Lew Tolstoj - Ursula Keller - E-Book

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Ursula Keller

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Beschreibung

Lew Tolstoj (1828-1910) ist als Autor der Romane «Krieg und Frieden» und «Anna Karenina» in die Weltliteratur eingegangen. Der Schriftsteller war schon zu Lebzeiten eine Legende: Als weiser Mann im Bauernkittel, der im Alter ein Leben in Armut predigte, wurde er zum Mythos. Unter Einbeziehung vieler unbekannter Quellen wirft dieses Buch einen neuen Blick auf den Künstler und Menschen Lew Tolstoj. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

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Ursula Keller • Natalja Sharandak

Lew Tolstoj

 

 

 

Über dieses Buch

Lew Tolstoj (1828–1910) ist als Autor der Romane «Krieg und Frieden» und «Anna Karenina» in die Weltliteratur eingegangen. Der Schriftsteller war schon zu Lebzeiten eine Legende: Als weiser Mann im Bauernkittel, der im Alter ein Leben in Armut predigte, wurde er zum Mythos. Unter Einbeziehung vieler unbekannter Quellen wirft dieses Buch einen neuen Blick auf den Künstler und Menschen Lew Tolstoj.

 

Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Vita

Ursula Keller, geb. in Lübeck. Studium der Slawistik und Germanistik an der FU Berlin und in Leningrad, zahlreiche Forschungsaufenthalte in Russland, bis 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FU Berlin. Lebt als Autorin und Übersetzerin in Berlin.

 

Natalja Sharandak, geb. in Kiew, Ukraine. Studium der Kunstgeschichte an der Akademie der Künste in Leningrad, bis 1992 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Eremitage in Sankt Petersburg, lebt seit 1992 als freie Autorin in Berlin.

 

Gemeinsame Veröffentlichungen: «Abende nicht von dieser Welt. St. Petersburger Salondamen und Künstlerinnen des Silbernen Zeitalters». Berlin 2003. – «Sofja Andrejewna Tolstaja. Ein Leben an der Seite Tolstojs». Frankfurt a. M. 2009. – «Sofja Tolstaja: Lied ohne Worte». Aus dem Russischen von Ursula Keller. Nachwort von Natalja Sharandak. Zürich 2010. – «Lew Tolstoj – Sofja Tolstaja. Eine Ehe in Briefen». Hg. und übersetzt von Ursula Keller und Natalja Sharandak. Berlin 2010.

«Dieser junge Offizier macht uns alle zu Nieten …»

Im September 1854 gehen auf der Halbinsel Krim 50000 britische, französische und türkische Soldaten an Land. Der Krimkrieg, der Europa seit der Kriegserklärung des Osmanischen Reiches gegen Russland im Herbst 1853 erfasst hat und zu einem der grauenvollsten Kriege wurde, den Europa bis dahin erlebt hat, erreicht seinen Höhepunkt mit der 349 Tage währenden Belagerung der Stadt Sewastopol, des wichtigsten Stützpunkts des Russischen Reiches am Schwarzen Meer.

Gebannt verfolgt die russische Bevölkerung die Nachrichten vom Süden der Krim, einem der schönsten Landstriche Europas, einem Paradies, in das der Krieg eingebrochen ist. In der führenden Literaturzeitschrift der Liberalen, dem «Sowremennik» (Zeitgenosse), erscheinen in regelmäßiger Folge literarische Berichte aus der Kriegshölle der eingeschlossenen Seefestung, deren Autor den Krieg nicht in seinem geordneten, schönen Gewande, mit Musik, Trommelschlagen, wehenden Fahnen, sondern in seiner wirklichen Gestalt, mit Blut, Qualen und Tod vor den Augen der Leser erstehen lässt. Ganz Russland, dessen Soldaten sich furchtlos dem Feind entgegenwerfen, bereit zu sterben, nicht für die Stadt, sondern für das Vaterland, vergießt Tränen über der Epopöe Sewastopols, deren Held das russische Volk war (Sewastopol im Dezember).

