Liebediener - Julia Franck - E-Book

Liebediener E-Book

Julia Franck

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Beschreibung

»Julia Franck ist eine Meisterin psychologischer Abstraktion.« Süddeutschen Zeitung Beyla liebt es, in Kellerwohnungen zu hausen. Von unten läßt sich das Geschehen auf der Straße gut überblicken. Wenn sie sich bis zur Luke unter der Decke streckt, kann sie gerade noch das rote Auto sehen, das mühsam aus einer Parklücke ausrangiert. Aber warum sieht der Fahrer die Frau nicht, die hinter seinem Wagen erschrocken ausweicht und unter die Räder der Straßenbahn gerät? Die Tote auf den Gleisen entpuppt sich als Charlotte, Beylas Nachbarin, doch außer Beyla scheint niemand das Auto bemerkt zu haben, und sie selbst hütet sich, irgend jemand davon zu erzählen, schon gar nicht der Polizei. Raushalten kann sie sich jedoch nicht, denn Charlottes Tante überläßt ihr deren Wohnung inklusive einigen persönlichen Dingen. Widerstrebend zieht Beyla also in den dritten Stock des Mietshauses und findet sich mitten im Leben ihrer toten Vorgängerin wieder. Aus ihrem Küchenfenster kann sie nun auch Albert beobachten, der unter ihr wohnt. In diesen rätselhaften Mann, den sie bereits auf Charlottes Beerdigung gesehen hatte, verliebt sie sich Hals über Kopf. Sie genießt ihr Glück und die Ausflüge in seinem roten Flitzer. Leider weicht Albert ihrem Drängen aus, ihr doch von sich zu erzählen, erfindet statt dessen höchst erotische Geschichten. Zuerst gibt Beyla sich damit ja noch zufrieden, doch dann will sie mehr. Ganz allmählich fügt sich ein Puzzleteil zum anderen, und sie erfährt, wer Albert wirklich ist und welche Rolle Charlotte in seinem Leben gespielt hat.

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Julia Franck

Liebediener

Roman

Roman

Fischer e-books

Beyla liebt es, in Kellerwohnungen zu hausen. Von unten lässt sich das Geschehen auf der Straße gut überblicken. Eines Tages beobachtet sie ein rotes Auto, das mühsam aus einer Parklücke ausrangiert. Aber warum sieht der Fahrer die Frau nicht, die hinter seinem Wagen erschrocken ausweicht und unter die Räder der Straßenbahn gerät? Die Tote auf den Gleisen entpuppt sich als Charlotte, Beylas Nachbarin, doch außer Beyla scheint niemand das Auto bemerkt zu haben, und sie selbst hütet sich, irgendjemandem davon zu erzählen. Raushalten kann sie sich jedoch nicht, denn Charlottes Tante überlässt ihr deren Wohnung inklusive einiger persönlicher Dinge.

Widerstrebend zieht Beyla in den dritten Stock des Mietshauses und findet sich mitten im Leben ihrer toten Vorgängerin wieder. Aus ihrem Küchenfenster kann sie Albert beobachten, der unter ihr wohnt. In diesen rätselhaften Mann, den sie bereits auf Charlottes Beerdigung gesehen hat, verliebt sie sich Hals über Kopf. Sie genießt ihr Glück und die Ausflüge in seinem roten Flitzer. Leider weicht Albert ihrem Drängen aus, ihr doch von sich zu erzählen, erfindet stattdessen höchst erotische Geschichten. Zuerst gibt Beyla sich damit noch zufrieden, aber dann will sie mehr. Ganz allmählich erfährt sie, wer Albert wirklich ist und welche Rolle Charlotte in seinem Leben gespielt hat.

»›Liebediener‹ ist womöglich die Liebesgeschichte der neunziger Jahre.« Süddeutsche Zeitung

 

Unsere Adresse im Internet: www.fischerverlage.de

Von der Straße her hörte ich das ungeduldige Vorund Zurücksetzen eines Autos. Als ich meinen Briefkasten öffnete, fiel mir ein Stapel Werbezettel entgegen. Und nachdem ich die Zeitung nicht gefunden hatte, sie auch auf keinem der anderen Kästen oder dem Boden liegen sah, wollte ich zurück in meine Wohnung. Dort stand noch mein Fahrrad. Es war Mitte April, Ostern, und ich war auf dem Weg zur Familie meines Bruders, die im Treptower Park hinter dem Ehrendenkmal Eier verstecken wollte. Ich war spät dran. Es ärgerte mich, daß die Zeitung wieder geklaut war, und ich hatte nicht zum ersten Mal meine Nachbarin Charlotte im Verdacht, von der ich wußte, wie gerne sie mal etwas mitnahm, das ihr nicht gehörte (die Diebin). Ich knüllte die Werbezettel zusammen und warf sie in den Karton, der unter den Briefkästen stand. Um in meine Wohnung zu gelangen, mußte ich vom Hausflur noch einmal auf die Straße treten. Wie die meisten Kellerwohnungen hatte sie den Eingang an der Vorderfront des Hauses, und eine schmale Treppe führte zu ihr hinab.

Die Kastanienallee war leergefegt. Genau vor meiner Tür, im Schatten des Hauses, den die Morgensonne warf, entdeckte ich ein nagelneues, zumindest glänzendes, kleines rotes Auto, in dem ein Mann saß, der sich abmühte, aus seiner Parklücke zu kommen. Ich nehme an, es war ein Ford, in dem er saß, so gut kenne ich mich mit Autos nicht aus, er stieß immer wieder an die Stoßstangen der Wagen vor und hinter ihm. In meiner Erinnerung hat er mittelblondes bis dunkles Haar, aber ich bin mir nicht mehr sicher, ich kann mir nicht mehr sicher sein.

