Dafür hatte er zu große Achtung vor ihm. »Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich heute Abend Scheiße gebaut habe.«

»Ich verstehe. Wir reden später drüber. Jetzt haben wir zu tun.«

»Verstanden.«

Jack musste sich zum wiederholten Male übergeben, aber es kam nichts heraus. Von den lang laufenden Wellen und den ständigen Hüpfern des schwedischen Schnellboots CB 90 war er seekrank, aber der widerlich süßliche Geruch der chemischen Toilette, über die er sich beugte, machte alles noch schlimmer. Die Fahrt von der Bohrinsel zur norwegischen Küste war verdammt lang, wenn man die ganze Zeit den Rüssel in diesen Kackstuhl hängen musste.

Lautes Klopfen erschütterte die Klotür.

»Alles in Ordnung da drin?« Es war Ding.

Jack spie und wischte einen langen Spuckefaden weg. »Einfach fantastisch.«

»Hört sich so an, als ob du dir die Seele aus dem Leib kotzt.«

Jack rappelte sich wackelig auf. »Komme gleich raus.«

Er spritzte sich kaltes Wasser ins verschwitzte Gesicht, spülte den Mund aus und trocknete sich ab. Als er die Tür aufriss, wartete Ding im engen Gang.

»Du siehst aus wie der Tod.«

»Ich habe gerade einen Teller gedünsteten Lachs ausgekotzt«, erwiderte Jack. »Aber danke.« Von dem stampfenden Deck unter seinen Füßen und der stickig-warmen Luft wurde ihm wieder schwindlig.

»Gehen wir nach oben an die frische Luft.«

»Einverstanden.«

An Deck schaukelte das Boot heftiger als unten, doch die kühle, frische Morgenluft und die kalte Gischt, die Jack ins Gesicht spritzte, erfüllten ihren Zweck und linderten seine Übelkeit. Er hielt sich an der Reling fest und blickte zum fernen Horizont, der wegen der Wolkendecke und der Polarnacht in diesen Breiten beinahe so dunkel war wie am Abend. Ding hatte sich hinter ihn gestellt, um nicht nass gespritzt zu werden – er war gegen Reisekrankheiten aller Art immun.

Jack ließ noch einmal Schritt für Schritt die Ereignisse des Abends Revue passieren. Er wusste durchaus einzuschätzen, wo seine Leistung gestimmt und wo er mehr Glück als Verstand gehabt hatte. Die geretteten Geiseln waren dankbar und bester Laune und sollten bald von den Ärzten auf dem Marinestützpunkt Haakonsvern untersucht werden. Allerdings war Adara eine hervorragende Sanitäterin und hatte die kleinere Fleischwunde, die eine Geisel erlitten hatte, bereits behandelt.

Clark hatte angerufen und sie beglückwünscht. Der CEO der Explorationsfirma war ebenso begeistert wie die Angehörigen der Überlebenden. Das Team hatte unter extremen Bedingungen alle Gefahren gemeistert und auf der ganzen Linie gesiegt.

Also warum fühlte sich Jack immer noch so beschissen?

»Geht es dir wieder besser?«, fragte Ding. Er musste schreien, um das Dröhnen der beiden V8-Dieselmotoren zu übertönen, die den KaMeWa-Wasserstrahlantrieb mit Energie versorgten.

»Du hast ja keine Ahnung.«

»Und warum siehst du dann so aus, als hättest du einen Aschenbecher verschluckt?«

»Ich habe Mist gebaut, Ding. Und das weißt du.«

»Warum? Weil du gezögert hast?«

»Dom hat einen Schuss abgekriegt. Du hättest erschossen werden können. Und ich habe mir ein Kampfmesser in den Bauch rammen lassen.«

»Niemand ist verletzt worden.«

»Aber nicht weil ich dabei war, sondern obwohl ich dabei war.«

»Wenigstens gibst du es zu. Darauf kommt es an.«

»Wenn ich nicht gezögert hätte, wenn ich schneller reagiert hätte, hätte ich vielleicht alles verhindern können.«

»Hat dich der Messerstich so gelähmt?«

»Nein. Glaube ich jedenfalls. Es war die Frau. Eigentlich beide. Ich habe ihre Overalls gesehen, die Ölflecken, und damit stand für mich fest, dass sie Geiseln waren.« Er brauchte Ding nicht daran zu erinnern, dass sich die »Ölflecken« bei der Untersuchung der beiden Frauenleichen als Blutflecken entpuppt hatten und dass das Blut von den Geiseln stammte, die mit demselben Messer abgeschlachtet worden waren, das gegen Jack zum Einsatz gekommen war.

