Liebe Mama, ich lebe noch! - Ernst Gelegs - E-Book

Liebe Mama, ich lebe noch! E-Book

Ernst Gelegs

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Beschreibung

Als ORF-Korrespondent Ernst Gelegs den Nachlass von "Tante Hansi" sichtet, stößt er auf einen unscheinbaren Karton. Darin enthalten: fast 100 Briefe von Leonhard Wohlschläger, Sohn des renommierten Architekten und Wiener Stadtpolitikers Jakob Wohlschläger, und Bruder von Tante Hansi. Schnell wird klar: Die Briefe, datiert zwischen 1933 und 1944, die meisten adressiert an seine Mutter, sind ein spannendes und detailliertes Zeitdokument. Detektivisch folgt Ernst Gelegs der bewegten Familiengeschichte der Wohlschlägers, in deren Zentrum "Hallodri" Leonhard steht. Sie führt über die Jahrhundertwende in Wien über den Ersten Weltkrieg bis hin zum "Anschluss" Österreichs und in die Wirren des Zweiten Weltkriegs. Anhand von Leonhards privater Korrespondenz sowie der Feldpost eröffnet sich ein Paradox: Auf der einen Seite spricht hier ein junger, lebenslustiger Sohn, Bruder und Ehemann, auf der anderen Seite erlebt er als Soldat mit klarem Blick das Kriegsgeschehen an der Front. Einfühlsam balanciert Gelegs im Spannungsfeld zwischen Privatheit und den Zeitläuften der Weltgeschichte.

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Seitenzahl: 228

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Ernst Gelegs

Liebe Mama,ich lebe noch!

Die Briefe des FrontsoldatenLeonhard Wohlschläger

BILDNACHWEIS

Alle Abbildungen © Archiv des Autors, außer

Seite 19: Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek(140880B) und

Seite 220: Archiv des Verlags.

www.kremayr-scheriau.at

eISBN 978-3-218-01172-3

Copyright © 2019 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Schutzumschlaggestaltung: Sophie Gudenus

Unter Verwendung von Dokumenten aus dem Archiv des Autors

Lektorat: Paul Maercker

Satz und typografische Gestaltung: Sophie Gudenus

Dieses Buch widme ich meiner Enkeltochter Penelope,die im Juni 2018 in Frankreich geboren wurde, alsich gerade die Geschichte Leonhards an der Westfrontgeschrieben habe. Von ganzem Herzen wünsche ich ihr,ihrer Generation und allen nachfolgenden Generationen,dass sie niemals solch finstere Zeiten erleben müssen wieJohanna und Leonhard Wohlschläger!

Inhalt

Vorgeschichte

Leonhard und seine Familie

Leonhards Soldatenleben

Fahrer an der Westfront

In Warteposition

An der Ostfront

Die Gräuel im Osten

Vorwärts zum Rückzug

Elendigliches Sterben in Wien

Das Ende und die Zeit danach

Nachlese

Quellen

Vorgeschichte

Meine Mutter hat geerbt. Ich gebe zu, dass diese Nachricht meine Familie und mich eine kurze Zeit lang in eine freudvolle Stimmung versetzt hat, obwohl sie eigentlich gemischte Gefühle hätte auslösen sollen, denn wenn jemand erbt, ist zuvor auch jemand verstorben. Aber statt Trauer hat doch eine Art Freude oder Vorfreude überwogen, die einem insgeheim ein wenig peinlich ist und die man daher in Gesellschaft anstandshalber zu verbergen versucht. Vielleicht hat unsere freudige Erwartung daher gerührt, dass noch nie eines meiner engeren Familienmitglieder eine Erbschaft gemacht hatte und vielleicht auch daher, dass völlig unklar war, was konkret meiner Mutter hinterlassen wurde. Denn die Verstorbene war keine Verwandte von uns. Sie war im Grunde genommen eine Fremde, die zwar jeder von uns kannte, aber über die niemand in der Familie so recht Bescheid wusste. Und daher war auch nicht ganz auszuschließen, dass sie eventuell sogar ein kleines Vermögen zu vererben hatte, denn so viel wussten wir: Sie stammte aus guter Familie und wohlhabendem Haus.

Genau genommen ist meine Mutter auch nicht die Alleinerbin gewesen, sondern erbte gemeinsam mit ihrem Ehemann Rudolf Hofbauer, den sie nach dem frühen Tod meines leiblichen Vaters, Ernst Gelegs sen. geheiratet hatte. Der zweite Mann meiner Mutter, Rudi – wie ihn die Familie nennt – hatte seit seiner Kindheit eine Wahltante, die „Tante Hansi“ – und diese ist im 98. Lebensjahr von uns gegangen.