Der Name des Autors ist dem literarischen Publikum bereits geläufig: Graf Lew Nikolajewitsch Tolstoj. Mit dem Erscheinen der Sewastopoler Erzählungen wächst der Ruhm des schriftstellernden Offiziers ins Unermessliche.

«Ihre Erzählungen sind genau das, was die russische Gesellschaft zum jetzigen Zeitpunkt braucht», schreibt ihm der Dichter und Herausgeber des «Sowremennik», Nikolaj Nekrassow, «die Wahrheit, eine Wahrheit, deren es seit Gogols Tod in der russischen Literatur nur noch so wenig gibt. […] Diese Wahrheit, in jener Gestalt, in welcher Sie sie in die Literatur bringen, ist etwas hier bei uns in Russland ganz und gar Neues. Ich kenne in unseren Tagen keinen anderen Schriftsteller, dem ähnliche Verehrung und Wohlwollen entgegengebracht würde wie Ihnen.»[1]

Suche nach dem Weg. Erste Erfolge

Am 28. August 1828 wurde Lew Tolstoj als viertes von insgesamt fünf Kindern einer der besten Familien der russischen Aristokratie geboren. Der grüne Diwan, auf dem er und später auch seine Kinder das Licht der Welt erblickten, hat bis heute einen Ehrenplatz im Arbeitszimmer des Schriftstellers im Haus seines wenige Kilometer von der altrussischen Gouvernementshauptstadt Tula entfernten Landguts Jasnaja Poljana.

Das sagenumwobene Jasnaja Poljana, das noch zu Lebzeiten Tolstojs zum Wallfahrtsort seiner Anhänger wurde, war einst im Besitz des Großvaters des Schriftstellers, dem Fürsten Nikolaj Sergejewitsch Wolkonskij. Unter Zarin Katharina der Großen hatte er große Verdienste erworben, unter ihrem Nachfolger Pawel I. quittierte er den Dienst und ließ sich auf dem Land nieder, wo er mit seiner einzigen Tochter Maria, die früh die Mutter verloren hatte, ein zurückgezogenes Leben führte.

Nach dem Tod des Vaters wurde für die Tochter, die bereits die dreißig überschritten hatte, ein Bräutigam gefunden. Sie war von bester Herkunft und Bildung, diese Vorzüge wurden jedoch von einem Makel gemindert: Maria war keine Schönheit und stand in dem Ruf, eine «hässliche alte Jungfer zu sein». Am 9. Juli 1822 wurde sie die Frau des ehemaligen Offiziers und verarmten Grafen Nikolaj Iljitsch Tolstoj.

Die Genealogie der Familie Tolstoj lässt sich bis ins 14. Jahrhundert zurückverfolgen. Peter der Große hatte seinem einstigen Weggefährten Pjotr Andrejewitsch Tolstoj, einem der gebildetsten Männer seiner Zeit mit einer glänzenden Karriere als Diplomat im Osmanischen Reich, am Krönungstag seiner Gattin Katharina I. im Mai 1724 den Grafentitel verliehen. Sein Nachkomme Ilja Andrejewitsch Tolstoj, der Großvater des Schriftstellers, brachte das Vermögen der Familie durch. Nach seinem Tod hatte der Sohn Nikolaj für den Unterhalt von Mutter und Schwestern zu sorgen. Er war ein Schöngeist mit Interesse an Musik, Poesie und Malerei und führte, wie viele Männer seiner Generation, nachdem er nach seiner Teilnahme am Krieg gegen Napoleon den Offiziersdienst quittiert hatte, ein zurückgezogenes, aber unabhängiges Leben. Nicht genug, dass er unter Nikolaj I. nicht in Staatsdiensten stand, auch seine Freunde waren sämtlich Männer, die nicht in Staatsdiensten standen und sogar ein wenig die Regierung frondierten, schrieb Lew Tolstoj über seinen Vater.[2]