»Nach dem, was du mir erzählt hast, haben sie ihre Rolle perfekt gespielt. Offensichtlich hatten sie dieses Täuschungsmanöver von Anfang an geplant für den Fall, dass sie in die Enge getrieben werden.«

»Und es hat verdammt gut funktioniert.«

»Welche Lehre ziehst du daraus?«

»Die Blondine immer erschießen, vermutlich!«

Ding lachte. »Lass das Adara nicht zu Ohren kommen. Sonst tritt sie dir in den Arsch.«

Jack nickte und grinste. Adara war ein Fitness-Ungeheuer. Sie war stärker als die meisten Männer und konnte gut mit ihren Fäusten umgehen.

»Jedenfalls möchte ich das Team nie wieder so hängenlassen.«

»Das wirst du auch nicht, wenn du weiter an dir arbeitest.«

»Das habe ich vor. Ich hoffe nur, das genügt.«

»Wir machen alle Fehler. Niemand ist perfekt, aber wir können immer noch besser werden.«

»Danke, Ding.«

»Der Tag, an dem ich nicht mehr versuche, besser zu werden, ist der Tag, an dem ich aufhöre. Dir würde ich dasselbe empfehlen.«

»Ich werde weiter an mir arbeiten, das weißt du.«

»Aber da wäre noch eine Sache, die du dir eintrichtern musst.« Ding stieß Jack mit dem Finger gegen die Brust. »Vergiss nie, dass man bei Menschen nie sicher sein kann. Niemals. Kapiert?«

»Ja, kapiert.«

»Gut. Und jetzt lass uns in die Kombüse runtergehen und einen heißen Kaffee trinken. Ich friere mir hier oben noch was ab.«

»Lass dich nicht aufhalten. Ich bin hier gut aufgehoben.«

»Wie du willst. In einer Stunde müssten wir da sein.« Ding gab Jack einen Klaps auf den Rücken und verschwand unter Deck.

Jack drehte sich wieder zur Reling, verschränkte die Arme gegen die Kälte und blickte zum Horizont. Er versuchte, Dings Worte zu verinnerlichen, doch seine Gedanken kehrten zu den Ereignissen des Abends zurück. Er ging sie noch einmal Schritt für Schritt durch, vergegenwärtigte sich jeden einzelnen Fehler, und das Gefühl, dass er einiges hätte besser machen müssen, überrollte ihn wie eine Welle. Es tat weh, aber ihm war klar, dass es keine andere Möglichkeit gab, sich auf die nächste Mission vorzubereiten, worin auch immer sie bestehen mochte.

4

USS Benfold (DGD-65), 20 Meilen vor der Hafenstadt Sinpo,Nordkorea

Commander Holly Symonds stand auf der Brücke und drückte ein Hochleistungsfernglas von Fujinon an die Augen. Ihr Erster Offizier hielt sich unter Deck in der Operationszentrale auf und verfolgte an einer ganzen Batterie von Radar- und Trackingmonitoren den Raketenabschuss am heutigen Morgen. Sie stand in Funkkontakt mit ihm und wurde umfassend informiert. Symonds zog die Morgensonne und die frische Brise, die über das schiefergraue Wasser blies, der dunklen, klimatisierten OpZ und dem Brummen der LED-Displays vor.