Eine Nachbarin, die regelmäßig nach der betagten Dame Nachschau hielt, hat sie am Morgen eines strahlenden Frühsommertages tot aufgefunden, auf dem Boden neben ihrem Bett in ihrer kleinen Mietwohnung eines Altbauhauses auf der Erdberger Lände im 3. Wiener Gemeindebezirk. In der Lade des Esstisches im Wohnzimmer lag ihr handschriftlich verfasstes Testament, in dem die gute Tante Hansi mit zittriger Schrift ihren gesamten Hausrat ihrem „lieben (Wahl-)Neffen Rudi und seiner reizenden Frau Helga“ (meiner Frau Mama) vermachte.

Rudi und meine Mutter hatten sich in den letzten Jahren vor ihrem Tod ein wenig um sie gekümmert. Sie hatten Mitleid mit ihr. Alle ihre Verwandten und Freundinnen waren zum Teil schon viele Jahre vor Tante Hansi verstorben, leider auch ihre beste Freundin Olga Hofbauer, Rudis Mutter. Tante Hansi soll oft von den vielen Begräbnissen erzählt haben, auf die sie gehen musste. Wer fast 100 Jahre unverheiratet und kinderlos lebt, hat gegen Lebensende weder viele Verwandte, noch viele Freunde. Und so haben Rudi und meine Mutter die einsame, alte Dame fallweise zu Kaffee und Guglhupf eingeladen (der Eierlikör-Guglhupf meiner Mutter mit Schokoladestückchen ist wirklich ein Gedicht!) und belanglos über alte Zeiten geplaudert, wie es halt so üblich ist, wenn man alleinstehenden, gutbürgerlichen und hochbetagten Damen eine Freude zu machen glaubt.

Tante Hansi hieß eigentlich Johanna Wohlschläger. Sie wurde im Jahr 1907 geboren und war eine Tochter des damals prominenten Architekten und Wiener Gemeinderatsabgeordneten Jakob Wohlschläger. Vom Begräbnis ihres Vaters an einem nasskalten Novembertag des Jahres 1934 hat Tante Hansi oft und gerne erzählt. Zu ihrer Freude in ihrem Schmerz soll die halbe Stadt über die „schöne Leich“ gesprochen haben. Es war ein Ehrenbegräbnis. Jakob Wohlschläger ist in einem Ehrengrab der Gemeinde Wien auf dem Zentralfriedhof bestattet, in Anerkennung und Würdigung seiner architektonischen Leistungen und seiner politischen Verdienste um die Stadt Wien. Jakob Wohlschläger genoss sogar die Ehren des Kaisers. Er wurde 1908 von Kaiser Franz Joseph I. zum „Kaiserlichen Rat“ ernannt.

Johanna Wohlschläger (Tante Hansi), 2003.

Als christlich-sozialer Politiker engagierte er sich an der Seite von Karl Lueger (1897-1910 Wiener Bürgermeister) für das Kleingewerbe der Stadt Wien, heute würde man sagen: für das wirtschaftliche Fortkommen der Klein- und Mittelbetriebe. Vermutlich war er, wie auch Lueger, ein bekennender Antisemit, aber darüber hat Tante Hansi nie gesprochen. Wenn sie über ihren Vater erzählte, hat sie immer die vielen Zinshäuser erwähnt, die Jakob Wohlschläger in Wien gebaut hatte und die heute noch stehen, wie etwa das Mietshaus im 6. Bezirk in der Otto-Bauer-Gasse 3 oder das im 4. Bezirk in der Schelleingasse 37, oder jenes im 1. Bezirk in der Wiesingerstraße 6, um nur einige wenige zu nennen.

Urkunde der Verleihung des Titels „Kaiserlicher Rat“ an J. Wohlschläger.

Das wohl bekannteste Bauwerk ihres Vaters Jakob Wohlschläger ist der „Mariahilfer Zentralpalast“, vielen Wienern noch als „Warenhaus Stafa“ bekannt. Dieser markante Rundbau auf der Mariahilfer Straße 120 an der Ecke zur Kaiserstraße 2, in dem heute eine Heimtextil-Firma und eine Münchner Hotelgruppe eingemietet sind, wurde am 18. August 1911 eröffnet, am 81. Geburtstag von Kaiser Franz Joseph. Und fast genau ein Jahr später, irgendwann im Juli 1912 (genauer lässt sich das nicht mehr recherchieren), ist Leonhard zur Welt gekommen, Sohn von Jakob Wohlschläger und Bruder von Tante Hansi. Leonhard ist die Hauptperson dieses Buches.

