Pflicht und Ehre - Tom Clancy - E-Book

Pflicht und Ehre E-Book

Tom Clancy

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Beschreibung

Jack Ryan junior ist von seiner Tätigkeit beim geheim operierenden Nachrichtendienst Campus beurlaubt. Dennoch werden Anschläge auf ihn verübt. Er vermutet, dass sie mit seiner Beziehung zu einer iranischen Geheimdienstagentin zusammenhängen. Allerdings führen ihn seine Untersuchungen auf eine ganz andere Spur. Ein von Leichen gesäumter Weg führt ihn zur Rostock Security Group. Das private Sicherheitsunternehmen hat sich zu einem Global Player entwickelt. Bei Jack Ryan verdichtet sich der Verdacht, dass diese deutsche Firma Terroranschläge fingiert, um die eigene Unverzichtbarkeit zu legitimieren. Auf dem »Sicherheitsmarkt« geht es immerhin um viel Geld, sehr viel Geld. Auf sich allein gestellt, tritt Jack Ryan den Kampf gegen die unrechtmäßige Miliz an. Deren nächstes Terrorziel ist ein Staudamm. Wird er zerstört, sind Tausende vom Tod bedroht.

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TOM

CLANCY

UND

GRANT BLACKWOOD

PFLICHT UND EHRE

THRILLER

Aus dem Amerikanischen von Karlheinz Dürr

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Duty and Honorbei G.P. Putnam’s Sons, New York.
Redaktion: Werner WahlsCopyright © 2016 by The Estate of Thomas L. Clancy, Jr.; Rubicon, Inc.; Jack Ryan Enterprises, Ltd.; Jack Ryan Limited PartnershipCopyright © 2019 der deutschen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: Nele Schütz Design, MünchenSatz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
ISBN: 978-3-641-24035-6V002
www.heyne.de

Das Buch

Jack Ryan junior ist von seiner Tätigkeit beim geheim operierenden Nachrichtendienst Campus beurlaubt. Dennoch werden Anschläge auf ihn verübt. Er vermutet, dass sie mit seiner Beziehung zu einer iranischen Geheimdienstagentin zusammenhängen. Allerdings führen ihn seine Untersuchungen auf eine ganz andere Spur. Ein von Leichen gesäumter Weg führt ihn zur Rostock Security Group. Das private Sicherheitsunternehmen hat sich zu einem Global Player entwickelt. Bei Jack Ryan verdichtet sich der Verdacht, dass diese deutsche Firma Terroranschläge fingiert, um die eigene Unverzichtbarkeit zu legitimieren. Auf dem »Sicherheitsmarkt« geht es immerhin um viel Geld, sehr viel Geld. Auf sich allein gestellt, tritt Jack Ryan den Kampf gegen die unrechtmäßige Miliz an. Deren nächstes Terrorziel ist ein Staudamm. Wird er zerstört, sind Tausende vom Tod bedroht.

Nicht selten wurden Tom Clancys gedankliche Planspiele von der Realität eingeholt.

Die Autoren

Tom Clancy hatte mit seinem ersten Thriller, Jagd auf Roter Oktober, auf Anhieb internationalen Erfolg. Der Meister des Techno-Thrillers stand seitdem mit allen seinen großen Büchern an der Spitze der internationalen Bestsellerlisten. Tom Clancy starb im Oktober 2013.

Grant Blackwood ist ein amerikanischer Thrillerautor und diente in der United States Navy. Mit Tom Clancy hat er Dead or Alive und Under Fire verfasst.

1

Alexandria, Virginia

Später fragte sich Jack Ryan junior oft, was ihm in jener Nacht das Leben gerettet hatte. Eines war jedenfalls sicher: Seiner Umsicht und seinem Geschick hatte er es ganz bestimmt nicht zu verdanken. Vielleicht hatte ihm das Gewicht des Tiefkühlpacks Chinakohl einen entscheidenden Sekundenbruchteil verschafft, oder vielleicht der schlammige Boden, aber jedenfalls nicht seine Fähigkeiten. Vielleicht einfach nur Glück. Oder der Überlebensinstinkt.

Der Supermarkt lag weder in seiner Nachbarschaft, noch gehörte er zu den Geschäften, in denen er gewöhnlich einkaufte, aber er hatte nun einmal die beste Auswahl an Obst und Gemüse in ganz Alexandria. Ding Chavez hatte ihm den Tipp schon vor acht Monaten gegeben, dennoch kaufte Jack hier erst seit Kurzem öfter ein, oder genauer: seit seinem erzwungenen Abschied vom Campus. Als Arbeitsloser hatte er eine Menge Zeit, über alles gründlich nachzudenken und sich nach neuen Herausforderungen umzuschauen. Es gab da allerdings auch eine Grenze, die zu überschreiten er sich beharrlich weigerte, trotz allen Mahnungen seiner Schwester Sally, es doch mal zu versuchen: sich auf die Couch zu fläzen und in einem Anfall von Komafernsehen endlose Serien auf dem Sender HBO reinzuziehen. Zum Beispiel die Comedyserie Girls. Das war Jacks persönlicher Rubikon – aber im Unterschied zu Caesar und seinen Legionen wollte Jack diese Grenze unter keinen Umständen überschreiten. Und das hieß: Für Jack Ryan junior waren solche Gossip-Girl-Serien definitiv out. Trotzdem würde er sich bald, oder sogar sehr bald, entscheiden müssen, wie er die verschiedenen losen Enden seines derzeitigen Lebens wieder miteinander verknüpfen konnte, bevor sie vollends ausfaserten. In zwei Wochen lief seine sechsmonatige »Bewährungszeit« ab. Gerry Hendley erwartete eine Antwort. Sollte er zum Campus zurückkehren oder sich endgültig von ihm trennen?

Um dann – was zu tun, fragte sich Jack.

Jack hatte fast sein ganzes Berufsleben beim »Campus« gearbeitet, zuerst als Analyst, dann auch als Feldagent – also als Spion. Der Campus war eine inoffizielle, geheime Antiterroreinheit, die sich unter dem Namen Hendley Associates mit einer offiziellen, »weißen« Firma geschickt tarnte. Jacks Vater, Präsident Jack Ryan, hatte die Gründung der verdeckten Geheimorganisation initiiert, die seither von dem früheren Senator Gerry Hendley geleitet wurde. Bisher hatte der Campus mit großem Erfolg einige der »größten Bösewichte« verfolgt und überführt, es gleichzeitig aber auch geschafft, mit seiner Tarnfirma Hendley Associates, einem privaten Finanzhandelsunternehmen, ordentliche Gewinne einzufahren, die nicht nur ihren Kunden zuflossen, sondern auch zur Finanzierung des operativen Budgets des Campus verwendet wurden.

»Siebzehn fünfzig«, sagte die Kassiererin.

Jack reichte ihr einen Zwanziger, nahm das Wechselgeld entgegen und von dem tumben Tütenjungen die Papiertüte in Empfang und ging zum Ausgang. Es war kurz vor acht Uhr abends, und der Markt war fast menschenleer. Durch die breiten Glastüren sah er die großen Pfützen, die im Licht der Natriumdampflampen auf dem Parkplatz glitzerten. Der Regen gehörte zu einer Kaltfront und ging nun schon seit vollen drei Tagen auf Alexandria nieder. Bäche und Flüsse waren angeschwollen, und die Garten- und Baumärkte in der Nähe des Potomacs freuten sich über kräftig gestiegene Umsätze mit Sandsäcken. Das perfekte Wetter für ein eigenhändig im Schongarer zubereitetes Chili.

Jack hatte gerade solide zwölf Kilometer auf der Hallenlaufbahn im Fitnesscenter hinter sich, gefolgt von zwanzig Minuten Liegestützen, Klimmzügen und Unterarmstützen. Er freute sich darauf, die große Tüte voller Einkäufe – Rinderhack, Bohnen, Paprika, Zwiebeln, Tomaten und Chinakohl – in ein formidables Belohnungsessen für das schweißtreibende Training zu verwandeln. Das Chili war das neueste »supergesunde« Rezept seiner Mutter, das er unbedingt ausprobieren wollte. Allerdings würde es erst morgen fertig sein; für heute musste er mit den Resten vom gestrigen Abendessen vorliebnehmen, das er beim Chinesen geholt hatte.