In einer realen Gefechtssituation hätte sie unten geweilt und taktische Operationen geleitet, aber dies war nur ein routinemäßiger Testflug der Nordkoreaner. Was nicht hieß, dass irgendetwas, was die Nordkoreaner taten, Routine gewesen wäre. So hatten sie sich diesmal besondere Mühe gegeben, den bevorstehenden Abschuss nicht zuverheimlichen, was so nicht zu erwarten gewesen war. Choi Ha-guks soziopathischer Vorgänger hatte in den letzten vier Jahren fünfundzwanzig Raketen getestet – mehr als das Einsiedlerreich in den achtzehn Jahren davor abgefeuert hatte. Die Navy-Führung und alle, die sich in Zieldistanz befanden, hielten diese Entwicklung für besorgniserregend. Der heutige Test trug nicht zur Linderung ihrer Sorgen bei.

Die USS Benfold gehörte zu den modernsten Kriegsschiffen der US Navy. Mithilfe des Aegis-Kampfsystems – mit integrierten AN/SPY-1-phasengesteuerten Radargeräten, Hochleistungscomputern AN/UYK-1 und einer breiten Palette von Raketenstartplattformen – konnte der Zerstörer der Arleigh-Burke-Klasse gleichzeitig bis zu hundert Luft-, Oberflächen- und Unterwasserziele erfassen und vernichten.

Doch das Aegis-Kampfsystem war auch die modernste Raketenabwehr-Plattform der Welt. Südkorea blieb anfällig für Angriffe mit Langstreckenraketen aus der Demokratischen Volksrepublik Korea. Bis zur vollständigen Stationierung des Raketenabwehrsystems THAAD – Terminal High Altitude Area Defense – in Südkorea schützten die Vereinigten Staaten ihren Verbündeten im Bedarfsfall mit dem Aegis-System.

In Anbetracht des heutigen Tests der Nordkoreaner mit einer U-Boot-gestützten ballistischen Rakete (SLBM) stand der Einsatz der USSBenfold symbolisch für dieses anhaltende Engagement, auch wenn es unwahrscheinlich war, dass Choi Ha-guk heute einen Atomkrieg anfing. Gleichwohl waren die Südkoreaner nervös, und zu Recht, denn der Norden setzte den Ausbau seiner Atom- und Raketenprogramme ungebremst fort.

»Unterwasserluken geöffnet, Commander«, meldete der Erste Offizier in ihrem Kopfhörer. »Abschuss wird vorbereitet.«

»Verstanden.« Symonds drehte am Scharfstellungsring ihres Fernglases. Mit bloßem Auge würde man die Rakete aus dieser Entfernung erst sehen können, wenn sie etwa hundertfünfzig Meter über der Wasseroberfläche war, doch mit dem Hochleistungsfernglas etwas früher. Ein Abschuss in der Nacht wäre spektakulärer und mit den Augen leichter zu verfolgen gewesen. Aber egal. Die Auto-Tracking-Kameras der Benfold würden den Abschuss aufzeichnen und die Daten zur Analyse an die DIA schicken.

Der an diesem Morgen diensttuende Sonartechniker hatte Ohren wie eine Vampir-Fledermaus, und das war nicht der einzige taktische Vorteil, über den sich Commander Symonds heute freuen durfte. Die USSAsheville, ein atomgetriebenes Jagd-U-Boot der Los-Angeles-Klasse, hatte mit Erfolg eine autonome, torpedoförmige Unterwasserdrohne ausgesetzt, die mit Sensoren gespickt war, darunter auch Videokameras. Die Stealth-Drohne war der Gorae vom Kai in Sinpo bis zu ihrem jetzigen Standort gefolgt.

Die Gorae galt als erstes und einziges U-Boot der nordkoreanischen Flotte, das unter Wasser ballistische Raketen abschießen konnte. Unglaublich, dass die Drohne der Asheville einen Live-Video-Feed des dieselbetriebenen Bootes lieferte und die Bilder direkt in die OpZ der Benfold gingen. Für die Navy war es das erste Mal, dass die Nordkoreaner vor ihren Augen eine U-Boot-gestützte ballistische Rakete, eine Submarine-launched ballistic missile, abfeuerten. Der Nachrichtendienst der Marine würde noch Jahre von den anfallenden Daten zehren.