Unten in meiner Wohnung herrschte Dämmerlicht, und ich konnte kaum etwas erkennen, so düster war es. Im Frühling und Sommer wurde der Gestank in meiner Wohnung besonders schlimm, ich nahm ihn nur in den ersten Minuten wahr, wenn ich von draußen reinkam, wie jetzt. Ich dachte an die Zeitung und ärgerte mich wieder. Erst Tage später fiel mir ein, daß Ostern gewesen war und also keine Zeitung im Kasten hatte sein können. Ich schämte mich dann, nicht nur, weil ich Charlotte im Verdacht gehabt hatte, sondern vor allem, weil ich mich dabei ertappte, noch immer an die Zeitung zu denken. Ich legte die Tüte mit den Schokoladeneiern auf den Tisch und stieg auf den Stuhl, um die Fensterluke zu öffnen. Die Fenster saßen dicht unter der Decke, und so wurde beim Lüften nur die obere Luftschicht bewegt, während die untere unberührt klamm blieb. Die Pflastersteine strömten eine staubige, riechende Hitze aus, die sich in die Kühle meines Kellers mischte. Von innen roch es nach Schimmel, von draußen nach Urin, das war ich gewohnt und fühlte mich nicht unbedingt wohl, aber zu Hause darin.

Die Abgase des roten Autos schwelten über dem Pflaster und wurden durch die offene Luke in meine Wohnung gedrückt. Der Mann war noch immer damit beschäftigt, aus seiner Parklücke zu kommen. Trotzdem ließ ich die Luke offen, der Mann hupte zweimal kurz hintereinander, ich konnte nur die obere Hälfte seines Kopfes erkennen, er sah sich um, es schien gerade so, als warte er auf etwas. Ich reckte mich, um den Mann besser sehen zu können. Er schlug mit beiden Händen auf das Lenkrad und raufte sich die Haare. Dann starrte er in die Richtung meines Hauses, als lauere er auf jemanden, dem einer der beiden Wagen gehören würde, die ihn einklemmten. Jeder seiner Gesichtsmuskeln schien angespannt. Aber weit und breit konnte ich keinen Menschen sehen, dem die Aufregung galt. Ich stieg wieder vom Stuhl, nahm Tüte, Sonnenbrille und Schlüssel – den Rucksack mit Jonglierbällen und Picknickdecke hatte ich auf dem Rücken behalten – und trug mein Fahrrad die steinerne Treppe zur Tür hinauf. Wieder hörte ich die Autohupe, lang und anhaltend, er ließ sie nicht mehr los. Das Licht blendete von einem der Fenster des gegenüberliegenden Hauses, ich rückte die Sonnenbrille zurecht, weißes Frühlingslicht, braun gefärbt. Der Mann hatte wütend ausgesehen, das amüsierte mich. Ich schloß die Tür hinter mir ab, und als ich mich umdrehte und gerade mit den Achseln zucken wollte, um ihm zu zeigen, daß mir kein Auto gehörte und ich nicht diejenige war, auf die er wartete, er also keineswegs mich meinen könne, da hatte er sich längst abgewendet, setzte zurück – und hatte es geschafft. Mit einem Hops sprang er aus der Parklücke. Ich bin sicher, sein Auto berührte die Frau nicht einmal. Sie hatte die Straße überqueren wollen, wenige Meter vor ihm, ich meinte, er habe sie nicht gesehen, so, wie er aus seiner Lücke sprang – den Kopf vielleicht noch nach hinten gewendet, um sich zu vergewissern, daß von dort kein Auto die Straße heraufkam, oder er sah mich an –, aber als es ihn mit einem Satz nach vorne warf, sprang sie vor seinem Auto davon, zur Straßenmitte. Die Straßenbahn quietschte in der Kurve. Der dumpfe Aufschlag war kaum hörbar. Der Mann mußte viel Zeit durch das Ausparken verloren haben, er hatte es gewiß eilig. Er hielt nicht an. Einen Moment nur, meine ich, wurde sein Auto langsamer, einen gedehnten Moment, aus dem heraus er davonfuhr, hinter ihm: eine Sekunde Stille.

Vielleicht hatte er eine Kassette im Handschuhfach gesucht oder sich nach einer Zigarette gebückt, die ihm brennend aus dem Mund gefallen war, weil ihn die Mühe ums Ausparken aus dem Rhythmus gebracht hatte und er in Gedanken schon dort war, wo er hinwollte.

Die 50 stand, aufrecht, unerschütterlich, gelb, der letzte Waggon hing noch in der Kurve. Aus der Entfernung beobachtete ich, wie der Straßenbahnfahrer ausstieg, dabei fast über das emporragende Bein der Frau stolperte, wie er sich hinunterbückte zu ihr, die Frau war teilweise vom Bug seiner Straßenbahn verdeckt, wie er sah, daß die Räder seiner Straßenbahn ihre Brust unter sich gezogen und fast unter sich begraben hatten, wie er zurück in sein Fahrerkabäuschen stieg, sich in seinen Sessel setzte und die Straßenbahn wenige Meter rückwärts fahren ließ. An den Fenstern klebten neugierige Gesichter, gierig, etwas zu sehen, was ihnen das plötzliche Bremsen erklären könnte. Aber es waren auch Kinder darunter, die sicher nur zu ihren Ostereiern wollten. Im ersten Waggon hatte sich der Vorfall schon herumgesprochen, das sah ich deutlich, man verständigte sich mit den Händen, gab Zeichen durch die dreckigen Scheiben der Straßenbahn, die Menschen im Innern der Waggons waren aufgestanden. Der Fahrer stieg ein zweites Mal aus, er beugte sich über die Frau, die quer auf seinen Schienen lag. Ich ging näher heran. Verklebt ihre Locken an Arm und Hals, quer über den Bauch, und manche hingen noch an den stählernen Rädern, drei Meter entfernt, und flatterten im Wind. Die Frau war blutüberströmt. Ihr Blut stand in den Schienen. Der Straßenbahnfahrer stieg in seine Straßenbahn zurück, er öffnete das Schiebefenster zwischen seinem Kabäuschen und dem Fahrgastabteil, beugte den Oberkörper vor und bewegte seine Lippen, auf die Entfernung konnte ich nicht hören, was er sagte, es war möglich, daß ihm die Stimme kaum gehorchte, ein Fahrgast trat ihm entgegen und hielt ihm ein Telefon hin, der Fahrer, noch immer gebeugt, schob das Telefon mit der flachen Hand von sich weg. Wahrscheinlich rief der Fahrgast dann selbst die Polizei.