Ich habe Tante Hansi nur flüchtig gekannt, aber ich erinnere mich noch gut an die deprimierenden Momente, als ich zwei Monate nach dem Ableben Johanna Wohlschlägers erstmals ihre Mietwohnung im 3. Bezirk betreten habe. Die knapp 80 Quadratmeter große Altbauwohnung an der Erdberger Lände roch ein wenig modrig, vermutlich war schon wochenlang nicht mehr gelüftet worden. Tote Fliegen lagen auf den Böden und Fensterbänken, auf dem kleinen Küchentisch und neben dem alten Gasherd. Der Anblick ihres Schlafzimmers war bedrückend und traurig. Ich fand Tante Hansis Bett vermutlich noch genau so vor, wie sie es in ihrer Sterbenacht „verlassen“ hatte. Eine dicke, weiße Daunendecke hing halb zu Boden, ein zerknitterter Polster steckte zwischen Matratze und dem hölzernen Betthaupt, das Leintuch voller Falten. Und auf dem Nachtkästchen neben der kleinen Tischlampe aus Messing lagen Hornbrille und ein altes Buch – so, als hätte sie gerade eben das Licht abgedreht, um einzuschlafen. Tante Hansi ist einsam und allein gestorben – niemand, der ihre Hand gehalten, sie getröstet und begleitet hätte …

Tante Hansis Wohnung war in einem erbärmlichen und bemitleidenswerten Zustand. Sie hatte schon länger nichts mehr investiert, oder genauer gesagt, investieren wollen. Sie hatte nichts mehr reparieren lassen und auch nichts mehr Neues gekauft – und so sah ihr Zuhause auch aus. Abgetretene Teppiche, wackelige, windschiefe und knarrende Kastentüren, Sprünge in der emaillierten Badewanne, in der Wasch- und in der Klomuschel, da und dort ausgebrannte Glühbirnen in den Wandappliken und im Kristallluster, der irgendwie verloren von der Wohnzimmerdecke hing. Und natürlich tropfende Wasserhähne. Die immer so gepflegte, adrette und gutbürgerlich auftretende Tante Hansi aus wohlhabendem Haus war offensichtlich in den letzten Monaten ihres langen Lebens nicht mehr gewillt oder in der Lage gewesen, ihre Wohnung sauber zu halten und ihren Ansprüchen entsprechend zu leben. Eine Putzfrau oder Heimhilfe hat sich Tante Hansi Zeit ihres Lebens nicht gegönnt, sie war sehr sparsam.

Ich erinnere mich noch gut an meine „Goldgräberstimmung“ beim zweiten Besuch in Tante Hansis Wohnung. Sie ist aufgekommen, als ich beim Räumen geholfen habe. Rudi und meine Mutter hatten die Pflicht, die Wohnung innerhalb einer zweiwöchigen Frist „besenrein“ dem Hausherrn zu übergeben. Meine Frau, mein damals 18-jähriger Sohn Alexander und ich sind dabei zur Hand gegangen. Ich gebe zu, mein Hilfsangebot mehrmals an diesem Tag bereut zu haben, denn Tante Hansi hatte, offenbar aus Angst vor neuerlichen großen Krisen oder Kriegen, so ziemlich alles gehortet, was man in Zeiten materieller Knappheit eventuell brauchen könnte. Wir haben schuhschachtelweise Kerzen in allen Größen, Farben und Formen aus den Kästen geräumt, kiloweise Zündholzschachteln und papierverpackte Seifen gefunden, sowie jede Menge aufgerollter Schuhbänder in allen gängigen Farben. Wir sind auf zahlreiche Schachteln mit Glühbirnen und kartonverpackten Leuchtstoffröhren gestoßen und haben eine Schuhschachtel voller penibel geschlichteter Zuckersäckchen im Kasten entdeckt, die Tante Hansi über Jahrzehnte bei ihren regelmäßigen Kaffeehausbesuchen eingesteckt und in ihrer Wohnung gehortet hatte. Tante Hansi war wirklich sehr sparsam.

Die Schränke waren vollgestopft mit ihren Kleidern, Röcken und Blusen und auch mit den selbst genähten Kostümen ihrer längst verstorbenen Mutter Käthe, die um die Jahrhundertwende als Schneiderin tätig war. Sogar das Taufgewand ihres jüngeren Bruders Leonhard haben wir beim Räumen gefunden, außerdem zahlreiche seiner blau-weißen Baumwoll-Taschentücher mit den eingestickten Initialen.

Wir sind auf dutzende Bonbonniere-Schachteln gestoßen, in denen sie das bunte Stanniol- und Zellophanpapier der einzelnen Pralinen fein säuberlich glatt gestrichen und sorgsam aufbewahrt hatte. Wir haben Unmengen an Geschenkpapier entdeckt, in das offenbar ihre Weihnachts- oder Geburtstagsgeschenke verpackt waren. Das Papier war wie aufgebügelt nahezu faltenfrei. Wir sind auf Schachteln mit hunderten entwerteten Briefmarken aus der Kaiser- und den Kriegszeiten gestoßen sowie auf Kartons mit hunderten Post- und Ansichtskarten, die Tante Hansi in den letzten 80 Jahren von Freunden und Verwandten zugeschickt bekommen hatte. Und sie hat sogar dutzende Bezugsscheine für Lebensmittel aufbewahrt, die die Nazis während des 2. Weltkriegs ausgegeben hatten – nach dem Motto: man kann ja nie wissen, was noch (einmal) kommt …