Da der Nachlass Ilja Andrejewitsch Tolstojs einzig aus Schulden bestand, suchte man für Nikolaj eine gute Partie. Die Wahl seiner Familie fiel auf die Gräfin Maria Wolkonskaja. Sie war reich, nicht mehr jung, eine Waise; mein Vater war ein charmanter, brillanter junger Mann aus gutem Hause und mit Verbindungen, jedoch finanziell ruiniert, berichtet Tolstoj. Ich nehme an, dass meine Mutter meinen Vater geliebt hat, aber wohl eher als ihren Ehemann und vor allem als Vater ihrer Kinder, doch sie war nicht verliebt in ihn.[3]

Bis zu ihrem frühen Tod schenkte Maria ihrem Mann Nikolaj in acht Jahren Ehe fünf Kinder: Nikolaj, Sergej, Dmitrij, Lew und Maria. Am 4. August 1830, ein halbes Jahr nach der Geburt der einzigen Tochter, starb sie. Was den Kindern von ihrer Mutter blieb, war ein Scherenschnitt, der sie im Alter von etwa zehn Jahren zeigt.

Tolstoj, der knapp zwei Jahre zählte, als er die Mutter verlor, würde sie schließlich geradezu religiös verehren und zur idealen Ehefrau und Mutter stilisieren. Sie war in meiner Vorstellung ein solch hohes, reines, geistiges Wesen, dass ich in meiner Lebensmitte, im Kampf um die Überwindung der Versuchung, oft zu ihr gebetet habe, sie um Hilfe gebeten habe, und dieses Gebet hat mir stets geholfen.[4]

Nach dem Tod der Mutter übernahm Tatjana Alexandrowna Jergolskaja, Tantchen Toinette, die Erziehung der Kinder, eine entfernte Verwandte des Vaters, die bis zu ihrem Tod im Jahr 1874 bei der Familie auf Jasnaja Poljana lebte. Doch schon im Juni 1837 starb auch Tolstojs Vater. Die Vormundschaft der Kinder übernahm nun dessen älteste Schwester, Gräfin Alexandra Iljinitschna von Osten-Sacken. Nach deren Tod 1842 ging die Verantwortung für die jüngeren Kinder Dmitrij, Lew und Maria auf die Tante Pelageja Iljinitschna Juschkowa über, die mit ihrem Mann, einem Obersten a.D. des Husarenregiments, in Kasan lebte.

Seine Jugendzeit in Kasan bezeichnete Tolstoj später als Wüste der Knabenjahre, in der niemand ihm moralische Orientierung zu geben vermocht habe. Ich wünschte von ganzem Herzen, gut zu sein; doch ich war jung, leidenschaftlich, ich war allein, vollständig allein, als ich das Gute suchte, heißt es in seiner Beichte. Jedes Mal, wenn ich das, was meine tiefsten Herzenswünsche ausmachte, auszusprechen versuchte, nämlich dass ich moralisch unfehlbar sein wolle, traf ich auf Verachtung und Spott; aber wenn ich mich den schlechten Leidenschaften hingab, lobte man mich und förderte dies. Ehrgefühl, Herrschsucht, Habsucht, Sinnlichkeit, Stolz, Wut, Rache – all dies wurde geachtet.[5]

Nachdem er im zweiten Anlauf das Aufnahmeexamen bestanden hatte, nahm Tolstoj 1844 das Studium an der Fakultät für orientalische Sprachen an der Universität Kasan auf. Doch er war kein übermäßig fleißiger Student. Kasan galt in jener Zeit als das russische Dorado, und die Möglichkeiten des Amüsements waren zahllos. Als Enkel des einstigen Gouverneurs einer angesehenen Familie entstammend, war der Junggeselle Tolstoj ein gerngesehener Heiratskandidat in den Salons der Gesellschaft. Da er sich selbst für unansehnlich und wenig anziehend hielt, blieb er jedoch gehemmt, tanzte nur ungern, und die jungen Damen hielten ihn für hölzern und langweilig, einmal musste er sich gar sagen lassen, er sei ein «sac de farine» (Mehlsack).