Erst jetzt ließ der Fahrer die Türen frei und den Menschen ihren Lauf. Ich sah, daß er selbst aus der Straßenbahn kletterte, sich dabei an der Metallstange festhielt, weil seine Beine plötzlich zu kurz waren, um ohne Schwierigkeiten den Boden zu berühren, ich sah, wie er es schaffte, aus der Straßenbahn herauszukommen, nicht mehr zu der Frau zu gehen, sondern die Straße zu überqueren, zur anderen Seite, wo er sich auf den Rinnstein setzte, seine Mütze wieder auf die Koteletten drückte, die Arme über den Knien verschränkte und von dort aus die Menschen beobachtete, die seine Straßenbahn verließen, als gebe es etwas umsonst, oder vielleicht auch, als seien sie deportiert und nun endlich angekommen. Unsicher, was sie die ganze Zeit erwartet hatte, taumelten sie aus den Öffnungen der Waggons. In ihren Gesichtern weder Angst noch Hoffnung, nur Ungewißheit.

Einer von ihnen trat eher schüchtern vor, ein Kind hing an seiner Hand, er zögerte, er sei Arzt, brachte er heraus, seine Frau stieß ihm in die Seite und sagte: »Ah geh, hilf doch!« Sie sah weder ihn noch die Verletzte an, sie schaute vom Geschehen weg, immer die Straße hinunter, als suche sie etwas, nur an dem Ellenbogen, mit dem sie nach ihrem Mann stieß, war erkennbar, daß sie mit ihm sprach. Das Kind ließ seine Hand los und nahm die der Mutter. Dem Arzt wurde von einer Frau, die neben der Straßenbahn mit ihrem Auto gehalten hatte, ein Verbandskasten gegeben, er hockte sich neben die Verletzte und öffnete ihn. Mit Gummihandschuhen tastete er über den Leib der Frau, er stammelte, er sei Kinderarzt, keineswegs Unfallarzt. Seine Frau unterbrach ihn und sagte, das tue jetzt nichts zur Sache, dabei ging ihr Blick noch immer die Straße hinunter, er solle nur was tun, keiner habe nach seinem Fach gefragt, aber der Kinderarzt begann zu erzählen, wo er seine Ausbildung gemacht habe, im Christopherus-Krankenhaus in Tutzing, das praktische Jahr, und daß er sich für die Kinderärzterei entschieden habe, weil er kein Blut sehen könne, nicht so gut jedenfalls. Ich sah ihn an, er war blaß. Das sei ihm erst zu spät aufgefallen, murmelte er, »zu spät, zu spät«, er sah sich hilfesuchend nach seiner Frau um, die hinter ihm stand und nicht mal seinen Blick erwidern wollte, dabei verlor er das Gleichgewicht, so daß er mit einem Knie auf dem Arm der Verletzten aufstieß, er gewann sein Gleichgewicht zurück, ohne daß seine Frau etwas bemerkt hatte. Seine Hände suchten auf dem Leib, immer wieder zwischen dem Blut und den vom Hals und oberhalb abgeschabten Fetzen, die Leute wandten sich ab, er meinte, er suche einen Puls, und kurz darauf sagte er, der sei »wahnsinnig schnell«. Danach blies er aus Verlegenheit seine Wangen auf.

Mir roch es nach Blut und einem Parfum, Thé vert von Bulgari, das mich an Charlotte erinnerte. Seinen Kopf hielt der Kinderarzt merkwürdig steif, als habe er Angst, der Verletzten zu nahe zu kommen, er sagte, eine Mund-zu-Nase-Beatmung komme nicht in Frage, wegen der Ansteckungsgefahr, Mund-zu-Mund erst recht nicht. Das Blut wollte nur heraus, nicht mehr hinein, nicht mehr zurück, so sehr der Kinderarzt tastete, seine Handschuhe waren rot, und ihre Locken, früher blond, klebten an seinen Handschuhen und an den Hosen. Die Arme waren mit Blut beschmiert, er wollte sie in den Leib stecken oder mit ihnen die Verletzte umarmen, er trug ein kurzärmliges Hemd, und auch dieses Hemd, vorher gelb, war blutgefärbt. Seine Hände versuchten umsonst, die Wunden zuzuhalten. Ich wollte dem Kinderarzt sagen, daß er keine Angst zu haben brauche, die Frau hatte keine ansteckende Krankheit, soweit ich wußte nicht, ich kenne die Frau, sie ist meine Nachbarin, wollte ich sagen und konnte es nicht, noch war ich mir nicht sicher, das Gesicht war kaum erkenntlich, aber ihre Schuhe, ich musterte ihre Schuhe, die kannte ich nicht an ihr, ich redete mir ein, es sei eine fremde Frau, ich kannte Charlotte, solche Schuhe mit Absätzen hatte sie nicht. Die Sirenen wurden lauter. Es kamen drei Feuerwehrautos, Polizei und ein Krankenwagen, viel zu viele für die eine Frau. Die meisten Menschen suchten das Weite, obwohl die Kinder jetzt bleiben und die Feuerwehr beobachten wollten, wurden sie fortgezogen, in Ostergestrüppe und zu Lamm und Limonade, vermutete ich. Hunger hatte ich keinen, aber ich mußte ständig an die Klöße denken, die meine Schwägerin machen und in den Treptower Park mitbringen wollte, ich würde zu spät kommen, ihre Kinder waren gefräßig. Der Kinderarzt stand auf, er stützte sich auf seine Frau, die gerade stand, wie ein Strommast, aber (jetzt vorwurfsvoll) von ihm wegsah.

Die Frau verstarb noch am Unfallort, auch mit Mund-zu-Mund-Beatmung hätte der Kinderarzt ihr nicht helfen können. Der Unfallarzt, der mit dem Krankenwagen eingetroffen war, wußte gleich Bescheid, er beugte sich kurz zu ihr hinunter, untersuchte etwas, stand wieder auf und gab noch dem Kinderarzt die Hand, der gerade machen wollte, daß er davonkam, mit seiner Frau und dem Kind, das man vergessen hatte wegzuschicken.