Über die im Inland gebaute Gorae war wenig bekannt, allerdings besaß sie auffallende Ähnlichkeit mit Booten ähnlicher Bauart und Größe aus der Sowjetzeit. Man vermutete, dass sie nur eine SLBM auf einmal abfeuern konnte – die KN-11, auch bekannt als Pukkuksong-1. Nur wenige Monate zuvor hatte sie erfolgreich eine abgeschossen, nachdem mehrere Versuche von seegestützten Plattformen aus fehlgeschlagen waren. Heute lag sie nur eine Meile vom Marinestützpunkt Sinpo entfernt vor der Küste in gerade mal fünfzehn Meter Wassertiefe und bot den Kameras der Drohne daher ein leichtes Ziel.

Die Pukkuksong-1 hatte eine geschätzte Reichweite von knapp über 500 Kilometern und stellte somit für die Vereinigten Staaten keine Bedrohung dar. Zum Vergleich: Die Reichweite der amerikanischen SLBM Trident II betrug über 7400 Kilometer. Nordkoreas landgestützte Systeme waren potenter. Die Taepodong-3 hatte eine geschätzte Reichweite von 13 000 Kilometern.

Der heutige Abschuss sollte zweifellos die Leistungsfähigkeit der Gorae unter Beweis stellen, aber, und das war ebenso wichtig, gleichzeitig auch den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten in der Region signalisieren, dass die Demokratische Volksrepublik Korea nun zum SLBM-Klub gehörte. Zwar würde es noch mehrere Jahre dauern, bis die Nordkoreaner so viele SLBM gebaut hatten, dass sich die regionalen Kräfteverhältnisse verschoben. Doch wenn sie einen atomaren Sprengkopf auf die Pukkuksong-1 montierten, würde das die strategische Lage in Asien für immer verändern. Nach jüngsten Schätzungen von DIA und ONI war das noch einige Jahre hin.

»Sie ist gestartet!«, schrie der Erste Offizier in Symonds’ Kopfhörer.

Die Kommandantin wusste, dass die erste Flugphase der Rakete aus dem Abschussrohr ins Wasser in einem Kaltstart bestand. Statt ihr Triebwerk zu zünden – und damit eine katastrophale Explosion zu riskieren, die das U-Boot zerstören konnte –, wurde die Rakete mithilfe komprimierter, nicht brennbarer Gase aus dem Rohr gepustet wie ein Papierkügelchen durch einen Strohhalm. Sekunden nachdem die Rakete die Wasseroberfläche durchstoßen hatte, würde die erste Stufe zünden.

»Ich habe sie.« Symonds beobachtete, wie die länger werdende Rauchfahne der Rakete in den stumpfgrauen Himmel kletterte. Mehrere Sekunden verstrichen. Sie reichte das Fernglas einem Matrosen in ihrer Nähe. Die Rakete flog so schnell, dass sie sich mit dem Glas nicht verfolgen ließ. Es war leichter, die Rauchspur mit bloßem Auge zu beobachten.

»Mach eins erreicht«, meldete der Erste Offizier. »Höhe und Flugbahn des Flugkörpers wie erwartet.«

Symonds legte den Kopf in den Nacken, als die Rakete immer höher stieg.

»Commander«, sagte der Erste, »irgendwas stimmt hier nicht.«

»Was?«

»Die Flugbahn … sie ist nicht in Ordnung.«

»Bin schon unterwegs.«

Symonds eilte in die Operationszentrale.

Was zum Teufel ging hier vor?

Kosmodrom Xichang, Raketenfrühwarneinrichtung der Raketenstreitkräfte der Volksbefreiungsarmee (PLARF), Provinz Sichuan, Volksrepublik China

Der Major der Raketenstreitkräfte der Volksbefreiungsarmee (VBARF) starrte mit stählernem Blick auf den Bildschirm zur Satellitenverfolgung, der einen bernsteinfarbenen Lichtschein auf sein Gesicht warf. »Erste Stufentrennung abgeschlossen. 264 Kilometer und weiter steigend.«

Ein an der Konsole daneben sitzender VBARF-Hauptmann bestätigte, indem er hinzufügte: »Endgeschwindigkeit erreicht, 4400 m/s und gleichbleibend.«

Ein hinter ihm stehender Oberst strahlte. »Ausgezeichnet!«

»Brenndauer der zweiten Stufe sechzig Sekunden und mehr«, sagte der Major.