Die automatischen Türen glitten auseinander. Jack zog sich mit der freien Hand die Kapuze des Sweatshirts über den Kopf. Bis zum Auto war es nicht weit, ein schwarzer Chrysler 300. Es war schon eine ganze Weile her, seit er zuletzt eine Limousine besessen hatte. Für die Fahrt zu seinem Apartment am Oronoco würde er eine Viertelstunde brauchen. Der Parkplatz war vor Kurzem frisch geteert worden; der schwarze Asphalt schimmerte und glänzte nass im Regen. Jack lief los, mit einer Geschwindigkeit, die irgendwo zwischen schnellem Gehen und leichtem Joggen lag, aber schon nach Sekunden spürte er den kalten Regen, der ihm über Wangen und Kinn in den Kragen rann. Er brachte die dreißig Meter zum Auto so schnell hinter sich, wie es die schwere Papiertüte zuließ. Er hatte den Wagen rückwärts gegen die Schutzplanke geparkt, die den Parkplatz begrenzte. Aus alter Gewohnheit, dachte er. Sei immer bereit zum schnellen Abgang, merke dir die Ausfahrten und die schnellste Route zum nächsten Highway. Schon monatelang lebte er als »Zivilist«, aber immer noch waren ihm die meisten Regeln der Feldarbeit, die ihm John Clark und die anderen eingetrichtert hatten, präsent. Sollte ihm das nicht etwas sagen? War es nur noch das Echo alter Gewohnheiten, oder waren ihm diese Dinge tatsächlich schon in Fleisch und Blut übergegangen?

Als er sich dem Wagen näherte, entdeckte er einen weißen Zettel unter dem Scheibenwischer. Ein Werbeflyer – ein Fast-Food-Drive-in, ein Garagenflohmarkt, Wahlwerbung … Was auch immer es sein mochte, Jack war nicht in der Stimmung dafür. Er beugte sich seitwärts über die Motorhaube und griff danach. Aber der Flyer war vom Regen so durchtränkt, dass er am Scheibenwischer entlang zerriss, sodass ein schmaler Streifen unter der Gummilippe zurückblieb.

»Scheiße«, murmelte Jack halblaut.

Von hinten kam plötzlich eine Stimme. »He, Mann, gib’s auf!«

Noch bevor er sich umdrehte, schrillte der Alarm in Jacks Gehirn los – dafür reichte die Stimme in Verbindung mit der Nacht, dem Regen und dem menschenleeren Parkplatz. Der Supermarkt lag nicht gerade im besten Viertel der Stadt, ganz im Gegenteil. Hier gab es eine Menge cracksüchtige Obdachlose und Kleinkriminelle.

Jack drehte sich auf dem Absatz um und wich zwei Schritte zurück, in der Hoffnung, ein paar Sekundenbruchteile und ein wenig Abstand für die Gegenwehr zu gewinnen. Der Mann war groß, mindestens eins neunzig, aber mager. Er hatte eine dunkle Kapuze über den Kopf gezogen und kam schnell auf Jack zu.

Im selben Augenblick zuckte ein Blitz über den Himmel und warf einen scharfen Schatten über sein Gesicht.

Störe seine Gewohnheit, dachte Jack. Der Mann hatte Jack als Opfer ins Auge gefasst und war entschlossen, ihn anzugreifen – ein Junkie auf Crack oder Speed, vermutete Jack, aber scharf fokussiert wie ein Laserstrahl und sich absolut sicher, dass er diesen kleinen Überfall genauso reibungslos durchziehen konnte wie alle anderen. Das würde Jack gleich mal richtigstellen müssen.

Er trat dem Angreifer einen Schritt entgegen und deutete auf ihn. »Fuck off! Hau ab!«

Junkieräuber bekamen von ihren Opfern normalerweise keinen derartigen Antiaggro zu sehen. Wölfe reißen lieber schwache Schafe.

Aber Jacks Streitlust hatte nicht die gewünschte Wirkung. Weder stockte der Mann im Lauf, noch zeigte sich in seinem kalten, fest auf Jack fixierten Blick die geringste Verunsicherung. Blitzschnell hob er die rechte Hand, die lose an der Seite herabgehangen hatte, auf Hüfthöhe, die Handfläche von Jack abgewandt. Messer, dachte Jack. Wenn der Angreifer eine Schusswaffe gehabt hätte, hätte er sie spätestens jetzt auf Jack richten müssen. Mit einer Pistole konnte man den Gegner schon aus einer gewissen Entfernung in Todesangst versetzen, doch mit einem Messer musste man nahe genug herankommen, um es dem Opfer ins Gesicht oder an den Hals zu halten. Und die abgewandte Innenhand sagte Jack noch etwas anderes: Dieser Typ hatte gar nicht vor, Jack nur gerade so viel Angst einzujagen, dass er sich ergab. Einem Toten konnte man nun mal viel leichter die Wertsachen abnehmen.

Inzwischen hämmerte Jacks Herz gegen die Rippen, und sein Atem ging stoßweise. Die Linke fuhr instinktiv zur Hüfte, der Daumen hob wie von selbst den Saum des Sweatshirts, die Handfläche berührte … nichts. Verdammt! Er trug keine Waffe; er besaß zwar eine CCW-Lizenz, die es ihm erlaubte, verdeckte Waffen in der Öffentlichkeit zu tragen, aber seit seinem vorläufigen Abschied vom Campus hatte er die Glock immer zu Hause gelassen. Schlüssel. Die steckten in seiner Hosentasche, nicht dort, wo sie jetzt eigentlich sein sollten – in seiner Hand, als Reservewaffe. Du wirst nachlässig, Jack.

Seinem Angreifer war Jacks plötzliches Zögern nicht entgangen. Er sprintete heran, die rechte Hand fuhr hoch und holte zu einem Handkantenschlag aus. Als würde er beim Basketball einem Teamkameraden den Ball zuspielen, schleuderte Jack ihm die Einkaufstüte entgegen. Sie prallte von seiner Brust ab, und ihr Inhalt ergoss sich über den nassen Asphalt. Das unterbrach sein Angriffsmuster und ließ ihn beim nächsten Schritt zögern, aber nur für einen Sekundenbruchteil, nicht lange genug, um Jack Zeit zu geben, einen Gegenangriff einzuleiten. Also Rückzug? Nachgeben, um zu überleben. Sinnlos, sich auf einen Messerkampf einzulassen, solange man eine Alternative hatte.

Jack wirbelte herum, sprintete zur Leitplanke und sprang darüber hinweg. Er landete auf aufgeweichtem, schlammigen Boden, am Rand der Böschung. Die fiel steil ab und war mit Grasbüscheln und einem immergrünen Zedernbodendecker überwuchert. Die Böschung endete unten an Betonelementen, die sich als Leitplanke am Highway entlangzogen.

Jack hörte schnelle Schritte auf dem Asphalt. Sie sagten ihm, dass der Angreifer ihm nachsetzte. Jack floh die Böschung hinunter, halb springend, halb rutschend, wobei er mit den Füßen an den Grasbüscheln Halt fand.

Aber sein Angreifer war schnell. Schon packte er Jack an der Kapuze und riss ihm den Kopf zurück, sodass die Kehle offen dalag. Jack wehrte sich nicht dagegen, sondern drehte sich im Sprung hart nach rechts, in der Vermutung, dass die scharfe Klinge von rechts herabschwingen würde. Und da kam sie auch schon, fuhr direkt auf Jacks Kehle zu. Jack hob den linken Arm und schlug abwärts, sodass die Klinge abgedrängt wurde und er den Messerarm unter die Achsel klemmen konnte.

Die rechte Hand stieß Jack dem Mann in die Augen und rammte ihm den Kopf nach hinten. Beide stürzten, Jack lag oben. Sie rutschten die Böschung hinunter, über die Stümpfe und Wurzeln der Zedern, und wirbelten Dreck und Grasbüschel auf.

Der Mann schlug um sich, aber Jack wurde klar, dass die Schläge weder panisch noch ziellos waren. Der Angreifer versuchte, den Messerarm aus Jacks Achselklammer zu reißen, griff gleichzeitig mit der linken Hand an Jacks Kinn und stieß seinen Kopf seitwärts. Ein scharfer Schmerz zuckte durch Jacks Hals und Nacken. Ein Finger des Angreifers rutschte in Jacks Mund ab; Jack biss sofort so hart zu, wie er nur konnte, und hörte ein gedämpftes Knirschen. Der Mann brüllte auf vor Wut und Schmerz.

Immer noch im Kampf umklammert, prallten sie mit voller Wucht gegen eines der Betonelemente am Rand des Highways. Beim Aufprall hörte Jack ein widerliches knackendes Geräusch, gefolgt von einem dumpfen Uff! Durch zusammengekniffene Augen sah Jack Scheinwerfer aufblenden, hörte das Zischen der Reifen auf dem nassen Asphalt.

Der Mann rollte seitwärts, kroch auf Händen und Knien. Wieder die blendenden Scheinwerfer, in ihrem Licht konnte er eine klaffende, blutende Wunde am Kopf des Angreifers ausmachen. Ein Teil des Skalps war weggerissen und hing über dem Ohr herab.

Schädelbruch. Ziemlich schlimm.