Ich hörte, es habe keine Zeugen gegeben, niemanden außer dem Straßenbahnfahrer, der noch immer auf seinem Rinnstein saß und dort von zwei Beamten verhört wurde, der sich beileibe nicht erinnern konnte, wie die Frau vor seine Räder geraten war, er knetete seine blaugraue Mütze in den Händen, wie vom Himmel gefallen, so sei sie ihm erschienen, das gab er noch am Unfallort zu Protokoll. Man konnte es am nächsten Tag in der Zeitung lesen. Keiner der Fahrgäste hatte etwas sehen können. Die Frage, ob jemand weitere Personen im Umfeld gesehen habe, verneinten sie zuerst, bis einer mit dem Finger auf mich zeigte. Ich wurde befragt, wo ich zum Unfallzeitpunkt gewesen sei und was ich gesehen hätte. Ich behauptete, ich sei aus meiner Haustür getreten, da war es bereits passiert, in dem Augenblick, wohl genau in dem Moment, als ich mich umdrehte, nachdem ich die Tür abgeschlossen hatte.

Warum ich das gesagt hatte? Aus Faulheit wohl, ich log häufig, daran hatte ich mich gewöhnt, meistens, wenn es unwichtig war und ich weiteren lästigen Fragen aus dem Weg gehen wollte. Wahrscheinlich hatte ich Durst. Nach der Befragung ging ich an der Straßenbahn vorbei, ließ die wenigen verbliebenen Menschen hinter mir und schob mein Fahrrad hinüber auf die Sonnenseite der Straße. Die Kastanienallee war breit, wochentags laut und viel befahren, feiertags wirkte die Straße verlassen. Die Kastanien, die früher die Straße gesäumt hatten, waren vielleicht vor fünfzig Jahren während der Berliner Blockade gefällt worden. Man wird Brennholz gebraucht haben. Eine hatten sie übriggelassen, die hatte vorne an der Bäckerei gestanden, sich im Laufe der Jahre mehr und mehr über die Fahrbahn gekrümmt, bis sie im letzten Herbst gefällt worden war. Der Stumpf steckte noch im Boden, wegen ihm mußte ich an die Kastanien denken. Mein Durst wurde stärker, und ich dachte an meinen ältesten Bruder, zu dem ich wollte, der mit seiner Familie in Treptow wohnte. Er hatte mich eingeladen, seine Frau wollte Klöße machen, sie war Thüringerin, sie machte zu jeder Gelegenheit Klöße, mein Bruder liebte ihre Klöße, ich hatte keinen Hunger. Ich hatte noch keine eigene Familie, keinen Freund, kein Kind. Mein Bruder glaubte, mit mir stimme etwas nicht. Dabei stimmte mit mir alles, aber je mehr ich versuchte, ihn davon zu überzeugen, desto verdächtiger machte ich mich. Wir kamen aus einer großen Familie, und meinem Bruder gefiel das. Besonders an Feiertagen. Er versteckte sich und sein Unbehagen über mein Alleinsein hinter seinen Kindern und sagte, seine Kinder wünschten sich das, das Ganze und Gemeinsame.

Vor dem Zeitungsladen auf der Sonnenseite stand die Zeitungsfrau, die klein war und kein Kopftuch trug. Ihre Stimme war ein wenig heiser, sie rauchte viel, während sie hinter ihrem Ladentisch saß oder in der Tür lehnte und mit den Kunden schwatzte, sie trank auch, manchmal heimlich, und nur dann sprach sie arabisch, dann aber ausschließlich, und dann tat sie auch noch so, als verstehe sie uns Kunden nicht. Am Ostersonntag stand sie vor ihrem Laden, hatte die Arme verschränkt und streckte die Hand nach mir aus, als ich, bloß nickend, mein Fahrrad an ihrer Hand vorbeischieben wollte. Was passiert sei, befragte sie mich, und ob ich es gesehen hätte. Ich sagte ihr, jemand sei überfahren worden, und sie meinte sogleich, ich hätte es mit eigenen Augen gesehen. Aber ich schüttelte den Kopf, nein, darauf bestand ich, ich hatte nichts gesehen, gar nichts. Daraus machte sie sich wenig, aus meinem Kopfschütteln, nichts eignete sich für ihre Geschichten besser, nichts, als wenn sie die einzige Zeugin des Unfalls kannte. Die Zeitungsfrau wollte mich in den folgenden Tagen noch öfter befragen. Ich blieb bei meiner Geschichte. Später erfuhr ich, daß sie anderen erzählte, am Ostersonntag hätte sich eine Frau vor die Straßenbahn geworfen, und ich hätte es gesehen. Aber an dem Vormittag ließ sie mich gehen und unterhielt sich weiter mit einer alten Frau.

Mein Hals fühlte sich trocken an. Ich stieg auf mein Fahrrad und ließ getrost die Tüte gegen das Vorderrad schlagen, ich glaubte zu hören, wie die Schokoladeneier zerbrachen, knack, schnack, so ging es, ich paßte nur auf, daß die Tüte nicht in die Speichen geriet und mich zum Umfallen brachte. Ich fuhr schnell, die Sonne blendete, trotz Sonnenbrille, ich fuhr am Weinberg vorbei, unten dann im Slalom durch die Touristen, die in Gruppen und einzeln vom S-Bahnhof hinüber zu den Hackeschen Höfen liefen. Ich bremste, bog links in die Dircksenstraße ein – der Kinderarzt hatte so einen albernen Kragen an dem gelben Hemd gehabt, rosa und gelb gestreift, wie bei Babysachen, vielleicht paßte er seine Kleidung gern den Patienten an, oder aber seine Frau, die seinen Anblick nicht ertragen konnte, kaufte ihm die Hemden, weil sie wußte, was gut für ihn und was richtig war, das hatte man vorhin nicht überhören können. Auf dem Gehweg fuhr ich, weil ich Kopfsteinpflaster nicht mochte. Von Kopfsteinpflaster wird einem das Gehirn zu sehr geschüttelt, es stößt innen an die Rinde, ein sehr unangenehmes Gefühl. Mit der Frau hätte er es schwer gehabt, sie hatte ein Kleid an. Ein Kinderarzt im Kleid. Aber man erkannte es kaum, vor lauter Blut. Sie hatte ein Kleid aus Blut an. Und vorher war es hellblau gewesen, aber das hatte man nicht mehr sehen können.