Die kleine Gruppe von VBARF-Offizieren war in einem gesicherten Bereich der zivilen Einrichtung versammelt. Nur mit Mühe konnten sie ihre Begeisterung zügeln. In knapp einer Minute würden die Amerikaner eine große Überraschung erleben.

Die nordkoreanische Rakete, von den Amerikanern fälschlicherweise als Pukkuksong-1 bezeichnet, tat ganz genau, was sie sollte. Sie mussten es wissen.

Sie hatten sie konstruiert.

In einem angrenzenden Raum verfolgte ein Zivilingenieur den Flug der Rakete, wobei er den wachsamen Blick seines Vorgesetzten, eines strammen Parteifunktionärs, mied. Der Ingenieur hob den Hörer seines gesicherten Festnetztelefons ab und wählte eine Nummer, bemüht, seine Angst zu verbergen. Der Anruf, den er tätigte, konnte zur Folge haben, dass er für die nächsten zwanzig Jahre in einem geheimen Arbeitslager der Volksbefreiungsarmee verschwand – oder schlimmeres. Er ließ es dreimal klingeln und legte wieder auf.

Er hoffte, die Botschaft war angekommen. Der Anruf könnte ihn das Leben gekostet haben.

Air-Force-Stützpunkt Buckley, Colorado, 460th Space Wing2nd Space Warning Squadron (SWS)

Der Raketenfrühwarn-Satellit GEO-3 des weltraumgestützten Infrarotsystems SBIRS stand in einer geosynchronen Umlaufbahn hoch über dem asiatischen Kontinent und überwachte den Flug derselben nordkoreanischen Rakete.

Die Flugbahn und Flugdaten der SLBM wurden in Echtzeit auf dem breiten Wandmonitor in der SWS-Überwachungseinrichtung grafisch dargestellt, doch gemäß den üblichen Gepflogenheiten wurden die dazugehörigen Daten von einem in dieser Spezialeinheit eingesetzten Unteroffizier der Air Force laut vorgelesen.

»Brennschluss der ersten Stufe.«

»Höhe 400 Meilen.«

»Wir haben eine Sprengkopfabtrennung.«

Der neben der befehlshabenden Offizierin, einer Majorin, stehende Sergeant flüsterte laut: »Hoffen wir, dass es eine Attrappe ist.«

Die Majorin ignorierte die Bemerkung. Der Sergeant war eine echte Quasselstrippe, besonders wenn er nervös war. Natürlich handelte es sich bei dem Sprengkopf um eine Attrappe. Dies war ein Testabschuss, kein Erstschlag.

Sie studierte die sieben computergenerierten, wahrscheinlichen Flugbahnen, die in unterschiedlichen Farben dargestellt waren. Der am weitesten entfernte erreichbare Punkt lag 1200 Seemeilen von der Abschussstelle bei Sinpo entfernt, knapp 600 Seemeilen östlich der japanischen Nordküste.

Die Majorin stutzte. Sie kannte die Leistungsdaten der Pukkuksong-1. Diese äußere Flugbahn übertraf das, was sie von der kompakten SLBM heute erwartete, bei Weitem.

»Major?«, sagte der Sergeant mit besorgter Stimme. Aber er brauchte nicht weiterzusprechen. Jeder im Raum starrte gebannt auf den Wandmonitor, auch sie.

»Der Raketensprengkopf scheint auseinanderzubrechen.«

Die Majorin trat näher an den Monitor und schüttelte den Kopf. »Heilige Scheiße.«

»Madam?«

Die Majorin war zu beschäftigt, um zu antworten. Die sieben farblich gekennzeichneten Flugbahnen teilten sich plötzlich in einundzwanzig. Sie wusste, dass amerikanische Luft- und Bodenstationen in aller Welt den Flug beobachteten, aber die Vorschriften verlangten von ihr, dass sie jetzt zum Telefon griff und den Geschwaderchef anrief.

