Welten auseinander - Julia Franck - E-Book

Welten auseinander E-Book

Julia Franck

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Beschreibung

Julia wird in Ostberlin geboren. Sie ist acht, als ihre Mutter sie und die Schwestern in den Westen, erst ins Notaufnahmelager Marienfelde und dann nach Schleswig-Holstein mitnimmt. In dem chaotischen Bauernhaus kann die Dreizehnjährige nicht länger bleiben und zieht aus, nach Westberlin. Neben der Sozialhilfe verdient die Schülerin Geld mit Putzen, sie lernt ihren Vater kennen und verliert ihn unmittelbar, macht ihr Abitur und begegnet Stephan, ihrer großen Liebe. Wenn sie sich erinnert, ist es Gegenwart. »Welten auseinander« ist Julia Francks bewegende Erzählung einer ungewöhnlichen Jugend voller Brüche und Unsicherheiten; ein schmerzhaft-schönes Buch der Selbstbehauptung, das von Scham und Trauer so genau erzählt wie von Tod und Liebe. Schreiben und Literatur erweisen sich als Instrumente des Bleibens, vorerst.

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Seitenzahl: 431

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Julia Franck

Welten auseinander

 

 

Über dieses Buch

 

 

Julia wird in Ostberlin geboren. Sie ist acht, als ihre Mutter sie und die Schwestern in den Westen, erst ins Notaufnahmelager Marienfelde und dann nach Schleswig-Holstein mitnimmt. In dem chaotischen Bauernhaus kann die Dreizehnjährige nicht länger bleiben und zieht aus, nach Westberlin. Neben der Sozialhilfe verdient die Schülerin Geld mit Putzen, sie lernt ihren Vater kennen und verliert ihn unmittelbar, macht ihr Abitur und begegnet Stephan, ihrer großen Liebe. Wenn sie sich erinnert, ist es Gegenwart.

 

»Welten auseinander« ist die bewegende Erzählung einer ungewöhnlichen Jugend voller Brüche und Unsicherheiten; ein schmerzhaft-schönes Buch der Selbstbehauptung, das von Scham und Trauer so genau erzählt wie von Tod und Liebe. Schreiben und Literatur erweisen sich als Instrumente des Bleibens, vorerst.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Julia Franck wurde 1970 in Berlin geboren. Sie studierte Altamerikanistik, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin. 1997 erschien ihr Debüt ›Der neue Koch‹, danach ›Liebediener‹ (1999), ›Bauchlandung. Geschichten zum Anfassen‹ (2000) und ›Lagerfeuer‹ (2003). Sie verbrachte das Jahr 2005 in der Villa Massimo in Rom. Für ihren Roman ›Die Mittagsfrau‹ erhielt Julia Franck den Deutschen Buchpreis 2007. Der Roman wurde in 35 Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien der Roman ›Rücken an Rücken‹ (2011). Julia Francks Roman ›Lagerfeuer‹ wurde 2012/13 für das Kino unter der Regie von Christian Schwochow unter dem Titel ›Westen‹ verfilmt.

Inhalt

Auch in meinem [...]

In den letzten [...]

Geboren im Osten [...]

Als Verfolgte des [...]

Wer arm war [...]

Der Krieg war [...]

Wie sämtliche ihrer [...]

Bedenkt man die [...]

Wohin es uns [...]

Die Hauptfiguren ihrer [...]

In der Waldorfschule [...]

Dass Stephan und [...]

Unsere Mutter hatte [...]

Von diesen Jahren [...]

Zu dieser Zeit [...]

Alles, was ich [...]

Über die Kinderbetreuung [...]

Steffi und Martin [...]

Ob ich auch [...]

Seit einem Jahr [...]

Im Kino sehen [...]

Die Wildnis einer [...]

Zum ersten Mal [...]

In der Zeit [...]

Auch in meinem wirklichen Leben habe ich eine Mutter, vier Schwestern und Freunde, die ich liebe. Auch in diesem wirklichen Leben habe ich nächste Menschen viel zu früh an den Tod verloren und lebe dennoch bis ans Ende mit ihnen. Ich kannte sie, kenne sie und werde sie in Zukunft etwas anders kennen. Weder sie noch ich selbst bleiben dieselben. Unsere Erfahrungen ändern uns und auch unser Verständnis.

Oft liegen unsere Geschichten und unsere Sicht auf die Wirklichkeit Welten auseinander. Wir erinnern uns an Ereignisse und unsere nächsten Menschen vollkommen unterschiedlich – so unterschiedlich, wie wir für uns selbst und voneinander träumen. Denken wir an unsere Großmutter, so kannten wir jeder eine andere, selbst wenn wir Söhne desselben Vaters wären und dessen Mutter dieselbe reale Person gewesen wäre. Daher wird sich keine reale Person in einer der Figuren dieses Buches wiedererkennen. Unmöglich. Wir betrachten jeder die Welt aus unserer Perspektive, wir kennen unsere Nächsten auf die uns ganz eigene Art, wir wissen Dinge übereinander, die der andere häufig selbst von sich nicht weiß. Wer weiß schon, wie der andere einen sieht, hört und liest. Wir erkennen Zusammenhänge und verstehen einander, wie der andere es nicht vermag, wir irren dabei und ändern uns. Wir erzählen, wahren zugleich Geheimnisse und hören einander. Niemand gleicht sich mit einem anderen und gleicht seine Wirklichkeit mit der des anderen ab. So neugierig und gern wir einander begegnen, es ist gerade das Andere und die Sicht des Anderen, die uns fasziniert, die wir lieben oder auch verachten mögen. Genau darin zeigt sich unsere Individualität. Die Fremde bin ich selbst. Wir sind im Werden.

In den letzten Tagen war es noch kühl gewesen, der Duft des Flieders liegt über dem Asphalt der Vorbergstraße, Apostel-Paulus-Kirche, Schwäbische Straße, freihändig auf dem Rad, und die weißen Kastanien werfen ihre ersten Blütenblätter ab, ich weiß es bis heute. Unzählige Details dieses Tages haben sich in meine Erinnerung gebrannt. Das Datum sollte ich später in meinen Ring gravieren lassen.

 

Den Ring hatte ich einige Jahre zuvor beim Putzen auf dem Boden gefunden. Er gehörte niemandem. Die Leute, bei denen ich arbeitete, hatten mir gesagt, ich solle ihn behalten. Es war ein einfacher hellgoldener Ring, zu schmal für einen Ehering. Als Stephan mir im ersten Jahr unserer Liebe eines Abends den breiten gelbgoldenen Ehering seiner verstorbenen Großmutter über den Finger schob, damit ich ihn auf unabsehbare Zeit trüge, nahm ich meinen Findling vom Finger und gab ihm diesen im Gegenzug. So trugen wir jeder den Ring des anderen mit seiner jeweiligen Geschichte, wobei diejenige meines Rings noch unbekannt war.

Das gezielte Vergessen ist uns nicht möglich. Unseren Körpern so wenig wie unseren Seelen. Was wir nicht verstehen, fesselt uns. Auf dem Rücken liegen wir im Sand, das Rauschen des Meeres im Ohr und auf der Haut, in unseren Knochen, an unseren Membranen, betrachten wir die Sterne über uns, um uns das schwarze All, aus dessen Weite uns ihr altes Licht erreicht. Wenn in dieser Nacht seine Wellen auf unsere Netzhaut treffen, wir das Funkeln und Flimmern und Flackern sehen, uns beglücken lassen, wissen wir bloß, dass manch einer der Sterne längst erloschen ist. Mit Stephan liege ich so. Auf dem Sand an der ligurischen Küste und auf dem Felsen über dem Meer am Haus seiner verstorbenen Großeltern, wir liegen so nebeneinander auf den schwarz-weißen Feuersteinen an der Ostsee und im Gras der Mecklenburgischen Seenplatte. Zusammen staunen wir über die Schönheit der Welt. Wir strecken uns, träumen einander zu, entfalten phantastische Geschichten, stellen uns die einfachen Fragen unserer Herkunft und erzählen davon, tauschen uns aus, widersprechen, lachen, berühren uns, bald interessieren uns mehr die philosophischen Fragen nach Leben und Tod, das Erweitern von Wahrnehmung und Bewusstsein, woher und wohin, nächtelang, wir genießen die Erregung aus Neugier und Empfinden der Unermesslichkeit. Denke ich daran, ist es Gegenwart.