Beim Alcaparra hielt ich an, ich sagte mir, erst trinke ich was, und dann kann ich immer noch die S-Bahn nach Treptow nehmen. Ich setzte mich draußen an den kleinen runden Tisch, den Rucksack behielt ich auf, ich könnte ja gefüllten und gegrillten Tintenfisch essen, wenn ich Hunger bekommen würde, und große Kapernbeeren, die noch Stiele haben und die es für vier Mark auf einem Extrateller gibt. Als die Kellnerin kam, bestellte ich einen Mangosaft und eine Karaffe Leitungswasser. Ich beobachtete, wie Autos ein- und ausgeparkt wurden. Die Menschen, die zu den Autos gehörten, waren gut gekleidet. Ostersonntag. Sie alle hatten keine Probleme mit dem Ausparken, das ging einfach, ruckzuck, da war ich mir sicher. Später holte ich mir von drinnen eine Zeitung. Ich blätterte im ›El País‹, versuchte das Spanisch zu verstehen und dachte an die tote Frau, fragte mich, wer sie gewesen war, und vor allem hatte ich immer wieder den Mann vor Augen, den Mann in dem Ford, den es ohne mich nicht geben würde, ohne meine Beobachtung, zumindest nicht im Zusammenhang mit ihrem Tod. Den Ausdruck seines Gesichts hatte ich mir besonders gut eingeprägt, und je öfter ich an ihn dachte, desto bekannter erschien er mir, obgleich der Ursprung dieses Ausdrucks, das Gesicht an sich, an Schärfe verlor. Die Frau hieß Charlotte, ein Auge war nicht richtig zugeklappt, als sie da lag, aber es sah nirgendwohin, man konnte die Iris nicht sehen, Charlotte wohnte in meinem Haus, im Seitenflügel, links, dritter Stock, da wohnte sie schon, als ich vor drei Jahren in die Kellerwohnung zog – ich muß mich verbessern: sie hatte dort gewohnt –, fast waren wir Freundinnen geworden. Sie erinnerte mich an ein Mädchen, mit dem ich als Kind gespielt hatte, in einem anderen Hof. Ich bin in Kellerwohnungen aufgewachsen. Wir sind oft umgezogen, weil mein Vater die Miete nur zögerlich zahlte und es Streit mit den Vermietern gab. Nach einer Kellerwohnung kam die nächste, mal war es Moabit, mal Neukölln, mal Wedding oder Spandau. Ein Zuhause gab es da nicht, nur eine diffuse Sehnsucht nach etwas, von dem ich nicht wußte, was es war, aber meinte, es hätte mit Bleiben, mit einem Dach über dem Kopf und mit Vertrautheit zu tun. Das Bleibende, woran ich mich gut erinnere, das war das Gluckern in den Rohren, da wurde allerhand transportiert, Wärme mit Öl und Wasser, Trinkwasser, Waschmaschinenwasser, rauf und runter, Fäkalien und Abwaschwasser, daß es nur so rauschte, und in der Nase immer der schimmlige Geruch, den die Keller gemeinsam hatten. Wir waren vier Kinder: meine Brüder und ich. Ich war froh, wenn es in einem Haus, in das wir zogen, auch Mädchen gab. In aller Regel wohnten die Familien der anderen Kinder in besseren Wohnungen, weil ein Haus meist nur ein oder zwei Kellerwohnungen hatte. Ich war ein drekkiges Kind. Gerne ging ich mit den anderen Kindern hinauf in ihre guten Wohnungen, die immer sauber und hell waren, in denen die Muttis gute Kleider trugen und die Vatis gute Arbeit hatten, oder andersherum, und wo die Kinder allein waren, Einzelkinder, die sich tagsüber langweilten und freuten, wenn man ihnen Gesellschaft leistete. Auf die Frage, wie lange ich Zeit zum Spielen hätte, antwortete ich gern: »Bis nach dem Kaffee«, natürlich ging es mir nicht um die Zeit, ich wollte sicher sein, Brause und ein Stück Kuchen zu bekommen, bevor ich zurück in unseren Keller mußte, ohne dort erwartet zu werden. Es war meinem Vater gleichgültig, wann wir nach Hause kamen, wenn einer mal fehlte, merkte er es selten. Bei uns gab es keine Mutti und auch nichts Ähnliches. Nur Kinder. In der Lahnstraße, in dem Haus, in dem auch das Mädchen wohnte, an das mich Charlotte erinnerte, schliefen wir zu viert im hinteren Raum, meine drei Brüder und ich, weil mein Vater den vorderen Raum für sich allein beanspruchte: Dort sang er und trank, und manchmal leistete ihm eine Frau Gesellschaft. Ich haßte meine Brüder. Ich wünschte mir eine Schwester und dachte an das Mädchen, an das mich Charlotte später erinnern sollte, das drei Etagen über mir schlief, in einem großen Zimmer für sich allein, mit Pferdepostern an den Wänden und einer Barbiepuppe im Bett. Ich wünschte mir, bei ihr schlafen zu können, zwischen uns Barbie, die ich klauen und verstecken würde, unter der Decke mit den rosa Spitzen, die lästigen Hände meiner Brüder loszuwerden, mit denen sie sich gerne lustig machten. Das Mädchen würde sagen, ich stinke, und sich die Nase zuhalten. Das tat sie oft, wenn sie mich sah, aber sie spielte trotzdem mit mir.

Vor drei Jahren zog ich in die Kastanienallee, in das Haus, in dem Charlotte wohnte. Ich brauchte diese Freundin von damals nicht mehr, ich hatte andere. Ich beachtete Charlotte wenig. Manchmal hielt sie mich fest, um mir etwas von sich zu erzählen. Als Charlotte mir vor etwa vier Monaten eine Tüte mit meinem Einkauf aus dem Hausflur geklaut hatte, da fühlte ich mich geehrt, denn es gab mir das Gefühl, man sehe mir meine frühere Armut nicht mehr an, und ein bißchen auch, ich sei nicht mehr das Mädchen von damals, weil Charlotte nicht das Mädchen von damals war. Und Charlotte starb, bevor ich sie als Freundin hätte vermissen können.

