Gefahrenzone - Tom Clancy - E-Book
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Gefahrenzone E-Book

Tom Clancy

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Beschreibung

Jack Ryan riskiert alles – noch nie war der Einsatz so hoch

Wieder einmal legt Bestsellerautor Tom Clancy eine mitreißende Story vor, die schon morgen Wirklichkeit werden könnte: Interne politische und wirtschaftliche Kämpfe sorgen in China dafür, dass die Führung des Landes immer mehr an Einfluss verliert. Um die eigene Macht zu untermauern, soll ein lang gehegter Wunsch in die Tat umgesetzt werden: sich Taiwan mittels eines Militärschlags einzuverleiben. Doch die Insel steht unter dem Schutz der Vereinigten Staaten. Für Präsident Jack Ryan ist die Stunde der großen Entscheidung gekommen. Wie kann er den Krieg der Supermächte verhindern?

Für die verdeckt agierenden Kämpfer der Geheimorganisation »Campus« ist der Krieg gegen die Feinde Amerikas nie ausgefochten. Diesmal sind Jack Ryan junior und seine Kameraden in unmittelbarer Gefahr: Die Existenz des »Campus« wurde aufgedeckt, und da ist der Weg zu seiner Zerstörung nicht weit. Gleichzeitig hat Jack Ryan senior als amtierender US-Präsident alle Hände voll zu tun. Die politische Balance in China ist nach desaströsen Wirtschaftsentwicklungen gehörig ins Wanken geraten. Aus Gründen der Machterhaltung verlagern die Regierenden die Aufmerksamkeit nach außen und überfallen Taiwan, ein Land, auf das China Anspruch erhebt, das aber den Schutz der USA genießt. Jetzt stehen sich zwei Supermächte gegenüber, und Jack Ryan sieht sich gezwungen, seinen einzigen Joker auszuspielen. Aber so wie es aussieht, wird bereits ein weltumspannender Krieg toben, bevor er den »Campus« effektiv einsetzen kann. Denn im Cyberspace hat der Krieg längst begonnen...

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Seitenzahl: 994

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TOM

CLANCY

UND

MARK GREANEY

GEFAHRENZONE

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Michael Bayer

 

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Threat Vector

bei G.P. Putnam’s Sons, New York

Redaktion: Werner Wahls

Copyright © 2012 by Rubicon, Inc.

Copyright © 2014 der deutschen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich

ISBN: 978-3-641-12336-9V003

www.heyne.de

 

Hauptpersonen

Regierung der Vereinigten Staaten

JOHN PATRICK »JACK« RYAN: Präsident der Vereinigten Staaten

ARNOLD VAN DAMM: Stabschef des Präsidenten

ROBERT BURGESS: Verteidigungsminister

SCOTT ADLER: Außenminister

MARY PATRICIA FOLEY: Direktorin der Nationalen Nachrichtendienste

COLLEEN HURST: Nationale Sicherheitsberaterin

JAY CANFIELD: Direktor der Central Intelligence Agency (CIA)

KENNETH LI: US-Botschafter in China

ADAM YAO: Undercoveragent, National Clandestine Service, Central Intelligence Agency

MELANIE KRAFT: Nachrichtenanalystin, Central Intelligence Agency (abgeordnet an das Büro der Direktorin der Nationalen Nachrichtendienste)

DARREN LIPTON: Leitender Spezialagent, Federal Bureau of Investigation (FBI), National Security Branch, Counterintelligence Division (Spionageabwehrabteilung)

Militär der Vereinigten Staaten

ADMIRAL MARK JORGENSEN: United States Navy (US-Marine), Kommandeur der Pazifikflotte

GENERAL HENRY BLOOM: United States Airforce (US-Luftwaffe), Kommandeur des United States Cyber Command (Kommando für elektronische Kriegs­führung)

CAPTAIN BRANDON »TRASH« WHITE: United States Marine Corps, F/A-18C-Hornet-Pilot

MAJOR SCOTT »CHEESE« STILTON: United States Marine Corps, F/A-18C-Hornet-Pilot

CHIEF PETTY OFFICER MICHAEL MEYER: United States Navy,SEAL-Team 6, Element Leader (Gruppen­führer)

Der Campus

GERRY HENDLEY: Direktor von Hendley Associates/Direktor des Campus

SAM GRANGER: Operationsleiter

JOHN CLARK: Außenagent

DOMINGO »DING« CHAVEZ: Außenagent

DOMINIC CARUSO: Außenagent

SAM DRISCOLL: Außenagent

JACK RYAN JR.: Außenagent/Analyst

RICK BELL: Leiter der Analyseabteilung

TONY WILLS: Analyst

GAVIN BIERY: Leiter der IT-Abteilung

Die Chinesen

WEI ZHEN LIN: Präsident der Volksrepublik China/Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas

SU KE QIANG: Vorsitzender der Zentralen Militär­kommission der VR China

WU FAN JUN: Geheimdienstoffizier, Ministerium für Staatssicherheit, Shanghai

DR. TONG KWOK KWAN alias »CENTER«: Leiter der Computer-Netzwerk-Operationen von Ghost Ship

ZHA SHU HAI alias »FastByte22«: Von Interpol gesuchter Cyberkrimineller

CRANE: Anführer der »Vancouver-Zelle«

HAN: Fabrikbesitzer und Markenpirat

Weitere Personen

WALENTIN OLEGOWITSCH KOWALENKO: Ehemaliger stellvertretender Resident der SWR (russischer Auslandsgeheimdienst) in London

TODD WICKS: Gebietsverkaufsleiter von Advantage Technology Solutions

CHARLIE »DARKGOD« LEVY: Amateurhacker

DR. CATHY RYAN: Präsident Jack Ryans Ehefrau

SANDY CLARK: John Clarks Ehefrau

DR. PATSY CLARK: Ehefrau von Domingo Chavez/John Clarks Tochter

EMAD KARTAL: ehemaliger libyscher Geheim­dienstoffizier, Kommunikationsspezialist

 

Prolog

Das waren düstere Zeiten für die früheren Agenten der »Jamahiriya Security Organisation«, des gefürchteten libyschen Geheimdiensts unter Muammar al-­Gaddafi. Die JSO-Mitarbeiter, die die Revolution in ihrem Heimatland überlebt hatten, waren untergetaucht und hatten sich in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Sie fürchteten den Tag, an dem ihre grausame und brutale Vergangenheit sie auf ebenso grausame und brutale Weise ein­holen würde.

Auch nachdem Tripolis im Jahr zuvor an die vom Westen unterstützten Rebellen gefallen war, blieben einige JSO-Agenten in Libyen. Sie hofften, sich vor Vergeltungsmaßnahmen schützen zu können, indem sie ihre Iden­­tität wechselten. Allerdings gelang dies nur selten, da andere ihre Geheimnisse kannten und sie nur allzu gern an revolutionäre Kopfjäger verrieten, um dadurch alte Rechnungen zu begleichen oder sich bei den neuen Macht­habern lieb Kind zu machen. Ein Gaddafi-Spion nach dem anderen wurde in seinem libyschenSchlupflochaufgestöbert, gefoltert und getötet. Sie wurden also behandelt, wie sie es verdienten, obwohl der Westen auf naive Weise gehofft hatte, dass die Verbrechen der Vergangenheit nach der Machtübernahme der Aufständischen in »ordentlichen, fairen Gerichtsverfahren« abgeurteilt werden würden.

Nach Gaddafis Tod wurde genauso wenig Gnade gewährt wie zu seinen Lebzeiten. In dieser Hinsicht waren die neuen Herren auch nicht anders als die alten.

Die klügeren JSO-Agenten kehrten Libyen den Rücken, um diesem Schicksal zu entgehen. Einige beschlossen, sich in andere afrikanische Staaten abzusetzen. Tunesien lag zwar ganz in der Nähe, hegte jedoch keinerlei Sym­pathien für die früheren Spione des »verrückten Hunds des Nahen Ostens«, wie Ronald Reagan Gaddafi einst treffend genannt hatte. Der Tschad, das südliche Nachbarland, war trostlos und öde. Außerdem waren die Libyer dort ebenso wenig willkommen. Einige wenige schafften es nach Algerien und in den Niger. In beiden Staaten waren sie jetzt zwar einigermaßen sicher, aber als Gäste dieser bettelarmen Regime waren ihre Zukunftsaussichten äußerst beschränkt.

Einige Agenten des früheren libyschen Geheimdiensts trafen es jedoch besser als der Rest ihrer gehetzten Kollegen, da sie über einen gewichtigen Vorteil verfügten. Die Mitglieder dieser kleinen Agentenzelle hatten nämlich viele Jahre lang nicht nur die Interessen des Gaddafi-Regimes verfolgt, sondern auch für ihre ganz persönliche Bereicherung gesorgt. Sie hatten sich anmieten lassen, um in Libyen wie im Ausland meist recht schmutzige »Auftragsarbeiten« für das organisierte Verbrechen, al-Qaida, den Umayyad-Revolutionsrat oder sogar für die Geheimdienste anderer nahöstlicher Staaten zu erledigen.

Bei dieser Arbeit erlitt die Gruppe bereits vor dem Sturz ihrer Regierung etliche Verluste. Einige wurden bereits ein Jahr vor Gaddafis Tod von amerikanischen Agenten getötet. Während der Revolution kamen ein paar andere bei einem NATO-Luftangriff auf den Hafen von Tobruk ums Leben. Zwei weitere wurden gefangen genommen, als sie gerade ein Flugzeug bestiegen, das sie aus Misrata wegbringen sollte. Man folterte sie mit Elektroschocks, bevor man sie auf dem Markt nackt an Fleischerhaken aufhängte. Den sieben Überlebenden der Zelle gelang jedoch die Flucht ins Ausland. Auch wenn sie ihre jahrelangen »Zusatzjobs« nicht reich gemacht hatten, halfen ihnen jetzt ihre internationalen Beziehungen, wie Ratten das sinkende Schiff der »Großen Sozialistischen Libysch-Arabischen Volks-Jamahiriya« zu verlassen und der Rache der Aufständischen zu entgehen.