Er war schmal, das kastanienbraune Haar schimmerte in Wellen, ein knabenhafter Junge mit einer tiefen und warmen Stimme. Seine Haut war gezeichnet, auf dem Bauch trug er mehrere Narben, zwei von fast zwanzig Zentimetern Länge und kleinere. Es hatte vor unserer gemeinsamen Zeit eine Notoperation geben müssen. Er kannte Schmerz und Narkose.

Zu seinem neunzehnten Geburtstag schenkte ich Stephan Faulkners Wilde Palmen mit der Widmung: Aus Freude über einen kurzen Augenblick. Er sagte mir Monate später, er glaube, er werde nicht sehr alt.

 

Stephan hatte mich am Vormittag des sonnigen Maitages angerufen, er wollte mich später treffen, unbedingt. Er schraubte an seinem neuen Fahrrad – als Linkshänder wollte er die Bremsen von Vorder- und Hinterrad vertauschen. Ich weiß noch, wo ich während dieses Gesprächs in meiner Wohnung in der Schöneberger Hauptstraße stand. Sobald das Telefon klingelte, musste ich das Fenster schließen, weil der von unten dröhnende Verkehr zu laut war. Wie mein Blick auf die Bücher fiel, ein altes hölzernes Postregal mit hohen Fächern, in dem ich die halbe Bibliothek meines Vaters mit Baudelaire und Stendhal, Sartre und Camus untergebracht hatte, daneben standen die Ordner mit Sozialhilfeanträgen, Halbwaisenrentenanträgen, Kleideranträgen, der Sterbeurkunde meines Vaters, meinem Antrag auf Wiederaufnahme in das Schulsystem nach den fast zwei Jahren meiner Abwesenheit 87/88, Praktikumsbescheinigungen, Steuerkarten und Honorarblätter aus dem Restaurant, in dem ich zwei, drei Jahre gekellnert hatte, mein Abizeugnis, die ersten Artikel für den Tagesspiegel. Das Regal gehörte zum Inventar der Wohnung und wie Waschmaschine, Schleuder und Kühlschrank dem Hauptmieter, der vier Jahre zuvor mein Liebhaber und damals doppelt so alt gewesen war wie ich. Auf der Mondkarte über der Matratze stand ein Streifen Sonnenlicht. Es war ein Wendeplakat, an jenem 12. Mai 1992 hing die Rückseite des Mondes aus. Die Matratze hatte ich mitgebracht, ebenso den alten Stutzflügel, den ich bald nach meinem Einzug an den Wirt Kostas Papanastasiou für sein Lokal Terzo Mondo verkaufte, um ihn gegen meinen allerersten Computer zum Schreiben und Studieren zu tauschen. Auf alten Schreibmaschinen hatte ich blind und mit zehn Fingern schreiben gelernt, die Buchstaben liegen unter den Fingerkuppen wie die Töne unter der Klaviatur. Der Monitor stand auf der Glasplatte mit zwei Böcken, der Rechner darunter. An dem Glastisch machte ich alles, ich arbeitete, aß, küsste und prüfte Negative. Das große Schachbrett lehnte an der Wand. Neben dem Regal, rechts vom Erker, zog sich vom Boden bis zur Decke der Länge nach ein Riss über die Wand. Einmal putzte ich die Fenster und wusch außen am Glas dichten schwarzen Ruß ab. Es war ein Haus, dessen Wände zitterten, wenn Lastwagen und Busse die ansteigende Hauptstraße unter dem Fenster hinauffuhren. Die Scheiben klirrten, der Parkettboden des trapezförmigen Raumes vibrierte. Lag man dort auf der Matratze, spürte man die schweren Fahrzeuge im Körper. Ich staunte, dass Stephan allein die Bremsen vertauschen wollte. Das sei nicht schwer, versicherte er mir. Ich erinnerte mich, er hatte mit dreizehn oder vierzehn Jahren die langen Nachmittage der frühen Jugend auf den Plätzen und in der Unterführung vom ICC mit anderen Jungs und ihren BMX-Rädern verbracht. Ich hörte die Dringlichkeit in seinem Wunsch, dass wir uns treffen.

Zu der Zeit stand ich am Anfang eines Jurastudiums und malte mir aus, eines Tages Anwältin für Greenpeace oder Amnesty International zu werden. Mit der kleinen alten Minox, die mir ein Freund geschenkt hatte, fotografierte ich, ausschließlich schwarz-weiß, Menschen. Mein liebstes Motiv war Stephan. Mein Blick auf ihm. Er im Ausschnitt meiner Linse. Er kommt eine Treppe herauf und entdeckt mich mit dem Fotoapparat über sich. Seine knochigen schönen Hände, die sich berühren, die Fingerspitzen beider Hände aneinander. Seine Lippen, die den Rauch einer Zigarette ausstoßen. Er mir gegenüber am Tisch. Dunkle Augen, die nah beieinander liegen, lange Wimpern. Sein Blick in meine Kamera. Wir sehen uns an. Er liegt auf einer Holzbank. Seine Narben. Er sitzt in Jeans auf einer Steinmauer, den Rücken zu mir. Sein Haar im Nacken.

Fotografieren war teuer, die Filme, das Papier, die Chemikalien. Die Negative ließ ich meist im Laden entwickeln, die Abzüge machte ich von Hand in einer provisorisch aufgebauten Dunkelkammer im fensterlosen winzigen Bad. Auch den alten Vergrößerer hatte mir der Hauptmieter in seiner Wohnung zurückgelassen. Er stand oben auf dem Postregal und ragte wie ein Gerippe unter die vier Meter dreißig hohe Decke. Ich sagte Stephan, dass ich am Abend noch in die Uni wolle. Mein Studium sollte an diesem Tag warten können, zur Vorlesung würde ich es bestimmt noch schaffen. Ich wusste von Stephans Schwanken, seinen Zweifeln und Unwägbarkeiten der letzten Monate, wenn auch nicht alles. Zwei Tage zuvor noch hatten wir bei unserer Begegnung in seiner frisch bezogenen, ersten eigenen Wohnung Stunden gesprochen. Die Sonne blendete ihn. Es ging ihm nicht gut, er wollte seine Eltern nicht enttäuschen, mich nicht, seine Freunde nicht, er brauchte Zeit und Raum für seine Entwicklung. Wie wir laut dachten, miteinander und entgegen. Seine klugen Sätze. Er wollte sich selbst nicht täuschen. Wir verbrachten Tag und Nacht zusammen. Sein Rücken, sein Haar, seine Haut. Mit Tränen in den Augen deutete er mir an, dass es Dinge gebe, über die er weder mit mir noch mit seinen Eltern, seiner Schwester oder irgendeinem Freund sprechen könne. Seine Wahrheit. Es tat mir weh, ihn einsam in seiner Not zu sehen. Wir umarmten uns, wir sprachen mit Liebe. Ich sehe seine braunen Augen und die schwarzen, nassen Wimpern. Unsere Gesichter liegen aneinander, und das Flattern der Lider berührt den anderen, Schmetterlinge. Sein seidenweiches braunes Haar, meine Hand in seinem Haar. Sein vertrauter Geruch. Wahrheit ist relativ, und die Unendlichkeit bildet sich in jedem einzelnen Punkt ab, Schönheit der Zellen, Mikroorganismen, Kosmos. Es gibt Dinge, die kann und möchte man nicht mit seinem liebsten Menschen teilen, aus Liebe. Das wusste ich.