Das Eis im Mangosaft störte mich, es war mir unangenehm, daß die Eiswürfel beim Trinken an Lippen und Zähne stießen, sie knackten und platzten, das Geräusch stellte mir die Haare auf, ich nahm die Eiswürfel mit den Fingern aus dem Glas und ließ sie möglichst unbemerkt auf den Boden unter mich fallen. Danach leckte ich die Finger ab. Der Mann am Nebentisch sagte, ich hätte da was verloren, und er zeigte unter meinen Stuhl und lachte und fand sich komisch. Ich goß den Rest Saft mit Wasser auf und antwortete dem Mann, er könne die Eiswürfel haben, wenn er wolle, ich fand es ungehörig, daß er lachte, seine Zahnlücken zeigte, und dadurch, daß ich es ungehörig fand, war ich mir schlagartig sicher, daß es Charlotte war, die ich soeben hatte sterben sehen.

Im Alcaparra war das Münztelefon kaputt, ich fragte die Bedienung, ob ich den Geschäftsapparat benutzen dürfe. Ich rief meinen Bruder an, der mit seiner Frau und den Kindern auf mich wartete. Die Kinder hatten schon ihre Schuhe an. Ich stützte meinen Arm auf den Zapfhahn und steckte die Nase in meine Armbeuge, ich prüfte, ob sie nach Thé vert von Bulgari und nach Blut roch, ich war mir nicht sicher. Mein Bruder befahl, ich solle mich beeilen, die anderen Brüder seien schon längst da. Ich gehorche ungern. Ich roch das Blut, nicht in der Armbeuge, wo, konnte ich nicht sagen, aber der Geruch war da. Zu meinem Bruder sagte ich, ich hätte es mir anders überlegt, ich wolle nicht mitkommen. Er war enttäuscht, behauptete, er habe sich schon so was gedacht, meine Launen seien zuverlässig. Bei mir dachte ich, daß er sich unwohl fühlt, wenn ich ihn mit seinem Mitleid für mich allein lasse. Ich legte auf, ging zu meinem Tisch zurück, nahm den letzten Schluck aus meinem Glas, legte Geld auf den Tisch und ging. Nach wenigen Metern auf dem Fahrrad fiel mir ein, daß ich die Tüte mit den Schokoladeneiern liegengelassen hatte, aber ich kehrte nicht noch einmal um.

In der Kastanienallee konnte ich weit und breit keine Straßenbahn sehen, Charlottes Leiche war beseitigt, nur ein Polizeiwagen stand da, aber vielleicht gehörte er zu einer anderen Angelegenheit. Ich stieg von meinem Fahrrad und schob es über die Straße. Man hatte Sand gestreut, rötlichen feinen Sand, der sich zwischen die Schienen gelegt hatte und teilweise schon an die rechte Straßenseite geweht war. Es war albern, aber mir fiel ein, daß ich die Schuhe doch kannte, es waren meine eigenen, ich hatte sie Charlotte vorgestern geliehen, sie wollte damit zu ihrer alten Tante. Sonst trug sie keine hohen Schuhe. Vielleicht war sie gestolpert. Über meine Absätze. Ich ging wie zufällig über die Stelle, ich wollte so tun, als existierte sie nicht, trotz des rosaroten Sandes. Der Sand knirschte ganz fein unter meinen Ledersohlen. Ich sah, daß der Sand an einigen Stellen noch feucht war, vielleicht bildete ich es mir ein, ich weiß gar nicht, ob man es diesem Sand ansieht, wenn er feucht wird. Als ich bei meiner Kellertür anlangte, merkte ich, daß mir der Geruch von Charlottes Parfum und ihrem Blut noch in der Nase hing. Er hatte sich an den Innenwänden festgesaugt. Es kam mir hoch, ich beugte mich vor und wollte mich übergeben, konnte aber nicht, es wäre eh nur Mangosaft gewesen, mehr war da nicht, dann schloß ich die Tür auf.

Ich habe einen Menschen getötet. Ich habe diesen Menschen nicht gekannt. Und ich stellte mir außerdem vor, daß mich plötzlich, gegen meinen Willen, vielleicht nur durch einen Zufall – den, daß ich die Frau umgebracht hatte –, etwas mit dem Leben der Frau, der Toten, verband. Hatte ich sie gesehen? Ihre Haare, gefielen sie mir? Ihre Beine, sah ich sie noch? Und sah ich sie neben mir oder erst hinter mir und wie sie vor mir davonsprang? Und wenn ich sie nicht sah, wo war sie dann, und mein Denken, was hatte ich dann noch davon, und von ihr, und vom Denken und vom Sehen, und wie hatte sie sich bewegt? Und wenn ich sie nicht mehr sah, sie gesehen hatte, aber nicht mehr erinnern konnte, mir nicht mehr einfallen wollte, wie sie ausgesehen hatte und daß ihre Haare blond und das Kleid blau gewesen waren? Wenn ich sie nicht mehr sah, wo war dann ich? Und er? Wen konnte ich fragen? Würde er liegen wie ich, und sehen, wie ich, und seine Augen die Welt absuchen, die ihm umgekippt war? Vielleicht wußte er es nicht. Einen Augenblick ungedacht, und ich erschrak, erst über mich, dann für ihn, so muß es gewesen sein. Sein Auto war rot, ich hatte keins, sein Auto hatte sie erschreckt, seins, nicht meins.

Und es war gewiß keine Absicht, daß ich die Frau getötet hatte, ganz sicher nicht, denn ich kannte sie nicht, so mußte ich annehmen, ich konnte sie nicht hassen, konnte überhaupt nichts für und gegen sie, nichts, denn alles, was mich mit ihr verband, war ihr Tod. Mag sein, sie war mir aufgefallen, erst, dann zugefallen, wie es sich mit Zufällen so verhält, vom Himmel gefallen, auch mir. So verhielt es sich doch? Einfach, ganz einfach. Das hatte ich gedacht. Eine unaufmerksame Sekunde war das, nichts weiter.