Die sieben setzten sich nach Istanbul ab, wo sie von ört­lichen Unterweltgrößen unterstützt wurden, die ihnen einen Gefallen schuldeten. Nach kurzer Zeit verließen zwei von ihnen die Zelle und suchten sich eine ehrliche Arbeit. Einer wurde Wachmann eines Juweliergeschäfts, der ­andere fand einen Job in einer lokalen Kunststofffabrik.

Die übrigen fünf blieben dem Spionagegeschäft treu und verdingten sich als erfahrene professionelle Geheimdiensteinheit. Dabei achteten sie ständig darauf, ihre persönliche Sicherheit, PERSEC, mit der OPSEC, der operationellen Sicherheit, zu verbinden. Sie wussten, dass sie nur auf diese Weise möglichen Racheakten von Agenten der neuen libyschen Regierung entgehen konnten.

Tatsächlich gewährte ihnen diese Wachsamkeit einige ­sichere Monate. Danach wurden sie jedoch etwas zu nachlässig. Einer von ihnen verletzte sogar sämtliche Sicherheitsregeln und meldete sich bei einem alten Freund in Tripolis. Dieser hatte jedoch inzwischen die Seiten gewechselt, um seinen Hals zu retten, und berichtete dem neuen libyschen Geheimdienst von dieser Kontaktaufnahme.

Der steckte allerdings noch in den Kinderschuhen. So begeistert er war, dass man eine ganze Gruppe seiner alten Feinde in Istanbul aufgespürt hatte, sah er sich jedoch noch nicht in der Lage, eine Operation gegen sie durchzuführen. Ein Team in eine ausländische Metropole einzuschleusen, um dort eine Zelle von ausgebufften Spionageprofis auszuschalten, überstieg seine Möglichkeiten.

Allerdings hatte auch noch eine andere Organisation diese Nachricht aufgefangen, die sowohl die Mittel als auch das Motiv besaß, in dieser Angelegenheit tätig zu werden.

Bald darauf wurde die Istanbuler Zelle ehemaliger JSO-­Agenten zu Zielpersonen erklärt. Sie waren jedoch nicht in das Fadenkreuz libyscher Revolutionäre geraten, die die letzten Reste des Gaddafi-Regimes beseitigen wollten. Ebenso wenig handelte es sich dabei um einen westlichen Geheimdienst, der eine alte Rechnung mit Mitgliedern einer früheren feindlichen Spionageorganisation begleichen wollte.

 

Nein, die fünf Libyer wurden von einem geheimen Tötungsteam aus den Vereinigten Staaten gejagt.

Vor über einem Jahr hatte ein Mitglied der JSO-Zelle einen Mann namens Brian Caruso, den Bruder eines der Amerikaner und Freund der anderen, erschossen. Der Schütze war zwar kurz darauf umgekommen, aber seine Zelle existierte noch immer. Sie hatte die Revolution überlebt, und ihre Mitglieder genossen inzwischen ihr neues Leben in der Türkei.

Aber Brians Bruder und Freunde hatten sie nicht vergessen.

Und sie hatten ihnen nicht vergeben.

 

 

1

Die fünf Amerikaner hielten sich seit Stunden in diesem heruntergekommenen Hotelzimmer auf und warteten auf den Einbruch der Dunkelheit.

Warmer Regen trommelte gegen das Fenster. Außer diesem monotonen Geräusch war in dem halbdunklen Raum fast kein anderer Laut zu hören. Die Männer wechselten kaum ein Wort. In der Woche, die sie jetzt bereits in der Stadt waren, hatte ihnen dieses Zimmer als Operationsbasis gedient, obwohl vier der fünf in anderen Hotels abgestiegen waren. Jetzt waren alle Vorbereitungen abgeschlossen. Die vier hatten aus ihren Quartieren ausgecheckt und sich mit ihrer gesamten Ausrüstung hierher zum fünften Mann ihrer Gruppe begeben.

So still sie jetzt waren, so beschäftigt waren sie die ganze Woche gewesen. Sie hatten die Zielpersonen ausgekundschaftet, Einsatzpläne entwickelt, Deckungsmöglichkeiten erkundet, sich ihre ersten, zweiten und dritten Fluchtwege eingeprägt und die Logistik der gesamten Mission koordiniert. Jetzt war alles vorbereitet, und sie konnten nur noch herumsitzen und auf die Dunkelheit warten.

Von Süden rollte ein lauter Donnerschlag heran. Ein greller Blitz weit draußen am Himmel über dem Marmara­meer erleuchtete ­einen Augenblick lang die regungslosen Personen im Zimmer, die aber sofort darauf im Schummerlicht wieder zu Schemen wurden.

Das Hotel lag im Istanbuler Sultanahmet-Viertel. Das Team hatte es als Operationsbasis ausgewählt, weil sie ihre Fahrzeuge auf dem Hof parken konnten. Außerdem lag es von den Orten etwa gleich weit entfernt, an denen sie später am Abend ihre Operationen durchführen würden. Ganz bestimmt hatten sie das Hotel jedoch nicht wegen seiner Vinyl-Bettlaken, der schmuddeligen Flure oder dem mürrischen, unfreundlichen Personal ausgesucht, oder gar wegen der Haschisch-Schwaden, die von der Jugendherberge im Erdgeschoss heraufzogen.

Aber die Amerikaner beklagten sich nicht über ihre Unterkunft. Sie dachten einzig an die Aufgaben, die vor ihnen lagen. Zwei saßen auf dem mit Rattenkot gesprenkelten Bett, einer lehnte an der Wand neben der Tür, und ein anderer stand am Fenster.

Um neunzehn Uhr schaute der Anführer der Gruppe auf den Chronografen an seinem Handgelenk. Er war über dem Verband befestigt, der seine gesamte Hand und einen Teil seines Unterarms bedeckte. Er stand von seinem Holzstuhl auf und sagte: »Wir ziehen einer nach dem anderen im Abstand von jeweils fünf Minuten los.«

Die anderen nickten.

Der Anführer setzte seine kleine Ansprache fort. »Den Einsatz auf diese Weise aufzusplittern geht mir absolut gegen den Strich, das könnt ihr mir glauben. So gehen wir normalerweise nicht vor. Aber die Umstände lassen uns hier keine andere Wahl. Wenn wir diese Penner nicht halbwegs gleichzeitig erledigen, erfahren ein paar von ihnen davon und flüchten wie die Küchenschaben zurück ins Dunkle.«

Die anderen hörten zu, ohne etwas zu erwidern. Sie hatten das Ganze in der vergangenen Woche dutzendfach durchgespielt. Sie kannten die Schwierigkeiten, sie kannten die Risiken, und sie kannten die Bedenken ihres Anführers.

Sein Name war John Clark. Er hatte solche Einsätze bereits durchgeführt, als der jüngste seiner Männer noch nicht einmal auf der Welt war. Seine Worte hatten also Gewicht.

»Ich habe es schon ein paar Mal gesagt, Leute, aber verzeiht mir, wenn ich es euch noch einmal zu Gemüte führe. Bei dieser Operation sind keine Stilnoten zu vergeben.« Er machte eine Pause. »Rein und raus. Schnell und kaltblütig. Kein Zögern. Keine Gnade.«

Sie nickten erneut.

Nach seiner Rede zog Clark einen blauen Regenmantel über seinen dreiteiligen Nadelstreifenanzug. Er ging zum Fenster hinüber und streckte seine linke Hand aus. Domingo »Ding« Chavez ergriff sie seinerseits mit der Linken und schüttelte sie. Er trug einen dreiviertellangen Ledermantel und eine schwere Rollmütze. Zu seinen Füßen lag eine Segeltuchtasche.

Ding bemerkte Schweiß auf der Stirn seines Mentors. Er wusste, dass Clark starke Schmerzen haben musste, aber er hatte sich in der ganzen Woche nicht ein einziges Mal beklagt. »Alles in Ordnung, John?«, fragte Chavez besorgt.

Clark nickte. »Geht schon.«

Dann streckte John Sam Driscoll die Hand entgegen, der gerade vom Bett aufstand. Sam trug eine Jeansjacke und Bluejeans, außerdem jedoch noch Knie- und Ellbogenschützer. Auf dem Bett lag ein schwarzer Motorradhelm.

»Mr. C.«, sagte Sam.

»Bereit zum Fliegenklatschen?«, fragte John.

»Ich kann’s kaum erwarten.«

»Entscheidend ist der Winkel. Wähl den richtigen und bleib dabei. Die Aufprallwucht erledigt dann den Rest.«

Sam nickte, als gerade ein weiterer Blitz das Zimmer erhellte.

John trat auf Jack Ryan jr. zu. Jack war von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet. Er trug schwarze Baumwollhosen und einen schwarzen Strickpullover. Über der Stirn hatte er eine Strickmaske auf eine Weise hochgerollt, dass sie Chavez’ Rollmütze ähnelte. Außerdem trug er Softlederschuhe, die wie schwarze Slipper aussahen. Clark gab dem siebenundzwanzigjährigen Ryan die Hand und sagte: »Viel Glück, Junior.«

»Das klappt ganz bestimmt.«

»Da bin ich mir sicher.«

Als Letztes ging John um das Bett herum und schüttelte Dominic Caruso die linke Hand. Dom trug ein gelb-rotes Fußballtrikot und einen hellgelben Schal, auf dem in roten Buchstaben das Wort Galatasaray prangte. Seine Aufmachung hob sich von den gedeckten Farben der anderen gewaltig ab. Seine Miene war jedoch weit düsterer als seine Kleidung.

Mit ernstem Gesichtsausdruck sagte er: »Brian war mein Bruder, John. Ich brauche keine ...«

John fiel ihm ins Wort. »Haben wir darüber nicht bereits gesprochen?«

»Schon, aber ...«

»Mein lieber Dom, was immer unsere fünf Zielpersonen hier in der Türkei vorhaben sollten, diese Operation ist auf jeden Fall weit mehr als eine bloße Vergeltungsaktion für den Tod deines Bruders. Trotzdem ... heute sind wir alle Brians Brüder. Das ist für uns alle eine Herzensangelegenheit.«

»Das stimmt. Aber ...«

»Ich möchte, dass ihr euch ganz auf euren Job konzen­triert und auf nichts anderes. Jeder von uns weiß, was wir hier tun. Diese JSO-Arschlöcher haben gegen ihr eigenes Volk und gegen die Vereinigten Staaten zahllose Verbrechen begangen. Ihr ganzes Verhalten zeigt, dass sie auch jetzt nichts Gutes im Schilde führen. Niemand außer uns wird sie aufhalten. Es ist unsere Aufgabe, sie aus dem Verkehr zu ziehen.«

Dom nickte leicht abwesend.

»Diese Wichser haben es allemal verdient«, fügte Clark noch hinzu.

»Ich weiß.«

»Bist du startklar?«

Jetzt hob der junge Mann sein bärtiges Kinn. Er schaute Clark direkt in die Augen. »Hundertprozentig«, sagte er in entschlossenem Ton.

John Clark griff sich mit der nicht bandagierten Hand seine Aktenmappe und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.

Die vier übrigen Amerikaner schauten auf ihre Uhren und warteten schweigend, bis sie an der Reihe waren. Wieder war nur das Geräusch der Regentropfen zu hören, die immer noch an die Fensterscheibe trommelten.

 

 

2

Der Mann, den die Amerikaner intern »Zielperson eins« getauft hatten, saß an seinem gewohnten Bistrotisch im Straßencafé vor dem Hotel May im Mimar-­Hayrettin-Viertel. Bei schönem Wetter kam er an den meisten Abenden hierher, um ein oder zwei Raki zu trinken, die er mit eiskaltem Wasser vermischte. An diesem Abend regnete es zwar in Strömen, aber das lange Segeltuchdach über den Tischen auf dem Trottoir hielt ihn ­trocken.

Trotzdem hatten nur wenige Gäste einen Platz im Freien gewählt. Einige Paare gönnten sich noch ein Getränk und rauchten eine Zigarette, bevor sie auf ihre Hotelzimmer zurückkehren oder ein anderes Lokal irgendwo in der Altstadt aufsuchen würden.

Zielperson eins war sein abendliches Glas Raki zur lieben Gewohnheit geworden. Das milchig weiße Anisgetränk, ein doppelt gebrannter Tresterschnaps, wies immerhin einen Alkoholgehalt von 40 bis 50 Volumenprozent auf und war deshalb in seinem Heimatland Libyen und anderen islamischen Staaten, die nicht der liberaleren hanafi­tischen Rechtsschule folgten, streng verboten. Allerdings war der ehemalige JSO-Spion auch zuvor schon »gezwungen« gewesen, bei Auslandseinsätzen aus Tarnungsgründen gelegentlich alkoholische Getränke zu sich zu nehmen. Nach seiner Flucht hatte er sich jetzt jedoch daran gewöhnt, die ständige nervliche Anspannung durch den Genuss des einen oder anderen Raki zu lindern. Manchmal benutzte er diesen sogar als eine Art Schlafmittel, obwohl auch die liberale Hanafi-Schule jede Form von tatsäch­licher Trunkenheit strikt ablehnte.

Nur wenige Fahrzeuge rumpelten keine vier Meter von seinem Tisch entfernt über das Kopfsteinpflaster. Dies war keine Durchgangsstraße. Selbst an schönen Wochenend­abenden mit klarem Himmel herrschte hier kaum Verkehr. Auf den Gehsteigen gab es jedoch etwas mehr Betrieb. Zielperson eins betrachtete mit Wohlgefallen die attraktiven Istanbuler Frauen, die unter ihren Schirmen an ihm vorbeihasteten. Der gelegentliche Anblick der nackten Beine einer sexuell anziehenden Frau verband sich jetzt mit dem wohligen leichten Rauschgefühl des Alkohols und sorgte dafür, dass der Libyer diesen Aufenthalt in seinem gewohnten Straßencafé selbst an diesem regnerischen Abend ausgesprochen genoss.

Um einundzwanzig Uhr lenkte Sam Driscoll seinen Fiat Linea ruhig und umsichtig durch den abendlichen Verkehr, der aus den Außenbezirken in die Istanbuler Altstadt strömte.

Die Lichter der Stadt spiegelten sich in der nassen Windschutzscheibe. Je weiter er in das Straßengewirr der Altstadt vordrang, desto schwächer wurde der Verkehr. An einer roten Ampel schaute der Amerikaner kurz auf das GPS-Gerät, das er mit einem Klettverschluss an das Armaturenbrett geheftet hatte. Nachdem er sich über die Entfernung zu seiner Zielperson vergewissert hatte, griff er zum Beifahrersitz hinüber und packte seinen Motorradhelm. Als die Ampel auf Grün schaltete, rollte er ganz langsam den Nacken, um sich zu entspannen, zog sich den Sturzhelm über den Kopf und schloss dessen Visier.

Beim Gedanken, was gleich passieren würde, zuckte er unwillkürlich zusammen. Obwohl ihm das Herz bis zum Hals pochte und fast jede Synapse seines Gehirns in der Konzentration auf die bevorstehende Operation feuerte, fand er doch noch den inneren Abstand, den Kopf zu schütteln und etwas vor sich hin zu murmeln.

Er hatte in seiner Zeit als Soldat und Außenagent eine Menge hässlicher Dinge erledigen müssen, aber so etwas wie jetzt hatte doch noch nicht dazugehört.

»Gleich werde ich zu einer gottverdammten Fliegenklatsche.«

Als der Libyer zum ersten Mal an seinem zweiten Raki nippte, bog etwa achtzig Meter weiter nördlich ein silberner Fiat um die Kurve und sauste die schmale Altstadtstraße hinunter. Zielperson eins schaute gerade in die entgegengesetzte Richtung, wo sich eine wunderschöne junge Türkin auf dem Gehsteig näherte. In der linken Hand hielt sie einen roten Schirm und in der rechten die Leine ihres Zwergschnauzers. Als sie an ihm vorbeiging, hatte er von seinem Platz aus einen fantastischen Blick auf ihre langen, gebräunten Beine.

Ein lauter Schrei von links lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Kreuzung direkt vor ihm. Sein Kopf fuhr herum, und er sah, wie ein silberfarbener Fiat bei Rot über die Ampel fuhr und jetzt die bisher so ruhige Straße herunterraste.

Er erwartete, dass er an ihm vorbeiflitzen würde.

Er nahm erneut einen Schluck, ohne sich weiter zu beunruhigen.

Dies änderte sich jedoch schlagartig, als das Auto plötzlich mit einem lauten Quietschen seiner nassen Reifen hart nach links steuerte und direkt auf den Libyer zuhielt, der fassungslos auf den Kühlergrill des Fiats starrte.

Noch immer mit seinem Glas in der Hand sprang die Zielperson eins von ihrem Stuhl hoch, blieb dann jedoch wie angewurzelt stehen. Sie hatte weder die Zeit noch den Raum, sich irgendwohin abzusetzen.

Die Frau mit dem Zwergschnauzer schrie laut auf.

Der silberne Fiat rammte jetzt den Mann am Bistrotisch mit voller Wucht und quetschte ihn gegen die Ziegelsteinwand des Hotels, wo er halb unter und halb vor das Auto geriet. Der Brustkorb des Libyers wurde dabei zerdrückt und zerschmettert. Einzelne Knochenstücke durchbohrten seine lebenswichtigen Organe wie Schrotkugeln aus einer kurzläufigen Polizeiflinte.

Die Augenzeugen im Café und auf der Straße sagten später aus, dass der Mann mit dem schwarzen Sturzhelm, der das Auto steuerte, danach ganz ruhig den Rückwärtsgang eingelegt, in den Rückspiegel geschaut und zur Kreuzung zurückgesetzt habe, um in nördlicher Richtung davonzufahren. Er wirkte dabei so unaufgeregt wie ein Mann, der auf einem Sonntagsausflug eine Parklücke auf dem Marktplatz gefunden hatte, feststellte, dass er seinen Geldbeutel zu Hause vergessen hatte, und dann wieder ausparkte, um ihn daheim zu holen.

Einen Kilometer weiter südöstlich parkte Driscoll den Fiat in einer privaten Einfahrt. Die Motorhaube des Wagens war völlig verbeult, und sein Kühlergrill und die Stoßstange waren eingedrückt und zerfetzt. Sam stellte den Fiat so ab, dass sein beschädigtes Vorderteil von der Straße aus erst einmal nicht zu sehen war. Er stieg aus und ging zu einem Motorroller hinüber, der ganz in der Nähe an einem Laternenmast angekettet war. Bevor er das Schloss öffnete und davonfuhr, gab er noch eine kurze Botschaft in sein verschlüsseltes Mobiltelefon ein:

»Zielperson eins ist ausgeschaltet. Mit Sam ist alles klar.«

Der Çırağan-Palast war ein prächtiges Stadtschloss, das in den 1860er-Jahren für Abdülaziz I. erbaut wurde, einen Sultan, der während des langen Niedergangs des Osmanischen Reiches regierte. Nachdem seine Verschwendungssucht den Staat in immer höhere Schulden gestürzt hatte, wurde er abgesetzt und »dazu bewogen«, ausgerechnet mit einer Schere Selbstmord zu begehen.

Nirgends wurde die Prunkliebe, die zu Abdülaziz’ Sturz geführt hatte, deutlicher als im Çırağan-Palast. Dieser war jetzt ein Fünf-Sterne-Hotel, dessen gepflegte Rasenanlagen und kristallklare Wasserflächen und Swimmingpools sich von der Palastfassade bis zum Westufer des Bosporus erstreckten, der Meerenge, die Europa von Asien trennte.

Das Tuğra-Restaurant im ersten Stock des Palastes zeichnete sich durch prächtige hohe Räume aus. Durch die Fenster hatte man einen weiten Blick auf die Hotelanlage und die dahinter liegende Meeresstraße. Selbst während eines Dauerregens wie an diesem Dienstagabend konnten sich die Gäste von ihren Tischen aus an den hellen Lichtern der vorbeifahrenden Jachten erfreuen.

Am wichtigsten war jedoch das ausgezeichnete Essen, das neben zahlreichen zahlungskräftigen Touristen auch etliche Geschäftsleute aus der ganzen Welt in dieses Re­staurant gelockt hatte, die jetzt allein oder in unterschiedlich großen Gruppen ihre Mahlzeit genossen.

John Clark passte mit seinem feinen Nadelstreifenanzug hervorragend in diese Umgebung. Er tafelte ganz allein an einem kleinen Tisch, der mit prächtigen Kristallgläsern, edlem Knochenporzellangeschirr und vergoldetem Besteck gedeckt war. Er hatte sich einen Platz in der Nähe des Ausgangs, weit weg von den großen Panoramafenstern ausgesucht. Sein Kellner war ein gut aussehender Mann mittleren Alters in schwarzem Smoking, der Clark ein erlesenes Mahl servierte. Der Amerikaner konnte es allerdings nicht so recht würdigen, da seine ganze Aufmerksamkeit einem Tisch auf der anderen Seite des Raumes galt.

Als sich John gerade den ersten Bissen seines zarten Seeteufels auf der Zunge zergehen ließ, führte der Oberkellner drei Araber in teuren Maßanzügen zu einem Tisch direkt neben dem Fenster. Kurz darauf fragte sie ein Kellner, ob sie vor dem Essen einen Cocktail wünschten.

Zwei Männer wohnten in diesem Hotel. Clark wusste das aufgrund der Überwachungsaktivitäten seines Teams und der ausgezeichneten Vorarbeit seiner Organisation. Sie waren Bankiers aus dem Oman, die ihn in keiner Weise interessierten. Das galt jedoch nicht für den dritten Mann, einen fünfundfünfzigjährigen grauhaarigen Libyer mit einem gepflegten, gestutzten Bart.

Er war die Zielperson zwei.

Clark hatte nach seiner Verletzung lernen müssen, die Gabel beim Essen in der linken Hand zu halten. Während er seinen Fisch sehr langsam verspeiste, konzentrierte er sich mithilfe des winzigen, fleischfarbenen Hörverstärkers in seinem rechten Ohr auf die Stimmen der drei Männer. Dabei war es ziemlich schwierig, sie von denen der anderen Restaurantgäste zu unterscheiden. Nach ein paar Minuten gelang es ihm dann jedoch, die Stimme der Zielperson zwei aus dem allgemeinen Lautgewirr herauszufiltern.

Clark wandte seine Aufmerksamkeit wieder seinem Seeteufel zu und wartete.

Einige Minuten später nahm der Kellner die Bestellung der drei Araber entgegen. Clark hörte, wie seine Zielperson eine Portion Kalbsrostbraten bestellte, während sich seine beiden Begleiter für andere Gerichte entschieden.

Das war gut. Hätten die Omaner das Gleiche wie der Libyer bestellt, hätte Clark zum Plan B übergehen müssen. Dieser würde sich jedoch draußen auf der Straße ­abspielen, wo Clark auf weit mehr Unwägbarkeiten gefasst sein musste als hier im Tuğra.

Alle drei hatten auch nur einen einzigen Hauptgang bestellt. Clark dankte seinem Glück, holte das Hörgerät aus dem Ohr und steckte es zurück in die Hosentasche. Er nippte von Zeit zu Zeit an seinem Portwein, den er sich als Digestif gönnte, während am Tisch seiner Zielperson kalte Suppen und Weißwein serviert wurden. Der Amerikaner vermied es, auf die Uhr zu schauen. So wichtig die Ein­haltung des Zeitplans sein mochte, er durfte äußerlich keinesfalls irgendwelche Anzeichen von Ungeduld oder gar Besorgnis zeigen. Stattdessen genoss er seinen Port und zählte die Minuten im Kopf ab.

Kurz bevor die Suppenteller vom Tisch der Araber abserviert wurden, fragte Clark den Kellner, wo genau sich das »gewisse Örtchen« befinde. Dieser erklärte ihm, dass er dazu nur an der Küche vorbeigehen müsse. Auf der Toilette schloss er sich in eine Kabine ein, setzte sich und begann, in aller Eile seinen Unterarmverband abzuwickeln.

Dieser war keinesfalls eine Finte. Seine verletzte Hand war ganz real und schmerzte entsetzlich. Einige Monate zuvor hatte man sie mit einem Hammer zerschmettert. Seitdem hatte er drei Operationen über sich ergehen lassen müssen, in denen man seine Knochen und Sehnen einigermaßen wiederhergestellt hatte. Trotzdem hatte er in der ganzen Zeit nicht eine einzige Nacht beschwerdefrei verbracht.

Auch wenn der Verband keine Attrappe war, diente er doch noch einem zusätzlichen Zweck. Beim Verbinden hatte Clark zwischen den beiden Schienen, die seinen Zei­ge- und Mittelfinger fixierten, auf raffinierte Weise eine kleine Spritze versteckt. Sie war so positioniert, dass er deren schmale Spitze durch den Verband nach außen stoßen konnte. Dabei wäre der Verschluss der Injektionsnadel abgesprungen, die er danach in die Zielperson hätte stechen können.

Das wäre jedoch der weniger günstige Plan B gewesen. John hatte sich stattdessen für Plan A entschieden.

Er holte die Spritze aus ihrem Versteck und steckte sie in die Tasche. Dann wickelte er den Verband vorsichtig wieder um seine verletzte Hand.

Der Injektor enthielt zweihundert Milligramm einer ganz speziellen Form des Succinylcholin-Gifts. Diese Dosis konnte man der Zielperson entweder direkt injizieren oder auf irgendeine Weise in ihr Essen schmuggeln. Beide Methoden waren absolut tödlich. Trotzdem war die Injektion verständlicherweise die effizientere Verabreichungsmethode.

John verbarg die Spritze in seiner linken Hand und verließ die Toilette.

Sein Timing war jedoch alles andere als perfekt. Er hatte gehofft, genau zu dem Zeitpunkt an der Küche vorbeizukommen, wenn der Kellner mit den Hauptspeisen für die drei Araber heraustreten würde. Als er jedoch zum Kü­chen­eingang kam, war der Gang vollkommen leer. John tat so, als würde er die Bilder an den Wänden und den vergoldeten Stuck an der Decke betrachten. Schließlich erschien der Kellner. Auf der Schulter trug er ein Tablett voller abgedeckter Speiseteller. John stellte sich ihm in den Weg und verlangte, er solle das Tablett absetzen und den Küchenchef rufen. Der Kellner verbarg seine Wut hinter einer aufgesetzten Höflichkeit und tat, wie ihm geheißen.

Als der Mann hinter der Schwingtür verschwunden war, deckte John in aller Eile die Speiseteller auf, fand das Kalbfleischgericht und spritzte das Gift aus dem Injektor direkt in die Mitte der dünnen Bratenscheibe. Zwar waren auf der Soße kurzzeitig einige durchsichtige Bläschen zu sehen. Das allermeiste Gift steckte jetzt jedoch im Fleischstück selbst.

Als der Küchenchef einen Augenblick später erschien, hatte Clark den Teller bereits wieder abgedeckt und die Giftspritze in der Hosentasche verstaut. Er dankte dem Koch für das ausgezeichnete Abendessen, während der Kellner in aller Eile die Speisen zum Tisch der Araber brachte, damit diese sich nicht beschwerten, ihr Essen sei kalt.

Minuten später zahlte John seine Rechnung und machte sich zum Gehen bereit. Sein Kellner brachte ihm den Regenmantel. Als er ihn anzog, schaute er kurz zur Zielperson zwei hinüber. Der Libyer verspeiste gerade den letzten Rest seines Kalbs-Külbastis. Er war in ein Gespräch mit seinen omanischen Begleitern vertieft.

Als Clark in die Hotellobby hinunterging, lockerte sich Zielperson zwei die Krawatte.

Zwanzig Minuten später stand der fünfundsechzigjäh­rige Amerikaner unter seinem Schirm im Büyükşehir-Belediyesi-Park direkt gegenüber dem Hotel und beobachtete, wie ein Krankenwagen heranbrauste und an dessen Eingang hielt.

Das Gift war absolut tödlich. Kein Sanitätsauto der Welt hatte in seiner Arzneimittelbox dafür ein Gegengift.

Zielperson zwei war entweder bereits tot oder sie würde es in kurzer Zeit sein. Die Ärzte würden annehmen, er habe einen Herzinfarkt erlitten. Es würde also höchstwahrscheinlich keine weitere Untersuchung geben. Auf keinen Fall würde man die anderen Gäste des Tuğra befragen, die zufälligerweise zum Zeitpunkt dieses unglücklichen, aber völlig natürlichen Ereignisses im Restaurant gegessen hatten.

Clark wendete sich ab und ging zur Muvezzi-Straße hin­über, die fünfzig Meter weiter westlich lag. Dort nahm er ein Taxi und bat den Fahrer, ihn zum Flughafen zu bringen. Er hatte kein Gepäck dabei, nur seinen Schirm und ein Mobiltelefon. Er drückte auf dessen Sprechtaste, während das Taxi in die Nacht hinausfuhr. »Zwei ist ausgeschaltet«, sagte er leise. »Ich bin in Sicherheit.« Dann steckte er das Handy mit der Linken unter den Regenmantel und ließ es in die Brusttasche seiner Anzugjacke gleiten.

Nachdem Domingo Chavez die Anrufe von Driscoll und Clark entgegengenommen hatte, konzentrierte er sich ganz auf seinen Teil der Operation. Er befand sich gerade auf der alten staatlichen Passagierfähre, die zwischen Karaköy auf der europäischen Seite des Bosporus und Üsküdar auf der asiatischen Seite verkehrte. Auf den roten Holzbänken in der Kabine des riesigen Fährschiffs saßen zahlreiche Frauen und Männer, die langsam, aber sicher in der leichten Dünung der Meerenge ihrem Bestimmungsort am anderen Ufer entgegenschaukelten.

Dings Zielperson war allein, ganz so, wie es nach der Beschattung der letzten Tage zu erwarten war. Chavez musste seinen Mann während der vierzigminütigen Überfahrt hier auf der Fähre ausschalten, damit dieser nicht doch noch vom Tod seiner Kumpane erfuhr, Verdacht schöpfte und seine Wachsamkeit verstärkte.

Zielperson drei war ein fünfunddreißigjähriger dick­licher Mann. Er saß auf einer Bank direkt am Fenster und las in einem Buch. Nach fünfzehn Minuten stand er jedoch auf und ging an Deck, um eine Zigarette zu rauchen.

Nachdem Chavez sich ein paar Sekunden lang vergewissert hatte, dass sich niemand anders für den Libyer interessierte, stand er ebenfalls auf und trat durch eine andere Tür aufs Deck hinaus.

Es regnete immer noch in Strömen, und die niedrige Wolkendecke ließ nicht das geringste Mondlicht durch. Außerdem versuchte Chavez, immer in den langen Schatten zu bleiben, die die Lampen entlang des schmalen Unterdecks warfen. Er stellte sich etwa fünfzehn Meter von seiner Zielperson entfernt an die spärlich beleuchtete Reling und schaute zu den blinkenden Lichtern am Ufer hinüber, vor denen sich gerade eine schwarze Fläche vorbeibewegte, als ein Katamaran unter der Galatabrücke hindurchfuhr.

Aus den Augenwinkeln beobachtete er seine Zielperson, die immer noch in der Nähe der Reling stand und rauchte. Das Oberdeck schützte ihn vor dem Regen. Im Moment standen noch zwei weitere Männer am Fährengeländer, aber er folgte seinem Mann seit Tagen und wusste deshalb, dass er noch eine ganze Weile draußen bleiben würde.

Chavez wartete im Schatten, bis die anderen schließlich zurück ins Fähreninnere gingen.

Jetzt näherte er sich dem Mann langsam und vorsichtig von hinten.

Zielperson drei mochte in letzter Zeit zwar seine persönliche Sicherheit etwas vernachlässigt haben, aber er hätte nicht so lange als Agent eines staatlichen Geheimdienstes und freischaffender Spion überlebt, wenn er ein argloser Narr gewesen wäre. Er war also auch jetzt auf der Hut. Als Chavez auf dem Weg zu seiner Zielperson vor einem Decklicht vorbeigehen musste, bemerkte der Mann den sich bewegenden Schatten, schleuderte seine Zigarette weg und drehte sich blitzschnell um. Seine Hand glitt in seine Manteltasche.

Chavez startete sofort einen Angriff. Mit drei blitzschnellen Schritten erreichte er seine Zielperson. Mit der Linken fiel er diesem in den Arm, um ihn am Ziehen seiner Waffe zu hindern. In der Rechten hielt er einen ledernen Totschläger, den er jetzt dem beleibten Libyer mit aller Kraft an die linke Schläfe schlug. Zielperson drei war sofort außer Gefecht gesetzt und sank zwischen der Reling und Ding zu Boden.

Der Amerikaner steckte seinen Lederknüppel zurück in die Tasche und packte den bewusstlosen Mann am Kopf. Er vergewisserte sich noch einmal, dass niemand in der Nähe war, und brach mit einer kurzen, brutalen Drehbewegung seiner Zielperson das Genick. Nachdem er zum letzten Mal nach links und rechts geschaut hatte, ob die Luft tatsächlich rein war, hievte Ding den Libyer über die Reling und ließ ihn fallen. Die Leiche verschwand in der Dunkelheit. Es war nur ein schwaches Klatschen zu hören, das vom Rauschen der schnellen Meeresströmung und den rumpelnden Schiffsmotoren weitgehend überdeckt wurde.

Einige Minuten später kehrte Chavez in die Passagier­kabine zurück und suchte sich auf der roten Bank einen anderen Platz. Von hier aus setzte er über sein Mobiltelefon einen kurzen Funkspruch ab.

»Drei ist ausgeschaltet. Ding ist in Sicherheit.«

Die neue Türk-Telecom-Arena fasste mehr als fünfzigtausend Zuschauer. Bei Spielen der Istanbuler Fußballmannschaft Galatasaray war das Stadion bis auf den letzten Platz gefüllt. Trotz des Regens sorgte das Dach über den Zuschauerrängen dafür, dass niemand nass wurde.

Das heutige Spiel gegen den Lokalrivalen Beşiktaş war ein Pflichttermin für die örtlichen Fußballfans. Ein ganz bestimmter Ausländer im Publikum bekam von diesem Match jedoch nicht allzu viel mit. Dominic Caruso, der über diesen europäischen »Fußball« kaum etwas wusste und sich noch weit weniger dafür interessierte, richtete stattdessen seine ganze Aufmerksamkeit auf die Zielperson vier, einen einunddreißigjährigen bärtigen Libyer, der mit einigen türkischen Bekannten ins Stadion gekommen war. Dom hatte einem Mann, der nur ein paar Reihen über der Zielperson gesessen hatte, etwas Geld bezahlt, dass er seinen Platz mit ihm wechselte. Jetzt hatte der Amerikaner einen ausgesprochen guten Blick auf den Libyer. Außerdem lag der nächste Ausgang ganz in der Nähe.

Während der ersten Halbzeit gab es für Caruso nichts zu tun, als zu jubeln, wenn seine Sitznachbarn jubelten, und aufzuspringen, wenn diese aufsprangen, was tatsächlich alle paar Sekunden der Fall war. In der Halbzeitpause verließen fast alle Zuschauer ihre Plätze, um sich etwas zu essen zu holen oder die Toilette aufzusuchen. Zielperson vier und die meisten seiner Begleiter blieben jedoch sitzen, sodass Caruso dasselbe tat.

Kurz nach Wiederanpfiff brach die Menge in lauten Jubel aus, als Galatasaray überraschend ein Tor gelang. Nach einer weiteren Viertelstunde stand der Libyer plötzlich auf und machte sich in Richtung Ausgang auf den Weg.

Caruso verließ sofort seine Sitzreihe und eilte die Stadion­treppe hinauf. Tatsächlich gelang es ihm, noch vor seiner Zielperson den Ausgang zu erreichen. Da er annahm, dass diesen ein menschliches Bedürfnis plagte, schaute er sich kurz um und rannte dann zur nächsten Toilette hinüber. Vor deren Eingang blieb er stehen und wartete.

Dreißig Sekunden später ging Zielperson vier achtlos an ihm vorbei ins Innere der Toilette. Dominic griff in sein Fußballtrikot und zog blitzschnell ein kleines weißes Pappschild heraus, auf dem in Druckbuchstaben Kapalı stand, was auf türkisch »geschlossen« bedeutete, und klebte es außen an die Tür. Dann schlüpfte er selbst hinein und schloss sie hinter sich.

Zielperson vier stand an einem Urinalbecken. Allerdings waren auch noch zwei weitere Männer anwesend. Sie wuschen sich jedoch bereits die Hände und verließen kurz darauf die Toilette. Dom stellte sich jetzt seinerseits an ein Becken, das von dem des Libyers ein Stück entfernt war, und zog sein Stilett aus der Hosentasche.

Zielperson vier machte seinen Reißverschluss zu und ging zum nächsten Waschbecken hinüber. Als er auf dem Weg dorthin den Mann mit dem Galatasaray-Trikot und dem dazu passenden Vereinsschal passierte, drehte sich dieser ganz plötzlich zu ihm um. Der Libyer spürte einen plötzlichen Schlag auf seinen Bauch, dem ein stechender Schmerz folgte. Gleichzeitig schob ihn der Fremde in eine Kabine auf der anderen Seite des Toilettenraums. Der Ex-Spion versuchte, das Messer zu erreichen, das in seiner Hosentasche steckte, aber sein Angreifer presste ihm die Arme wie mit einem Schraubstock zusammen.

Beide Männer fielen in die Kabine und auf das Toilettenbecken.

Erst in diesem Moment schaute der Libyer zu der Stelle an seinem Bauch hinunter, wo er vorhin diesen Schlag verspürt hatte. Er erschrak zu Tode, als er den Griff eines Mes­sers aus seiner Bauchdecke herausragen sah.

Der Panik folgte bald eine große Mattigkeit.

Sein Angreifer drückte ihn jetzt von dem Toilettensitz herunter, sodass er hilflos neben der Kloschüssel auf dem Boden lag. Dann beugte er sich zu ihm hinunter und flüsterte ihm ins Ohr: »Das ist für meinen Bruder, Brian Caruso. Deine Leute haben ihn in Libyen getötet, und heute werdet ihr alle bis zum letzten Mann mit eurem Leben dafür bezahlen.«

Die Augen von Zielperson vier zogen sich verwirrt zusammen. Er sprach englisch, verstand also, was dieser Mann zu ihm sagte. Er kannte allerdings niemand, der Brian hieß. Zwar hatte er viele Männer getötet, einige davon in Libyen, aber das waren alles Libyer, Juden oder Aufständische, also Feinde von Oberst Gaddafi, gewesen.

Einen Amerikaner hatte er jedoch ganz bestimmt niemals umgebracht. Er hatte keine Ahnung, wovon dieser Galatasaray-Fan überhaupt sprach.

Kurz darauf hauchte Zielperson vier in dieser Stadion­toilette sein Leben aus. Bis zum letzten Augenblick war er sich sicher, dass das Ganze ein schrecklicher Irrtum sein musste.

Caruso zog sein blutverschmiertes Fußballtrikot aus, unter dem er ein weißes T-Shirt trug. Als er auch dieses über den Kopf zog, zeigte sich, dass darunter ein weiteres Trikot steckte. Dieses Mal war es jedoch das der gegnerischen Mannschaft. Die schwarz-weißen Vereinsfarben vonBeşiktaşwürden es ihm wie zuvor das Rot und Gold von Galatasaray erlauben, sich unter die Fußballfans zu mischen, ohne weiter aufzufallen.

Er stopfte das T-Shirt und das Galatasaray-Trikot in seinen Hosenbund, holte eine schwarze Kappe aus der Tasche und setzte sie sich auf.

Für einen Augenblick beugte er sich über den Toten. In seiner kalten Wut hätte er am liebsten auf die Leiche gespuckt. Er unterdrückte jedoch diesen Drang. Er wusste, dass es pure Dummheit gewesen wäre, seine DNS an diesem Tatort zu hinterlassen. Er drehte sich um, verließ die Toilette, entfernte das Kapalı-Schild von deren Eingangs­tür und machte sich auf den Weg zum Stadionausgang.

Als er durch das Drehkreuz in den strömenden Regen hinaustrat, zog er sein Mobiltelefon aus der Seitentasche seiner Cargohose.

»Zielperson vier ausgeschaltet. Dom ist in Sicherheit. War ein Kinderspiel.«

 

 

3

Jack Ryan jr. hatte man die allem Anschein nach einfachste Aufgabe an diesem Abend übertragen. Seine Zielperson, ein einzelner Mann, sollte eigentlich ganz allein in seiner Wohnung am Schreibtisch sitzen. So hatte es zumindest ihre Aufklärungsarbeit ergeben.

Jack verstand sehr gut, warum ihm seine Kameraden noch nicht die ganz schweren Einsätze zutrauten. Obwohl er bereits in der ganzen Welt erfolgreich gearbeitet hatte, war er in diesem Team hocherfahrener Außenagenten immer noch ein Anfänger. Mit dem Erfahrungsschatz der vier anderen konnte er einfach noch nicht mithalten.

Ursprünglich sollte er die Operation im Çırağan-Palast gegen die Zielperson zwei übernehmen. Seine Kameraden waren der Meinung, dass es eigentlich nicht so schwer sein konnte, ein Stück Fleisch mit Gift zu beträufeln. Schließlich entschied man sich jedoch für Clark. Ein allein essender fünfundsechzigjähriger älterer Mann würde in einem solchen Fünf-Sterne-Restaurant beim Personal bestimmt weniger Aufmerksamkeit erregen als ein junger Westler, der so aussah, als hätte er gerade erst sein Studium beendet, und der jetzt ohne Begleitung ein ganzes Menü zu sich nahm. Im unwahrscheinlichen Fall, dass sich die Behörden doch für die näheren Umstände eines Todesfalls nur einige Tische von dem einsamen Esser entfernt interessieren würden, hätte dies dazu führen können, dass sich die Kellner viel zu genau an Ryan erinnerten.

Aus diesem Grund bekam Jack den Auftrag, die Zielperson fünf auszuschalten. Dabei handelte es sich um den Kommunikationsspezialisten der ehemaligen JSO-Zelle namens Emad Kartal. Auch diese Aufgabe barg zwar ihre Risiken, aber die Führungspersönlichkeiten des Campus waren der Meinung, dass Jack diese durchaus bewältigen konnte.

Kartal verbrachte praktisch jeden Abend an seinem Computer. Genau diese Angewohnheit hatte schließlich zur Aufdeckung des gegenwärtigen Aufenthaltsorts der JSO-­Zelle geführt. Sechs Wochen zuvor hatte er einem Freund in Libyen eine kurze Botschaft geschickt. Diese war vom Campus aufgefangen und entschlüsselt worden. Ryan und seine Analystenkollegen drüben in den Vereinigten Staaten konnten sie dann bis zu ihrem Absender zurückverfolgen.

Sie konnten den Mann und seine Zelle noch weiter ausforschen, als es ihnen gelang, sich in die Voicemail seines Handys einzuhacken. Seitdem konnten sie sämtliche Telefongespräche mithören, die die Zellenmitglieder miteinander führten.

Um dreiundzwanzig Uhr betrat Ryan das Apartment­gebäude seiner Zielperson. Die Eingangstür konnte er mithilfe einer gefälschten Schlüsselkarte öffnen, die ihm die Technikgurus seiner Organisation zur Verfügung gestellt hatten. Das Gebäude lag im Taksim-Viertel unweit der fünf­hundertjährigen Cihangir-Moschee. Von außen war es ein eindrucksvoller Bau in einer gehobenen Nachbarschaft. Die Wohnungen selbst waren jedoch kleine Einzimmer­apartments. Auf jedem Stockwerk waren es immerhin acht. Jacks Zielperson wohnte in der zweiten Etage des fünfstöckigen Gebäudes.

Ryans Befehle für diese Operation waren kurz und bündig. Er sollte sich Zugang zur Wohnung von Zielperson fünf verschaffen, sich vergewissern, dass es sich tatsächlich um Kartal handelte, und diesem dann mit seiner schallgedämpften Pistole, Kaliber .22, drei Unterschall-Geschosse in die Brust oder den Kopf jagen.

Ryan schlich auf seinen Softledersohlen die hölzerne Treppe hinauf. Dabei zog er sich seine schwarze baumwollene Skimaske über das Gesicht. Er war der Einzige, der heute Abend seinen Einsatz mit einer Maske durchführte. Dies lag ganz einfach daran, dass er als einziges Teammitglied nicht in der Öffentlichkeit operierte, wo ein maskierter Mann sicherlich eine Menge Aufmerksamkeit erregt hätte.

Im zweiten Stock angekommen, betrat er den hell erleuchteten Etagengang. Der Eingang zur Wohnung seiner Zielperson war die dritte Tür auf der linken Seite. Als der junge Amerikaner an den anderen Apartments vorbeiging, hörte er Leute, die sich offensichtlich unterhielten oder telefonierten, sowie das Geräusch laufender Fernsehgeräte und Radios. Die Wände waren dünn, was für seine Auf­gabe relativ ungünstig war, aber wenigstens machten die anderen Bewohner auf dieser Etage selbst eine Menge Lärm. Darüber hinaus hoffte Jack, dass sein Schalldämpfer und seine ungewöhnlich leise Unterschallmunition ihren Zweck erfüllen würden.

Als er an der Tür seiner Zielperson ankam, drang aus deren Wohnung laute Rapmusik heraus. Das war endlich einmal ein günstiger Umstand, der Ryans Einbruch erleichtern würde.

Die Wohnungstür war verschlossen, aber Ryan wusste, wie man sie öffnen konnte. Sein Mentor Clark hatte in der vergangenen Woche viermal die Lage ausgekundschaftet, bevor die Entscheidung getroffen wurde, dass er und das jüngste Teammitglied ihre Operationen tauschen würden. Dabei hatte Clark mehrmals die Schlösser von Wohnungen geknackt, von denen er wusste, dass sich gerade niemand in ihnen aufhielt. Tatsächlich waren diese Schlösser alt und unschwer zu öffnen. Er kaufte in einer örtlichen Eisenwarenhandlung ein ähnliches Modell und brachte Jack einen ganzen Abend lang bei, wie er dieses schnell und ohne größeren Lärm außer Gefecht setzen konnte.

Clarks Lehrstunde erwies sich als ausgesprochen effektiv. Jack knackte das Türschloss in weniger als zwanzig Sekunden, wobei nur ein leises Kratzgeräusch von Metall auf Metall zu hören war. Er richtete sich wieder auf, zog seine Pistole und öffnete die Tür.

Die Einzimmerwohnung sah aus, wie er es erwartet hatte. Jenseits einer kleinen Küche lag der Wohnraum, an dessen hinteren Ende ein Schreibtisch stand. An diesem saß mit dem Rücken zu Ryan ein Mann vor drei großen Flachbild-Computermonitoren und verschiedenen Peripheriegeräten. Außerdem stapelten sich auf der Tischplatte zahlreiche Bücher, Zeitschriften und verschiedene andere Gegenstände. In einer Plastiktüte steckten Schaum­stoffboxen, in denen Reste vom Chinesen um die Ecke vor sich hin gammelten. Daneben konnte Ryan die Umrisse einer Waffe erkennen. Jack kannte sich zwar mit Handfeuerwaffen einigermaßen aus, konnte jetzt jedoch die halb automatische Pistole nicht sofort identifizieren, die etwa dreißig Zentimeter von Emad Kartals rechter Hand entfernt auf dem Schreibtisch lag.

Jack trat in die Küche und zog die Wohnungstür leise hinter sich zu.

Während die Küche hell erleuchtet war, lag der Wohnbereich dahinter im Halbdunkel. Das einzige Licht stammte von den Computerbildschirmen. Ryan lugte durch das Fenster auf der linken Seite, um sich zu vergewissern, dass niemand aus den Wohnungen auf der anderen Straßenseite in dieses Apartment hineinschauen konnte. Da er sich allmählich sicher war, dass er nicht entdeckt werden würde, ging Jack noch ein paar Schritte weiter auf seine Zielperson zu, damit die Pistolenschüsse so wenig wie möglich auf den Etagenflur hinausschallen würden.

Der Rap ließ derweil den ganzen Raum erzittern.

Vielleicht machte Ryan doch ein ungewöhnliches Geräusch. Vielleicht warf er auch einen Schatten auf die hell glänzende Schreibtischplatte oder spiegelte sich im Glas eines Monitors. Auf jeden Fall kickte der JSO-Mann plötzlich seinen Stuhl zurück, wirbelte herum und griff nach seiner türkischen halb automatischen Zigana-9-mm-­Pistole. Tatsächlich gelang es ihm, sie mit seinen Fingerspitzen zu angeln und auf den Eindringling zu richten. Allerdings hatte er sie noch nicht so fest im Griff, dass er tatsächlich einen Schuss hätte abgeben können.

Jack identifizierte die Zielperson anhand der Überwachungsfotos, die er sich zuvor gut eingeprägt hatte. Dann jagte er dem Mann eine winzige Kaliber-.22-Kugel in den Bauch, genau dorthin, wo der Kopf des Libyers gewesen wäre, wenn dieser nicht aufgesprungen wäre. Der JSO-Agent ließ seine Pistole fallen und taumelte zurück zu seinem Schreibtisch. Dies lag weniger an der Aufprallwucht des kleinen Geschosses als an dem natürlichen Drang, irgendwie dem brennenden Schmerz der Schusswunde auszuweichen.

Jack schoss erneut. Dieses Mal traf er den Mann in die Brust. Ein dritter Schuss drang genau zwischen den Brustmuskeln in den Torso ein. Das weiße Unterhemd des Libyers färbte sich plötzlich dunkelrot.

Kartal griff sich an die Brust, stöhnte laut, drehte sich von seinem Angreifer weg und versuchte, sich auf seiner Schreibtischplatte abzustützen. Seine Beine versagten ihm jedoch den Dienst, und die Schwerkraft gewann die Oberhand. Der ehemalige JSO-Agent rutschte langsam auf den Boden und rollte auf den Rücken.

Ryan trat ganz nahe an ihn heran und hob seine Waffe, um ihm mit einem Kopfschuss den Gnadenstoß zu geben. Dann besann er sich jedoch eines Besseren. Er wusste, dass seine Pistole zwar leise, aber keinesfalls unhörbar war. Das Apartment war von anderen Einzimmerwohnungen um­geben, in denen sich zahlreiche potenzielle Ohrenzeugen aufhielten. Stattdessen kniete er sich hin und hielt den Finger an die Halsschlagader des Mannes. Er merkte, dass dieser bereits tot war.

Ryan stand wieder auf und wollte gerade gehen, als seine Augen auf den Tischcomputer und die drei Monitore fielen. Die Festplatte enthielt bestimmt eine Fülle wertvoller Informationen. Als Analyst gab es für Jack auf dieser Erde nichts Verlockenderes als einen solchen Nachrichtenschatz direkt vor seinen Fingerspitzen.

Zu schade, dass man ihm ausdrücklich befohlen hatte, nichts aus diesem Zimmer mitzunehmen und dieses sofort nach Ausschaltung der Zielperson zu verlassen.

Jack stand ein paar Sekunden ganz ruhig da und lauschte auf die Geräusche aus den Nachbarwohnungen.

Er hörte keine Schreie, keine lauten Rufe und keine Sirenen.

Er war sich sicher, dass niemand die Pistolenschüsse gehört hatte. Vielleicht konnte er aufdecken, was die Libyer vorhatten. Während ihrer Beschattungsaktivitäten hatten sie nur herausgefunden, dass die JSO-Agenten eine Operation vorbereiteten, die wahrscheinlich etwas mit einem Verbrechersyndikat zu tun hatte, das in der Nähe von Istanbul saß. Jack fragte sich, ob er hier auf Emad Kartals Computer nicht die entscheidenden Einzelheiten finden könnte, die das Puzzle zusammensetzen würden.

Scheiße, dachte Jack. Es könnte sich dabei immerhin um Drogen, Zwangsprostitution oder Entführungen handeln. Neunzig Sekunden Recherche könnten vielleicht Leben retten.

Jack Ryan ließ sich vor dem Schreibtisch auf die Knie fallen, zog die Tastatur zu sich heran und griff sich die Maus.

Obwohl er keine Handschuhe trug, war er sich sicher, dass er keinerlei Fingerabdrücke hinterlassen würde. Er hatte vor seinem Einsatz New-Skin auf die Fingerspitzen aufgetragen. Dies war eine durchsichtige, klebrige Sub­stanz, die einen Schutzfilm bildete, der nach kurzer Zeit trocknete und normalerweise als flüssiges Pflaster benutzt wurde. Alle Agenten benutzten es in Situationen, in denen Handschuhe entweder unpraktisch waren oder zu auf­fällig.

Er lud einen ganzen Dateiordner auf den Monitor, der ihm am nächsten stand. Ein Blutspritzer aus Kartals Brust verlief quer über den Bildschirm. Jack holte aus der Plastiktüte mit den halb vergammelten Chinagerichten eine schmutzige Papierserviette heraus und wischte ihn damit sauber.

Viele Dateien waren verschlüsselt. Ryan wusste, dass ihm nicht genug Zeit blieb, sie hier und jetzt zu entschlüsseln. Stattdessen schaute er sich auf der ganzen Schreibtischplatte um, bis er schließlich einen kleinen Plastik­beutel fand, in dem sich etwa ein Dutzend Speichersticks befanden. Er holte einen von ihnen heraus, steckte ihn in den USB-Anschluss auf der Vorderseite des Computers und überspielte auf ihn die Dateien auf der Festplatte.

Als er bemerkte, dass auch das Mailprogramm der Zielperson offen war, begann er damit, die E-Mails des Libyers durchzuschauen. Viele waren auf arabisch, eine war anscheinend auf türkisch verfasst, während ein paar weitere einfach nur Dateien ohne Betreffzeile oder Begleittext waren. Er öffnete eine E-Mail nach der anderen und klickte auf deren Anhang.

Plötzlich piepste sein Ohrhörer. Jack berührte ihn mit der Fingerspitze. »Hier ist Jack.«

»Ryan?« Es war Chavez. »Du hättest dich längst melden sollen. Was ist dein Status?«

»Tut mir leid. Nur eine kleine Verzögerung. Zielperson fünf ist ausgeschaltet.«

»Gibt es ein Problem?«

»Negativ.«

»Bist du in Sicherheit?«

»Noch nicht. Ich habe auf dem PC unserer Zielperson einen regelrechten Informationsschatz gefunden.«

»Negativ, Ryan. Nimm nichts von dort mit. Du musst sofort verschwinden. Du hast keinerlei Unterstützung.«

»Verstanden.«

Als Ryan gerade aufhören wollte, sich durch die E-Mails zu klicken, tauchte plötzlich eine neue Nachricht in Kartals Maileingangsordner auf. Instinktiv doppelklickte er auf den angehängten Ordner. Sofort erschien auf einem der Monitore vor ihm ein ganzes Raster von JPEG-Fotos. »Vielleicht können wir die brauchen«, murmelte er vor sich hin, als er das erste Foto im Raster vergrößerte.

»Schnell und sauber, Junge.«

Aber Jack hörte Chavez schon gar nicht mehr zu. Stattdessen begann er, im Schnelldurchgang die ganzen Bilder durchzuschauen. Plötzlich wurde er jedoch langsamer und musterte jedes Foto sorgfältig und genau.

Und dann stoppte er ganz.

»Ryan? Bist du noch dran?«

»O mein Gott«, sagte dieser leise.

»Was ist los?«

»Das sind ... das sind wir. Wir sind aufgeflogen, Ding.«

Die Bilder auf dem Monitor schienen von Sicherheits­kameras aufgenommen worden zu sein. Die Qualität der Aufnahmen war ganz unterschiedlich, aber sie war doch gut genug, dass Jack die Mitglieder seines Teams erkennen konnte. John Clark stand im Eingang des Luxusre­staurants. Sam Driscoll fuhr mit seinem Motorroller eine regennasse Straße entlang. Dom Caruso ging durch ein Drehkreuz, wie es sie so eigentlich nur in Sportstadien gab. Domingo Chavez sprach auf einer Sitzbank in einer Fährkabine in sein Mobiltelefon hinein.

Jack wurde schnell klar, dass alle diese Fotos an diesem Abend etwa innerhalb einer einzigen Stunde aufgenommen worden waren.

Als er sich wieder aufrichtete, wurden ihm bei dem Gedanken die Knie weich, dass die gesamten heutigen Istanbuler Aktionen des Teams von jemand anderem beobachtet worden waren. Plötzlich tauchte in der Maileingangsbox eine neue Nachricht auf. Jack stürzte sich regelrecht auf die Maus, um sie zu öffnen.

Die E-Mail enthielt nur ein einziges Bild. Er klickte zweimal, um es zu öffnen.

Jack sah einen maskierten Mann, der vor einer Computertastatur kniete und auf einen Punkt direkt unterhalb der Kamera starrte, die dieses Bild aufnahm. Hinter dem Maskierten konnte Ryan gerade noch den Fuß und das Bein eines auf dem Rücken liegenden Mannes erkennen.

Als Ryan über seine linke Schulter nach hinten schaute, sah er den Fuß der Zielperson fünf hinter dem Schreibtischstuhl hervorragen.

Jetzt wollte es Jack genauer wissen. Er suchte den mittleren Monitor Zentimeter für Zentimeter mit den Augen ab. Schließlich entdeckte er, dass in dessen oberen Rahmen eine kleine Kamera eingebaut war.

Das Bild, das er soeben mit dieser E-Mail erhalten hatte, musste in den letzten sechzig Sekunden aufgenommen worden sein, als er gerade die Daten der Festplatte auf dem USB-Stick speicherte.

Er wurde also in dieser Sekunde beobachtet.

Bevor Jack noch etwas sagen konnte, dröhnte Chavez’ Stimme in seinem rechten Ohr. »Zieh sofort von dort ab, Jack! Das ist ein gottverdammter Befehl!«

»Bin schon unterwegs«, flüsterte er als Antwort. Seine Augen fixierten das Objektiv der winzigen Webcam, während er sich vorzustellen versuchte, wer ihn wohl genau in diesem Moment ausspähen könnte.

Er wollte gerade den USB-Stick aus dem Computer ziehen, als ihm einfiel, dass auf der Festplatte des PCs ja alle Aufnahmen seines Teams gespeichert waren. Wer immer den Tod der Zielperson fünf untersuchen würde, würde sie dort ganz bestimmt finden.

Sofort ließ er sich wieder auf die Knie fallen, zog den Computerstecker aus der Steckdose und riss in größter Hast alle dicken und dünnen Kabel von der Rückseite des PCs ab. Dann packte er das gesamte Gerät, das bestimmt fast fünfzehn Kilogramm wog, und trug es aus der Wohnung und die Treppe hinunter hinaus auf die Straße. Er rannte durch den Regen. Tatsächlich machte ihn das sogar weniger auffällig. Jeder würde verstehen, dass man mit einem Computer im Arm möglichst schnell ins Trockene gelangen wollte. Sein Auto stand einen Block entfernt. Er wuchtete den PC auf den Rücksitz und fuhr dann aus dem Taksim-Viertel hinaus in Richtung Flughafen.

Während der Fahrt rief er Chavez an.

»Ding am Apparat.«

»Hier ist Ryan. Ich bin in Sicherheit, aber ... Scheiße. Keiner von uns ist ab jetzt noch sicher. Wir alle fünf wurden heute Abend genau überwacht.«

»Von wem?«

»Keine Ahnung, aber irgendjemand beobachtet uns. Sie haben Bilder des gesamten Teams an die Zielperson fünf geschickt. Ich habe die Festplatte mit den Fotos mitgenommen. Ich werde in zwanzig Minuten am Flughafen sein, und dann können wir ...«

»Negativ! Wenn uns wirklich jemand im Visier haben sollte, könnte es durchaus sein, dass dieses Gerät in deinem Wagen verwanzt oder mit einem Ortungsgerät ausgestattet ist. Du darfst diese Scheiße auf keinen Fall in die Nähe unseres Abzugsortes bringen!«

Jack sah ein, dass Ding recht hatte. Er dachte ein paar Sekunden nach.

»Mein Allzweckmesser hat auch einen Schraubenzieher. Ich werde irgendwo anhalten und die Festplatte aus dem Computer ausbauen. Ich werde sie genau untersuchen und den Rest des Geräts dort lassen. Danach stelle ich auch den Wagen irgendwo ab, für den Fall, dass jemand ihn ebenfalls verwanzt haben sollte, während ich in der Wohnung war. Ich finde schon eine andere Möglichkeit, um zum Flughafen zu gelangen.«

»Mach schnell, Junge.«

»Geht in Ordnung. Ryan, Ende.«

Während Jack durch den strömenden Regen fuhr, musste er immer wieder Kreuzungen überqueren, über denen Überwachungskameras angebracht waren. Er hatte das ungute Gefühl, dass jemand jeden seiner Schritte und jede seiner Bewegungen genau verfolgte.

 

 

4

Wei Zhen Lin war von Beruf Wirtschaftswissenschaftler. Er hatte nie in der Armee seines Landes gedient und folglich auch noch nie eine Schusswaffe in der Hand gehabt. Dies drückte ihm jetzt aufs Gemüt, während er die große schwarze Pistole auf seiner Schreibtischunterlage musterte, als ob sie ein seltenes Artefakt wäre.

Er fragte sich, ob er die Waffe wirklich korrekt bedienen konnte. Allerdings nahm er an, dass es keiner allzu großen Fertigkeit bedurfte, sich selbst in den Kopf zu schießen.

Sein Chefleibwächter Fung hatte ihm kurz zuvor eine halbminütige Kurzeinführung in die Funktionsweise der Pistole gegeben. Er war es auch, der ihm diese Waffe geliehen hatte. Zuerst hatte Fung sie durchgeladen und gesichert. Danach hatte er in ernstem, aber leicht herablassendem Ton Wei genau gezeigt, wie er die Pistole halten und den Abzug betätigen musste.

Wei hatte dann seinen Sicherheitschef gefragt, wohin er die Waffe richten solle, um die größtmögliche Wirkung zu erzielen. Die Antwort war allerdings nicht so präzise, wie es der ehemalige Wirtschaftswissenschaftler gern gehabt hätte.

Fung erklärte ihm mit einem Schulterzucken, dass es wohl am besten sei, die Mündung an den oberen Schädel zu pressen, damit die Kugel in das Gehirn eindringen würde. Um den »Erfolg« tatsächlich zu gewährleisten, versprach ihm Fung, dass er die medizinische Erstversorgung verzögern würde.

Danach entsicherte er die Pistole, legte sie zurück auf den Schreibtisch und verließ mit einem kurzen Nicken den Raum. Wei Zhen Lin blieb ganz allein in seinem Büro zurück.

Plötzlich prustete er los: »Einen tollen Leibwächter habe ich da!«

Er griff nach der Pistole und wog sie in den Händen. Sie war zwar schwerer als erwartet, aber das Gewicht war gut ausbalanciert. Ihr Griff war erstaunlich dick. Trotzdem lag die Waffe weit besser in der Hand, als er sich das vorgestellt hatte. Allerdings hatte er bisher kaum einmal über irgendwelche Schusswaffen nachgedacht.

Als wollte er das Unvermeidliche hinauszögern, betrach­tete er die Pistole noch einmal genau, las die Seriennummer und musterte den Herstellungsstempel. Danach ­presste Wei Zhen Lin, der Präsident der Volksrepublik China und Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas, den Lauf der Waffe gegen die rechte Schläfe und krümmte den Finger um den Abzug.

Wei war nicht gerade der Mann, den man an der Spitze eines solchen Riesenreiches erwartet hätte. Dies war auch ein Grund, warum er sich zum Selbstmord entschlossen hatte.

Als Wei Zhen Lin im Jahr 1958 geboren wurde, war sein damals bereits sechzig Jahre alter Vater eines der dreizehn Mitglieder des Siebten Politbüros der Kommunistischen Partei Chinas. Der ältere Wei war ursprünglich Journalist, Schriftsteller und Zeitungsredakteur gewesen. In den Dreißigerjahren kehrte er jedoch seinem bisherigen Beruf den Rücken und schloss sich der Propaganda­abteilung der KPCh an. Er begleitete Mao Zedong auf dem Langen Marsch, diesem epischen 12 500 Kilometer langen militärischen Rückzug durch das gesamte Reich der Mitte, der Mao zum Nationalhelden und Führer des kommunistischen Chinas machte und vielen seiner Begleiter eine rosige Zukunft eröffnete.

Männer wie Weis Vater, vom Zufall der Geschichte während der Revolution an Maos Seite geführt, wurden später selbst als Helden betrachtet und bekleideten in den nächsten fünfzig Jahren wichtige Leitungspositionen in Peking.

Zhen Lin war also in eine privilegierte Stellung hineingeboren worden. Er wuchs zuerst in Peking auf und wurde dann auf ein exklusives Schweizer Privatinternat geschickt. Auf diesem Collège Alpin International Beau Soleil in der Nähe des Genfer Sees schloss er Freundschaft mit den Sprösslingen anderer Parteigrößen, den Söhnen hoher Parteifunktionäre, Marschälle und Generäle. Als er auf die Pekinger Universität zurückkehrte, um dort Wirtschaftswissenschaften zu studieren, stand bereits fest, dass er wie viele seiner chinesischen Klassenkameraden in diesem Edelinternat in der einen oder anderen Form in den höheren Staatsdienst treten würde.

Wei war das Mitglied einer Gruppe, die als die »Prinzlinge« bekannt wurden. Diese Söhne oder Töchter früherer hoher Parteikader, meist hochrangiger Maoisten, die in der Revolution gekämpft hatten, machten in der Politik, dem Militär und der Wirtschaftswelt des kommunistischen Chinas schnell Karriere. In einer Gesellschaft, die die Existenz einer Oberschicht leugnete, stellten die Prinzlinge unzweifelhaft die Elite dar. Sie allein besaßen das Geld, die Macht und die politischen Verbindungen, die ihnen die Möglichkeit eröffneten, über die nächste Generation ihres Landes zu herrschen.

Nach seinem Universitätsabschluss wurde Wei zu einem Kader in der Stadtverwaltung der Millionenmetropole Chongqing, wo er bis zum Rang eines stellvertretenden Bürgermeisters aufstieg. Einige Jahre später unterbrach er seine Staatskarriere, um im Wirtschaftswissenschaft­lichen Institut der Universität Nanjing seinen Master in Betriebswirtschaft zu machen und auf dem Gebiet der Verwaltungswissenschaften zu promovieren. Die zweite Hälfte der Achtziger- und die gesamten Neunzigerjahre arbeitete er im internationalen Finanzsektor von Shanghai, als diese Stadt zu einer der neuen chinesischen Sonderwirtschaftszonen wurde. Diese SWZ waren von der chinesischen Zentralregierung eingerichtete Gebiete, in denen viele staatliche Gesetze aufgehoben waren, um durch einen weitgehend freien Markt ausländische Investitionen an­zuziehen. Dieses Experiment mit quasi-kapitalistischen Strukturen in einzelnen Sonderzonen war ein voller Erfolg. Weis wirtschaftswissenschaftliche Ausbildung sowie seine Geschäfts- und Parteibeziehungen katapultierten ihn in den Mittelpunkt des chinesischen finanziellen Aufschwungs und eröffneten ihm den Weg zu einer steilen Karriere.

Um die Jahrtausendwende wurde er zum Bürgermeister der größten chinesischen Stadt Shanghai ernannt. Hier setzte er sich für ein weiteres Wachstum der ausländischen Investitionen und eine Ausweitung der ­Prinzipien des freien Marktes ein.

Wei sah gut aus und besaß Charisma. Vor allem bei westlichen Wirtschaftsführern kam er ausgesprochen gut an. Zu Hause und im Rest der Welt wurde er mehr und mehr zum Gesicht des Neuen Chinas. In der Innenpolitik blieb er jedoch strikt konservativ. Größere Freiheiten waren einzig auf dem Gebiet der Wirtschaft denkbar, nicht für die normale Bevölkerung.

Nach Chinas erniedrigender Niederlage gegen Russland und die USA im Krieg um die sibirischen Goldminen und Ölfelder verloren die meisten Pekinger Regierungsmitglieder ihr Amt. Gleichzeitig wurde Wei als strahlendes Symbol des Neuen Chinas in hohe Parteiämter berufen. Er ­wurde Vorsitzender der Shanghaier KP und Mitglied des Sechzehnten Politbüros.

In den nächsten Jahren teilte Wei seine Zeit zwischen Shanghai und Peking auf. Einer wie er war in der Parteispitze eine absolute Rarität. Einerseits war er ein wirtschaftsfreundlicher Kommunist, der in ganz China weitere SWZ und andere Gebiete ausweisen wollte, in denen die Prinzipien der freien Marktwirtschaft galten. Gleichzeitig unterstützte er die Betonköpfe im Politbüro, die alle An­sätze liberalen Gedankenguts strikt bekämpften und eine Ausweitung der individuellen Freiheiten ablehnten.

Er war also ein Kind Maos und der Partei und ein Anhänger der internationalen Finanzwirtschaft. Der Wirtschaftsliberalismus war für ihn dabei Mittel zum Zweck. Er sollte ausländisches Geld ins Land locken, um die Kom­munistische Partei zu stärken und nicht um sie zu untergraben.