Der Sprengkopf brach nicht auseinander.

5

MMA-Dojo »Audacity«, Springfield, Virginia

Das Dojo für Mixed Martial Arts befand sich in einem Einkaufszentrum unweit des Community College und keine zwei Meilen vom Safehouse des Campus entfernt. Draußen ging ein kühler Nieselregen nieder, doch nach der letzten Übung in der Nordsee kam sich Jack vor wie auf den Bahamas.

Die Trainingshalle gehörte Hector »Bruiser« Martinez, einem ehemaligen Unteroffizier der Navy Seals und jetzigem Träger des schwarzen Gürtels im Jiu-Jitsu, der ein Team hochkarätiger MMA-Kämpfer trainierte, die in der Profiszene eine dominierende Rolle spielten.

Martinez engagierte oft andere Lehrer, um seinen Schülern zusätzliche Sparrings-Möglichkeiten in den Kampfsportarten zu bieten. So lud er manchmal seinen Freund Dom Caruso ein, damit er sein Team in Krav Maga unterrichtete. Dom hatte Krav Maga ursprünglich im indischen Paravur von seinem Mentor und Freund Arik Yacoby gelernt, einem ehemaligen Oberst der israelischen Kampfschwimmereinheit Schajetet 13, der zusammen mit seiner Familie durch eine Bombe ums Leben kam, die ein iranisch geführtes Killerkommando zündete.

Dom war kein zertifizierter Krav-Maga-Lehrer, aber seine Fähigkeiten auf der Matte und seine reale Kampferfahrung zählten mehr als ein Stück Papier. Dom hatte Spaß daran, junge Leute in der weltweit effektivsten und pragmatischsten Form der waffenlosen Selbstverteidigung zu unterrichten, die im langjährigen harten Straßenkampf von den Israelischen Verteidigungskräften entwickelt wurde. Krav Maga zu lehren war auch seine Art, den toten Freund zu ehren.

Wie alle anderen war Jack auf dem langen Heimflug von Norwegen nach Virginia in der firmeneigenen, luxuriösen Gulfstream G550 erschöpft gewesen. Trotzdem konnte er nicht schlafen. Er spielte ständig das »Szenario mit der Blonden«, wie er es mittlerweile nannte, durch. Ja, sie hatte ihn abgelenkt, aber er musste zugeben, dass es mit dem Messer zu tun hatte. Zwei Stunden vor der Landung auf dem Reagan International Airport packte er Dom am Revers und rüttelte ihn wach. »Du musst mir einen Gefallen tun.«

»Klar, Cousin. Was du willst.«

Jack hatte zwar eine Nahkampf-Ausbildung, doch er wollte besser gewappnet sein, wenn er das nächste Mal mit einem Messer konfrontiert wurde. Er bat Dom um Hilfe.

»Du meinst, du willst das gewisse Extra«, scherzte Dom, noch verschlafen.

Jack schüttelte den Kopf. »Du brauchst deswegen nicht deinen Job an den Nagel zu hängen.«

Noch bevor sie landeten, hatte Dom Martinez angerufen und um Rat gefragt, und innerhalb einer Woche war der heutige Privatunterricht vereinbart worden.

Dom und Jack knieten barfuß auf der dicken Dojo-Matte und warteten auf Martinez und den Speziallehrer. Sie schwiegen aus Respekt vor der Dojo-Tradition und weil sie die Gelegenheit für eine Übung in Achtsamkeitsmeditation nutzten, einer spirituellen Disziplin, die Adara unlängst im Campus eingeführt hatte. Achtsamkeitsmeditation förderte Konzentration, Kreativität und Bewusstheit und steigerte das Leistungsvermögen des Teams in jeder Hinsicht, auch im Kampf.