Doch eine der vielen alten Schuhschachteln hat unser ganz besonderes Interesse geweckt. Es war eine mit knapp 100 zum Teil schon sehr vergilbten Briefen und Postkarten, die fast alle von Tante Hansis Bruder Leonhard geschrieben worden waren. Es waren Briefe von Leonhard an seine liebe Mama und an seine Schwester Johanna (Tante Hansi), die er Schetty oder Jetty nannte. Die Briefe sind alle datiert. Sie wurden in der Zeit zwischen 1933 und 1944 verfasst. Die meisten dieser Briefe muss Leonhard zum Teil im Bombenhagel an der West- und später an der Ostfront geschrieben haben und es ist erstaunlich, was der junge österreichische Wehrmachtssoldat Leonhard Wohlschläger an der Zensur der Nazis und am Zoll Hitlerdeutschlands vorbeischmuggeln konnte. Den Briefen ist unter anderem zu entnehmen, dass Leonhard in den ersten Kriegsjahren vor allem Stoffe und Schuhe zu seiner Mutter nach Wien geschickt hat und später, als die Versorgungslage in Wien immer schlechter wurde, verschiedene Grundnahrungsmittel und Medikamente. Seine oft berührenden Zeilen geben Einblick in die Gräuel des Alltags eines 27-jährigen Soldaten im 2. Weltkrieg, der sich mit großem Ehrgeiz vom einfachen Rekruten zum Obergefreiten der Deutschen Wehrmacht emporgearbeitet hat. Leonhard hat sich während des Krieges ständig um irgendwelche militärischen Fortbildungskurse bemüht, in der Hoffnung, Unteroffizier zu werden, nicht, weil er ein begeisterter Nationalsozialist und überzeugt von Hitlers Angriffskriegen gewesen wäre, sondern, weil er die Erfahrung gemacht hatte, dass man sich’s als Ranghoher leichter richten kann. Für ihn galt die Devise: je höher der Dienstgrad, desto leichter der Alltag als Soldat und desto wahrscheinlicher ein Überleben im Krieg. Leonhard war schlau wie ein Fuchs und ein Meister im „Sich-Durchschwindeln“. Er verhielt sich oft ganz ähnlich wie der „brave Soldat Schwejk“.

Leonhard und seine Familie

Leonhard Wohlschläger ist so etwas wie ein Glückskind. Er ist irgendwann im Juli 1912 in Wien geboren, wohlbehütet aufgewachsen, liebevoll umsorgt und wohlerzogen von seiner lieben Mama, einer gelernten Schneiderin und seinem prominenten Vater Jakob Wohlschläger, der als Architekt und Stadtpolitiker schon im Wien der Jahrhundertwende einen großen Namen hatte. Stets verwöhnt wird der kleine Leonhard auch von seiner um fünf Jahre älteren Schwester.

Während Leonhard ziemlich sorgenfrei im 3. Bezirk in Wien aufwächst, kämpft sein einst reicher und angesehener Vater Jakob Wohlschläger gegen den finanziellen Ruin und den damit verbundenen sozialen Abstieg. Leonhard bekommt von den Geldsorgen seiner Eltern nichts mit, Johanna schon, weil sie älter und sensibler ist als ihr kleiner Bruder. Möglicherweise hat ihre extreme Sparsamkeit in dieser für ihre Eltern sehr schweren Zeit ihren Ursprung.

Die Pleite des Stararchitekten Jakob Wohlschläger hat ausgerechnet mit seinem größten und bis heute bedeutendsten Bauwerk begonnen, mit dem „Ersten Wiener Warenmuster und Kollektiv-Kaufhaus Mariahilfer Zentralpalast“, wie der runde Prunkbau im 7. Wiener Bezirk damals offiziell hieß – oder, wie schon gesagt, „Warenhaus Stafa“. Wohlschläger ist nicht nur der Architekt des Bauwerks, sondern auch dessen Bauherr – und das dürfte er schon während der Bauarbeiten bitter bereut haben. Ständig gibt es bautechnische Zwischenfälle und unvorhergesehene Schwierigkeiten, die ihm zusätzliche Kosten verursachen. Kosten, die er alle aus eigenen Mitteln zu begleichen hat. So ist etwa der Bautrupp bei den Erdarbeiten für das Fundament auf unterirdische Quellen gestoßen, die wiederum den Bau von zwei Schachtbrunnen notwendig machten. Bis heute müssen fast 1000 Liter Wasser pro Minute abgepumpt werden, damit das Gebäude nicht unterspült wird und trocken bleibt.