Über mein Herzrasen der letzten Monate sprach ich mit niemandem. Es kam als Attacke. Es überfiel mich unvorhersehbar, nachts, wenn ich einschlafen wollte, und auch einmal im Lokal am Ende eines langen Arbeitsabends. Etwas nach Mitternacht, ich kellnerte, die letzten Gäste zahlten, der Chef saß mit seinem dicken Portemonnaie am Tisch, zählte Scheine und Münzen, machte die Abrechnung, und ich sah die unzähligen leeren Gläser auf meinem Tresen stehen, mit ihrem getrockneten Bierschaum und fettigen Fingerabdrücken am Bauch, einige mit Lippenstift am Rand. Denke flüchtig an die Klausur, die wenige Stunden später, gleich morgens in der ersten Stunde geschrieben wird. Sammle die Aschenbecher ein, leere sie über dem Müll, Essensreste, Servietten, zurück zu den Gläsern, sie füllen meinen Tresen, ich werde sie von Hand spülen und polieren, jedes einzelne. Es beginnt mit einem Engegefühl, das Herz rast, der Puls jagt, es treibt mir den Schweiß auf die Stirn. Ich möchte ruhig atmen, frage mich, ob das Rasen und die Angst einen Grund haben, einen Anlass. Aber nein, die Angst wächst, von Attacke zu Attacke, zu einer Angst vor der Angst und einer Angst in der Angst heran. Ein kleiner angeborener Fehler, die Richtung, in der die Herzklappe unter Stress nach vorn springt. Der Internist empfahl Sport und Autogenes Training. Den Begriff Panikattacke hörte ich erst Jahre später zum ersten Mal, als die Zustände nicht mehr auftauchten. Es hatte mit dem Abitur angefangen, mit dessen Ergebnis ich nicht gerechnet und auf das ich nicht hingearbeitet hatte. Niemand in meiner Umgebung hatte ein Einser-Abitur. Schon bei der unfeierlichen Verkündung in der Schule schämte ich mich vor meinen Freunden und insbesondere vor einem Mädchen aus gutem Hause, das seit Monaten alles für sein Abi gegeben und gelernt hatte, weil es Tiermedizin studieren wollte. Ich dagegen hatte selten gelernt. Es musste ein Irrtum sein, vielleicht hatte sich jemand beim Zusammenzählen der Punkte verrechnet. Freuen konnte ich mich nicht, denn wie auch die angehende Tiermedizinerin hatte ich das unbestimmte Gefühl von Unrechtmäßigkeit. Ein Versehen. Es stand mir nicht zu. Ich erinnere mich an unsere U-Bahnfahrt im Anschluss. Das Mädchen wich nicht von meiner Seite. Wir kannten uns aus dem Biologie-Leistungskurs. An guten Tagen hatte uns der Lehrer Dr. Forell mit seinen Reiseberichten aus aller Welt belohnt. Er war Doktor der Biologie, kurz vor der Pension als Oberstudienrat, er konnte auf ein reiches Leben zurückschauen. In den fünfziger Jahren war er gemeinsam mit einem Studienfreund auf dem Rad von Kanada bis nach Feuerland gefahren. Das Rad mussten sie über steile Geröllpisten schieben und am Usumacinta auf schmale hölzerne Boote hieven. Das trübe Wasser, die Krokodile und Schildkröten. Im Amazonasgebiet krempelten sie die Hosenbeine hoch, trugen das Rad durch flache Gewässer, bis sie von Piranhas gebissen wurden. Wir liebten seine erzählten Belohnungen. Auch Afrika hatte er mit seiner Familie mehrmals bereist und erzählte uns von den Abenteuern und von den Tieren in den Nationalparks. Einmal allerdings, wir behandelten ausführlich das Thema Genetik, er hatte uns gerade ein Schema an die Tafel gezeichnet, wie Adenine und Thymine, Guanine und Cytosine zusammenpassten, und den Aufbau der DNA erklärt, sagte er uns, dass die Genetik für die unterschiedlichen Merkmale der menschlichen Rassen zuständig sei, der negriden, europiden und mongoliden. Er zeigte uns Bilder der Neandertaler und des Homo sapiens. Das Gehirn der Männer sei im Schnitt schwerer als das der Frauen. So komme es zu den sehr unterschiedlichen physischen Voraussetzungen und erkläre sich auch, dass die negride Rasse allein aufgrund ihres kleineren Gehirns nicht zu denselben kognitiven Leistungen wie die mongolide und europide in der Lage sei. Ich berührte Stephans Knie neben mir, er erwiderte mit leichtem Druck. Auch wenn mir die Röte ins Gesicht schoss, sich der Hals etwas verengte, meldete ich mich und widersprach dem Lehrer. Meinen Widerspruch beantwortete der seiner Sache sichere weißhaarige Doktor mit einem fröhlichen Lächeln. Ja, er wisse, manche Erkenntnisse der Wissenschaft seien nicht populär, insbesondere seit dem Nationalsozialismus nicht, natürlich. Doch es sei eine schlichte Tatsache, dass die Gehirne der Afrikaner kleiner und leichter seien. Um es zu unterstreichen, schrieb er die durchschnittliche Grammzahl eines männlichen europiden und eines männlichen negriden Gehirns an die Tafel. Der Homo sapiens habe sich, je nach Rasse, im Laufe der Evolution unterschiedlich entwickelt, man schaue sich nur die sonstigen Unterschiede an. Dafür könne der Afrikaner schneller laufen, und man sehe es ja beim Sport, dass er in allen Disziplinen, in denen es auf Geschwindigkeit und Körperkraft ankomme, den Europiden und erst recht den Mongoliden überlegen sei. Ich war empört, meldete mich wieder, er nickte mir freundlich zu, und mit heiserer Stimme sagte ich, dass die Hirnmasse allein bestimmt keine Korrelation zu den kognitiven Leistungen aufweisen könne, ein großer Augapfel sehe ja auch nicht besser als ein kleiner, ein Mann sei bestimmt kein größerer Denker als eine Frau. Dr. Forell lachte mir entgegen, meine Empörung amüsierte ihn. Nun holte er etwas weiter aus, nicht ohne mir zuzuzwinkern. Selbstverständlich sei es kein Zufall, dass die großen Wissenschaftler und Philosophen Männer seien. Und was den Unterschied zwischen der negriden und europiden Rassen anbelange, so würden Jahrtausende Menschheitsgeschichte zeigen, dass es schlicht keine einzige Hochkultur der negriden Rasse gebe, wenn man bedenke, dass die Menschen und Kulturen der nordafrikanischen Länder eher zum Mittelmeerraum und zur europiden Rasse zählen. Die alten wie modernen Hochkulturen aller anderen Kontinente galten ihm als Beweis seiner These. Ich schüttelte den Kopf, ließ meinen Arm sinken, da er mich nicht sprechen lassen wollte. Zuversichtlich in meine Richtung nickend sagte er, ich könne gerne glauben, was ich wolle, er wisse, dass diese Untersuchungen einigen Menschen nicht gefielen, aus wissenschaftlicher Sicht bestünden hier keine Zweifel. Sein Lächeln untermauerte seine Gewissheit. Die Genetik werde im Verlauf ihrer weiteren Forschung seine These bestätigen. Inzwischen hatte ich vermutlich vor Aufregung und Fassungslosigkeit rote Flecken im Gesicht. Ohne über mögliche Konsequenzen nachzudenken, nahm ich meinen Hefter, mein Buch und meine Tasche, sah Stephan auffordernd an, der noch etwas zögerte, meinem Protest ebenso Ausdruck zu verleihen, und verließ den Biologiesaal. Stephan kam mit. Aber kein anderer Mitschüler folgte. Es war mir unverständlich, dass die anderen sitzen blieben und nach solchen Aussagen an diesem Tag dem Unterricht des Lehrers weiter folgen wollten. Spürten sie keine Notwendigkeit zum zivilen Ungehorsam? Auch die angehende Tiermedizinerin blieb an ihrem Tisch sitzen. Waren die anderen im Klassenraum mutlos? Oder teilten sie meine Empörung nicht?

Erst als zwanzig Jahre später meine Großmutter Inge gestorben war, fand sich in ihrem Sekretär ein kurzer Lebensbericht ihrer Schwester Gisela. Darin schildert sie, wie es ihr zum Abitur 1934 versagt wurde, die Wahlfachprüfung Deutsch über Schiller zu machen, dessen sie als jüdischer Mischling nicht würdig sei. Als sie Hesses Werk zum Prüfungsthema wählte, wurde ihr dies ebenfalls verwehrt, da dieser als entartet galt. Ihre dritte Wahl fiel auf Hebbel, sie las alles. Die Aufgabe in der Prüfung lautete überraschend, sie möge ein nationalsozialistisches Werk von ihm benennen, und auf ihr Schweigen hin wurden ihr provokante Fragen zu Herodes und Mariamne gestellt. Wie jeder Abiturient ihres Gymnasiums wurde Gisela in Rassenkunde geprüft. Im Beisein der staatlichen Fachkommission erhielt sie die Aufgabe, die Mendel’schen Regeln mit Anwendung auf ihre Eltern und sich selbst zu erläutern. Ihr Vater, während der Weimarer Republik bereits Mitglied der SPD, Professor der Chemie und Forschungsdirektor, war zwar Deutscher mit reinrassigen Vorfahren, ihre Mutter aber Jüdin mit ausschließlich jüdischen Vorfahren. Gisela schwieg. Ihr wurde gesagt, dass durch die sexuelle Gemeinschaft ihrer Eltern auch ihr Vater bereits jüdisches Blut in sich trage. Sie erhielt die Abiturnote drei. Die Nürnberger Gesetze verhinderten, dass sie Lehrerin werden konnte. Allenfalls Fürsorgerin stand noch offen. Doch auch diesen Beruf durfte sie nach dem Examen nicht mehr ausüben, sie musste in den Arbeitsdienst und verrichtete Zwangsarbeit als Betreuerin in einem Kinderheim, als Dienstmädchen und in anderen Stellen. Das Studium zur Dolmetscherin wurde ihr verboten. Sie erkrankte an Asthma und Tuberkulose und durfte ihren Verlobten trotz vieler Sonderanträge, der wiederholten Vermessung ihres Kopfes und Erforschung ihrer rassischen Merkmale nicht heiraten. Also gebar sie den ersten Sohn ledig, während sie noch im Kinderheim wohnte und arbeitete. Mit vier Monaten bekam der Säugling hohes Fieber, konnte kaum noch trinken. Der für das Heim zuständige Kinderarzt wollte am Wochenende nicht kommen. Montagfrüh starb das Kind. Ohne das Bündel im Arm der Mutter eines Blickes zu würdigen, befand der Arzt bei seinem Dienstbesuch später am Tag: ein wertloses Leben. Auch den zweiten Sohn gebar Gisela unehelich, ehe ihr Verlobter und sie nach Kriegsende heiraten konnten.

Als wir mit unseren Abiturzeugnissen in der U-Bahn zum letzten Mal von der Schule stadteinwärts fuhren, fragte mich die angehende Tierärztin als Erstes nach meiner Biologienote. Hier konnte ich sie beruhigen, unsere Noten unterschieden sich nicht. Sie wollte es nicht glauben, sie löcherte und befragte mich nach einzelnen Fächern und genauen Punkten, weil wir außer dem Leistungskurs kaum Kurse gemeinsam gehabt hatten. Mein Mund war trocken, mir war heiß, ich stammelte. Sie hatte einfach nicht kommen sehen, dass ausgerechnet ich ein besseres Abitur machen sollte. Ich spürte ihre Überraschung, ihre Enttäuschung und ihren Neid. Sie erzählte den anderen, wie viel sie in den vergangenen Monaten gelernt habe, und wollte von jedem wissen, ob er auch so viel gelernt hätte. Ich hob die Schultern, ich wollte in Grund und Boden versinken. Sollte ich sie anlügen und behaupten, ich hätte viel gelernt? Ihre Eltern und ihr Freund seien stolz. Das beruhigte mich etwas. Sie konnte sich freuen. Ich dagegen konnte mich nicht freuen. Ich dachte nicht einmal daran, jemanden anzurufen. Wer in meiner Familie interessierte sich dafür, ob ich zur Schule ging? Meiner Mutter waren Leistungen der Leistungswelt samt allen Leistungsträgern zutiefst suspekt. Als meine große Schwester Jahre zuvor im Frühsommer 1983 ihr Abitur bestanden hatte, wurde mit Freunden gefeiert. Zur gleichen Zeit wusste man schon länger nicht mehr, wohin mit mir, und Freunde in Berlin nahmen sich meiner an. Meine Mutter kam kaum zum Anrufen oder zum Briefeschreiben. Alle paar Monate hörte ich etwas von ihr. Manchmal versuchte sie es und steckte einen vor Monaten angefangenen, abgebrochenen und mit unterschiedlichen Stiften in Etappen weitergeschriebenen Brief von zwei, drei Seiten, voller orthographischer Fehler, dazu eine schöne Vogelfeder, die sie gefunden hatte, etwas Glitzer oder Ostseesand in einen Umschlag, auf dem sie fast immer meine Adresse falsch schrieb und manchmal auch die Frankierung vergaß. Wir hatten seit Monaten nicht telefoniert. Das letzte Mal im Winter. Ich erinnere mich, draußen war es schon dunkel, ich saß an meinem Tisch im Zimmer der Hauptstraße, wollte das Gespräch beenden und sagte ihr, ich wolle jetzt lesen. Zum Stichwort Lesen fielen ihr offenbar meine bevorstehenden Prüfungen ein, und es schien ihr ein Anlass zu sein, sich an die eigene schwierige Zeit ihres Abiturs zu erinnern. Wie blöd sie sich gefühlt habe und wie schlecht sie in der Schule gewesen sei, in der ihr geliebter Bruder, ohne den sie das Abitur niemals geschafft hätte, ihr noch kurz vor seinem Tod geholfen habe. Wie schwer ihr das Lernen ein Leben lang gefallen sei und dass ihr zur Entspannung in solchen Phasen immer besonders gut Selbstbefriedigung helfe.

Ich vergrößerte den Abstand zwischen meinem Ohr und dem Hörer. Wem gehörte diese Stimme, die mir, die ich schon über sieben Jahre ohne sie lebte, von ihren Entspannungstechniken erzählte? Die vollkommen überraschende Vertraulichkeit der Frau, die mich einst geboren hatte, erschien mir falsch. Wer war ich, dass sie mich nach Monaten, Hunderte von Kilometern entfernt anrief und meinen Gesprächsabschied mit dieser Information quittierte? Zum Glück übermittelte das Telefon niemandem mein Erröten. Mir fiel keine Erwiderung ein. Ich verabschiedete mich einsilbig. In diesem Sommer rief ich niemanden aus meiner Familie oder sonst irgendeinen Menschen an, um mitzuteilen, dass ich mein Abitur bestanden hatte. Mit meinem Abitur war ich allein.

Ich erinnere mich an die weichen Knie, als ich am Tag der mündlichen Abiturprüfung die Treppen hinauf in den Prüfungsraum musste. Schweißkalte Hände, die Beine gehorchten kaum, zu schwer kam mir mein Körper vor. Jeder Prüfling war zu seiner eigenen Zeit bestellt, zum Glück war ich allein am Fuß der Treppe. Ich musste das blaugestrichene Geländer mit beiden Händen umfassen, und eine Hand vor die andere setzend, mich mit den Armen ziehend, also in gewisser Hinsicht auf allen vieren, den Körper die drei Treppen hinauf hangeln. Ich hatte die ganze Nacht noch gelesen, einfach keine einzige Stunde geschlafen. Es ging um Kunstgeschichte, die Entwicklung der Zentralperspektive. Ich war begeistert von dem Thema, aber ich würde nur zwanzig Minuten Zeit haben. Es gab Lehrer, die sich am liebsten selbst reden hörten und einem mit umständlich formulierten Fragen Zeit klauen würden. Kaum war ich drinnen und hatte die Fragestellung gelesen, begann ich zögernd, dann sprudelte es. Es gab Dinge, die ich sagen wollte und mich selbst fragte, zu Kunst und Philosophie, Renaissance und Gegenwart, zentrale und bewegliche Perspektive, Gottes Auge, das menschliche, Lascaux nicht vergessen, die ich ungeachtet der Fragestellung sagen musste, wollte. Ein Feuerwerk der Assoziationen. Den anschließenden Fragen fiel ich ins Wort, griff voraus, verknüpfte und sprang.

Mehr als die Scham über das Einser-Abitur erwirkte in den folgenden Monaten das bislang unbekannte Gefühl der vollkommenen Freiheit eine tiefe Anspannung in mir. Die Freiheit, alles studieren zu können und alles erleben zu dürfen, was ich wollte, erschien als Bedrohung. Zugleich empfand ich eine ungeheure Verantwortung. Ich wollte etwas studieren, das dem unverhofften Abitur und seinen Möglichkeiten entsprach. Die Schönheit von Mikroorganismen, Zellen, DNA, das Wunder Leben. Für Medizin hätte ich mich unmittelbar zum Medizinertest anmelden müssen, also entschied ich mich zunächst für Rechtswissenschaften. Gegen die Panikattacken halfen weder Baldrian noch Psychoanalyse, kein Autogenes Training und nicht, dass ich Stephan davon erzählte. Ich machte mir Vorwürfe, dass ich in den Jahren zuvor die eine und andere Droge genommen hatte. Möglicherweise waren die Panikattacken nichts als Echos? Das Echo meines Körpers, seiner Abenteuer. Es war mir fast gleichgültig, wenn Freunde sich durch mein Lächeln unwohl fühlten. Schon in der Jugend hatte ich oft ein Glas Leitungswasser in der Hand, während andere sich mit Schnaps, Cocktails, Bier und Wein betranken. Der Alkohol, der Freunde in Stimmung brachte, erzeugte in mir bleierne Müdigkeit. Ich konnte die Augen nicht länger offenhalten, nur noch liegen und mit geschlossenen Augen verschwinden. Trank ich Wasser, konnte ich lustiger und wacher bleiben. Die Aussicht auf Träume, nüchternen Schlaf und klares Erwachen empfand ich erhebend. Zum Erstaunen meiner Umgebung entwickelte ich mich zur Asketin, in Bezug auf Rauschmittel.

Stephans Krise aber, über die er allenfalls in Andeutungen mit mir sprechen konnte, war dem Anschein nach weder von einem Gefühl der plötzlichen Freiheit und der schweren Last einer inneren Verantwortung noch von fehlender Liebe, Gunst oder Erwartungen seiner Freunde und Familie ausgelöst. Seine eigene Position empfand er eher gegenteilig, saturiert, nicht prekär. Die Eltern hatten ihm vor wenigen Wochen seine erste eigene Wohnung gemietet, mit schönen Möbeln eingerichtet, den Umzug für ihn organisiert. Auf seinem Ausweis stand noch ihre Adresse. Er hatte in seinem ganzen Leben noch keinen einzigen Job suchen müssen. Während ich seit Jahren in Privathaushalten und einem Kindergarten putzen ging und kellnerte, kam bei ihm zu Hause jede Woche eine Putzfrau, die auch aufräumte. Anlässlich besonderer Gelegenheiten ging seine Familie in den besten Restaurants der Stadt essen. Seine Welt betrachtete er mehr aus der Perspektive eines Bret Easton Ellis. Er wollte Schriftsteller werden. Gewisse Schritte würde er allein tun müssen, gehen wollen. Wir sprachen über vieles an diesem Sonntag im Mai. Da er als Student über seine Eltern eine private Krankenversicherung hatte, wusste er, dass jede Rechnung eines jeden Arztes zuallererst seinen Eltern geschickt wurde. Dieser Umstand bedrückte ihn. Etwas sollte mir erst Tage danach deutlich werden: Er konnte und wollte sich und andere nicht verraten. An jene Nacht muss ich denken, als er im Winter einmal spätabends zu mir kam und sich neben mich auf die Matratze unter die Rückseite des Mondes legte. Wie ich meinen Arm und mein Bein um ihn schlang und spürte, meine Brust an seinem Rücken, Haut an Haut, dass er in Sekunden eingeschlafen war, und wie er im Schlaf ganz kalt wurde. Ich versuchte ihn zu wecken, doch er wirkte unerreichbar, als wäre er im Schlaf ohnmächtig geworden, ich rüttelte an ihm, nahm sein Gesicht in meine Hände, sprach ihn an, drehte ihn auf den Rücken, legte mich auf ihn. Hörst du mich? Er konnte die Augen nicht öffnen, nicht sprechen. Ich legte ihn auf die Seite, stabile Seitenlage, und versuchte, mit meinem Körper seinen Rücken zu bedecken. Meine Hand auf seinen Narben. Das Fieberthermometer zeigte 35,1. Ich wollte ihn wärmen, rieb seine Arme und Beine. Was in dieser Nacht mit ihm war, behielt er für sich. Am Morgen schien er keine Erinnerung daran zu haben.

Wenige Monate später am Maiensonntag wollte ich ihn nicht bedrängen, wollte keine Geständnisse seiner Geheimnisse einfordern, da er mir unter Tränen sagte, er könne darüber nicht mit mir sprechen. Ich wollte ihm Respekt und Vertrauen zeigen. So schlug ich vor, dass wir uns eine Zeitlang nicht sehen, in Liebe, vorerst trennen. Ich blieb noch über Nacht und fuhr am Montagmorgen von seiner Wohnung aus in die Uni.

Am nächsten Vormittag rief er an. Ich muss dich sehen, heute, bitte. Das hatte Stephan mir an jenem Dienstag am Telefon gesagt. Was willst du, ich. Dich, das war seine Antwort. Er klang angespannt, ob fröhlich, mutig, ängstlich, konnte ich seiner Stimme nicht entnehmen. Gut. Ja, ich werde da sein, antwortete ich. Wir einigten uns auf vier Uhr nachmittags im Café Hardenberg, gegenüber der TU. Er hatte ein knappes Jahr zuvor mit Germanistik angefangen. Wegen Norbert Miller studierte er an der TU, während ich Rechtswissenschaften an der FU studierte.

Tauschten wir Kleider? Studierte ich das, was unsere Nächsten von ihm erwarteten, und er das, was ich ihm allein lassen wollte? Wir hatten uns vier Jahre zuvor kennengelernt und zusammen das Abitur gemacht. Beide waren wir in Berlin geboren, er in West und ich in Ost. Unsere Welten und Familien konnten kaum unterschiedlicher sein. Er kam aus einer traditionellen Familie, Mutter, Vater, zwei Kinder. Die Eltern waren kluge und gebildete Menschen, beide Richter. Sie kamen ihrerseits aus ordentlichen und wohlhabenden Verhältnissen, aufgeklärtes Bildungsbürgertum, deutsche Protestanten. Ostern und Weihnachten gingen sie in die Kirche, der eine etwas lieber als der andere. Politisch waren seine Eltern nie einer Meinung, sie wählten entschlossen gegensätzlich. Sie hatten Humor und waren jeder auf seine Weise sehr warmherzig. Stephans familiäre Herkunft, obwohl sie für Deutsche und insbesondere Westdeutsche meiner Generation konventionell und geradezu typisch erscheinen konnte, demokratisches Selbstverständnis des westlichen Nachkriegsdeutschlands, war mir in vieler Hinsicht fremd.

Dagegen kam ich aus dem Chaos, Ost, Nord, West, als Nomadin, Flüchtige und fast Waise daher. In ihren Augen mochte ich eine Vagabundin sein, ein Hippiekind, ein herrenloses Geschöpf. Sie wussten, dass ihr Sohn mich liebte, und öffneten mir ihre Tür. Selbst zum Weihnachtsfest hießen sie mich willkommen. Ich erinnere mich, dass ich im besten Blumengeschäft des Viertels einen großen Strauß gelber Rosen kaufte. Mitten im Winter. Sonst wäre ich allein zu Hause geblieben, wie zum letzten Weihnachten. Ihre Wohnung lag fast am Lietzensee, in Charlottenburg. Oft waren Stephan und ich dort spazieren gegangen, wenn ich ihn besuchte.

Als wir das Abitur bestanden hatten, er, wie seine Mutter liebevoll zwinkernd sagte, mit dem geringstnötigen Aufwand, luden seine Eltern uns erleichtert zum Essen in ein gutes Restaurant ein. Dass Stephan sich in der mündlichen Prüfung null Punkte geleistet hatte, aus Wut und Stolz, da der Lehrer ihm eine unvorhersehbare Aufgabe gestellt hatte, fand sein Vater richtig. Schulterklopfen. Man dürfe sich nicht alles gefallen lassen. Um diese Zeit wohnte Stephan seit Monaten mehr oder weniger bei mir in der Schöneberger Hauptstraße, wir verbrachten nahezu jede Nacht beieinander. Seine Eltern waren froh, wenn sie ihn hin und wieder sahen. Sonntags besuchte er sie mit seltenen Ausnahmen zum Essen. Es war seit Jahren ihre Tradition, dass die Mutter, so viel und lange sie während der Woche auch arbeitete und oft bis spät abends an ihrem großen Schreibtisch mit den Prozessakten und Gesetzbüchern saß, am Sonntag für ihre Familie kochte.

Geboren im Osten Berlins hatte ich als Kind mit der Mutter und drei Schwestern von Oktober 1978 bis Sommer 1979 fast neun Monate im Flüchtlingslager Berlin-Marienfelde gelebt. Das Bundesland Schleswig-Holstein nahm uns als Sozialfall auf, und unsere Mutter fand in einem zersiedelten Dorf am Nord-Ostsee-Kanal ein altes Bauernhaus aus Backsteinen mit Reetdach, einer großen Tenne als fast lichtlosem zentralen Raum und einem unendlich erscheinenden, zaunlosen Garten, an den sich Koppeln bis hinunter zum Kanal anschlossen. Hier wollte Anna aussteigen und ankommen. Mit Unterstützung der Sozialhilfe wollte sie mit ihren Töchtern ein Leben in Freiheit finden.

Niemand im Westen kannte sie, es gab Schauspielerinnen wie Sand am Meer. Bei der Arbeitsvermittlung im Notaufnahmelager hatte man ihr offen gesagt, dass niemand hier im Westen auf sie wartete. Für eine fünfunddreißigjährige Schauspielerin, alleinstehend, mit vier Kindern von verschiedenen Männern, bestand, nachdem sie die letzten Jahre nicht mehr gespielt hatte, keinerlei Aussicht auf ein Engagement. Zu der Zeit um den ersten Ausreiseantrag hatte sie am Potsdamer Hans-Otto-Theater aufgehört und wollte Bühnenbild studieren. In den Jahren der wiederholten Vorladungen und Zurückweisungen ihres Ausreiseantrags waren ihr Arbeiten als Synchronsprecherin, Briefträgerin und Friedhofsgärtnerin zugewiesen worden. Ihr beruflicher Lebenslauf und die soziale Situation ergaben keine Qualifikationen für eine Vermittlung auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt. Man hatte sie als Sozialfall eingestuft. Ihre Ausbildung an der Ernst-Busch-Schule, ihre vielen Jahre als Ensemblemitglied an verschiedenen Theatern und ihre Rollen in den DEFA-Filmen reichten zunächst und bis zum Mauerfall nicht einmal für eine Umschulung aus.

Wir hielten verschiedene Tiere. Schaf, Ziege, Schwein, Gans, Kaninchen, Hund und Katze. Zuerst nur weibliche, außer dem Hund meiner Zwillingsschwester. Keins sollte allein bleiben, alle sollten sich vermehren. Unter den knorrigen Obstbäumen legten wir ein Hügelbeet und ein Frühbeet an. Wir kochten Marmelade, pressten Saft aus Holunderbeeren, buken Brot aus dem von eigener Hand gemahlenen Korn, molken die Ziegen und machten den Käse selbst. Nur die Lämmchen und Ferkel, die bald geboren werden sollten, wollten wir Kinder so wenig wie die Brennnesselsuppe unserer Mutter essen. Im Sommer pflückten wir Sauerampfer, Schafgarbe und Löwenzahn von den Wiesen, wer brauchte schon wässrigen Kopfsalat aus dem Supermarkt. Niemand kochte bei uns nach Rezepten aus Büchern, wir kochten so, wie wir es uns selbst beibrachten. Die Apfelkuchen und Haferkekse, die Weihnachtsplätzchen und Blaubeertorten improvisierten wir. In der Frühe standen wir allein auf, machten uns Tee, und im Winter schippten wir Kinder noch vor Morgengrauen den Schnee und die Eisschollen vom Gehweg vor dem Haus. In die fünf Kilometer entfernte Waldorfschule auf der anderen Seite des Kanals liefen wir zu Fuß durch die Kälte und streckten vor der Fähre unsere Daumen raus, in der Hoffnung, dass jemand Mitleid und Platz für uns Zwillinge im Auto hatte. Ich erinnere mich an die Schmerzen und das Brennen der Zehen, wenn sie unter der Schulbank während der ersten Stunde langsam auftauten. Feuchte Strümpfe in nassen Lederschuhen. Der Bus war zu teuer. Mit der Schneeschmelze im Frühling fuhren wir auf unseren zusammengebauten Rädern. Schläuche flicken, Bremsklötze wechseln und die Kabel zwischen Dynamo und Lampe erneuern, eine Kette wechseln, ein Tretlager reparieren und die damals noch losen Kugeln im Innenlager wechseln, fetten, es gab wenig, was wir nicht selbst konnten.

Da war ein Junge, Schelsky, der uns am Fährberg manchmal auflauerte. Im Stehen traten wir den Berg hinauf. Unsere Räder hatten keine Gangschaltung und waren schwer. Er stellte sein Rad quer über den Weg. Kaum bremsten wir vor ihm, kippten seitlich vom Rad, riss er an unseren Lenkern, dass die Räder zu Boden krachten, er beschimpfte uns und spuckte uns ins Gesicht. Mehrmals. Er spuckte, so viel er konnte, während er erst die eine und dann die andere festgehalten und uns zu den liegenden Rädern geschubst hatte. Nie zuvor hatte mir jemand ins Gesicht gespuckt. Es gab keinen Anlass, er mochte uns einfach nicht. Er war drei Jahre älter und einen Kopf größer. Wir hätten ihn gern vergessen. Etwas von dem Geruch bleibt haften, man riecht es noch Tage und Jahre später.

Aus ihrer Orientierungslosigkeit im Flüchtlingslager Berlin-Marienfelde heraus hatte Anna eine Art Tombola veranstaltet: Sämtliche Waldorfschulen Deutschlands wurden angeschrieben und gefragt, ob sie die benötigten Freiplätze für ihre drei schulpflichtigen Töchter hätten. Das Los entschied: So kamen wir nach Schleswig-Holstein und in die Umgebung von Rendsburg. Anna kannte dort niemanden.

Eine Kindergärtnerin der regionalen Waldorfschule hatte sich schon im Frühling bereit erklärt, die Zwillinge bei sich aufzunehmen. So kamen wir etwas früher aus dem Lager raus und wohnten bei den Leuten. Die Fremden waren wir. Eindringlinge. Es waren Wochen, in denen wir alles falsch machten. Wir kannten ihre Tischgebete nicht, vergaßen immerzu das Händewaschen und Haarekämmen, kauten mit offenem Mund, rückten unsere Wechselwäsche zum Waschen nicht raus und sprachen in fremdem Dialekt. Wir kannten keine Höflichkeit, keinen Knicks und keinen Augenaufschlag. Wir logen, als uns ein Glas runtergefallen war, und kehrten heimlich, aber nicht ausreichend gründlich die Scherben zusammen, wir stahlen einen Keks vom Teller auf dem Tisch, wir flüsterten und verließen unaufgefordert das uns zugewiesene Zimmer. Bald schlichen wir auf Zehenspitzen durch das Haus. Walle, walle, lernten wir den ersten Waldorfwitz: Wolle? Fragt der Mann mit leichtem Lächeln und berührt mit den Fingerspitzen den Pulloverärmel seiner Angebeteten. Morgens nahm sie uns mit in die Waldorfschule, wo wir als Johanna und Susanne angemeldet waren. Nur wenige Wochen mussten wir bei dieser Frau bleiben.

Im Hochsommer bezogen wir das alte Bauernhaus in Schacht-Audorf. Wir gruben sommerlang Gierschwurzeln aus der schwarzen Erde, bestellten einen Kartoffelacker und säten Möhren. Oft stand unsere Mutter erst auf, wenn wir aus der Schule kamen. Sie ging vermutlich spät nachts schlafen. Jeder hatte seinen Rhythmus.

Wenn wir gekocht und den Abwasch erledigt hatten, im Garten geholfen, das Holz gehackt und geschichtet war, verschwanden wir Zwillinge zum Baden im Dörpsee und auf den weiten Koppeln hinter dem Haus zum Spielen. Ehe eines Tages das Weideland verkauft werden und die Siedlung Fährblick mit Einfamilienhäusern dort entstehen sollte, waren die Koppeln nur selten von Stacheldraht umspannt, Reihen von Buchen, Knick genannt, dienten als Windschutz und Begrenzung. Der Eigentümer hatte die Koppeln an Bauern verpachtet, die darauf Kühe und ausgediente Pferde weiden ließen. Die bestimmt zwanzig, wenn nicht fünfundzwanzig Pferde und Ponys waren alt oder krank. Wir besuchten sie, fütterten sie mit Hirtentäschel und Löwenzahn, brachten ihnen im Spätsommer einen ersten kleinen Apfel mit und beobachteten sie. Wir gaben ihnen Namen und überlegten, welche zu klein und schwach waren, um auf ihnen zu reiten. Solange wir denken konnten, waren wir Indianer. Nie spielten wir Cowboy und Indianer, Cowboys waren doof, die brauchte keiner. Wir waren Indianer. Eines unserer Pferde war kahl, das andere hatte einen konkaven Rücken. Seine Wirbelsäule hing durch, als hätte es sein Leben lang Zementsäcke tragen müssen und als könnte sein Bauch demnächst auf dem Boden schleifen. Ein anderes hatte bläulich trübe Augen, die tränten, es konnte ganz sicher nicht mehr sehen. Eins lag meistens auf der Wiese und knickte mit den Vorderläufen ein, wenn es sich hinstellen wollte. Wir wählten einen etwas dürren Schimmel und ein kräftiges schwarzes Pony aus, meine Schwester wollte das kleine, ich probierte, mich dem Schimmel anzunähern. Der Geruch des Fells kitzelte in der Nase. Über Tage und Stunden versuchten wir unser Glück: Aufsteigen ohne Sattel und Zaumzeug, sitzen bleiben und sich nicht abwerfen lassen, wenn sie plötzlich losstürmten. Mein ältestes Kinderbuch, das ich bis heute habe, war im Altberliner Verlag Lucie Groszer erschienen. Ich hatte es zum dritten Geburtstag geschenkt bekommen. Es handelt sich um ein Kinderbuch aus Amerika mit dem Titel Der kleine Zweifuß. Ich habe es einigen Kindern vorgelesen, auf die ich im Laufe meines Lebens als Babysitter, Kindermädchen oder Freundin aufpassen sollte. Der kleine Zweifuß, Sohn des Häuptlings, wünscht sich nichts mehr als ein Pferd. Es wird erzählt, was er alles kann und wie er seine Tage verbringt. Der zentrale Satz im Buch ist der Rat des Vaters: Wenn du ein Pferd finden möchtest, musst du denken wie ein Pferd. Er versucht das Unmögliche, er sucht und denkt und sucht. Eines Tages schläft er im Schatten eines großen Felsens erschöpft ein. Die Seite wird umgeblättert, und da sieht man es: O nein, er fand kein Pferd, aber ein Pferd fand ihn. Erst glaubt er, es müsse ein Traum sein, dann erkennt er, dass das Pferd verletzt ist und hinkt. Er zieht sein Hemd aus und umwickelt das Bein des Pferdes, er möchte ihm helfen und fordert das Pferd auf, mitzukommen. Der kleine Zweifuß hatte ein Pferd, aber er ging zu Fuß. Die Geschichte einer glücklichen Begegnung, aus der viele Weisheiten sprechen, beeindruckte mich. Denken wollen wie ein anderer. Sich in ihn hineinversetzen. Jemanden suchen und nicht finden. Helfen, sich um den anderen sorgen. Einem Gefährten begegnen, der mitkommt und sich helfen lässt, bis er gesund ist und wir zusammen reiten könnten. Wenn wir Indianer spielten, rannten wir im Galopp über die Felder, bauten Hindernisse auf und machten Pferdewettrennen auf zwei Beinen, denn wir waren immer beides zugleich, Reiter und Pferd. Mit den Zungen machten wir schnalzende Huflaute und ließen die Lippen flattern, wenn die Pferde schnaubten. Ich mochte den Geruch ihres Fells, den warmen Schimmer ihrer Augen.

Meine Zwillingsschwester war als Dreijährige in der Ostsee einmal kopfüber ins flache Wasser gekippt und beinahe ertrunken. Sie soll als Kind hin und wieder Anfälle gehabt haben, Blauwerden und kurze Ohnmacht. Ich erinnere mich daran nicht, aber unsere Mutter erzählte manchmal davon. Eine Spätfolge ihres Sauerstoffmangels während unserer zu frühen Geburt. Auch ihr Gleichgewichtssinn reifte wohl später. Nach dem Winter, in dem ich in der Schwimmhalle Wildau schwimmen gelernt hatte, übte ich vor dem Haus unserer Großmutter in Rahnsdorf Rad fahren. Ich war ja schon fünf. Man hatte mir den Sattel von Inges Klapprad so tief wie nur möglich gestellt. Plötzlich konnte ich es. Je schneller ich trat, desto leichter ließ sich das Gleichgewicht halten. Damals kam nur selten ein Auto auf der Straße vorbei. Ich fuhr die Fürstenwalder Allee vor dem Haus auf und ab, ich jubelte. Bis Anna auf die Straße gerannt kam und mir zurief, ich solle weiter wegfahren. Fahr mal! Erst als ich zum wiederholten Mal umdrehte und am Haus vorbeifuhr, brüllte sie mich an und erkannte ich ihre Wut. Ich sollte endlich wegfahren, außer Sichtweite. Sie fuchtelte mit den Armen, um mich zu verscheuchen. Hau jetzt endlich ab! Damit mein Zwilling mich nicht sehen und mir zusehen muss. Mensch, stell dir das doch mal vor! war ein Satz, den ich als Kind ständig zu hören bekam. Gefolgt von der Formel: Versetz dich mal in ihre Lage. Solange ich denken kann, sollte ich mich in die Lage meines Zwillings versetzen, um zu begreifen, wie schrecklich all mein Können für ihn sein musste. Dass ich Neid erzeuge. Ich wollte niemanden neidisch, unglücklich und wütend machen. Zeig nicht, was du kannst. Ich lernte Scham. Für meine Sichtbarkeit.

Wurde ich bestraft? Überraschend standen zu Ostern in Rahnsdorf drei nagelneue Räder. Meine Zwillingsschwester bekam ein glänzend lackiertes, froschgrünes großes Kinderfahrrad mit Klingel geschenkt, an das Stützräder geschraubt waren. Meine ältere Schwester erhielt ein blaues mit größerem Rahmen wie eine Erwachsene, mit Klingel, Licht und hübschem Netz als Speichenschutz, meine Mutter das gleiche in Rot. Neben den neuen stand das alte Kinderrad meiner älteren Schwester, es sei jetzt meins. Es hatte weder Klingel noch Licht, aber es fuhr gut und ohne Stützräder. Immerhin konnte ich darauf schnell und langsam und sogar im Slalom fahren. Wohin ich wollte. Nur sollte ich es nicht zeigen.

Wenn wir ein- oder zweimal im Jahr auf dem Rummelplatz in der Wuhlheide waren, musste ich allein Geisterbahn und Achterbahn fahren. Meine Zwillingsschwester traute sich nicht. Zeitgleich kletterten wir in die Sitzkörbe des Kettenkarussells, das uns beiden schon nach der ersten Runde furchtbare Übelkeit erzeugen sollte. Wir kotzten noch während der Fahrt und mussten uns anschließend minutenlang erholen, still auf dem Boden sitzen, bis der Schwindel nachließ. Wer Kosmonaut werden wolle, müsse absolut schwindelfrei sei, wurde uns gesagt. Da wir wie Laika und Juri Gagarin, deren Bilder wir schon im Kindergarten kennengelernt hatten, auch eines Tages ins Weltall fliegen wollten, hatten wir noch viel vor uns.

Im aufblasbaren Planschbecken ging es, aber meine Zwillingsschwester hatte Angst vor offenem und tiefem Wasser. Dem frühen Vorfall an der Ostsee wurde Schuld daran gegeben. Ihr wurde speiübel, wenn es hieß, man wolle schwimmen gehen. Ein Schwimmlehrer in der Halle in Wildau hatte sie eines Tages einfach ins Wasser geworfen, weil er offenbar dachte, so könnte sie ihre Angst überwinden. Das Gegenteil war der Fall. In den kommenden Jahren machte sie um jede Schwimmhalle einen großen Bogen. Sie wurde in der Schule vom Schwimmen befreit. Im Dörpsee bei Schacht-Audorf lernte sie mit elf oder zwölf Jahren schwimmen. Den Kopf hoch aus dem Wasser gereckt, schwamm sie dort zum ersten Mal in kurzen Zügen einige Meter aus dem Nichtschwimmerbereich hinaus. Dann konnte sie es.

Ich hatte als knapp Fünfjährige schwimmen gelernt und liebte alle Arten des Wassers und Schwimmens, Brust und Rücken, Toter Mann und Wasserrollen, ich tauchte und sperrte die Augen unter Wasser auf, in Ostsee, Flüssen und Seen ebenso wie im Schwimmbad, wo ich ganze Nachmittage allein Strecken- und Tieftauchen übte.

Die Stille unter Wasser. Wie man den Brustkorb bewegen konnte, als atmete man. Das Bauchfell, die Muskeln, die Strömung spüren. Um die Zeit, als meine Zwillingsschwester schwimmen lernte, machte ich den Fahrtenschwimmer und übte für den Rettungsschwimmer des DLRG in Rendsburg. Den Kopf zwischen den gestreckten Armen und die Fingerspitzen voraus sprang ich von den Startblöcken. Vom Sprungturm ab einer Höhe von siebeneinhalb Metern nur in Kerze und trotz einiger Angst eines Tages auch vom Zehnmeterturm. Das trauten sich die wenigsten Jungs im Verein. Man musste nur aufpassen, um keinen Bauchklatscher zu machen. Der Schmerz an den Fußsohlen. Mutig kann sich nur fühlen, wer Angst spürt. Das Kitzeln im Bauch beim Sprung, wie als kleines Kind das Kitzeln, wenn die Schaukel abwärts schwang.

Zum Dörpsee musste ich mit, sie wollte um keinen Preis allein dorthin. Für höhere Sprungtürme war der Dörpsee zu flach. Nur ein kleiner Sprungturm mit einem Einer- und einem Dreimeterbrett stand dort im See. Vom Dreimeterbrett sprang ich mit Köpper ins blickdichte Wasser. Wir mussten nie Bescheid sagen, wohin wir verschwanden. Keiner wartete auf uns. Es gab keine Uhrzeit, zu der wir wieder zu Hause sein mussten. Es gab so wenig feste Essenszeiten wie Bettzeiten. Wir gingen schlafen, wann wir wollten. Es weckte uns ja niemand morgens, mein Wecker klingelte, wir standen allein auf, fegten im Morgengrauen die Straße, radelten zur Schule und gingen abends ins Bett, wenn wir müde waren.

Im siebten Schuljahr kamen wir fast jeden Morgen zu spät, der Unterricht begann um sieben Uhr zwanzig. Eines Tages wurde unser Lehrer wütend, als wir die Tür öffneten. Es lange ihm, er werde unsere Mutter anrufen. Wir sagten ihm nicht, dass sie vormittags oft noch schlief. Uhren waren etwas für andere Leute. Sie machte sich nichts aus Pünktlichkeit. Zu jedem Termin und zu jeder Verabredung kam sie zu spät, manchmal Stunden, wenn sie sich nicht im Tag irrte.

Ohne Tee, den wir ihr kochten, kam Anna auch am Wochenende nicht aus dem Bett. Setzte sie sich Sonntagmittag an den von uns gedeckten Frühstückstisch, konnte sie noch kein Messer halten. Eine Besonderheit, die ich weder von mir kenne noch von einem anderen Menschen je hören sollte: Sie konnte nach dem Aufstehen nichts Festes greifen, die Muskeln ihrer Hände und Arme versagten. Teetasse und Zigarette waren die ersten Dinge, die sie halten konnte. Sie hatte keine Kraft in den Händen, mit denen sie nachmittags Eimer voll Schweinefutter in die Schubkarre hob und Wasser für die Tiere trug. Nach dem späten Aufstehen fehlte ihr auch mittags noch die Kraft zum Brotschneiden. Also schnitten wir es.

Sie war sich für keine Arbeit zu schade, nur konnte sie keine zwei Dinge gleichzeitig tun oder auch nur wahrnehmen. Einer Unterhaltung konnte sie nicht folgen, wenn gleichzeitig Musik lief. Eine ausgeprägte Empfindlichkeit. Wenn sie die Nerven verlor, was sehr leicht geschehen konnte, wurde sie jähzornig. Wir beschwerten uns über dies und das. Wenn es im Winter in der Küche nach Rauch stank, und dass sie überall ihre Zigarettenstummel ausdrückte, auf den Deckeln von Einweckgläsern, in Eierbechern und auf Tellern. In manchen Zeiten blieb sie unbeeindruckt von der Außenwelt, in anderen litt sie selbst unter ihrem Chaos. Wir fanden es anstrengend, dass sie erst wenige Tage vor Weihnachten mit dem Aufräumen ihrer Zimmer anfing und sich am Heiligabend bis Mitternacht mit Baum und Kisten voller buntem Weihnachtsschmuck der letzten Jahre ins Zimmer einschloss, um alles nach ihren Vorstellungen zu schmücken – während wir gekocht hatten und unser Essen auf dem Herd längst kalt geworden war, wir stundenlang unsere kleine Schwester auf dem Schlitten durch das Dorf gezogen hatten, bis sie nicht mehr heulte, sondern schlief. Kaum gab es ein Weihnachten, an dem wir vor elf Uhr abends Zutritt in ihren Zauberraum fanden.

Ihr Jähzorn entstand nicht etwa, weil wir uns beschwerten, dass wir nicht wie andere Kinder richtige Turnschuhe bekamen. Wobei es nicht um eine bestimmte Marke ging, sondern um die feste Sohle, die man für Ballspiele, Leichtathletik und zum Rennen in der Turnhalle brauchte. Er entstand, wenn während ihrer Erklärung zu unserem Geldmangel ein Zweig des Weihnachtsbaums Feuer fing und also zwei Dinge zusammenkamen. Es war nicht vorhersehbar und konnte eine Kleinigkeit sein, die sie plötzlich ausrasten ließ. Jemand wunderte sich im falschen Moment über die manchmal tagelang eingeweichten Töpfe im Abwaschbecken? Kaum klingelte das Telefon, schrie ein Kind oder fiel ihr ein, dass die Ziege gemolken werden musste, verließ sie die Küche und vergaß Töpfe auf dem Herd, der Reis brannte an, das Wasser der Kartoffeln war verdampft und die Kartoffeln verkohlt, im Ofen war ein Auflauf schwarz geworden. Entdeckte sie selbst ein, zwei Stunden später den Rauch in der Küche oder wurde von einer Tochter zurückgerufen, ging sie an die Decke aus Wut über sich selbst. Eine Geschirrspülmaschine gab es nicht. Abwaschen mochte sie so wenig wie wir. Sie machte es nur, wenn jemand von uns oder ein Freund ihr stundenlang dabei vorlas. Uns waren die Teller und Gläser nicht sauber genug? Da konnte sie einen Tobsuchtsanfall bekommen und das Geschirr nach uns werfen. Zerworfenes Geschirr wurde nach Möglichkeit geklebt, Teller wie Tassen, Schüsseln und selbst Eierbecher. Wir waren zehn Jahre alt, unsere große Schwester sechzehn, als nach einem solchen Streit feststand, dass außer der Zweijährigen von nun an jede von uns Töchtern zwei Abwaschtage in der Woche hatte, Anna nur einen. Überhaupt gab es in unserem Haus und im Garten kaum elektrische Maschinen, weder einen Mixer, noch eine elektrische Getreidemühle, keine Säge, keinen Rasenmäher. Nach ein, zwei Stunden an der Getreidemühle, die am Küchentisch befestigt war, hatte man Blasen an den Händen, und das Handgelenk tat weh. Am Abwaschtag musste man von früh bis spät für den Fünfpersonenhaushalt sowie unsere Gäste abwaschen. Schaffte man es an einem Tag nicht, sollte man den Rest am nächsten Tag erledigen. Wollte man bei einer Freundin übernachten, so musste man seinen Tag tauschen. Wenige Monate später war sie unsere ständige Mäkelei an ihrem Essen satt. Wir mochten ihren Löwenzahnsalat und die Brennnesselsuppe mit Körnern nicht. Der Reis war uns zu pampig und die Nudeln zu weich. Sie schäumte vor Wut. Bitteschön, dann sollten wir von jetzt an im Wechsel jeder eine Woche lang kochen. Seit wir Zwillinge elf und unsere große Schwester siebzehn war, blieb es so, bis wir wenige Jahre später eine nach der anderen auszogen. Eine Woche im Monat kochen, dazu zwei wöchentliche Abwaschtage. Auch wenn es eine Haushaltspflicht mehr für uns war, waren wir froh. Endlich durften wir entscheiden und kochen, was und wie es uns schmeckte. Spaghetti mussten nicht als dicke Stämme zusammenkleben, wir konnten sie im Salzwasser rühren und rechtzeitig aus dem Wasser holen. Reis ließ sich mit weniger Wasser bissfest statt zum Reisbrei garen. Die Zwiebeln mussten nicht verkohlen, weder sauer noch bitter schmecken, man konnte sie bei kleinster Hitze dünsten. Die Mehlschwitze für die Senfsauce war binnen Kürze frei von Klümpchen. Das übelste Essen war in meinen Augen Annas Linsensuppe mit wabbelig zerkochtem, knorpeligem Speck. Der Geruch, die Konsistenz, der Anblick. Es erzeugte Brechreiz. Vor solchen Tellern blieb ich einfach sitzen. Der Teller wurde mir am Abend und am nächsten Tag wieder vor die Nase gesetzt. Wenn alle aufstanden, musste ich sitzen bleiben und sollte dann eben hungern. Als die Letzte die Küche verlassen hatte, stand ich heimlich auf und brachte die Linsen zum Klo, wo ich noch beim Spülen würgte. Niemand durfte Essen wegwerfen. Zugleich