Seine vermeintlich mangelnde Attraktivität versuchte Tolstoj durch mustergültige Manieren zu kompensieren, indem er sich comme il faut gab. Mein «comme il faut» bestand zuallererst und vor allem in einem ausgezeichneten Französisch, besonders der Aussprache. […] Die zweite Bedingung des «comme il faut» waren lange, gut gefeilte und absolut reine Fingernägel; drittens die vollendete Verbeugung, der Tanz und die Konversation; viertens und ebenfalls sehr wichtig, die Gleichgültigkeit gegen alles und der stete Ausdruck eines vornehmen, verachtungsvollen Desinteresses.[6]

Noch vor Beginn des Studiums, im Alter von knapp vierzehn Jahren, hatten die älteren Brüder, einem üblichen Initiationsritual folgend, den Heranwachsenden in ein Bordell gebracht, wo er seine ersten sexuellen Erfahrungen machen sollte.

Die geistige Nahrung, die ihm die Vorlesungen an der Universität nicht gaben, fand Tolstoj in der Beschäftigung mit der Philosophie – Jean-Jacques Rousseaus «Confessions» waren seine Offenbarung. Bei seinen Aufenthalten auf dem Land inszenierte er sich als Diogenes. Der einstige Stutzer, der noch vor kurzem größten Wert auf das dem gesellschaftlichen comme il faut entsprechende Auftreten gelegt hatte und nirgendwo erschienen war, ohne feinste Handschuhe überzuziehen, trug nun, inspiriert durch seine philosophischen Studien, eine Art Schlafrock aus Sackleinwand und plumpe Pantoffeln an den bloßen Füßen.

Der Wechsel an die Juristische Fakultät weckte keinen Enthusiasmus bei Tolstoj. Ihm fehlte die Disziplin für das Studium, was einmal gar mit Arrest im Karzer endete. Am 12. April 1847 reichte der Student sein Gesuch um Exmatrikulation bei der Universitätsleitung ein, aufgrund gesundheitlicher Probleme und familiärer Umstände. Die Begründung war so fadenscheinig wie zutreffend. Im Monat zuvor hatte er sich wegen einer venerischen Erkrankung im Universitätsklinikum einer Behandlung unterzogen.

Tolstoj kehrte nach Jasnaja Poljana zurück, wo er nach einem sich selbst auferlegten Programm ein nützliches und mustergültiges Leben zu verbringen gedachte. In seinem Tagebuch, das er im März 1847 zu führen begonnen hatte, schwor er, sein Leben ganz dem tätigen und steten Streben nach diesem einen Ziel zu widmen.[7] In der ländlichen Einsamkeit Jasnaja Poljanas, das ihm zusammen mit einigen anderen kleineren Gütern als Erbteil zugefallen war, wollte Tolstoj dem Selbststudium der juristischen Wissenschaft, der praktischen und theoretischen Medizin, der Geschichte, Geographie, Mathematik und Statistik sowie der Sprachen nachgehen. Darüber hinaus beschloss der Neunzehnjährige, es sei seine heilige und dringende Pflicht[8], seinen leibeigenen Bauern Gutes zu tun. Im Morgen eines Gutsbesitzers hat er später seinen missglückten Versuch beschrieben, die Leibeigenen mit der Freiheit zu beglücken.

Bereits vor Ablauf der Zweijahresfrist, die er sich selbst gesetzt hatte, trieb es Tolstoj im Herbst 1848 zurück in die Stadt. Zuerst nach Moskau, wo er beachtliche Summen beim Kartenspiel verlor, und von dort nach Sankt Petersburg, wo er sich ins gesellschaftliche Leben stürzte. So gingen die nächsten Jahre dahin – Glücksspiel, Frauen, Vorsätze für ein besseres Leben.

Im März 1851 begann er mit der Niederschrift seines ersten Werkes, der Geschichte des gestrigen Tages, indem er sich zum Ziel setzte, den Tag mit allen Erlebnissen und Gedanken, die er mit sich bringt[9], aufzuschreiben. «Es könnte scheinen, als habe Lew Tolstoj im Vorfrühling 1851 verwirklicht, was heute mit den Namen Proust und Joyce in Verbindung gebracht wird»[10], bemerkte Viktor Schklowski über diese Fragment gebliebene literarische Arbeit Tolstojs, in welcher dieser das für seine späteren Werke charakteristische Verfahren des inneren Monologs der psychologischen Analyse bereits anwandte.