Bis zu jenem Sonntag hatte ich nicht über das Verhältnis zwischen mir und dem Tod nachgedacht, auch nicht denken wollen, nein, ich wollte lieber nicht so oft an den Tod denken (wer denkt schon gern daran?), und also gab es kein inniges Verhältnis zwischen ihm und mir, ganz und gar keins. Mir war kein Mensch so nah, daß ich seinen Tod vor allen anderen Toden in der Welt fürchtete. Auch war ich für mich selbst keine Todessehnsüchtlerin, so wichtig schien mir mein Hier und Jetzt und Sein nun auch wieder nicht. Sicher hatte ich schon hin und wieder an ihn gedacht, wie einige wohl, und bald festgestellt, daß ich zu einfach dachte, um ihm auf die Schliche zu kommen, ich dachte (natürlich) in Zeit- und Raumkoordinaten, die mich nach einem Danach und einem Dahinter fragen ließen (Blödsinn, so was). Was war hinter dem All? Was geschah mit meinen Gedanken, dem hier und dem dort, die ich so mühsam gesammelt hatte, wohin sprengten sie, nachdem ich mit dem Atmen aufgehört hatte? Zerfielen sie wie organische Stoffe in Moleküle? Wurden wiederverwertet, recycelt? So etwa hatte ich gedacht, nicht aber in bezug auf die Frau. Und auch nicht in bezug auf einen Liebsten. Die persönliche Bedeutung eines Todes hatte in mir bislang keinerlei Inhalt gehabt, und daher war der Tod nichts als eine Worthülse und also kaum existent gewesen. Insofern war ich unberührt. Mit dem Glauben tat ich mich schwer, was es mir bald unsinnig erscheinen ließ, weiter in der Sackgasse meiner Denkmöglichkeiten zu verharren.

Aber ich träumte nachts von Menschen, die ich jagte, und die starben auf der Jagd. Ich jagte sie mit Geschrei, das tat ihnen besonders weh. Die Gejagten wurden zu Jägern, und lag einmal einer von uns auf dem Asphalt, wurde ihm das Geräusch, die Innereien, entnommen: Hunde kamen und weideten. Doch bevor es verspeist war, wachte ich auf. Immer wieder traf ich einen Menschen, den ich noch nicht kannte, im Traum aber begehrte. Von Nacht zu Nacht wurde mir der Mensch in seinem Wesen vertrauter. Ich mochte seine krumme Nase und auch die Ohren, die sich vom Kopf wegbogen. Ich nahm an, er hatte mittelblondes Haar, aber ich konnte mich täuschen. Nach drei Nächten erst sah ich, daß der Mann aus dem roten Ford Ähnlichkeit mit meinem neuen Gefährten hatte, das brachte mich auf die Idee, ich könnte ihn lieben.

Neben den Briefkästen hing eine Pappkarte mit schwarzem Rand, ein einzelner Name stand unter der Anzeige, ich glaube, mehr Verwandte als die Tante gab es nicht. Die Beerdigung sollte am Freitag sein. Ich beachtete die Anzeige nicht weiter. Die Beerdigung ging mich nichts an, schließlich hatte ich Charlotte kaum gekannt. Selbst der Mann aus dem roten Auto mußte in der Zeitung über die Todesanzeige hinweggelesen haben, ihm sagte der Name nichts, vielleicht das Datum, aber bestimmt nicht der Name. Am Mittwochnachmittag klingelte es an meiner Tür.

»Sie sind doch Beyla? Ich hoffe, ich störe nicht«, fragte die Dame und stieg die Stufen zu mir herab. »Wolf, ich bin die Tante von … «, sie reichte mir die Hand, ich nickte: »Ja, ich weiß, wir haben uns mal vor ein paar Monaten gesehen«, das war im Winter, sie war in Charlottes Begleitung gewesen. Ich zeigte auf einen Stuhl.

»Was soll ich denn jetzt mit ihrer Wohnung machen? Und mit ihren ganzen Sachen? Kann ich was damit anfangen?« Sie setzte sich. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Mit beiden Händen hielt sie die Handtasche auf ihrem Schoß fest. An ihren Fingern steckten mehrere goldene Ringe, vielleicht waren es alles Erbstücke, und Charlotte hätte sie eines Tages tragen müssen. »Charlottes Möbel, die ganzen kleinen Dinge, die sie so gesammelt hat, sehen Sie, ich habe dafür keine Verwendung. Das ist was für junge Menschen: Blumenvasen, die in Tüten an der Wand hängen, und Rosen, die I love you sagen, wenn man sie anfaßt – das gefällt jungen Menschen, solchen wie Ihnen.«

Ich wollte ihr nicht widersprechen, zuckte nur mit den Schultern und zeigte auf die Wasserflasche (vielleicht war sie durstig?), aber die Dame schüttelte den Kopf. Sie wirkte zart, ihre großen vorstehenden Augen und der lange Hals, auf dem ihr kleiner Kopf saß, ließen mich an ein Insekt denken. Die kurzen kräftigen Arme standen in einem merkwürdigen Mißverhältnis zu dem schmalen Körper. Charlottes Tante schien das Knacken des Stuhls, auf dem sie saß, nicht zu hören. Die Brille beschlug, sie mußte sie abnehmen. Ich bemerkte, daß sie weinte. Die schmalen Lippen quollen auswärts: Sie habe gehofft, das Mädel werde sich um sie kümmern, wo sie jetzt langsam gebrechlich werde. Und nun das. Ihr Busen, lang und birnenförmig, hing auf den kleinen Kugelbauch. »Ein Unglück, das ganze Geld, und daß alle so früh sterben müssen. Davon hat ja keiner was.«

Ich legte der Tante meine Hand auf die Schulter und reichte ihr ein Taschentuch. Sie umfaßte mit beiden Händen meine Hand. Ich spürte einen kalten Gegenstand zwischen meinem und ihrem Handteller, und als sie ihre Hände löste, entdeckte ich in meiner Hand einen Schlüssel. Ich sah sie fragend an.

»Schon gut«, sagte sie. Ihre Tränen versiegten. Sie stand auf und sah sich nach einem Mülleimer um. Ich nahm ihr das Taschentuch ab.

»Sehen Sie«, sagte sie zu mir, »ich bin alt, was soll ich mit Charlottes Sachen? Wenn ich mir Ihre Wohnung hier ansehe (sie hatte sie nicht angesehen), könnten Sie doch gut etwas Neues brauchen. Wie wäre es, wenn Sie nach oben ziehen?« Sie fragte es zögernd, als falle es ihr nicht leicht, um etwas zu bitten, oder als habe sie nie um etwas bitten müssen und wisse nicht, wie das geht.

Ich wollte ihr antworten, der Schlüssel in meiner Hand war unangenehm kalt, er paßte nicht zu mir. Ich streckte ihr den Schlüssel entgegen und wollte sagen: Nein, das geht nicht, niemals würde ich Charlottes Wohnung betreten, aber sie nahm mir den Schlüssel nicht ab, sondern hielt sich den Zeigefinger dicht vor die Lippen und sagte: »Beyla, sagen Sie nichts, noch nicht, überlegen Sie es sich gut. Ich habe ein ganzes Haus voller Möbel und Krempel. Behalten Sie einfach Charlottes Sachen, Sie können damit machen, was Sie wollen«, die Tante stieg die erste Stufe nach oben zur Tür, drehte sich nach mir um und vergewisserte sich: »Wir sehen uns am Freitag?«

Ich ging hinter Charlottes Tante die Treppe hinauf und blieb in der offenen Tür stehen, ich sah, wie sie die Kastanienallee hinunterlief und immer kleiner wurde. Irgendwo mußte der Fahrer des roten Autos stecken, möglich, er trank ein Bier, vorne im Schwarz Sauer oder in einem anderen Stadtbezirk, oder er schlug eine Zeitung auf, und obwohl ich an nichts anderes denken konnte als an Charlotte und diesen Mann – vielleicht genoß er den Tag (oder weinte in sein Kissen, mehr in Sorge um sich als um den getöteten Menschen, und überlegte, wem er sich anvertrauen könnte), und obwohl ich Nacht für Nacht von dem Mann und Charlotte geträumt hatte, in der letzten Nacht mehr von ihm als von ihr, war ich mir sicher, daß ich nie in Charlottes Wohnung gehen würde. Den Schlüssel legte ich in die steinerne Fensternische und rührte ihn die nächsten Tage nicht mehr an. Ich hatte ein schlechtes Gefühl. Es kam mir vor, als hätte ich Charlotte nicht gekannt. Ich schämte mich, daß ich den Schlüssel überhaupt genommen hatte. Ihr Schlüssel sollte aus meiner Wohnung verschwinden, er gehörte mir nicht, ich wollte nichts von ihm, er sollte nur schnell weg. Wie wäre es, wenn ich zur Polizei ginge und sagte, was ich gesehen habe? Aber das hätte Charlotte nicht lebendig gemacht, und finden würden sie den Autofahrer kaum, das mußten sie nicht, sollten sie nicht, sie nicht. Jetzt war ich sicher, daß der Fahrer den Unfall bemerkt haben mußte. In mir klang die zarte, feste Stimme von Charlottes Tante wider: »Wir sehen uns Freitag?«

 

Ich zog mein einziges schwarzes Kleid an. Es war etwas kurz für eine Beerdigung. Passende Schuhe hatte ich nicht mehr, die lagen jetzt wahrscheinlich im Abfall der Pathologie, ich mußte rote anziehen, für Strumpfhosen war es zu warm. Charlottes Schlüssel hatte seit Montag unberührt in der Fensternische gelegen, ich nahm ihn und steckte ihn ein. Auf keinen Fall wollte ich verschwitzt bei der Beerdigung ankommen, deshalb ließ ich das Fahrrad stehen. Ich stieg am Hackeschen Markt in die S-Bahn und nahm vom Zoo die U-Bahn zum Bundesplatz.

Charlotte wurde auf dem Friedhof begraben, auf dem Marlene Dietrich lag. Das hätte Charlotte gefreut, entsprechend der Mode hatte sie in letzter Zeit die zwanziger Jahre gemocht und sich gern wie Marlene Dietrich gekleidet. Anzug und Zigarettenspitze, die langen Haare unter einem Hut versteckt. Charlotte hatte mir mal erzählt, sie sei als eine der ersten Wessis in die Kastanienallee gezogen. In Lederhosen, mit Rucksack, Schaumgummimatratze und etwas Gras im Rucksack auf Abenteuersuche. Ihre Tante, bei der sie bis dahin gelebt hatte, überwies ihr monatlich Geld. Damals habe sie noch in Zehlendorf zur Schule gemußt, quälte sich mit dem Abitur – weniger mit den Anforderungen als mit dem Zeitaufwand. Sie und ihre Freunde besetzten das Nebenhaus und auch zwei Wohnungen unseres Hauses. Charlotte hatte oft von ihrem halben Jahr als Hausbesetzerin erzählt, mag sein, das stärkte sie und tröstete sie darüber hinweg, heimlich mehrfache Hausbesitzerin zu sein, zumindest vermutete ich, daß sie es war und daß sie es heimlich war.

Ich habe mich auf einem Friedhof nie erwartet gefühlt. Es nieselte. Ich zog den Reißverschluß vom Anorak zu und krempelte die Ärmel runter. Der Regen machte auch meine Schuhe naß. Beim Gehen rutschte der Saum des Kleides immer höher.

Als ich den Friedhof erreichte, erschrak ich über die vielen jungen Menschen. Offenbar war ich davon ausgegangen, daß Charlotte außer mir und ihrer Tante niemanden gekannt hatte. Erst jetzt fiel mir ein, wie häufig Charlotte in Begleitung nach Hause gekommen war. Sie jobbte bis morgens drei oder vier in einer Kneipe. Ich hörte sie dann vor meinem Fenster vorbeigehen und sah ihre Schuhe, und manchmal ein zweites oder drittes Paar Schuhe, und hörte, wie sie herumalberte oder sich stritt, selten nur verabschiedete sie ihre Begleitung vor der Haustür. Sie schwieg nie zu zweit, ich vermutete, so nah war sie keinem gekommen. Wenn ich Charlotte tagsüber sah, war sie immer allein.