Jack und Dom trugen dicke Turnhosen und Shirts. Ihre Arme, Beine und Hände waren noch übersät mit blauen Flecken und Schürfwunden von der Befreiungsaktion. Jack hatte zudem ein blaues Auge davongetragen, als er mit dem Kopf gegen die Leiter geknallt war.

Obwohl hundemüde und leicht mitgenommen, wollte sich Jack die Gelegenheit nicht entgehen lassen, eine Schwachstelle in seinen Nahkampfkünsten zu beheben. Um den Hals trug er einen kleinen Silberanhänger, in den das japanische Schriftzeichen für Kaizen – kontinuierliche Verbesserung – eingraviert war. Er war mehr als nur ein symbolisches Schmuckstück. Es stand für sein persönliches Bemühen, in allem so gut wie nur irgend möglich zu sein, koste es, was es wolle.

Jack ließ seine Gedanken schweifen. Ihm war klar, dass sein Vater, Jack senior, mit ein Grund für sein permanentes Streben nach persönlichen Spitzenleistungen war. Nicht dass sein Vater ihn jemals zu etwas gezwungen oder übertrieben hohe Anforderungen an ihn gestellt hätte. Ganz im Gegenteil. Als Heranwachsender hatte er von ihm nur bedingungslose Liebe und Unterstützung erfahren.

Es gab das alte Sprichwort, wonach allzu viel Vertraulichkeit Verachtung erzeuge, doch in Jack juniors Fall war es genau umgekehrt. Er hatte in seinem Vater schon einen Helden gesehen, bevor er in all die geheime Arbeit eingeweiht wurde, die sein Vater geleistet hatte, als sein Junior noch ein Kind war. Daher konnte Jack eigentlich gar nicht anders, als dem Beispiel, das ihm sein Vater vorgelebt hatte, nachzueifern – nicht um sich seine Liebe und Achtung zu verdienen, sondern gerade aus Liebe zu und Achtung vor dem Mann, den er seinen Vater nennen durfte.

Seine Mutter hatte, als er noch jünger war, befürchtet, er könnte sich zu sehr mit seinem Vater vergleichen. »Mein Gott! Was erwartest du denn, wenn ihr mich Junior nennt?«, hatte er einmal scherzhaft zu ihr gesagt, und sie hatte ihm schulterzuckend recht gegeben. Als Leiterin der Abteilung für Ophthalmologie am Johns Hopkins Hospital war sie selbst auch nicht irgendwer. Seine Eltern zeigten den Wert eines disziplinierten Lebens auf, das dem Dienst an anderen gewidmet war. Ein besseres Erbe konnten Kinder von ihren Eltern nicht bekommen, und Jack und seine Geschwister hatten es an dem Tag angetreten, an dem sie in die Familie hineingeboren wurden.

Jack wurde aus seinen Erinnerungen gerissen, als Martinez das Dojo betrat, zusammen mit einem schlanken, kleinen Asiaten mit dunklem Teint. Er wirkte mindestens zwanzig Jahre älter als jeder andere im Raum und strahlte Lockerheit und Selbstsicherheit aus. In der Hand trug er einen kleinen Lederbeutel, der wie ein Handtuch zusammengerollt war. Jack vermutete in ihm den Speziallehrer, den Dom organisiert hatte. Er und Dom standen auf.

Die vier Männer verbeugten sich kurz zu dem gerahmten Foto an der Ostwand hin, das Martinez’ brasilianischen Jiu-Jitsu-Lehrer zeigte, dann verbeugten sich Dom und Jack vor ihrem Lehrer, der die respektvolle Geste erwiderte. Dies entsprach den Benimmregeln in einem anständigen Dojo, in dem Disziplin herrschte. Jacks Vater hatte oft gesagt, dass sich viele Probleme in Amerika entschärfen, wenn nicht sogar lösen ließen, wenn man wieder zum Grundsatz des gegenseitigen Respekts zurückfände. Der Junior konnte ihm da nur beipflichten.