Kurze Zeit später beschloss Tolstoj seine Selbstverbannung in den Kaukasus, um vor den Schulden und schlechten Angewohnheiten zu fliehen[11]. Am 29. April 1851 brach er gemeinsam mit seinem Bruder Nikolaj, der als Artillerieoffizier in der Armee diente, auf. Gerade so wie sein Protagonist Olenin in Die Kosaken – ein junger Mann, ohne Abschluss eines Studiums, der nirgends in Diensten gestanden […], die Hälfte seines Vermögens durchgebracht und bis zum Alter von vierundzwanzig Jahren keinerlei berufliche Laufbahn sich gewählt oder irgendetwas gearbeitet hatte – mag Tolstoj sich gesagt haben, dass nun ein neues Leben beginnt, in dem es die alten Fehler und die anschließende Reue nicht mehr geben wird, sondern einzig Glück (Kap. 2).

Ein halbes Jahr später trat Tolstoj in den Militärdienst ein und blieb bis zum Januar 1854 im Kaukasus, einer auch damals schon krisengeschüttelten Region, deren rebellische Bergvölker sich nicht dem Großmachtstreben des zaristischen Russland unterwerfen wollten. Bereits kurze Zeit nach seiner Ankunft dort hatte er noch als Freiwilliger an einem Angriff auf eine tschetschenische Ansiedlung teilgenommen. Für viele der Soldaten war das Marodieren unter der Bevölkerung in diesem seit Jahrzehnten andauernden Krieg bereits alltäglich. Der junge Tolstoj jedoch war entsetzt. Seine Erzählung Der Überfall, die 1853 erschien, ist der autobiographische Bericht seiner Erschütterung. Ist den Menschen die schöne Erde unter dem unermesslich großen Sternenhimmel denn wirklich zu klein?, klagt der Volontär an, aus dessen Sicht der Kriegsbericht verfasst ist. Kann inmitten dieser bezaubernden Natur tatsächlich ein Gefühl des Ingrimms, des Rachedurstes und der Begierde, seinesgleichen zu töten, in der Seele eines Menschen erhalten bleiben? (Kap. 6)

Wie seine Schriftstellerkollegen Alexander Puschkin und Michail Lermontow vor ihm war Tolstoj vom Kaukasus mit seiner wilden Natur und der Mentalität der dortigen Bevölkerung fasziniert. Diese Eindrücke wurden ihm wichtige Anregungen für Werke wie Die Kosaken und Hadschi Murat. In der Staniza Starogladkowskaja lebte der junge Offizier im Haus des alten Kosaken Jepifan, eines verwegenen Reiters, der ihm später als Modell des Jeroschka in Die Kosaken diente; außerdem freundete er sich mit dem gleichaltrigen Tschetschenen Sado an, der ihm einmal das Leben rettete und ihn ein anderes Mal vor einem großen finanziellen Verlust bewahrte, indem er die gewaltige Summe von 850 Rubel zurückgewann, die Tolstoj beim Kartenspiel verloren hatte.

Obwohl es ihm also nicht gelang, sich durch das freiwillige Exil im Kaukasus zu disziplinieren und schlechte Gewohnheiten gänzlich abzulegen, begann Tolstoj dort zu schreiben. Sein Manuskript der Erzählung Kindheit schickte er an den Herausgeber der Monatsschrift «Sowremennik», den Dichter Nikolaj Nekrassow. «Ich habe Ihr Manuskript gelesen», antwortete dieser. «Es birgt so viel Interessantes in sich, dass ich es drucken werde. […] Mir scheint, der Autor hat Talent.»[12] Die Veröffentlichung der Erzählung in der Septembernummer der Zeitschrift fand sowohl bei der Kritik als auch beim Publikum große Beachtung. Tolstoj begann nun ernsthaft zu schreiben. Knabenjahre (1854) und Jugend (1857) machten die Trilogie komplett. Diese frühen Romane sind nicht nur autobiographische Berichte, sondern eine Synthese aus Erinnerung und Fiktion.