Auch der Start des Kaufhauses Mitte August 1911 verläuft ziemlich holprig. Gleich nach der Eröffnung haben zwar rund 100 Geschäftsleute gegen eine zehnprozentige Umsatzmiete Verkaufsräume erworben, aber die Umsätze bleiben weit hinter den Erwartungen, sodass die Mieter sehr schnell wieder weg sind. Für den Planer, Erbauer und Hausherrn Jakob Wohlschläger eine glatte Katastrophe. Schon bald wird dem damals 42-jährigen, christlichsozialen Stadtpolitiker und erfolgsverwöhnten Stararchitekten klar, dass er sich mit dem Bau finanziell übernommen hat. Nicht einmal zwei Jahre nach der Eröffnung, am 6. April 1913, muss Jakob Wohlschläger mit seinem „Mariahilfer Zentralpalast“ Konkurs anmelden. Die Schulden sind ihm über den Kopf gewachsen. Um sie zu tilgen, muss er nicht nur sein gesamtes Barvermögen opfern, sondern auch seine prachtvolle Herrschaftsvilla in Baden bei Wien, auf die er so stolz ist. Er hat sie samt einem Grundstück von rund 15.000 Quadratmetern knapp vor der Jahrhundertwende von den Erben des Freiherrn Wilhelm von Engerth erworben, einem damals prominenten Ingenieur. Heute erinnert die Engerthstraße in Wien an den großen österreichischen Techniker.

Rundbau des „Mariahilfer Zentralpalastes“ um 1935.

Überliefert ist, dass Jakob Wohlschläger den Engerth-Erben nur rund 140.000 Kronen (heute etwa 700.000 Euro) für das Anwesen bezahlt hat – ein Schnäppchenpreis.

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs ist Johanna sieben Jahre, Leonhard zwei Jahre alt und der 45-jährige Jakob Wohlschläger finanziell so gut wie am Ende. Die Villa in Baden dürfte zu diesem Zeitpunkt schon in der Konkursmasse gewesen sein.

Neben den finanziellen Sorgen plagen Jakob Wohlschläger auch peinliche familiäre Probleme, die er in der feinen, bürgerlichen Gesellschaft Wiens stets zu vertuschen versucht. Ein Vater, der eine fünfköpfige Familie verlässt, passt nicht zur christlichsozialen Wiener Elite mit ihren gerne nach außen kommunizierten hohen moralischen Wertvorstellungen.

In den renommierten Kaffeehäusern Wiens, in denen Jakob Wohlschläger oft und gerne verkehrt, tuschelt die feine Gesellschaft schon länger über die Affäre des Herrn Architekten und Wiener Gemeinderatsabgeordneten, über eine Liebelei mit einer einfachen Schneiderin.

Man schreibt das Jahr 1904, als Jakob Wohlschläger die außereheliche Beziehung mit Käthe Mahr beginnt. Er ist damals Familienvater von vier Kindern. 1894 hatte er die damals 20-jährige Anna Wiedl geheiratet. Mit ihr hat er eine Tochter und drei Söhne, die zu Beginn seines Konkursverfahrens im Jahr 1913 bereits Teenager sind und in Ausbildung stehen. Der jüngste ist dreizehn Jahre alt und besucht das renommierte, aber nicht ganz billige Schulinternat in Strebersdorf. Das älteste Kind, die Tochter, ist 18 und fordert ihre Mitgift, weil sie mit dem Gedanken spielt, bald zu heiraten, und zwar den Neffen des damals ebenfalls stadtbekannten Architekten Alexander Wielemans-Monteforte.

Für Anna Wohlschläger und ihre vier Kinder muss es damals schwer verkraftbar und unendlich peinlich gewesen sein, dass sie der allseits angesehene Jakob Wohlschläger wegen einer anderen Frau verließ. Doch er hatte sich verliebt, in Käthe Mahr, nach nur zehn Jahren Ehe mit Anna. Wo und unter welchen Umständen Jakob Wohlschläger Käthe kennengelernt hatte, ist heute nicht mehr herauszufinden. Fest steht nur, dass Jakob aus sehr einfachen Verhältnissen stammte. Er ist am 23. Juli 1869 in Stockerau als unehelicher Sohn einer Tagelöhnerin geboren. Sein leiblicher Vater dürfte aber ein wohlhabender und vermutlich auch einflussreicher Mann gewesen sein, der zwar ein Techtelmechtel mit der Stockerauer Tagelöhnerin hatte, aber doch seiner Verantwortung als Vater nachgekommen sein muss. Denn immerhin konnte Jakob Wohlschläger studieren. Eine Tagelöhnerin hätte damals ein Studium nicht finanzieren können. Spekuliert wird, ob nicht vielleicht Karl Lueger selbst der leibliche Vater von Jakob Wohlschläger war. Lueger ist um 25 Jahre älter als Wohlschläger und soll den jungen Architekten aus Stockerau außergewöhnlich stark beruflich gefördert und politisch protegiert haben …

Die einfachen Verhältnisse der Arbeiterklasse sind dem Stararchitekten Jakob Wohlschläger nicht fremd, Standesdünkel kennt er keine. Und so ist er 1904 auch Hals über Kopf mit der jungen, hübschen Käthe Mahr durchgebrannt, hat Haus und Hof zurückgelassen – der Liebe wegen!

Eine Scheidung von Anna Wohlschläger (geborene Wiedl) ist in der feinen, konservativen Wiener Gesellschaft zwar nicht schicklich, aber finanziell kann sich der damals noch wohlhabende Architekt das locker leisten. Jakob Wohlschläger zahlt Anna ihre monatlichen Apanagen, die Alimente für die vier Kinder, begleicht die Rechnungen ihrer Schulausbildung und die Betriebskosten der Villa in Baden samt Personal. Wer hat, der hat – und Jakob Wohlschläger hatte. Doch 1912, nur ein Jahr nach der Eröffnung seines pompösen „Mariahilfer Zentralpalastes“ hat er nicht mehr – und zahlt auch nicht mehr.

Jakob Wohlschläger muss zu Beginn des Ersten Weltkrieges im Jahr 1914 sehr verzweifelt gewesen sein. Mit Käthe Mahr hat er zwei außereheliche kleine Kinder. Und selbst steht er da ohne Arbeit und ohne Geld. In seiner Verzweiflung lässt sich Jakob Wohlschläger 1915 sogar für den Kriegseinsatz mustern und fleht gleichzeitig um einen hohen Dienstgrad, damit möglichst ausgeschlossen ist, dass plötzlich einer seiner ehemaligen Lehrlinge ihm vorgesetzt ist und über ihn Befehlsgewalt hat.

Kameraden von Jakob Wohlschläger im Ersten Weltkrieg.

Die ersten Jahre des Ersten Weltkriegs absolviert Jakob Wohlschläger als Offizier in einer Schreibstube der kaiserlich-königlichen Landwehr. Sein Sold reicht gerade aus, seine Lebensgefährtin Käthe mit den zwei Kindern und sich selbst so recht und schlecht über die Runden zu bringen. Seinen gesetzlichen Verpflichtungen gegenüber seiner ersten Frau Anna Wohlschläger und den gemeinsamen vier Kindern kommt er allerdings nicht mehr nach. Schließlich ist er seit 1912 pleite.

Im März 1917, etwas mehr als eineinhalb Jahre vor Kriegsende, wird Jakob Wohlschläger ein Brief zugestellt, der ihm sehr nahe gegangen sein muss. Sein ältester Sohn Otto hat ihm geschrieben. Seine Ex-Frau Anna und seine vier Kinder haben vermutlich Dank eines Gönners und Freundes (vielleicht auch Liebhabers) von Anna, eines gewissen Max Hellmann, ein standesgemäßes Leben führen können. Doch Max Hellmann, wahrscheinlich ein reicher Geschäftsmann und sehr viel älter als Anna, stirbt im Jahr 1917. Nach dem Tod von Hellmann wissen Anna und die vier ersten Wohlschläger-Kinder nicht mehr, wie es finanziell weitergehen soll. Die Villa in Baden haben sie längst verlassen, sie ist im Zuge des Konkurses von Jakob Wohlschläger zwangsversteigert worden. Otto, der älteste Sohn von Jakob Wohlschläger, fasst sich am 23. März 1917 ein Herz und schreibt während eines Einsatzes als Soldat der k.u.k.-Armee seinem Vater einen Brief:

Im Felde, den 23. März 1917

P a p a !

Bis vor kurzem war es möglich, wenn auch in letzter Zeit unter den schwersten Bedingungen, dass wir trotz deiner Nichthilfe, seit 1912, unser Fortkommen selbst schaffen konnten.

Wie dir aber selbst gewiss bekannt sein dürfte, ist uns die letzte, größte Stütze durch jähen Tod entrissen worden.

Max Hellmann ist nicht mehr.

Seine edle, einzig dastehende Selbstlosigkeit, ließ dich bestimmen, deiner menschlichen und gesetzlichen Pflicht keine Genüge zu leisten. Er ward es, der jene schwere Pflicht, die nicht jeder erfüllen kann, uneigennützig auf seine Schulter nahm, die du vor Gott und den Menschen zu leisten verpflichtet warst und bist.

In Anbetracht unserer jetzigen traurigen Lage, fühle ich mich verpflichtet, an dich mit unseren gerechten Forderungen heranzutreten.

Ausdrücklich betone ich, dass mich nicht der geringste Hass gegen dich leitet. Nur im Namen Mamas und der Geschwister, trete ich an dich als Ältester heran und fordere bittend die Erfüllung Deiner Vaterpflichten.

Bevor ich jedoch auf das Meritorische meines Schreibens eingehe, will ich mich über das Recht, das ich nun spreche, durch Nachstehendes rechtfertigen.

Als Ältester stehe ich nun bald 3 Jahre im militärischen Dienst, habe ich meinen Mann und meine Kraft dem Vaterland gestellt.

Unvergesslich wird mir die Zeit des Karpathenfeldzuges bleiben, durch den ich meine Gesundheit einbüßte, das erste Mal an Typhus, das zweite Mal an Rippenfellentzündung und Bronchitis schwer erkrankte. Über ein volles Jahr musste ich im Spital zubringen. Zwei Mal musste ich, infolge vollständiger Erschöpfung meiner Kräfte, gehen lernen.

Und trotz all dem bin ich heute seit Jänner d.J. wieder im Felde.

Dass ich mich, zufolge meiner Vaterlandspflichtleistung berechtigt fühle, an Dich mit meiner Forderung bittend heranzutreten, wirst Du mir nicht absprechen können und wollen.

Ich hoffe!

Nicht mein Ich verlangt, sondern die Not Mamas und Geschwister.

Vor allem involviert meine bittend gestellten Forderungen analog deiner gesetzlichen Vaterpflichten:

Zahlung aller seit 1. Mai 1912 rückständigen Alimentationen (inbegriffen Dienstbotenlöhnung und Zinskostenbeitrag)

Die laut Ausgleichsvertrag gerichtlich fixierte Beistellung von Kleidern, Schuhen etc. in Natura oder Barem rückständig seit 1905.

Die seit 1. Mai 1915 rückständigen monatlichen Unterstützungen für Vally [Anm.: Valerie, Jakob Wohlschlägers erstgeborene Tochter]

Ferner obliegt Dir auch die Begleichung von K 2.800.--, das Pensionatsgeld für Adolfs und Eduards einjährigen Aufenthalt im Pensionat St. Joseph, zu Strebersdorf.

Da ich mir aber gewiss bin, dass Deine Vertreter Dich solange bereden werden, bis Du einwilligst, neuerlich mit allen Mitteln einen neuen Indult in Konsortium zu konstruieren, so stelle ich an Dich das bestimmte Ersuchen, nicht länger zu zögern, denn das graue, öde Leben schreitet vorwärts.

Auch für den Fall, dass Du nicht antworten solltest, muss ich einen Ausweg betreten. Wenn binnen 14 Tagen keine für uns günstige Antwort, inngerechnet der Tat, einläuft, so bin ich bemüßigt, da die Not keinen Aufschub erleidet, im dienstlichen Weg ein „Majestätsgesuch“ einzubringen.

Doch ich hoffe, dass du es nicht so weit kommen lässt und im Interesse eines ruhigen Ausgleichs, Dich zu dem, Dir von Gesetzwegen auferlegten Muss, bereitfindest und uns Deine Hilfe angedeihen lässt; ein wenig Friede wäre auch für uns von Nutzen.

Dein Sohn Otto

Otto Wohlschläger, der erstgeborene Sohn von Jakob Wohlschläger, reicht kein Majestätsgesuch ein, obwohl sein Vater nicht auf sein flehentliches Schreiben reagiert, denn Otto fällt wenige Tage nach dem Schreiben dieses Briefes – er ist eines der rund 17 Millionen Opfer des Ersten Weltkrieges.

In den 20er Jahren heiratet Jakob Wohlschläger seine Käthe. Doch das Glück ist ihm weiterhin nicht hold, er muss weitere wirtschaftliche Rückschläge und familiäre Demütigungen hinnehmen. Sein Architekturbüro sperrt endgültig zu, weil er keine Aufträge erhält. Sein Förderer und Mentor Karl Lueger ist gestorben und immer mehr seiner einstigen Geschäftspartner und Freunde wenden sich ab. In dieser tristen wirtschaftlichen Phase erhält Jakob Wohlschläger die schockierende Nachricht, dass seine zweite Ehe von Amts wegen annulliert wird.

Jakob Wohlschlägers erste Ehefrau, Anna hat die Scheidung immer noch nicht verkraftet. Die liegt zwar schon Jahre zurück, aber sie fühlt sich nach wie vor gedemütigt. Besonders schmerzvoll sind für sie die bitteren Konsequenzen der Scheidung. Weil Jakob Wohlschläger seit 1912 keine Apanagen mehr zahlt, schlittert Anna in die Armut und verliert damit die Anerkennung der Wiener Gesellschaft, von der sie einst hofiert worden ist. Mag sein, dass Anna von den Geldnöten ihres Ex-Mannes gehört hat. Dass er aber pleite ist, will und kann sie offenbar nicht glauben. Ihr Hass auf Jakob und seine zweite Ehefrau steigert sich mit ihrer zunehmenden Armut. Je weniger Geld sie zur Verfügung hat, desto mehr hasst sie ihn und verflucht sein Liebesglück mit der jungen Käthe.

Vermutlich hat ein mit Anna befreundeter Rechtsanwalt die Idee gehabt, die zweite Ehe von Jakob Wohlschläger gerichtlich annullieren zu lassen. Jakob hat mit Käthe eine sogenannte Dispens-Ehe geschlossen. Bis 1938 war in Österreich eine Wiederheirat von geschiedenen Katholiken rechtlich verboten, eine Regelung, die von der katholischen Kirche und paradoxerweise von Jakob Wohlschlägers Parteifreunden in der christlichsozialen Partei durchgesetzt wurde. Doch der sozialistische Kurzzeit-Landeshauptmann von Niederösterreich, Albert Sever (Mai 1919 bis November 1920), hatte dagegen angekämpft und der Kirche sowie den Christlichsozialen eins ausgewischt: Er erließ eine Verordnung, wonach Geschiedene direkt beim Landeshauptmann um Dispens (Befreiung) vom Eheverbot ansuchen konnten. Selbstredend, dass jedem Ansuchen um Dispens auch stattgegeben wurde. Rund 15.000 Paare, darunter auch Jakob Wohlschläger und Käthe Mahr, machten in den 20er Jahren davon Gebrauch und gingen so eine „Dispens-Ehe“, volkstümlich „Sever-Ehe“ ein, womit sie ihre wilden Ehen zu staatlich anerkannten machten.