Martinez lächelte und streckte ihnen eine mit Brandnarben übersäte Hand entgegen, die teils runzlig, teils wie poliert aussah. Dom schlug ein. »Bruiser, das ist mein Freund Jack. Jack, das ist Sensei Martinez.« Jack machte unwillkürlich wieder eine leichte Verbeugung, doch Martinez ergriff seine Hand. »Jeder Freund von Dom ist auch mein Freund. Nenn mich Bruiser.«

Ein Händedruck folgte.

Dann deutete Martinez auf den Mann, den er mitgebracht hatte. »Das ist Meister Amador Inosanto, Experte für Kali, Silat und andere Kampfkünste, besonders bekannt aber für seine Arbeit mit dem Messer. Er hat Militär- und Polizeieinheiten in der ganzen Welt geschult. Es ist mir eine Ehre, ihn heute Morgen wieder hier in meinem Dojo zu haben.«

Ein sanftes Lächeln legte sich auf Amadors bescheidenes Gesicht. »Genug der Förmlichkeiten. Bitte lassen Sie uns einfach nur Freunde sein.« Amador gab Jack und Dom die Hand und fügte hinzu: »Lassen Sie uns anfangen.« Mit einer Handbewegung forderte er Martinez und Dom auf, sich zu setzen, Jack aber, stehen zu bleiben.

Während Martinez und Dom auf dem Boden Platz nahmen, entrollte Amador seine Ledertasche auf einem Plastikklappstuhl, der an der verspiegelten Wand stand. Er entnahm ihr drei Messer, trug sie vorsichtig zu den Männern und gab jedem eines.

»Diese Messer haben viele Namen, aber der gebräuchlichste ist Karambit«, erklärte er. »Diese speziellen Exemplare habe ich selbst geschmiedet.«

Jack betrachtete das Karambit in seiner Hand. Das kleine Messer hatte eine rasiermesserscharfe, zweischneidige Klinge, die sich beinahe halbkreisartig nach innen bog und in einer tückisch aussehenden Spitze endete. Das Messer lag perfekt in der Hand, war gut ausbalanciert und angenehm zu greifen. Form und Funktion erinnerten Jack an eine Tigerkralle.

Zudem besaß das Karambit am Griffende ein großes, rundes Fingerloch, und dieses Ringloch selbst war hinten mit einer scharfen Spitze versehen. Jack folgte Martinez’ Beispiel, steckte den Zeigefinger durch das Loch und umschloss den geschwungenen Griff mit der Handinnenfläche.

»Das Messer bettelt geradezu darum, dass ich es benutze«, sagte Jack und drehte das Handgelenk in einer Kreisbewegung.

Dom nickte. »Ein fieses Teil.«

»Schon mal damit zu tun gehabt?«, fragte Martinez.

Dom und Jack schüttelten die Köpfe.

»Ich habe im Messerladen welche gesehen«, antwortete Dom, »aber die waren so ungewöhnlich, dass ich sie für Gangstermesser gehalten habe oder für ein Utensil aus irgendeinem Comic.«

Martinez verdrehte die Augen. »Immer mehr Gesetzeshüter und Soldaten legen sich welche zu. Sie werden in Scheiden geliefert, mit besonders griffigen Kompositgriffen und Taschenklemmen zum verdeckten Tragen.« Martinez hielt das Messer hoch, das ihm Amador gegeben hatte, und betrachtete es voller Bewunderung. »Ich persönlich mag die traditionellen.«

»Vielleicht«, begann Amador, »hören Sie an meinem Akzent, dass ich von den Philippinen komme. Meine Kultur ist eine traditionelle Messerkultur, und in meinem Land trägt praktisch jeder Mann auf der Straße ein Messer bei sich. Manchmal auch solche, wie Sie jetzt in der Hand halten.«

Amador hielt kurz inne, während die anderen wieder ihre Messer betrachteten.

»Bei vielen unserer Kampfkünste, wie etwa beim Kali, stehen Klingenwaffen im Mittelpunkt, besonders das Messer.« Er wandte sich an Jack. »Meine persönliche Lieblingswaffe im Nahkampf ist eine Schrotflinte Kaliber 12, wenn ich eine in die Finger kriegen kann.« Er schmunzelte.

»Amen, Bruder«, sagte Martinez.