Der Autor fasst die Beschreibung der Kindheit in drei Tage: ein Tag auf dem Landgut mit Vorbereitungen zur Übersiedlung in die Stadt, ein Tag in der Gesellschaft Moskaus und ein Tag der Rückkehr aufs Land zum Sarg der Mutter. Der Blick auf die Welt der Kindheit des Protagonisten Nikolenka Irtenjew erfolgt wie durch ein Mikroskop, kleine Details wirken groß und eindrucksvoll, und es scheint, als erzählte Tolstoj ganz aus der Perspektive des Kindes, der jedoch eine erwachsene Erzählerstimme als Korrektiv gegenübergestellt wird. Die Welt Nikolenkas beinhaltet freilich auch dunkle Seiten wie Ungerechtigkeit, Grausamkeit und – den Tod. Mit dem Verlust der Mutter endet die glückliche Zeit von Nikolenkas Kindheit.

Die Darstellung Nikolenkas mit Betonung ihrer Widersprüchlichkeit folgt bereits Tolstojs Grundprinzip der Personenbeschreibung. Es ist schwierig und meines Erachtens unmöglich, die Menschen in Kluge und Dumme, in Gute und Schlechte zu unterteilen, erläuterte er in seinem Vorwort zu Kindheit. So gereicht denn auch der Tod der Mutter nicht allein zum Anlass der Trauer für den Knaben, sondern zugleich der Selbstdarstellung; er will zeigen, dass er von allen am stärksten über den Verlust der Mutter verzweifelt ist.

Knabenjahre, der zweite Band der Trilogie, beginnt mit der Übersiedlung nach Moskau. Die Grenzen der Welt weiten sich, Nikolenka tritt aus dem vertrauten Lebensumfeld der Familie in die Gesellschaft, und sein Verhältnis zur Welt verändert sich. In einem Gespräch mit der mittellosen Tochter seiner Gouvernante erkennt Nikolenka die Bedingungen, auf denen das Leben beruht. Ihr seid reich, Euch gehört Petrowskoje, und wir sind arm, meiner Mutter gehört gar nichts, erklärt ihm Katenka (Kap. 3). Nikolenka betrachtet die Welt nun mit anderen Augen, er reflektiert die eigene Existenz, wie es auch Tolstojs eigene Knabenjahre kennzeichnete. In der Figur des Dmitrij Nechljudow, die Tolstoj als literarisches Alter Ego bis in sein Spätwerk begleiten wird, findet Nikolenka einen Gesprächspartner, mit dem er in philosophischen Disputen zu neuen Einsichten gelangt, darunter zu der Überzeugung, dass die Bestimmung des Menschen im Streben nach sittlicher Vervollkommnung bestehe (Jugend, Kap. 1). Damals schien es uns ein Leichtes, die gesamte Menschheit zu verbessern und alles Laster und Unglück von der Welt zu tilgen, resümiert Tolstojs Protagonist am Ende seiner Knabenjahre (Knabenjahre, Kap. 27).

Vor allem sei es «der psychologische Prozess an sich, seine Ausdrucksform, seine Gesetzmäßigkeiten – die Dialektik der Seele»[13], was Tolstoj interessiere, so der Schriftstellerkollege Nikolaj Tschernyschewskij. Vorherrschendes Charakteristikum von Figuren wie Nikolenka Irtenjew ist – und dies ist in der russischen Literatur jener Zeit ein Novum –, dass sie in ihrer inneren Entwicklung gezeigt werden. Der junge Irtenjew und der ältere Student Nechljudow sind zwei Ich-Spiegelungen des Autors, die miteinander in einen Dialog treten und so diese Entwicklung deutlich werden lassen.