Diese Dispens-Ehe-Verordnung ist ein Beispiel der politischen Wirren und gewaltsamen Konflikte im Österreich der Zwischenkriegszeit zwischen der „linken“ und „rechten“ Reichshälfte, also im Wesentlichen zwischen Sozialisten und Christlichsozialen. Der Oberste Gerichtshof, dominiert von den Christlichsozialen, erklärte die Verordnung für ungültig. Der Verfassungsgerichtshof, mit seinen eher linksliberalen Richtern, erklärte die Sever-Verordnung wiederum für gültig. Erst mit der Reform im Jahr 1929 wurde der Verfassungsgerichtshof schließlich personell verändert, „entpolitisiert“, wie es aus Kreisen der damaligen national-konservativ-klerikalen Regierung hieß. Die linksliberale Opposition sprach von „Umfärbung“. Von welcher politischen Seite man diese Reform auch betrachten möge, die Dispens-Ehe oder Sever-Ehe ist 1929 endgültig verboten worden.

Und diese Reform der österreichischen Bundesverfassung im Jahr 1929 macht sich die hasserfüllte Anna Wohlschläger zu Nutze. Sie beantragt die gerichtliche Annullierung der Ehe zwischen Jakob Wohlschläger und Käthe Mahr und gewinnt. Die Ehe wird von Amts wegen für null und nichtig erklärt – Jakob Wohlschläger ist somit zum zweiten Mal „geschieden“. Anna hat daraus kein Kapital schlagen können, lediglich Genugtuung. Käthe Wohlschläger muss wieder ihren Mädchennamen Mahr annehmen und beginnt, Anna abgrundtief zu hassen. Die gemeinsamen Kinder Johanna und Leonhard können ihren Familiennamen Wohlschläger behalten, entwickeln aber ebenfalls eine tiefe Abneigung gegen die Ex-Frau ihres Vaters, die noch Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg in so mancher Erzählung von Tante Hansi zum Ausdruck kommt.

Leonhard Wohlschläger ist ein Hallodri. Er lebt gerne in den Tag hinein, tut, was ihm Spaß macht und redet viel, wenn der Tag lang ist. Er ist gesellig, witzig, frönt ausgedehnten Kaffeehausbesuchen, hat viele Freunde, oder besser gesagt: viele gute Bekannte und liebt „leichte Mädchen“. Er ist sportlich und interessiert sich sehr für Motoren und Autos. Die einzige Prüfung, die Leonhard problemlos besteht, ist die Führerscheinprüfung. Verlässlichkeit und Verantwortung sind seine Stärken nicht. Auch seine Schulausbildung in diversen Gymnasien Wiens nimmt er nicht sonderlich ernst. Er ist zwar hochintelligent, aber stinkfaul und so fliegt er aus sämtlichen Schulen und steht im Alter von 18 Jahren ohne vernünftige Ausbildung da. Ein Handwerk will Leonhard nicht lernen, lieber schachert er mit Altwaren, die er auf dem Dachboden des Mietshauses im 3. Bezirk aufstöbert, wo er mit seinen (mittlerweile geschiedenen) Eltern und seiner Schwester Johanna wohnt.

Leonhard Wohlschläger in den 1930er Jahren.

Johanna ist das personifizierte Gegenteil ihres Bruders. Sie ist sehr zurückhaltend, fast ein wenig schüchtern, aber sehr ehrgeizig, fleißig und pflichtbewusst. In der Schule ist sie stets Klassenbeste und der Liebling aller Lehrer. Johanna schafft es sogar, ein Stipendium für einen dreijährigen Aufenthalt in England zu bekommen. Bei einer kinderreichen Gastfamilie in Reading im Westen von London lernt sie in kürzester Zeit Englisch und entdeckt bald darauf ihre Leidenschaft zur englischen Literatur, die sie bis zu ihrem Tod pflegt. Einer ihrer Lieblingsromane ist „Wuthering Heights“ von Emily Brontë. Vielleicht deshalb, weil sie die unerfüllte Liebe der beiden Romanfiguren Heathcliff und Cathy, die Intrigen und Rache der handelnden Personen an ihr eigenes Leben und das ihrer Familie erinnern.

Leonhard, der außer „yes“, „no“ und „thank you“ kein Wort Englisch spricht, ruft (wie erwähnt) seine Schwester gerne Schetty oder Jetty. Möglicherweise sind diese Kosenamen auf ihre Liebe zu England zurückzuführen oder während ihres England-Aufenthalts entstanden.