Auch Jack kroch auf Händen und Knien, aber in die andere Richtung, wieder auf die Böschung zu. Er rappelte sich mühsam auf und drehte sich um. Der Kerl hatte sich ebenfalls wieder aufgerichtet und kam auf ihn zu. Aber er taumelte wie ein Betrunkener, der sich vergeblich abmühte, auf einem Seil zu balancieren, seine Beine gerieten übereinander, er stolperte, versuchte, sich mit ein paar schnelleren Schritten wieder zu fangen, stürzte dann aber vorwärts in den Dreck. Wieder versuchte er, auf die Knie zu kommen, richtete sich halb auf, griff sich an die verletzte Seite des Kopfs, starrte benommen die blutverschmierte Hand an.

»Was ist …?«, lallte er. »Ich brauch … brauch einen …«

Sein Blick irrte über den Boden, als suchte er etwas.

Er sucht nach seinem Messer, schoss es Jack durch den Kopf.

Jack entdeckte es links von dem Angreifer, keine zwei Armlängen entfernt. Zu spät. Der Mann kam auf die Füße und schlurfte darauf zu. Jack griff an, wobei er auf der schlammigen Böschung ausglitt, als er überstürzt versuchte, mit ein, zwei Sprüngen die Distanz zu überwinden. Der Mann bückte sich nach dem Messer, kippte dabei aber fast nach vorn. Jack stieß sich mit einem Bein ab, rammte das andere Knie aufwärts. Es krachte dem Mann mitten ins Gesicht, sodass der Angreifer rückwärts gegen die Betonleitplanken geschleudert wurde. Doch Jack fand auf dem schlüpfrigen Boden keinen Halt, fiel rückwärts auf den Boden und schlug mit dem Hinterkopf hart auf einem Stein oder einer Wurzel auf. Momentan verschwamm ihm alles vor den Augen.

Steh auf und tu was, dachte er. Er greift an! Ein Bild von sich selbst zuckte ihm durch den Kopf – wie er hier flach auf dem Rücken lag, mit aufgeschlitzter Kehle, und der Regen trommelte auf sein Gesicht und in die aufgerissenen Augen, die Kameras der Spurensicherung blitzten auf …

Nein, auf keinen Fall.

Jack rollte sich auf die Seite.

Drei Meter entfernt saß sein Angreifer, halb gegen die Leitplanke gelehnt. Der Kopf hing seitwärts herab. Der graue Betonklotz hinter ihm war blutverschmiert. Der Mann war blass, sogar geisterhaft weiß. Mitte dreißig, militärisch kurz geschnittenes, helles Haar. Unter der Wunde am Kopf glaubte Jack die weiße Schädeldecke zu sehen.

»Bleib, wo du bist!«, brüllte Jack. »Keine Bewegung!«

Der Mann blinzelte, anscheinend verwirrt, fokussierte den Blick einen kurzen Moment auf Jack, dann rollte er sich zur Seite und versuchte, auf den Knien zu robben, wie ein kleines Kind, das über einen rutschigen gefliesten Boden krabbeln will. Und schaffte es tatsächlich, wieder auf die Füße zu kommen.

Verdammt zäher Hund.

Jack entdeckte wieder das Messer, das halb in der aufgeweichten Erde steckte, nicht weit entfernt. Er kroch darauf zu, zog es heraus. Es war ein Klappmesser, fast zwanzig Zentimeter lang und recht schwer.

»Bleib, wo du bist!«, bellte Jack noch einmal keuchend. Er schmeckte Blut im Mund und spuckte es aus. Sein eigenes oder das des Angreifers, fragte er sich flüchtig. »Die Cops sind schon unterwegs!«

Daran hatte er zwar starke Zweifel, aber vielleicht reichte es, um den Angreifer zu verjagen oder ihn dazu zu bringen, sich wieder hinzusetzen und sein Schicksal zu akzeptieren. Und einen kostenlosen Trip zur Notaufnahme. So wie die Dinge hier im Dunkeln und im strömenden Regen standen, wusste momentan niemand, dass Jack Ryan junior, erstgeborener Sohn des amerikanischen Präsidenten und derzeit arbeitsloser Spezialagent, mit einem durchgeknallten Kleinkriminellen im Matsch neben einem Highway um sein Leben kämpfte.

Großer Gott, dachte er.

Und der Mann setzte sich wieder in Bewegung – aber er kam nicht auf Jack zu. Mit der linken Hand stützte er sich auf der Betonleitplanke ab, schleppte sich zwei, drei Schritte vorwärts, blieb stehen, ging weiter. Ein Auto raste vorbei, hupte und übersprühte ihn mit dem Inhalt einer Pfütze am Straßenrand. Der Mann zeigte keinerlei Reaktion.

Hirnverletzung, konstatierte Jack. Wider Willen verspürte er einen Anflug von … was? Doch nicht etwa Mitleid mit einem Junkie, der gerade versucht hatte, ihn kaltzumachen? Komm schon, Jack. Trotzdem – er konnte den Burschen nicht einfach weitertaumeln lassen, bis er sich irgendwo hinsetzte und womöglich an seiner Kopfverletzung starb. Ach, verdammt …

»Bleib stehen!«, brüllte Jack. »Komm zurück …«

Doch der Mann taumelte weiter, stützte sich aber schwer auf die Leitplanke – bis er zu dem schmalen Spalt zwischen zwei Betonelementen kam und seine blind tastende Hand plötzlich ins Leere sackte. Benommen blieb er stehen, starrte auf seine Füße.

Keine zwei Meter entfernt raste hupend ein Auto vorbei.

Der Mann drehte sich nach links, taumelte durch den Spalt und auf den Highway.

»He! Nicht da raus …!«

Jack sah die Scheinwerfer heranrasen, hörte das Brüllen eines starken Dieselmotors, keine Sekunde später raste ein riesiger Truck aus der Unterführung heraus. Der Fahrer hupte wie irre.

Jack sprintete los.

Der Truck war schneller. Er pflügte mit urgewaltiger Kraft in den Mann hinein.

Jack stand wie versteinert, starrte ungläubig hinüber, hörte kaum das Kreischen und Stottern der Bremsen.

War das wirklich passiert?

Mach was. Verschwinde.

Jack wirbelte herum und rannte zum Fuß der Böschung zurück.

Und blieb wie angewurzelt stehen.

Über ihm, direkt an der Schutzplanke des Parkplatzes, stand ein Mann, von hinten durch Autoscheinwerfer angestrahlt.

»He!«, schrie Jack zu ihm hinauf. »Rufen Sie Neun-eins-eins!«

Die Gestalt rührte sich nicht.

Jack legte die Hände trichterförmig um den Mund und brüllte noch einmal.

Die Gestalt drehte sich um und verschwand. Ein paar Sekunden später schwenkten die Scheinwerfer herum und verschwanden ebenfalls.

Adrenalin war höllisches Zeug, dachte Jack. Aber Schock auch. Er hatte schon viel gesehen, aber so etwas … Der Mann hatte nicht einmal einen Blick auf den Truck geworfen, der da auf ihn zudonnerte.

Mit geschlossenen Augen stand Jack unter der Dusche, die Stirn an die Fliesen gelegt, und ließ das heiße Wasser über Kopf und Schultern strömen. Seine Hände zitterten noch immer, sie pulsierten im Takt mit dem Herzschlag.

Er war von einem Tatort geflohen. Mit dem Messer des Angreifers. Er hatte sogar genug kühle Geistesgegenwart besessen, sich zu vergewissern, dass er nichts verloren hatte – Handy, Schlüssel, Geldbörse, Kassenbeleg, die größeren Einkäufe aus der Tüte –, und keine neunzig Sekunden, nachdem der Truck den Angreifer erfasst hatte, hatte Jack sein Auto aus dem Parkplatz gelenkt. Er hatte die Strecke zum Oronoco schon halb hinter sich, als er die ersten Martinshörner hörte.

War das nur der Schock gewesen? Gut möglich, aber er wollte sich jetzt einfach nicht mit den tausend Fragen befassen müssen, die ihm die Cops und die Medien stellen würden, und nicht nur ihm, sondern auch seinem Vater, seiner Mutter, seinen Schwestern, seinem Bruder und seinen Kollegen bei Hendley. Gefundenes Fressen für die Skandalblätter. Die Typen, die im Kapitol schon lange die Messer wetzten, würden sich wie Aasgeier auf seinen Vater stürzen und alles aus der Story herausquetschen, was nur möglich war. Von alldem abgesehen: Er war das Opfer, verdammt, aber wen interessierte das schon? Und es gab einen Zeugen, oder jedenfalls einen potenziellen Zeugen. Aber warum war der Mann so schnell verschwunden?

Jack selbst war nicht unverletzt davongekommen. Obwohl er den Messerarm des Angreifers eingeklemmt hatte, entdeckte er nun drei Schnitte direkt unter dem Schulterblatt. Zwar war keiner tiefer als ein Zentimeter, aber das reichte völlig: die Wunden schmerzten, und die Schulter fühlte sich teilweise taub an. Waren die Wunden nur ein unbeabsichtigter Kollateralschaden des harten Kampfes, oder hatte der Angreifer tatsächlich versucht, ihm die Klinge in die Brust zu rammen?

Die unfreiwillige Rutschpartie über die Böschung mit ihren Baum- und Buschstümpfen hatte seinen unteren Rücken und den Bauch mit so vielen Kratzern und Schürfwunden übersät, dass es aussah, als wäre er mit einem Bandschleifer bearbeitet worden. Und eine weitere Sorge schoss ihm plötzlich durch den Kopf: Hatte er das Blut des Angreifers geschluckt? Wenn ja, würde er womöglich mit Hepatitis C oder etwas noch Schlimmerem rechnen müssen.

Der Typ hat versucht, mich umzulegen, dachte Jack. Warum? War ihm der Stoff ausgegangen, hatte er sich seit ein paar Stunden keinen Schuss mehr setzen können? War er vielleicht nur hinter den zwanzig Dollar und dem bisschen Kleingeld in Jacks Tasche her gewesen? Oder hatte er es auf das Auto abgesehen? Es war nicht das erste Mal, dass jemand versuchte, ihn aus der Welt zu schaffen, aber diese Sache fühlte sich irgendwie anders an.

2

Alexandria, Virginia

Am nächsten Tag wachte Jack schon vor der Morgendämmerung auf. Er hatte sehr unruhig geschlafen. Sogar im Halbschlaf war ihm immer wieder der Zwischenfall durch den Kopf gegangen, wie ein Film, der ständig wiederholt wurde, halb Traum, halb Realität, aber immer endete er auf dieselbe Weise: Der Angreifer starb, und er, Jack, fühlte sich, als hätte er … Ja, was denn nun? Als hätte er etwas Unrechtes getan?

Er stellte sich unter die Dusche, vor allem, um seine Wunden noch gründlicher zu reinigen, und blieb so lange unter dem eiskalten Wasser, bis er es nicht mehr aushielt. Dann zog er sich an, warf die Klamotten, die er gestern getragen hatte, in die Maschine, nicht ohne vorher ein wenig Bleichmittel draufzuschütten, damit die Flecken auch rausgingen.

In der Küche machte er sich zunächst einen doppelten Espresso, trank ihn in einem Zug aus, schaltete dann die Kaffeemaschine auf Normal und ging zur Spüle, in die er das Messer des Angreifers gelegt hatte. Er legte das Messer in den Geschirrspüler und wählte das Intensivprogramm. Dann ging er ins Wohnzimmer, schaltete den Fernseher ein und zappte zu den Lokalnachrichten. So früh am Morgen, Stunden, bevor die regulären Frühstücksnachrichten begannen, wiederholten sie meistens die Berichte vom Vorabend oder der vergangenen Nacht.

Er musste nicht lange suchen.

»Wie die Polizei berichtet, wurde gestern kurz nach zwanzig Uhr ein Mann von einem Truck erfasst und getötet. Der Vorfall ereignete sich am North Kings Highway in der Nähe der Telegraph Road. Das Unfallopfer konnte noch nicht identifiziert werden. Sollten Sie zur Klärung seiner Identität beitragen können, bittet die Polizei um Anruf unter …«

Jack schaltete den Fernseher wieder aus. »Noch nicht identifiziert«, murmelte er vor sich hin. Keine Erwähnung von möglichen Zeugen, aber das hatte nichts zu bedeuten. Wenn sich der Mann gemeldet hatte, den Jack oben an der Stahlplanke gesehen hatte, würde die Polizei diese Information wahrscheinlich zurückhalten, bis sie mehr herausgefunden hatten.

Die nächsten zwanzig Minuten ging er im Wohnzimmer auf und ab, trank Kaffee und warf immer wieder einen Blick auf den Laptop, um online die aktuellsten Nachrichten zu verfolgen. Aber sie brachten nichts Neues. Am liebsten hätte er jemanden angerufen, hätte sich gerne jemandem anvertraut, aber er widerstand der Versuchung. Er musste nachdenken, und zwar sehr gründlich. Oder noch besser: Er musste etwas unternehmen.

Jack fuhr zum Supermarkt zurück. Unterwegs nahm er den Verkehr nur teilweise wahr.

Es hatte aufgehört zu regnen, aber es hingen noch dunkle, drohende Wolken am Himmel. Die Gehwege und Straßen waren immer noch nass, in den Schlaglöchern stand das Wasser bis zum Rand. An den überhängenden Zweigen zeigte sich der erste Hauch von grünen Knospen, die von den schweren Tropfen herabgezogen wurden.

Inzwischen war es nach sieben Uhr, die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne drangen zwischen den Wolken hindurch. Der Supermarkt würde erst in etwa einer Stunde öffnen. Der Parkplatz schien völlig leer zu sein, aber zur Sicherheit fuhr Jack noch ein zweites Mal daran vorbei und hielt nach Streifenwagen Ausschau. Als er keine sah, wendete er den Wagen, fuhr auf den Parkplatz und parkte in der Nähe des Markteingangs. Er stieg aus.

Die Morgenluft war kalt, sein Atem erzeugte weiße Dampfwolken. Er ging zu der Stelle vor der Stahlplanke, an der er am Vorabend geparkt hatte. Dort blieb er stehen und blickte die Böschung hinunter.

Die Szene wirkte so unauffällig wie am Vortag – von einem gelben Polizeiband abgesehen, das unten an den Betonelementen entlang gespannt war. In der Nacht, als ihm sein Kampf mit dem Angreifer immer wieder durch den Kopf gegangen war, hatte er sich vorgestellt, dass die Spuren auf der Böschung deutlich sichtbar sein müssten – ein einziges Chaos von aufgewühlter Erde, abgebrochenen Zedernzweigen, herausgerissenen Büschen und Grassoden. Jenseits der Betonleitplanken brauste unterdessen der Verkehr auf dem Kings Highway in stetem Strom vorbei.

Jack blickte sich um. Der Parkplatz war immer noch leer. Er stieg über die Stahlplanke und kletterte vorsichtig die Böschung hinunter, bis er den schmalen flachen Erdstreifen erreichte, der sich zwischen dem Fuß der Böschung und den Betonleitplanken entlangzog. Hier war der Boden vom Regen aufgeweicht, zertrampelt und mit grün-gelben Grasbüscheln übersät. Auf der anderen Seite der Leitplanken wirbelten die Reifen der vorbeirasenden Fahrzeuge grauen Sprühnebel auf.

Von seiner Erinnerung ließ er sich zu dem Betonelement leiten, gegen das der Angreifer gestürzt war, und ging davor in die Hocke. Auf dem grauen Beton waren keinerlei Blutspuren zu sehen. Entweder hatte sie der Regen weggewaschen, oder sie waren von einem vorbeirasenden Feuerwehrauto oder einem großen Truck weggesprüht worden. Jack stand wieder auf, ging langsam an der Leitplanke entlang und untersuchte die einzelnen Betonelemente in der Nähe nach irgendwelchen Spuren oder Hinweisen auf das, was gestern Abend hier geschehen war.

Aber er fand nichts.

Schließlich gab er auf und stieg wieder die Böschung hinauf. Als er knapp drei Meter vom oberen Rand entfernt war, bemerkte er aus dem Augenwinkel etwas Helles. Er blieb stehen und schaute genauer hin: Etwas Weißes ragte ein wenig unter einem Grasbüschel hervor, wie die Ecke einer Visitenkarte. Jack bückte sich und hob es auf. Nein, keine Visitenkarte, eine Schlüsselkarte von einem Hotel.

»He!«, schrie plötzlich ein Mann. »Was haben Sie da unten zu suchen?«

Jack blickte auf. Oben an der Stahlplanke stand ein Mann in dunkelblauem Anzug und hatte einen Fuß auf einen der Pfosten gestützt.

»Was?«, rief Jack zurück.

»Ich will wissen, was Sie da unten zu suchen haben! Kommen Sie rauf!« Der Mann holte ein kleines Etui aus der Jackentasche, klappte es auf und wies es vor. Aus der Entfernung konnte Jack nur vermuten, dass es eine Dienstmarke war. »Los, kommen Sie hier rauf.«

Shit, dachte Jack. Er holte tief Luft und versuchte, ruhig zu bleiben.

Die Hotelschlüsselkarte in der Handfläche verborgen, stieg Jack die restliche Böschung hinauf und kletterte über die Stahlplanke. Er schob die Hände in die Anoraktaschen. Unter dem rechten Unterarm spürte er eine beruhigende Beule – seine Glock 26 in ihrem Sicherheits-Paddle-Holster.

»Nehmen Sie die Hände aus den Taschen«, knurrte der Cop. Er war Mitte vierzig, bullig wie ein Ringkämpfer, mit welligem rotem Haar.

Jack befolgte den Befehl. Der Cop betrachtete ihn routiniert von oben bis unten.

»Sie heißen?«

»Jack Ryan.«

»Ausweis?«

Jack zog seine Brieftasche heraus und reichte ihm den Führerschein. Der Cop studierte die Karte fünf Sekunden lang aufmerksam, verglich Jacks Gesicht mehrmals mit dem Foto und nickte langsam. »Ah. Sind Sie …«

»Yep«, antwortete Jack.

»Sollten Sie nicht einen Typen vom Secret Service oder so bei sich haben?«

»Offiziell ja, kann sein, aber ich fand das lästig und hab mich bei ihrem Boss beschwert, deshalb lassen sie mich frei herumlaufen«, erklärte Jack und grinste kumpelhaft.

Der Cop fiel nicht darauf herein. »Okay. Was hatten Sie da unten zu suchen?«

Jack hatte bereits krampfhaft über eine Antwort nachgedacht. Natürlich hatte er damit rechnen müssen, dass er es wegen dieser Sache früher oder später mit der Polizei zu tun bekommen würde. Nur hatte er nicht damit gerechnet, dass es so bald sein würde. Hatte sich der Zeuge gemeldet?

Er zögerte, teilweise weil er glaubte, dass das plausibler wirken würde, teilweise aber auch, weil ihm Zweifel an der Antwort kamen, die er sich zurechtgelegt hatte. »Ich war gestern Abend hier.«

Jetzt steckst du in der Sache drin, Jack. Noch war nicht absehbar, ob ihm die Lüge Probleme ersparen oder ihn nur noch tiefer in den Schlamassel treiben würde.

Der Cop runzelte die Stirn. Er bedachte Jack mit dem harten Blick, der offenbar bei Polizisten zu einer Art Standardblick geworden war. »Als es passierte?«

»Ich glaube, ja.«

»Erzählen Sie es mir. Von Anfang an.«

»Ich kam vom Fitnesscenter …«

»Welches?«

»Malone’s, am Foundry.«

»Okay. Und weiter?«

»Danach fuhr ich hierher, um einzukaufen. Muss ungefähr acht Uhr gewesen sein.«

Der Cop hielt einen Finger in die Höhe und blickte wieder auf Jacks Führerschein. »Die Adresse hier … das ist doch in der Nähe der Oronoco Street, richtig? Der Supermarkt hier liegt nicht gerade in Ihrer Nachbarschaft.«

»Nein, aber das ist der beste Markt für Obst und Gemüse. Ich zahlte und kam heraus. Es regnete.«

»Um wie viel Uhr ungefähr?«

»Muss so Viertel nach acht gewesen sein. Ich ging zu meinem Auto und hörte …«

»Bevor Sie zum Auto kamen oder als Sie schon eingestiegen waren?«

»Gerade als ich beim Auto ankam«, antwortete Jack. »Unter dem Scheibenwischer steckte ein Flyer oder so was Ähnliches. Ich habe ihn hervorgezogen, dann hörte ich lautes Hupen von dort unten. Klang wie ein Truck, aber ein großer.«

Ein Flyer, dachte Jack. Das Wort blieb irgendwie in seinen Gedanken hängen. Aber bevor er weiter darüber nachdenken konnte, fragte der Polizist: »Was passierte dann?«

»Ich setzte die Tüte ab …«

»Wo?«

»Auf der Motorhaube.«

»Paprika und Tomaten?«

»Was?«

»Ein Streifenwagen reagierte auf den Notruf. Der Kollege fand ein paar Paprika und Tomaten, die ungefähr hier herumlagen.«

»Oh. Ja, ich wollte ein Chili kochen. Jedenfalls ging ich zu der Schutzplanke hier und schaute hinunter. Ich hörte Bremsen quietschen, sah Scheinwerfer – und dann hörte ich einen Aufprall. Glaube ich jedenfalls.«

»Sie glauben es? Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, dass es regnete und dunkel war und ich mir nicht sicher war, was ich gehört hatte. Es klang nicht wie ein normaler Autounfall. Erst als ich heute Morgen aufstand, brachten sie in den Nachrichten etwas über einen Burschen, der angefahren worden war, und ich habe dann zwei und zwei zusammengezählt.«

»Und sind dann hierher gefahren, um … was zu tun? Erste Hilfe zu leisten?«

Jack ging nicht auf den sarkastischen Ton ein. Beißender Sarkasmus gehörte zu den Verhörtechniken, die Polizisten gern einsetzten, um einen Verdächtigen in die Defensive zu drängen. Wenn man dann etwas fand, was nicht so recht zum Rest der Aussage passte, oder auch nur einen Anflug von schlechtem Gewissen, konnte man sich darauf stürzen und dann schauen, was passierte. So was durfte man nicht persönlich nehmen.

»Keine Ahnung, warum. Ich wünschte, ich wüsste es. Gewissensbisse vielleicht. Wenn das, was ich gesehen habe, wirklich …«

»War es wahrscheinlich. Warum haben Sie nicht die Polizei gerufen?«

Jack zuckte die Schultern. »Jetzt wünschte ich, ich hätte es getan.«

Der Polizist brauchte eine Weile, bis er das verdaut hatte. Er nickte bedächtig. »Na ja, es hätte ihm nichts mehr gebracht. Er war auf der Stelle tot. Auf der ganzen Straße verteilt. Kannten Sie ihn?«

»Keine Ahnung. Wer war er?«

»Wir versuchen immer noch, das festzustellen.«

»Wie hat er ausgesehen?«

»Sie meinen – vorher?«, fragte der Polizist mit grimmigem Lächeln.

»Ja, klar, vorher.«

»Groß, mager, weiß, Mitte dreißig.«

Jack schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Kein Ausweis? Niemand hat sich gemeldet?«

»Nö. Aber sagen Sie mal: Wie ist es da? Im Oval Office, meine ich.«

Die Frage erwischte Jack auf dem falschen Fuß. Vielleicht war das Absicht. »Wie man auf den Fotos sieht. Bin nicht mehr oft dort. Einmal die Woche zum Abendessen, ab und zu ein Empfang oder eine Party.«

»Sie sind wohl nicht gern der Erste Sohn?«

»Ist okay«, antwortete Jack gleichmütig. »Ich lebe lieber mein eigenes Leben. Glücklicherweise gehöre ich nicht zu den Typen, die in den Bars abhängen oder das Höschen vergessen und dann vor allen Paparazzi aus dem Taxi steigen …«

Der Cop ließ ein gutturales Lachen hören. »Ja, klar, das würde bei Ihnen nicht so gut aussehen. Und Ihre Mom ist so nett, wie sie aussieht?«

»Netter«, sagte Jack lächelnd.

»Na, dann sagen Sie mir jetzt doch mal die Wahrheit. Warum sind Sie heute Morgen wirklich hergekommen? Wenn es nichts Schlimmes ist, kann ich versuchen, es unterm Deckel zu halten.«

»Das hab ich doch schon gesagt. Sie glauben, ich lüge?«

»Ich bin seit zwölf Jahren Polizist. Ich glaube, jeder lügt. Mein Hund ausgenommen. Der lügt nie.«

Jack lächelte. »Ja, darin sind Hunde wirklich gut. Wie heißen Sie?«

»Doug Butler.« Der Cop hielt ihm die Hand hin.

Jack schüttelte sie. Die Bewegung schickte einen stechenden Schmerz durch sein Schulterblatt.

Butler sah, wie er das Gesicht verzog. »Schmerzen im Arm?«

Jack nickte. »Klimmzüge mit Zusatzgewicht. Allmählich glaube ich, ich sollte damit aufhören.«

»Sagen Sie bloß, Sie machen diesen ganzen Cross-Fit-Scheiß mit?«

»Nein, ich kämpfe nur gegen das Älterwerden. Hören Sie, Officer Butler. Ich weiß, dass Ihnen das seltsam vorkommen muss, was ich gesagt habe – warum ich hier bin. Obwohl ich für den Burschen nichts mehr hätte tun können. Ich weiß, ich hätte sofort die Polizei rufen müssen. Ich habe keine Ahnung, wie ich das erklären soll.« Und das war sogar die nackte Wahrheit.

»Na gut, ich hab’s verstanden. Bisschen wie Schuldgefühle des Überlebenden. Sie haben die Sache vielleicht nicht direkt beobachtet, aber Sie haben letzte Nacht miterlebt, wie ein Mensch gestorben ist. So was muss man erst mal verdauen.«

Jack widerstand der Versuchung zu fragen, ob es noch andere Zeugen gegeben habe.

Polizisten hatten viele innere Radarschirme, darunter auch solche, die schon die feinsten Signale von zu großer Neugier auffingen – oder von zu großer Hilfsbereitschaft.

Butler sagte: »Sie wissen, dass ich Ihre Aussage aufnehmen muss, Jack.«

»Ja, das ist mir schon klar. Aber kommt das auch in die Medien? Wenn ja, sollte ich wohl besser Dads Pressesprecher informieren.«

»Wahrscheinlich nicht. Unter uns, Jack: Der Trucker sagte aus, der Bursche sei praktisch aus dem Nichts aufgetaucht. Hätte sich nicht mal umgesehen. Vermutlich kriegte er überhaupt nichts mit. Eigentlich nicht die schlechteste Art abzutreten, alles in allem.« Jack glaubte ein gewisses Mitgefühl herauszuhören, das Butler, bewusst oder unbewusst, für die Art und Weise entwickelt hatte, wie Menschen starben. Ging vielen Polizisten so.

»Und Sie haben wirklich keine Ahnung, wer er war?«, fragte Jack.

»Ich würde da auf obdachlos tippen. Vielleicht war er auch high. Aber was er ausgerechnet da unten im strömenden Regen zu suchen hatte … das weiß ganz allein der Himmel.«

»Aber warum sind Sie hier? Ich meine, warum ermitteln Sie in dieser Sache, wenn doch alles so klar ist?«

»Routineverfahren bei ungeklärter Todesursache. Wir haken nur einfach die Kästchen ab, um sicherzugehen, dass uns nichts entgangen ist. Außerdem sind wir hier keine acht Kilometer vom Weißen Haus entfernt.«

»Was heißt das?«

»Nichts. Vergessen Sie es.«

Butler zog eine Visitenkarte aus der Brieftasche. »Schreiben Sie mir doch bitte Ihre Telefonnummer auf.« Dann gab er Jack den Führerschein zurück, zusammen mit einer zweiten Visitenkarte. »Ich rufe Sie am Nachmittag wegen der Aussage an. Telefonisch sollte reichen.«

Jack fuhr gerade in die Garage des Oronoco-Apartmenthauses, als ihm plötzlich das Wort Flyer wieder durch den Kopf schoss. Er parkte den Wagen auf seinem Stellplatz, stieg aus, blieb aber neben der Fahrertür stehen, die Hände in den Taschen, und dachte nach.

»Wie war das?«, murmelte er vor sich hin.

Dann kam es ihm. Leer, dachte er.

Der Flyer, der unter dem Scheibenwischer gesteckt hatte, war weder beschrieben noch bedruckt gewesen. Sondern einfach nur ein Stück weißes Druckerpapier.

3

Alexandria, Virginia

Mugger waren Gelegenheitskriminelle, wie Jack wusste; sie planten ihre Verbrechen nicht von langer Hand. Ihre Überfalltaktik ist gewöhnlich unkompliziert, häufig spontan und beschränkt sich darauf, das Opfer unerwartet zu überrumpeln. Sie benutzen dabei meistens keine Gegenstände oder durchdachte Methoden, um seine Aufmerksamkeit kurzzeitig abzulenken. Und überhaupt: Wer steckte schon Flyer unter Scheibenwischer, wenn es derart stark regnete? Und als sich Jack den Parkplatz wieder vergegenwärtigte, erinnerte er sich nicht, Flyer unter den Scheibenwischern anderer Autos gesehen zu haben.

Oder fantasierte er zu viel in die Sache hinein?

Nein. Das Messer.

Jack stand von der Couch auf, ging in die Küche und öffnete den Geschirrspüler. Mit einem Geschirrtuch holte er das Messer aus der Besteckschublade und legte es auf die Arbeitsfläche. Er betrachtete es von allen Seiten und von der Spitze bis zum Ende des Griffs, entdeckte aber keine Gravuren oder Markenzeichen. Doch neben dem Daumenpin, der das schnellere Öffnen des Messers unterstützte, war eine sechsstellige Nummer eingeprägt.

Jack nahm sein Smartphone heraus, nahm ein paar Fotos auf und lud sie in seinen Dropbox-Account hoch. Dann setzte er sich an den Esstisch und bootete sein Notebook. Im Browser rief er tineye.com auf, lud die Fotos auf die Seite und startete die Suche. Die Ergebnisse wurden ihm sofort angezeigt.

Das Messer wurde von Eickhorn Solingen hergestellt, dieses Modell hieß Secutor. Jack googelte die Firma. Der Sitz des Unternehmens befand sich in Solingen, Deutschland; es gab jede Menge Online-Verkäufer. Jack klickte mehrere Vertriebsstellen an und fand so den Preis heraus: stolze 175 Dollar.

Wie kam ein Junkie an ein derart teures Messer? Schon bei den ersten Entzugserscheinungen hätte ein Drogenabhängiger das Messer für ein paar Körner Crack verhökert. Jack zoomte das Messer näher heran. Auf der Klinge war das Wort Secutor zu sehen, darunter eine vierstellige Nummer. Direkt unterhalb des Daumenclips befand sich das Logo der Firma, ein aufrecht sitzendes Eichhörnchen mit einem Schwert in den Pfoten.

»Das gleiche Messer, aber unterschiedliche Markierungen«, murmelte Jack vor sich hin.

Er nahm das Telefon, durchsuchte kurz die Kontakte und rief die Nummer auf.

»Shiloh River Gun Club«, meldete sich eine Stimme am anderen Ende.

»Adam, bist du das?«

»Ja. Und wer will das wissen?«

»Jack Ryan.«

»He, Jack! Hab dich seit einer Ewigkeit nicht mehr hier bei uns gesehen. Komm doch mal wieder vorbei und ballere ein bisschen in der Schießanlage.«

»Ja, mach ich. Aber heute muss ich dich um einen Gefallen bitten. Ein Kumpel von mir sucht nach einem guten Messer und hat eines auf Ebay entdeckt, die Marke heißt Eickhorn Solingen …«

»Die machen echt coole Klingen.«

»…. aber die Markierungen sehen ein bisschen seltsam aus. Könntest du dir das Ding mal ansehen?«

Adam Flores war der Mitbesitzer vom Shiloh River Gun Club, eines Privatclubs mit Schießanlage. John Clark und Ding Chavez hatten Jack in den Club eingeführt. Die Anlage befand sich in nächster Nähe zu einem Militärstützpunkt und verfügte über einen der realistischsten Kampfübungsplätze an der Ostküste. Adam war ein Fan von allem, was mit dem Militär zu tun hatte, und hatte sich mit Jack angefreundet. Wenn es um etwas ging, was bum machte oder scharf war: Nicht verzagen, Adam fragen.

Normalerweise hätte er diese Frage Gavin Biery gestellt, dem IT-Direktor des Campus, aber dieser Zugang war Jack derzeit versperrt. Schon viel zu oft hatte Gavin den Kopf für Jack hingehalten, als Jack noch für den Campus aktiv war, und würde das wahrscheinlich auch jetzt tun, aber Jack wollte ihn nicht ohne Not in Schwierigkeiten bringen.

»Klar«, antwortete Adam. »Schick mir die Pix per E-Mail, dann schau ich mir das mal an.«

»Danke.«

Jack beendete das Gespräch und zog die Hotelschlüsselkarte aus der Anoraktasche, die er am Tatort gefunden hatte. Auf der blauen Vorderseite prangte eine große rote Ziffer 6. Motel 6 also, dachte Jack. Aber welches? Er drehte die Karte um, suchte nach weiteren Markierungen. Auf der Karte waren mehrere Ziffernkombinationen eingedruckt. Er gab sie nacheinander in die Google-Suchseite ein, immer in Kombination mit »Motel 6«. Die dritte Nummer – 1403, offenbar die Kennnummer des Franchisemotels – brachte einen Hit: die Karte gehörte dem Motel 6 in Springfield, ungefähr zwölf Kilometer westlich von Alexandria.

Auch das ergab einen Sinn. Motel 6 war nicht gerade eine Fünf-Sterne-Hotelkette, aber es war ein Markenname der mittleren Preislage und hatte nach Jacks Einschätzung keinen schlechten Ruf. Immer angenommen, dass die Karte tatsächlich dem Angreifer gehörte, war es jedenfalls nicht die Art von Absteige, die sich ein Junkie leisten konnte.

Aber warum draußen in Springfield? Warum hatte er nicht eines der fünf oder sechs Motels gewählt, die in Gehweite zum Supermarkt lagen?

Seine Kopfhaut begann zu kribbeln. Jemand hatte letzte Nacht ernsthaft versucht, ihn umzubringen, und dieser Jemand kam ihm immer weniger wie ein drogensüchtiger Straßenräuber vor. Dass jemand seinen Kopf haben wollte, war nichts Neues, aber diese Sache fühlte sich irgendwie anders an. Ihm wurde klar, dass er seit seiner Trennung vom Campus in eine bequeme, nachlässige Routine abgeglitten war.

Ysabel!

Hastig griff er nach dem Telefon und wählte ihre Nummer – ein Apartment in London, das ihrem Vater gehörte. Jack warf einen Blick auf die Uhr: Dort würde es jetzt Nachmittag sein. Bevor es auf der anderen Seite zu klingeln begann, überlegte er es sich anders und drückte auf die rote Taste. Bevor er nicht mehr herausgefunden hatte, wollte er ihr nicht erzählen, was sich hier abgespielt hatte. Sie würde sich Sorgen machen. Und ins nächste Flugzeug steigen.

Stattdessen rief er Ysabels Vater direkt an. Er meldete sich sofort.

Arman Kashani konnte man ganz bestimmt nicht als Fan von Jack Ryan junior bezeichnen. Ob zu Recht oder nicht, er machte Jack jedenfalls voll und ganz für den Überfall auf seine Tochter verantwortlich. Jegor Morosows Männer hatten sie fast zu Tode geprügelt. Sie hatte drei Wochen im Krankenhaus verbracht, bevor man sie zuerst in eine private Rehabilitationseinrichtung in London und danach in die Wohnung ihres Vaters verlegt hatte. Jack nahm Arman die Feindseligkeit nicht übel. Wenn Jack ein eigenes Kind hätte – vor allem ein Mädchen … nun, der Himmel mochte wissen, wie er reagieren würde, wenn dieses Kind bedroht würde. Ysabel wiederum hatte beharrlich daran gearbeitet, bei ihrem Vater einen Meinungswechsel in Bezug auf Jack herbeizuführen. Allmählich schien es zu funktionieren.

»Guten Tag, Jack. Was kann ich für dich tun?« Der Tonfall klang fast freundlich. Fast.

»Mr. Kashani. Ich habe da möglicherweise ein …« Jack zögerte, suchte nach dem richtigen Wort. »…. Problem, auf das ich Sie aufmerksam machen muss.«

»Ein Problem, das meine Tochter betrifft?«

»Wahrscheinlich nicht, aber nur für den Fall, dass …«

»Seit ihrer Ankunft hier wird sie gut geschützt, Jack. Ich habe zwei ehemalige SAS-Leute angeheuert, die nie weit von ihr entfernt sind.«

Das würde wohl reichen, dachte Jack. Hoffte er jedenfalls. Wenn der Überfall gestern Abend tatsächlich etwas mit Morosow zu tun hatte oder wenn irgendjemand eine alte Rechnung begleichen wollte, an die Jack noch nicht gedacht hatte, würde es Jack doch sehr beruhigen zu wissen, dass sie die halbe Mannschaft des Hauptstützpunkts des Special Air Service in Hereford um sich hatte. Trotzdem machte ihn der Gedanke wütend. Zuerst hatten sie Ysabel angegriffen, und nun ihn. Aber sie hatten ihn nicht erwischt, und er war entschlossen, diese Tatsache auszunutzen.

»Das gefällt ihr bestimmt«, meinte Jack.

»Es gefällt ihr in keiner Weise, Jack. Aber ich liebe sie, und bis sie nicht vollständig wiederhergestellt ist, werde ich …«

»Ich bin vollkommen Ihrer Meinung, Sir.«

»Gut. Sie halten mich auf dem Laufenden, was dieses … Problem angeht?«

»Ja, absolut. Und, wie gesagt, wahrscheinlich hat es nichts zu bedeuten. Ich schlage vor, dass Sie ihr nichts erzählen, bis …«

»Das hatte ich auch nicht vor. Passen Sie auf sich auf, Jack.«

Kashani beendete das Gespräch.

Jack legte das Telefon weg, schlenderte zum Balkonfenster und blickte hinaus. Unten wälzte sich der stark angeschwollene Potomac vorbei. Unter der ruhigen Oberfläche versteckten sich tückische, starke Strömungen, die jedes Frühjahr auftraten. Zwei gelbe Ruderrennbote zogen vorbei, beide Mannschaften legten sich mit aller Kraft in die Riemen und glitten an der kleinen Bucht vorüber. Jacks Blick folgte ihnen, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden waren.

Wer will mich tot sehen, fragte er sich.

Und warum?

Hatte der geheimnisvolle Angreifer etwas damit zu tun gehabt?

Die Antwort auf seine Frage, oder wenigstens einen Teil davon, erhielt er eine Stunde später, als Adam Flores zurückrief. »Jack, du hast da ein ziemlich ungewöhnliches Messer. Es ist tatsächlich ein Secutor, hergestellt von Eickhorn Solingen, aber es ist kein frei verkäufliches Modell. Die Klinge ist weitaus stärker, und es hat eine Tragbandöse …«

»Gib mir einfach die Kurzfassung, Adam.«

»Also gut. Eickhorn Solingen ist der Lieferant für alle Kampfmesser der deutschen Bundeswehr, aber die Standardausführung ist das KM 2000 mit feststehender Klinge. Das Messer, das du meinst, ist ein spezielles Modell. Davon wurden nur hundert Stück ausgeliefert, und zwar an das KSK, wahrscheinlich für Testzwecke oder als Ehrengabe oder so.«

»KSK?«

»Kommando Spezialkräfte – die deutsche Version unserer Sondereinsatzkommandos. Gegen Ende der Neunzigerjahre führte die Bundeswehr ihre verschiedenen Sondereinsatzkräfte zu einem Verband zusammen. Das KSK ist die Crème de la Crème, Jack. Ungefähr so, als würde man die SEALs, Delta, Green Berets und die Marine Force Recon zu einer Truppe zusammenfassen.«

Das erklärte vieles, warf aber auch neue Fragen auf.

Es erklärte zum Beispiel, warum sich der Angreifer nicht wie der typische Straßenräuber verhalten hatte. Und es warf auch ein ganz anderes, wenn auch ein wenig verschwommenes Licht auf die Gestalt, die Jack oben an der Stahlplanke gesehen hatte. Verstärkung für den Fall, dass der Angriff schiefging? Wenn ja, warum hatte der Mann dann den Job nicht einfach zu Ende gebracht?

Andererseits: Warum war Jack überhaupt mit einem Messer angegriffen worden? Warum nicht mit einer Pistole und Schalldämpfer? Er hätte Jack aus zehn Meter Entfernung umnieten und davonspazieren können, und niemand hätte etwas bemerkt.

Messer waren leise, und vielleicht war die Aufforderung – »He, Mann, gib’s auf!« – eine Antwort auf die Frage. Vielleicht sollte die Story nur vom wahren Zweck des Überfalls ablenken. Wenn das jemand zufällig mit anhörte und Jacks Ermordung mitbekam, würden die Details des Vorgangs – vom Erscheinungsbild des Mannes bis hin zu seiner Redeweise oder der Wahl der Waffe – eher zu einem normalen Straßenraub passen, ausgeführt von einem offenbar obdachlosen Junkie. Eine Pistole wäre zwar nützlicher gewesen, passte aber nicht zu diesem Szenario. Sie hatten auch das richtige Viertel ausgesucht. Außerdem würde die Ermordung des Präsidentensohnes einen gewaltigen Aufschrei und enorme Polizeipräsenz auslösen. Ein Straßenraub, der aus dem Ruder gelaufen war, würde, wenn er nur richtig inszeniert wurde, vielleicht sogar im Sand verlaufen. Während die staatlichen Organe bei einem profimäßig ausgeführten Mord das Land praktisch auf den Kopf stellen würden.

Das bedeutete aber: Jemand hatte sich mit dem Anschlag auf Jack sehr viel Mühe gegeben. Wenn das etwas mit Jegor Morosow zu tun hatte, ergab die ausgeklügelte Inszenierung sogar einen Sinn – nur das Timing passte dann nicht so recht. Warum monatelang warten, bis man ihn umlegte?

Auch die Wahl des Messers war eigenartig – ein seltenes und ziemlich teures Modell namens Secutor von Eickhorn in Solingen. Was hatte das zu bedeuten? Jack kannte jede Menge von Spezialagenten, die eine besondere Vorliebe für bestimmte Ausrüstungsgegenstände, Waffen oder Talismane hatten, ob es nun ein besonderes Messer oder einfach nur ein Plastikkrieger war, den ihm sein Sohn geschenkt hatte. In dieser Branche war man für jeden Glücksbringer dankbar, den man kriegen konnte. War das auch bei diesem Angreifer der Fall?

Eines stand jedenfalls fest: Wer auch immer hinter dem Überfall stecken mochte, würde es sicherlich nicht mit dem ersten Versuch gut sein lassen. Und Jack musste weiterhin davon ausgehen, dass sie in der Tat auch Ysabel auf dem Radarschirm hatten. Er musste sich entscheiden: Sollte er abtauchen, sich verstecken und Verstärkung anfordern? Oder die Sache selbst in die Hand nehmen? Abtauchen kam für ihn nicht infrage. Selbst wenn das in Jacks Natur gelegen hätte, musste er nur daran denken, welchen Aufwand seine Angreifer bisher betrieben hatten, um sich darüber klar zu werden, dass Abtauchen nichts bringen würde: Sie würden ihn finden.

Er entschied sich für die Alternative, zumindest bis auf Weiteres.

Er würde zurückschlagen.

4

Alexandria, Virginia

Wie die meisten Spezialagenten hielt auch Jack ständig ein Einsatzpack in Bereitschaft, eine weitere Lehre von John Clark und Ding Chavez. Jack bevorzugte dafür den 5.11 Tactical Havoc, den Rucksack, in dem sich die üblichen Utensilien seines Berufs befanden.

Als erste Maßnahme stand eine Art »Verzweiflungsschuss« auf Jacks To-do-Liste – ein Versuch, bei dem er sich fast sicher war, dass er scheitern würde. Denn Jack hatte nicht den geringsten Zweifel, dass seine umfassenden Zugriffsrechte auf den Campus-Mainframe-Computer derzeit außer Kraft gesetzt waren, aber er hoffte dennoch, dass ein Teil davon vielleicht doch noch funktionierte.

Er bootete das Notebook, startete den Browser und rief die Website von Hendley Associates auf. Hier navigierte er zum gesicherten Backdoor-Portal. Er drückte sich geistig den Daumen, als er seinen Benutzernamen und das Passwort eingab. Nach einem kurzen Augenblick öffnete sich das Hauptfenster des Portals. Sämtliche Desktopsymbole waren ausgegraut, mit einer Ausnahme: Level One. Jack klickte auf den Tab, und ein neues Fenster öffnete sich. In seiner Mailbox war eine einzige neue Nachricht aufgelistet. Sie stammte von Gavin Biery.

Falls Du nicht gerade am Bartresen mit einer zwielichtigen Dame abhängst …

Level One war zwar nur die Spitze des Informationseisbergs, den der Campus unterhielt, verschaffte dem Nutzer jedoch Zugriff auf die wichtigsten Ermittlungswerkzeuge. Im Grunde war Enquestor Services eine Strohfirma, die von Hendley Associates als verdeckte private Ermittlungsfirma unterhalten wurde. Ihr Hauptzweck bestand darin, ihren operativen Mitarbeitern einen nützlichen Schutzschild zu bieten. Enquestor Services existierte nur im Cyberspace, aber die verschiedenen Lizenzen und Dokumentationen waren untadelig – und das galt auch für den Ausweis eines Privatermittlers, den Jack besaß.

»Danke, Mr. Biery«, murmelte Jack vor sich hin.

Er klickte auf den Tab eines Magnetkartenlesers. Dann holte er einen USB-Magnetkartenleser aus dem Rucksack, schloss ihn an den USB-Port seines Laptops an und fuhr mit der Motel-6-Schlüsselkarte durch den Leseschlitz. Er wusste zwar, wo sich das Motel befand, kannte aber die Zimmernummer nicht, zu der die Karte gehörte. Nach ein paar Sekunden erschien die Information auf dem Monitor: Zimmer 142. Glück gehabt, dachte Jack. Offenbar ein Zimmer im Erdgeschoss mit Außenzugang. Je weniger er sich mit dem Personal an der Rezeption abgeben musste, desto besser.

Ein paar Minuten später war er bereits auf dem Interstate Highway 95 Richtung Westen unterwegs. Es hatte aufgehört zu regnen. Die Nachmittagstemperatur war auf fast fünfundzwanzig Grad gestiegen, und Dampf stieg von den immer noch feuchten Straßen auf. Eine Viertelstunde nach seiner Abfahrt vom Oronoco bog er auf den Springfield Boulevard ein. Das Motel war ein langgestrecktes, weiß verputztes vierstöckiges Gebäude, das hinter dem riesigen Straßenkleeblatt Franconia Road/I-95 aufragte. Jack fuhr einmal um das gesamte Gebäude herum, dann ließ er sich von den Wegweisern zum Eingangsbereich an der Ostseite leiten. Ungefähr fünfzehn Meter von der Einfahrt entfernt fand er einen Parkplatz, gut gedeckt durch eine hohe Hecke. Er stieß rückwärts in die Parklücke und schaltete den Motor aus.

Inzwischen schlug sein Herz schneller. Er wusste zwar mit absoluter Sicherheit, dass sein Angreifer nicht mehr zurückkommen würde, aber der geheimnisvolle Beobachter war eine unbekannte Größe, mit der er rechnen musste. Jack hielt es sogar für wahrscheinlich, dass der Fremde, sofern er etwas mit dem Überfall auf Jack zu tun hatte, inzwischen das Motelzimmer des Angreifers geräumt hatte. Aber er hoffte, dass das nicht der Fall war: Das Zimmer war Jacks einziger Anhaltspunkt. Aber in seinem Hinterkopf regte sich noch ein anderes Gefühl: eine gespannte Erwartung. Plötzlich wurde ihm klar, dass ihm genau das gefehlt hatte: Spannung, Aufregung. Ja, er vermisste den Campus.

Natürlich war er mit Dom, Ding und John Clark in Kontakt geblieben – sie trafen sich fast jede Woche einmal zum Lunch oder auf ein Bier, aber das war nicht dasselbe. Obwohl sie nichts dazu beitrugen, fühlte er sich allmählich wie ein Außenseiter. Für sie alle, auch für Jack selbst, waren Hendleys verdeckte Missionen so etwas wie ein Lebenselixier. In dieser Art von Geschäft war das Gefühl weit verbreitet, sowohl im zivilen als auch im militärischen Bereich. Es war eine natürliche Nebenwirkung, die sich bei Leuten ergab, die gut in diesem Job waren – obwohl es ein Job war, der ziemlich häufig versuchte, einen umzubringen. War das nicht eine recht passende Beschreibung für eine Sucht? Sicher, sie war ein bisschen zu allgemein formuliert, aber doch sonst zutreffend, nicht wahr? Vielleicht. Wenn es so war, hatte der monatelange Entzug Jack nicht von seiner Sucht befreit, er spürte immer noch, wie ihn der Job anzog. Schließlich gab es schlimmere Abhängigkeiten, oder nicht? Andererseits war alles relativ, wie er Doug Butler gesagt hatte.

Er holte die Glock aus dem Holster, zog den Schlitten zurück, bis er das schimmernde Messing in der Kammer sah, schob die Waffe wieder ins Holster, stieg aus und ging zum Eingang.

Jack zog die Schlüsselkarte durch den Kartenschlitz an der Tür und hörte befriedigt ein Klicken. Er schob die Tür vorsichtig mit der Daumenrückseite auf und trat in den Vorraum. Eine Innentür führte in einen Flur, von dem mehrere Türen abgingen. Er folgte dem Schild zu Zimmer Nummer 142. Der Flur war menschenleer, aber als er an einigen Türen vorbeiging, hörte er gedämpfte Unterhaltungen und eine Quizsendung im Fernsehen.

Vor Nummer 142 blieb er stehen. Am Türgriff hing ein rotes »Bitte nicht stören«-Schild. Jack legte das Ohr an die Tür und lauschte. Drinnen herrschte Stille. Er blickte sich rasch im Flur um und vergewisserte sich, dass niemand kam, dann zog er die Glock, stellte sich dicht neben die Türscharniere und schob die Karte durch den Leseschlitz. Mit der Faust drückte er den Türgriff hinunter und schob die Tür mit dem Fuß ein Stück weit auf.

Wieder hielt er inne und horchte. Immer noch regte sich nichts. Er zählte bis zehn, atmete tief ein und langsam wieder aus.

Die Pistole in der tiefen Vorhalteposition, schob er die Tür mit der Schulter noch weiter auf und glitt in den kleinen Vorraum. Rechts das Bad. Links ein Einbauschrank mit zwei Spiegelschiebetüren. Beide Türen standen ein Stück weit offen; im Schrank stand ein schwarzer Schalenkoffer mit Rollen. Hinter dem Durchgang zum Zimmer sah er eine Schubladenkommode und das Fußende eines Doppelbetts, dahinter das Fenster. Die Gardinen waren vorgezogen, sodass ein blasses, diffuses Licht ins Zimmer fiel.

Als die Tür hinter ihm zuschwang, zog sich Jack einen Schritt zurück, um seine Distanz zur Badezimmertür zu vergrößern. Vorsichtig schob er die Tür auf und checkte das Bad: leer. Er stieß die Tür vollends auf; der Duschvorhang war zurückgezogen. Jack trat in den Vorraum zurück und spähte um die Ecke ins eigentliche Hotelzimmer. Auch hier war niemand zu sehen. Er schob die Glock ins Holster zurück.

Das Hotelzimmer glich jedem anderen Zimmer in derartigen Motels: Kurzhaarteppich, weiße Wände, ein Bett mit zwei Nachttischen, ein kleiner runder Tisch und zwei Stühle neben dem Fenster. Es roch leicht nach einem Desinfektionsmittel mit Tannennadelduft.