In Jugend versinkt Irtenjew ganz in Introspektion und Selbstanalyse. Er sucht seinen Platz in der Welt und findet ihn weder bei seinen aristokratischen Kommilitonen noch bei denen einfacher Herkunft, die ihn zwar durch ihr echtes Interesse an den Wissenschaften und ihren Ehrgeiz beeindrucken, jedoch ihrer bescheidenen Kleidung und schlichten Art wegen gleichwohl nicht dem comme il faut zu entsprechen scheinen. Wie der Autor selbst fällt Irtenjew am Ende des Studienjahres durch das Abschlussexamen; es regt sich in ihm die Stimme der Zerknirschung, und in der festen Überzeugung, nie mehr zu fehlen, stellt er Richtlinien des Lebens auf.

Mit dem festen Willen, nach den eigenen Lebensrichtlinien nicht mehr zu fehlen, brach Tolstoj die eigenen Regeln immer wieder, was ihn an sich selbst und seinem Vermögen zweifeln ließ, die drei schlechten Angewohnheiten: Spiel, Leidenschaft und Ruhmsucht besiegen zu können[14]. In den Aufzeichnungen eines Marqueurs, 1853 innerhalb von drei Tagen niedergeschrieben, klagt der Protagonist, der alles verspielt und sein Unvermögen erkannt hat, jenes rechte Leben zu führen, nach dem er strebte, in seinem Abschiedsbrief vor seinem Selbstmord sich selbst an: Ich bin nicht entehrt, bin nicht unglücklich, habe kein Verbrechen begangen; doch ich habe noch Schlimmeres getan: Ich habe meine Gefühle, meinen Geist, meine Jugend getötet. […] Welch unbegreifliches Wesen ist doch der Mensch!

An seine Jahre im Kaukasus erinnerte sich Tolstoj später als quälende und zugleich gute Zeit[15]. Seine Eindrücke verarbeitete er in Die Kosaken, die 1863 erschienen. Voll romantischer Vorstellungen meldet sich der Junker Dmitrij Olenin zum Armeedienst in den Kaukasus und entdeckt durch die Freundschaft zum alten Jeroschka und die Liebe zu der Schönheit Marjanka, beide von der Zivilisation gänzlich unverdorbene Menschen, ein Leben in all seiner natürlichen Schönheit. Dies macht ihn zu einem anderen Menschen. Erst hier, erst unter Jeroschkas Fittichen […] erkannte er klar den ganzen Lug und Trug, der sein Leben früher ausgemacht und ihn damals schon empört hatte, ihm nunmehr aber unaussprechlich widerwärtig und lächerlich erschien (Kap. 26). Als er zum ersten Mal das Kosakenmädchen Marjanka erblickt, begeistert er sich an ihrer Schönheit, wie er sich auch an der Schönheit der Berge und des Himmels erfreut, […] denn sie ist ebenso schön wie diese (Kap. 33). Olenin verliebt sich, muss jedoch erkennen, dass er, ein schwaches, seelisch verkrüppeltes Geschöpf, ihrer nicht würdig ist, da er nicht werden kann wie sie, und verlässt den Kaukasus für immer.

Tolstoj verließ den Kaukasus im Januar 1854 und zog in den Krimkrieg. Auf dem Weg zur Donauarmee reiste er über Jasnaja Poljana und Moskau, wo er sich mit seinen Brüdern Dmitrij, Nikolaj und Sergej auf einer Daguerreotypie aufnehmen ließ. Auf eigenen Wunsch wurde er nach der Landung der französisch-britischen Truppen auf der Halbinsel Krim nach Sewastopol abkommandiert. Zuvor hatte er, um Spielschulden begleichen zu können, das hochherrschaftliche dreistöckige Haupthaus in Jasnaja Poljana verkaufen müssen, das der neue Besitzer abtragen und an einem anderen Ort wieder errichten ließ. Zwei Tage und zwei Nächte Stoß gespielt, notierte er, nachdem er das Geld für das Haus erhalten hatte. Das Ergebnis ist klar – alles verloren – das Haus in Jasnaja Poljana. Ich bin mir selbst so zuwider, dass ich am liebsten meine Existenz vergäße.[16]

Im November 1854 traf Tolstoj in Sewastopol ein, um an der nahezu ein Jahr lang dauernden Verteidigung der belagerten Stadt teilzunehmen. Unter dem Bombenhagel entstanden seine Sewastopoler Erzählungen, die 1855–56 erschienen. Sie zeigen den Wandel des von patriotischer Begeisterung ergriffenen jungen Offiziers zum überzeugten Gegner eines widersinnigen Krieges, der Tausenden von russischen Soldaten das Leben kostete.

Tolstoj begann seinen Kriegsbericht mit der Erzählung Sewastopol im Dezember, in der der Erzähler den Leser wie einen Augenzeugen durch die belagerte Stadt führt. Im ehemaligen Adelsclub der Stadt, nunmehr Haus des Leides, bekommt der Besucher die Verteidiger Sewastopols zu Gesicht, Soldaten mit amputierten Beinen, bleichen, aufgedunsenen Gesichtern, Ärzte mit bis zum Ellenbogen blutbefleckten Ärmeln. Gleichwohl kehrt der Besucher der vierten Bastion, eines der gefährlichsten militärischen Stützpunkte in der belagerten Stadt, erhobenen Geistes in den Alltag zurück, denn alle Opfer scheinen nicht umsonst: Das Wichtigste und Beglückendste, was Sie mitbringen, ist die Überzeugung, dass es unmöglich sei, Sewastopol einzunehmen, ja, nicht nur, dass es unmöglich sei, Sewastopol einzunehmen, sondern überhaupt die Kraft des russischen Volkes wo auch immer zu erschüttern.

Sechs Monate dauert das Blutvergießen bei der Verteidigung Sewastopols nun schon. Tausende wurden hier in ihrem persönlichen Ehrgeiz gekränkt, Tausende befriedigten ihren Ehrgeiz und bliesen sich auf, Tausende haben ihre letzte Ruhe in der Umarmung des Todes gefunden. […] Doch die Frage, die die Diplomaten nicht zu lösen vermochten, lässt sich noch weniger durch Pulver und Blut lösen, klagt Tolstoj in der zweiten Sewastopoler Erzählung an (Sewastopol im Mai, Kap. 1).

Während die Stabsoffiziere über den Boulevard promenieren und darüber sinnieren, ob die Infanterieoffiziere, die mit den Soldaten auf den Bastionen hausen, in den Blendagen, in schmutziger Wäsche, verlaust und mit ungewaschenen Händen Soldaten-Borschtsch aus dem Mannschaftskessel essend, Helden sein können, fallen die gemeinen Truppenführer mit ihren Soldaten in einer der zahlreichen Schlachten im Kampf für Glauben, Zar und Vaterland. Hunderte mit frischem Blut überströmte Körper von Menschen […] lagen mit erstarrten Gliedern in dem taufeuchten, blühenden Tal […]. Hunderte von Menschen, Verwünschungen und Gebete auf den ausgetrockneten Lippen, krochen umher, wanden sich und stöhnten […]. Aber wie auch an anderen Tagen […] stieg, der ganzen erwachten Welt Freud, Liebe und Glück verheißend, der mächtige, herrliche Sonnenball empor (Kap. 14).

Am 27. August/8. September 1855 wurde die belagerte Stadt von den feindlichen Truppen eingenommen. Tolstoj nahm als kommandierender Offizier einer Batterie am zum Scheitern verurteilten Abwehrkampf der russischen Armee teil. In Sewastopol im August 1855 beschreibt er das tragische Schicksal der Stadt durch jenes der Brüder Koselzow. Ebenso wie die Stadt geht das Brüderpaar seinem Untergang, dem Tod, entgegen.

Als der Jüngere der beiden, Wolodja, direkt nach dem Examen an der Kadettenschule im Bataillon unter feindlichen Beschuss gerät, erfahren seine kindlichen Träumereien sogleich Desillusionierung: