Lilys Versprechen - Lily Ebert - E-Book

Lilys Versprechen E-Book

Lily Ebert

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Beschreibung

Das bewegende Zeugnis einer Holocaust-Überlebenden Als die Holocaustüberlebende Lily Ebert 1945 befreit wird, steckt ihr ein amerikanischer Soldat einen Geldschein zu, den sie ihr Leben lang behält und viele Jahre später ihrem Urenkel Dov zeigt. Dov beschließt, diesen Soldaten über die sozialen Medien ausfindig zu machen. So kommt die 96-jährige Lily schließlich weltweit in die Schlagzeilen und kann endlich ihr Versprechen einlösen und der ganzen Welt von ihrem Schicksal und dem Grauen des Holocaust erzählen. In diesem bewegenden Lebensbericht erzählt Lily von ihrer glücklichen Kindheit in Ungarn, wie sie nach Auschwitz deportiert, als Zwangsarbeiterin in einer Munitionsfabrik eingesetzt wurde und einen Todesmarsch nur knapp überlebte. Es waren die kleinen Akte des Widerstands, die ihr immer wieder Kraft gaben, für das Überleben zu kämpfen. Obwohl die Vergangenheit immer auf ihr lastet, erhebt diese außergewöhnliche Frau bis ins hohe Alter ihre Stimme, um Zeugnis abzulegen, sodass sich dieses Grauen niemals wiederholen möge. Sunday Times Top-10-Bestseller »Äußerst fesselnd, herzzerreißend, wahrhaftig und zugleich erlösend, eine Erinnerung an den Holocaust, ein Zeugnis von unbändigem Geist und eine unvergessliche Familienchronik, geschrieben in klarer Prosa von einer wirklich bemerkenswerten Frau über ihr Leben von Ungarn bis Auschwitz, von Israel bis London. Einmal angefangen konnte ich es nicht mehr aus der Hand legen.« Historiker und Autor Simon Sebag Montefiore

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Seitenzahl: 426

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Lily EbertDov Forman

Lilys Versprechen

Lily EbertDov Forman

Lilys Versprechen

Wie ich Auschwitz überlebte und die Kraft zum Leben fand

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

3. Auflage 2022

© 2021 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Die englische Originalausgabe erschien 2021 bei Macmillan unter dem Titel Lily’s Promise. © First published 2021 by Macmillan, an imprint of Pan Macmillan, a division of Macmillan Publishers International Limited. All rights reserved.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Nadine Lipp

Redaktion: Iris Rinser

Umschlaggestaltung: Pamela Machleidt

Umschlagabbildung: Shutterstock/Jose Herrero Perez

Satz: reinsatz . Roman Heinemann

Druck: CPI

eBook by tool-e-byte

ISBN Print 978-3-7474-0404-1

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-791-5

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-792-2

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

In Erinnerung an meine geliebte Mutter Nina und meine Geschwister Bela und Berta – sie sind alle drei in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau ermordet worden. Dieses Buch ist auch den vielen Mitgliedern meiner Großfamilie gewidmet, die getötet wurden, und all jenen, die niemanden haben, der sich an sie erinnert.

INHALT

Dov

3. Juli 2020

Lily

1920er-Jahre

1930er-Jahre

1939 bis 1941

1942

19. März bis 15. Mai 1944

16. Mai bis 28. Juni 1944

28. Juni bis 3. Juli 1944

5. bis 9. Juli 1944

9. Juli 1944

Was ich nicht wusste

10. Juli 1944

Juli 1944

Zwischen Juli und August 1944

Einige Wochen im August 1944

Ende August 1944 (wahrscheinlich)

August oder September 1944

17. bis 26. September 1944

Oktober 1944

29. Oktober 1944

November 1944 bis April 1945

12. April 1945

Mitte April bis Anfang Mai 1945

Mai bis Juni 1945

22. Juni bis Ende Juli 1945

Juli 1945 bis Juni 1946

Dov

5. Juli 2020

Bildteil

Lily

Juni 1946

1946 bis 1948

Mai 1948

1948 bis 1950

1951 bis 1955

1956

1960

1967

1973 bis 1984

1984 bis 1985

1985 bis 1988

1988

1992 bis 1993

2010er-Jahre

2020

Dov

29. Dezember 2020

Dank

DOV

3. Juli 2020

North London

»Dov, lass uns was machen!«

Meine Urgroßmutter ist unruhig. Mit ihren 96 Jahren ist Lily es gewohnt, ihre Tage in Schulen zu verbringen, mit Kindern über ihre Erlebnisse in Auschwitz zu sprechen oder auf öffentlichen Veranstaltungen Vorträge zu halten. Sie hasst es, allein in ihrer Wohnung festzusitzen.

Der Lockdown aufgrund der Pandemie wurde endlich gelockert – zumindest vorläufig. Nachdem wir uns in den letzten Wochen immer nur durch ein Fenster unterhalten haben, sie hinter der Scheibe, wir im Garten, kann meine Familie nun endlich wieder den Schabbat mit Lily verbringen, wie wir es immer getan haben.

»Dov, lass uns was machen!«, sagt Lily.

Es ist Freitagabend, und wir sind um den Tisch versammelt. Wir sind alle so froh, wieder zusammen sein zu können, zünden gemeinsam die Schabbatkerzen an und segnen das Brot. Es ist ein ganz besonderer Abend und Lily ist voller Energie.

Aber ich merke, wie sehr sie ihr altes Leben vermisst. Sie hat sich immer darauf gefreut, neue Menschen kennenzulernen. Als Überlebende nimmt Lily ihre Rolle in der Holocaust-Erziehung sehr ernst. Es ist nicht leicht, aber sie ist fest entschlossen, etwas zu bewirken. Sie weiß, wie viel es den Menschen bedeutet, ihre Geschichte direkt von ihr zu hören, wie eine persönliche Begegnung mit ihr die Sicht auf die Vergangenheit und auch auf die Zukunft verändern kann.

»Mach dir keine Sorgen, Safta!« Wir alle nennen sie Safta, denn Mum hat sie als Kind immer so genannt. Das ist hebräisch für Großmutter. »Ich lass mir etwas einfallen.«

Was könnte ich tun?

Schulen, Museen und Universitäten haben zwar wieder geöffnet, aber niemand weiß, wann öffentliche Veranstaltungen wieder stattfinden können. Es könnte noch Jahre dauern. Wie viele Holocaustüberlebende werden bis dahin noch am Leben sein? Die Coronakrise hat mir eine sehr schmerzhafte Wahrheit vor Augen geführt: So zäh sie auch ist, so unsterblich sie auch wirken mag, sosehr ich sie auch liebhabe, meine Urgroßmutter wird nicht ewig leben.

Lily ist unglaublich abenteuerlustig und stets neugierig. Vor ein paar Jahren saß sie auf einem Sofa mitten im Bahnhof Liverpool Street und lud Pendler ein, sich zu ihr zu setzen, um mit ihr über den Holocaust zu sprechen. Letztes Jahr haben wir gemeinsam einen Twitter-Feed gestartet. Ich habe ein paar Mal über Lilys Vorträge zum Holocaust-Gedenktag im Januar getwittert.

Jetzt denke ich ernsthafter darüber nach, die sozialen Medien zu nutzen, um Safta und ihre Geschichte einem neuen Publikum vorzustellen. Ich habe so viel von ihr gelernt. Jeder, der sie kennenlernt, bewundert sie. Und wenn es jemals eine wichtige Zeit gab, ihre Botschaft der Toleranz zu verbreiten, dann ist es wohl jetzt.

»Vielleicht können wir einen weiteren Tweet absetzen?«, schlage ich vor.

»Oder einen weiteren Schulbesuch machen?«, antwortet sie eifrig.

Vor zwei Wochen habe ich ihren ersten Zoom-Auftritt organisiert. Lily hat meinem Geschichtslehrer ihre Erlebnisse geschildert und seine Fragen sorgfältig beantwortet. Sie hatte vorher noch nie etwas von Zoom gehört, aber sie hat es wie ein Profi gemacht. Ich war so stolz auf sie. Ich habe Kontakt zu einem Journalisten von der Jewish News aufgenommen. Wie wäre es mit einem Artikel darüber, wie Überlebende jetzt die Lektion des Holocaust online unterrichten?

»Das ist nicht so gut wie in der persönlichen Begegnung – ich möchte mein Publikum sehen«, hat Lily erwidert. »Aber meine Generation war schon immer daran gewöhnt, sich an neue Situationen anzupassen. Wenn man etwas tun muss, dann tut man es. Es ist immer gut, das Beste aus dem zu machen, was man im Leben hat.«

Ich habe einen Tweet mit dem Link zu ihrem Interview gepostet. Er bekam 65 Likes. Nicht schlecht, dachten wir alle.

Aber was jetzt? Für den Rest des Schabbats befrage ich sie zu ihrer Lebensgeschichte. Meine Mutter Nina fängt auch an, Fragen zu stellen. Genau wie ich hat sie sich schon immer sehr für unsere Familiengeschichte interessiert. Wir sind beide mit dem Wissen aufgewachsen, dass Safta eine Überlebende ist; wir wissen, warum sie immer ein Stück Brot neben sich liegen hat und warum sie nicht mitansehen kann, wie Essen verschwendet wird. In ihrer Gegenwart haben wir nie mit Spielzeugpistolen gespielt oder uns geprügelt. Wir haben sie oft in der Öffentlichkeit sprechen hören, und doch gibt es vieles, was ich immer noch nicht über sie weiß.

Was genau geschah mit Lily und ihren Schwestern nach Auschwitz? Wie hat sie sich gefühlt, als der Krieg zu Ende ging? Warum ist sie nicht nach Hause, nach Ungarn zurückgegangen?

»Wie war das, Safta?«, frage ich. »Wie hast du die Kraft gefunden, weiterzumachen?«

»Man muss weitermachen. Man muss immer weitermachen.«

Früher hatte Lily die Regel aufgestellt, am Schabbat nie über den Holocaust zu sprechen. An diesem Tag sollte man nicht über traurige Dinge nachdenken. Ich erinnere mich, dass ich entsetzt und verlegen war, als einer meiner Freunde sie an einem Samstag nach der Synagoge fragte, ob er ihre Tätowierung sehen könne. Er war in der sechsten Klasse, ein Jahrgang über mir, und in der Schule hatten sie gerade angefangen, über den Holocaust zu sprechen. Er wollte mehr wissen und hatte viele Fragen. So sah auch ich zum ersten Mal Lilys Tätowierung richtig. Es war ein schockierender Moment, den ich nie vergessen werde. Und wir haben jahrelang nicht mehr darüber gesprochen.

Aber in letzter Zeit scheint sie ihre Meinung über die Art von Gesprächen, die wir am Schabbat führen können, geändert zu haben. Ich glaube, wir alle haben plötzlich ein neues Gefühl der Dringlichkeit gespürt. Neue Geschichten, die wir noch nie gehört haben, sprudeln aus Safta heraus. Und je mehr sie erzählt, desto mehr will ich wissen.

»Wie war es? Wie hast du dich gefühlt?«

»Wenn man nicht dabei war, kann man es nicht wirklich verstehen.«

Aber ich will es versuchen. Um ehrlich zu sein, habe ich mich bisher nicht getraut, zu viele Fragen zu stellen. Jedes Mal, wenn sie über die Vergangenheit spricht, muss sie sie wieder durchleben. Ich will ihr nicht wehtun. Aber gleichzeitig möchte ich wirklich genau wissen, was ihr passiert ist. Ich möchte mir alles ganz genau vor Augen führen. Ich bin 16. Lilys kleine Schwester Piri hat ein Nazi-Konzentrationslager und Zwangsarbeit überlebt, bevor sie 16 wurde.

Ich habe schon viel über Auschwitz nachgedacht. Ende des Jahres soll ich eine Klassenfahrt dorthin machen. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass das jetzt noch stattfindet? Lily wollte uns begleiten.

Alles ist in der Schwebe. Alles ist so unberechenbar. Das Leben fühlt sich in diesen Tagen viel zerbrechlicher an als sonst.

Ich will nicht, dass diese Geschichten verschwinden. Ich möchte einen Weg finden, all das, was Lily uns gegeben hat, für immer zu bewahren.

Am nächsten Abend, am Ende des Schabbats, bringen meine Mutter und ich Lily zurück in ihre Wohnung.

»Warum kommt ihr nicht rein?«, fragt sie. »Ich habe ein paar Sachen, die ich dir zeigen möchte, Dov.«

»Hoffentlich kannst du sie auch finden, Safta«, scherzt Mum.

Saftas Wohnung ist übervoll mit irgendwelchem Kram. Ich glaube nicht, dass sie jemals etwas weggeworfen hat. Nur sie weiß, was alles da ist und wo es sich befindet.

Ich warte, während sie in ihrem Schrank kramt. Als sie sich umdreht, strahlt sie.

»Schau dir das an!«

Stolz hält sie ein Fußballtrikot hoch. Es ist königsblau mit gelben Streifen. Ich kann die Mannschaft aber nicht erkennen.

»Wow!«, versuche ich interessiert zu klingen.

»Das ist Maccabi, aus Tel Aviv. Sie haben es mir geschenkt, als ich hingefahren bin, um meine Geschichte zu erzählen. In welchem Jahr war das? Egal. Schau – es ist signiert!«

»Toll!« Und dann entdecke ich den leuchtend orangefarbenen Einband eines dicken kleinen Albums hinter ihr im Schrank.

»Safta, was ist denn das? Dieses Album da. Darf ich es mir ansehen?«

Wir setzen uns nebeneinander und fangen an, darin zu blättern. Die Seiten sind aus Plastik, wie durchsichtige Brieftaschen, und jede einzelne ist mit winzigen Schwarz-Weiß-Fotos gefüllt. Einige davon sind eher braun-weiß. Viele haben diese lustigen weißen gewellten Ränder.

Ich glaube nicht, dass ich jemals zuvor Fotos von Lilys Familie gesehen habe, zumindest keine aus der Zeit vor dem Krieg. Die ersten Bilder wirken sehr förmlich. Bis auf eines, das leicht verschwommen ist: Drei kleine Kinder stehen in einer Reihe in einem Garten, sie schauen feierlich und ernst und halten sich an den Händen.

»Das bin ich. Das ist mein Bruder Imi. Das ist René. Ich war die Älteste.«

»Ich weiß, Safta! Du bist immer noch die Älteste!«

Ein anderes Foto von später, kurz vor der Deportation, zeigt Lily mit ihrem Bruder und allen drei Schwestern. Die Mädchen sind gleich gekleidet, außer Lily, und sie haben große Schleifen im Haar. Moment! Müsste da nicht noch ein Bruder stehen?

Lily schaut mich traurig an. Sie antwortet erst nach einer Pause, nachdem sie kurz den goldenen Anhänger, den sie immer trägt, berührt hat.

»Bela hat seine Thorastudien so ernst genommen. Er wollte an diesem Tag nicht den Cheder verpassen.«

Da sind ihre Eltern, die mir fremd und zugleich vertraut vorkommen. Ihre Mutter hieß Nina, genau wie meine Mutter. Sie hat ein schüchternes, leicht schiefes Lächeln. Und da ist ihr Vater mit Mantel und Hut. Ahron. Oh, wie mein Großonkel Roni! Da ist ein weißbärtiger Rabbi in einem langen Mantel. Und dann taucht ein verblasstes Sepia-Foto von einem Mann mit Schläfenlocken auf. Er sieht sehr streng aus.

»Mein Großvater«, sagt Lily. »Mein Engelman-Großvater. Der Vater meiner Mutter war Rabbi.«

»Wow! Toll!«, sage ich, und diesmal meine ich es ernst.

Am Ende des Albums sehen die drei ältesten Schwestern schon ziemlich erwachsen aus. »Wo bist du hier?«, frage ich. »Wer sind all die anderen Mädchen?«

»Oh, das sind meine Freundinnen in der Schweiz. Ungarische Überlebende, wie wir. Und das bin ich mit meinen Schwestern. Das ist René. Das ist Piri.«

Sie sehen sich alle so ähnlich, besonders Lily und Piri.

Als ich das Album näher ans Licht halte, damit ich die Bilder besser sehen kann, flattert etwas heraus.

»Was ist das?«, frage ich und hebe es auf. »Ein Geldschein? Ein deutscher?«

»Oh ja! Ein amerikanischer Soldat hat ihn mir nach unserer Befreiung gegeben. Schau, das ist seine Handschrift.«

»Das hast du mir nie gezeigt, Safta!«, sagt Mum.

»Ich hab nicht gedacht, dass sich jemand dafür interessieren könnte«, sagt Lily. »Ich dachte, er wäre nur für mich etwas Besonderes.«

Ich muss den Geldschein umdrehen, um zu lesen, was draufsteht. Die altmodische Schrift geht um die Ecke herum, der einzige Platz, der für die Botschaft übrigbleibt: »Der Start in ein neues Leben. Viel Glück und Freude.«

Zehn Wörter der Hoffnung.

Oben stehen ein paar Buchstaben, die wie Hebräisch aussehen, aber ich kann sie nicht entziffern. Und unten hat der Soldat »Assistent von Kaplan Schacter« geschrieben.

»Wer war er?«, frage ich. »Wie hieß er?«

»Oh, ich kann mich nicht mehr erinnern! Das ist über 75 Jahre her. Er war ein jüdischer Soldat. Das weiß ich. Jüdisch-amerikanisch. So freundlich. Wir waren es nicht mehr gewohnt, dass jemand nett zu uns ist.«

Und plötzlich ist sie still. Sie ist wieder in der Vergangenheit, erinnert sich an einige Dinge und vergisst andere.

»Warum in aller Welt hat er etwas auf einen Geldschein geschrieben?«, frage ich.

»Er konnte kein Papier finden und wollte mir etwas auf einen kleinen Zettel schreiben. Als wir Deutschland verlassen haben, nehme ich an. So ein netter Mann.«

»Ich werde ihn für dich finden«, verspreche ich. »Ich werde es auf Twitter posten. Ich wette, jemand da draußen wird ihn aufspüren können.«

Lily lacht. Die Art von Lachen, die bedeutet: »Sei nicht albern!«

Mum fängt auch an zu lachen und rollt mit den Augen.

»Wartet’s nur ab. Social Media kann unglaublich sein«, beharre ich. Um ehrlich zu sein, bin ich mir aber nicht sicher, ob das klappt. Aber man weiß ja nie. In den sozialen Netzwerken passiert so viel Schreckliches. Ich möchte beweisen, dass auch Gutes passieren kann.

»Lass uns jetzt ein paar Fotos machen. Ich werde sie morgen Früh tweeten.«

Lily streckt ihre Hände aus – winzig, faltig –, und ich lege den Geldschein in ihre Hände. Ich fotografiere die Rückseite und auch die Vorderseite, auf der die Botschaft des Soldaten deutlich zu sehen ist. Und dann fotografiere ich noch ein Bild von Lily und ihren Schwestern ab; sie haben identische karierte Kleider an – ein echter Hingucker! Sie lächeln in Gesellschaft einiger amerikanischer GIs. Vielleicht ist der Soldat mit dem Geldschein ja einer von ihnen.

»Gib mir vierundzwanzig Stunden«, sage ich zu Lily. Sie lacht immer noch. »Ich wette mit dir, dass ich ihn finden kann.«

Und dann schauen wir uns wieder die Familienfotos an, und Safta erzählt mir und meiner Mutter von ihrem glücklichen Leben in Ungarn vor dem Krieg, in der Kleinstadt Bonyhád, wo sie aufgewachsen ist.

LILY

1920er-Jahre

Ich war eine geborene Anführerin. Von Anfang an schauten alle meine Brüder und Schwestern zu mir auf. Es stand außer Frage, dass sie nicht tun würden, was ich sagte. Natürlich war ich die Älteste von uns sechs, aber es entsprach auch meinem Charakter. Ich hatte gern das Sagen, übernahm gern Verantwortung, und die anderen waren froh darüber – sogar Imi, mein ältester Bruder, der mir dicht auf den Fersen war und kaum ein Jahr jünger als ich. Sie wussten, dass ich am besten wusste, was zu tun war. Und das hat uns später allen geholfen.

Ich war also das erste Kind in der Familie, das beim Sederabend zu Beginn des Pessachfestes mit den Erwachsenen am Tisch sitzen durfte. An diesem Abend feierten überall in unserem kleinen, geschäftigen Städtchen im Südwesten Ungarns viele Familien den Seder. Im Dezember 1923, als ich geboren wurde, war von den fast 7000 Einwohnern von Bonyhád etwa jeder achte jüdischen Glaubens. Als meine Ururgroßeltern ein Jahrhundert zuvor dort aufgewachsen und noch nicht alle Religionen in Ungarn gleichberechtigt waren, sind ein Drittel der Einwohner Juden gewesen. Alle in unserer alteingesessenen Gemeinde freuten sich auf jeden Jom Tov, also auf die religiösen Feiertage. Seit Generationen genossen wir die geistige Führung bedeutender Rabbiner und angesehener Talmudgelehrter.

Mein erster Sederabend muss im April 1928 gewesen sein. Ich war vier Jahre alt und das einzige Kind in unserem Haushalt, das alt genug war, um lange aufzubleiben. Alles war schön hergerichtet – Salzwasser, bittere Kräuter, gebratenes Ei, Meerrettich, Wein, Matze und andere symbolische Speisen – und die Kerzen wurden angezündet. Ich war so stolz, als ich das Ma Nishtana sagen durfte und meinen Vater klar und laut fragte, so wie ich es geübt hatte: »Warum ist diese Nacht anders als alle anderen Nächte?«

Nichts fand ich schöner, als mit den Erwachsenen zusammen zu sein. Ich erinnere mich wieder an dieses Gefühl, als ich etwa zehn Jahre alt war und bei meiner Tante zum ersten Mal schwarzen Kaffee getrunken habe. Natürlich schmeckte er furchtbar bitter, aber ich tat so, als würde er mir schmecken. Eigentlich gefiel mir nur die Tatsache, dass ich ihn trank.

»Jetzt gehöre ich zu den großen Leuten«, sagte ich mir. Und weil ich mich wie eine Erwachsene benahm, auch als ich noch klein war, respektierten meine Brüder und Schwestern mein Urteilsvermögen.

An einem Schabbat, als unsere Eltern in der Synagoge waren, spielten wir wie immer in unserem großen Garten. Er war wirklich riesig und bot Platz für alles. Vorne blühten Blumen in allen Farben: goldene Chrysanthemen und große gelbe Sonnenblumen. Wir liebten es, die schlaffen Köpfe der Sonnenblumen abzuschneiden, die gestreiften Kerne herauszupicken, sie im Ofen zu rösten und einzeln aufzuknacken oder sie an unsere Hühner zu verfüttern. Wir hatten auch eine große Wiese, auf der wir endlos Ballspiele spielten. Dann war da noch der ausladende Walnussbaum, dessen Äste leicht zu erreichen waren und dessen leuchtend grüne Früchte uns anlockten, noch bevor die Schalen aufbrachen. Wir konnten nie widerstehen, sie frühzeitig aufzubrechen, um an die Nüsse zu kommen. Und immer wieder bekamen wir ganz fleckige und schwarze Finger von unseren Bemühungen.

Hinter dem Haus, an den Nebengebäuden vorbei, in denen Holz und Kohle gelagert wurde, kam man zum Obst- und Gemüsegarten. Wir hatten Apfelbäume, Pflaumenbäume, Kirschbäume … alle Arten von Obstbäumen, die man sich vorstellen kann. Mais, Tomaten, Paprika natürlich auch. Ein Gärtner erledigte einen Großteil der schweren Arbeit, aber wir halfen auch abwechselnd beim Gießen und Pflücken. Im Sommer gab es immer etwas, was für den Winter eingeweckt werden musste, und im Winter etwas, was für den Sommer aufbewahrt werden musste. Gurken zum Einlegen. Obst, das in Flaschen abgefüllt oder zu Marmelade eingekocht werden musste. Aber dieser Tag, von dem ich eigentlich erzählen will, war ein Samstag – und wir waren eine orthodoxe Familie und viele unserer Nachbarn waren ebenfalls Juden.

Das Problem war, dass es außerdem ein schöner Sommertag war. Wir waren ein wenig gelangweilt und hungrig, und keine erwachsene Person war in der Nähe. Und das Obst sah einfach so köstlich aus.

»Am Schabbat wird nicht gepflückt!«, ermahnte ich meine Geschwister.

Wir kannten alle die Regeln. Es gibt 39 verschiedene Arten von Arbeit, die am Schabbat verboten sind, und das Ernten ist eine davon.

Ich war wirklich ein braves Mädchen, vielleicht zehn oder elf Jahre alt. Ich hatte Verantwortung und meinen Ruf zu wahren. Meine Schwester René, immer lachend und lebhaft, war zweieinhalb Jahre jünger. Nach ihr kam Piri, geboren 1929, ein ordentliches und anspruchsvolles Kind, sehr künstlerisch, aber viel schüchterner als René. Obwohl René sehr kontaktfreudig war, war ich bei Weitem die Extrovertierteste von uns allen. Bela, unser anderer Bruder, war nochmal drei Jahre jünger als Piri – die erste Geburt, an die ich mich im Haus erinnere –, und Berta muss noch ein Kleinkind gewesen sein. Wir waren alle gleich angezogen, in unseren besten Kleidern. Wir hatten immer schöne, saubere Kleider.

»Kein Pflücken …«, wiederholte ich langsamer, denn ich hatte eine Idee. Ich musterte den Apfelbaum, schaute auf die niedrigen Äste und dann auf Imi, der schon so groß war wie ich. »Aber es spricht doch nichts dagegen, dass wir direkt vom Baum essen.«

Und genau das taten wir dann auch. Mit dem Kopf im Nacken, die Hände fest auf dem Rücken verschränkt und gehorsam bis zum Schluss, stürzten wir uns mit dem Mund auf die glänzende Frucht und bissen in ihre glatte Haut. Aber nicht pflücken! Nicht gegen das Gesetz verstoßen. Die Kleinen knabberten an den Johannisbeersträuchern wie junge Ziegen. Sie hockten sich fröhlich hin, und wir steckten mit unseren Lippen die säuerlichen Beeren direkt in die hungrigen Münder.

Ich war immer die mit den Ideen, und Imi war der, der sie ausführte. Wir waren ein perfektes Team. Er konnte so gut mit den Händen umgehen – wie Piri – und hatte die geschicktesten Finger. Ich traute ihm alles zu. Mehr noch, ich dachte, er würde alles für mich tun. Wenn ich einen wackeligen Zahn hatte und ihn loswerden wollte, zog Imi ihn mit einem Faden, der an einer Türklinke befestigt war, und einem kräftigen Knall heraus. Eines Tages, als er noch jünger war, setzte ich mir in den Kopf, dass ich mit den Bommeln spielen wollte, die rundherum um die schwere, bestickte Tischdecke angenäht waren, es war eine besondere Decke, die nur zu festlichen Anlässen oder wenn Besuch da war herausgeholt wurde. Ich bat ihn, sie für mich abzuschneiden. Schnipp, schnapp! Eifrig bemüht, mir eine Freude zu machen, schnitt er alle ab.

Beide waren wir von kleinen Lebewesen fasziniert. Wir sammelten Grillen, Würmer, Schnecken und Frösche aus dem Garten und beobachteten sie stundenlang, um herauszufinden, wie sie sich bewegten, wie sie aßen oder ihre seltsamen Geräusche machten.

Ich war gern mit Imi zusammen, weil er mir immer half, das zu tun, was ich tun wollte; er hörte sich meine Ideen genau an, und gemeinsam setzten wir sie in die Tat um.

Unsere Eltern kauften Berta einmal eine schöne neue Porzellanpuppe, die sie in der Stadt gesehen und in die sie sich verliebt hatte. Unsere jüngste Schwester war aufgeweckt und quirlig, und sie konnte unseren Vater um den kleinen Finger wickeln. Wir alle liebten sie. Die Puppe war etwas ganz Besonderes und Ungewöhnliches, denn wenn man sie auf den Rücken legte, schlossen sich ihre Augen wie von Zauberhand. So etwas hatten wir noch nie gesehen!

»Wie um alles in der Welt kann das sein?«, fragte ich mich. »Imi, du musst mir helfen, das herauszufinden.«

»Was soll ich denn machen?«

»Lass uns den Kopf zertrümmern, dann können wir sehen, wie der Mechanismus hinter den Augen funktioniert!«

Er war ein williger Komplize. Ich nehme an, er war genauso neugierig. Aber es hat nichts genützt. Beim Zerschlagen des Kopfes ging auch der Mechanismus kaputt, und so blieben wir ohne Antwort und ohne Puppe zurück. Die arme Berta! Sie war aber sehr versöhnlich. Vielleicht dachten wir auch, unser Vater Apu würde ihr schnell einen Ersatz kaufen? Immerhin hatte sie ihn nicht zweimal um den großen, roten, gepunkteten Ball bitten müssen.

Ein anderes Mal wollte ich wissen, wie eine Uhr funktioniert, was im Inneren des tickenden Silbergehäuses passiert. Natürlich bat ich Imi, sie auseinanderzunehmen, damit wir beide es sehen konnten. Nachdem er mir die Zahnräder und Federn der Uhr unserer Mutter gezeigt hatte, wollten wir uns natürlich auch die unseres Vaters ansehen. Ich habe Imi immer dazu angestachelt. Wie konnte man mich beschuldigen? Ich hatte doch nichts falsch gemacht!

Meine Eltern wussten genau, wer hinter all dem Unfug steckte. Aber irgendwie kann ich mich nicht daran erinnern, dass einer von uns Ärger bekommen hätte oder bestraft worden wäre.

»Oh, mein Kind!«, pflegte Apu zu sagen. Er sprach lieber Deutsch als Ungarisch, und ein Großteil seiner Geschäfte wurde auf Deutsch abgewickelt. »Ich hätte nicht gedacht, dass du das tun würdest!«

Und in Zukunft passten unsere Eltern – Apu und Anyuka – besser auf, ihre Uhren nicht unbewacht zu lassen.

Sie waren gar nicht erfreut, als sie entdeckten, dass ich die Tür eines Hühnerkäfigs geöffnet hatte, um die Hühner in die Freiheit zu entlassen. Die Vögel taten mir so leid, so eingepfercht, einer auf dem anderen, und sie sahen so elendig aus. Aber meine Eltern haben nur zweimal die Grenze gezogen, soweit ich mich erinnern kann. Das war eigentlich ganz vernünftig von ihnen. Imi und ich sind mit unserem Plan, die kleine René zu verkaufen, gescheitert. Nicht, dass es sie gestört hätte. Selbst als sie noch winzig war, hat René alles getan, um eine andere Person glücklich zu machen.

Und Imi wollte unbedingt ein eigenes Lamm als Haustier haben. Er hörte einfach nicht auf, von dieser Idee zu reden, und bettelte unsere Eltern an. Er machte sich sogar die Mühe, einen Stall auf der Wiese zu bauen, in dem es leben sollte. Doch es kam nie ein Lamm zu uns.

Apu und Anyuka wussten, dass wir abenteuerlustig und vielleicht spitzbübisch waren, aber wir waren niemals bösartig oder grausam. In der Schule waren wir im Allgemeinen höflich und haben uns gut benommen, und das war ihnen wichtig. Sie brachten uns natürlich Respekt bei: Kein Kind hätte sich jemals auf den Stuhl unseres Vaters am Kopfende des Esstisches gesetzt oder wäre ihm ins Wort gefallen. Die Konversation zwischen den Generationen war nicht annähernd so frei, wie sie es heute ist. Wir erwarteten nicht, dass man uns ins Vertrauen zog, und wir stellten keine persönlichen Fragen. Bis heute habe ich keine Ahnung, wie sich meine Eltern kennengelernt haben.

Meine Mutter wurde 1897 in eine große Rabbinerfamilie hineingeboren und wuchs in einem Sommerurlaubsort namens Szenc oder Senec in der Nähe von Bratislava auf, das zum alten Königreich Ungarn gehörte und dann Teil der Tschechoslowakei wurde, einer Republik, die nach dem Ersten Weltkrieg und seinen Verträgen gegründet wurde. Mein Vater, zwölf Jahre älter als seine Frau, wurde in Bonyhád geboren – wie sein Vater, sein Großvater, sein Urgroßvater und alle seine zahlreichen Cousins und Cousinen, Neffen und Nichten. Genau wie wir wuchsen sowohl Nina Breznitz als auch Ahron Engelman in großen, eng verbundenen jüdischen Familien der Mittelschicht auf; sie waren durch und durch ungarisch, wohlhabend und in jeder Hinsicht sicher. Warum sollte sich daran etwas ändern?

Wenn ich zurückblicke, erinnere ich mich nur an harmonische Stunden in unserem Haus. Es war laut, aber friedlich. Wenn Apu und Anyuka jemals miteinander schimpften, haben wir Kinder das sicher nicht gehört. Wenn wir Kleinen uns stritten, war das schnell vergessen. Dazu trug bei, dass René von Natur aus ein sehr freundlicher Mensch war, sie vermied tunlichst Meinungsverschiedenheiten. Wann immer Anyuka jemanden bat, den Tisch zu decken oder aufzuräumen, war sie die Erste, die loslief und half. Wenn jemand etwas brauchte, war sie immer zur Stelle und bereit, alles zu tun, was sie konnte.

Jeder von uns durfte sie oder er selbst sein. Wie mein Vater war auch Piri ziemlich Hygiene-besessen. Sie konnte es zum Beispiel nicht ertragen, etwas zu essen, was eine andere Person berührt hatte. Aber das war in Ordnung. Unsere Mutter und unser Vater waren sehr verständnisvoll. Wenn Apu am Freitagabend den Kiddusch sprach, den Segensspruch über den Wein des Schabbatmahls, und dann der große silberne Kelch am Tisch herumgereicht wurde, damit jeder in der Familie in der Reihenfolge seines Alters einen Schluck nehmen konnte, bekam Piri ihren eigenen Becher.

Ich hatte wirklich die besten Eltern, die sich ein Kind nur träumen kann: Sie waren freundlich, ruhig, liebevoll und sehr nachsichtig. Ich glaube, sie hielten uns trotz unserer Eskapaden für die klügsten und schönsten Kinder auf der ganzen Welt. Wir wuchsen in einer Art Kokon auf, so sicher und geschützt vor dem Übel der Welt, dass wir nicht einmal wussten, dass es das Böse gab.

Jeden Morgen kam Apu in die Küche und trank einen sehr heißen Kaffee und schleckte den Rahm von der Milch, die wir jeden Tag beim Bauern am Stadtrand holten. Der Bäcker kam an allen Häusern vorbei und trug kleine Butterbrötchen, Zemmel genannt, auf seinem Rücken. Die aßen wir zum Frühstück, bevor wir in die Schule liefen.

Wir waren nicht die wohlhabendste Familie, und unser Haus war nicht besonders groß, aber es lag in einer der schönsten Straßen der Stadt: Perczel Mór Nummer 32. Unsere Nachbarschaft war sehr freundlich, und uns Kindern fehlte es an nichts. Wir hatten wirklich überhaupt keine Sorgen im Leben. Und ihr könnt euch gar nicht vorstellen, welche Freiheit wir genossen haben. In den breiten, von Bäumen gesäumten Straßen lauerten keine Gefahren: Es gab nur wenige Fremde und nur ein einziges Auto in der ganzen Stadt, ein Taxi, das die Leute zum dreißig Kilometer entfernten Bahnhof in Szakály-HŐgyész brachte. Man konnte auch einen ziemlich klapprigen Bus nehmen. Der kleine Bahnhof von Bonyhád wurde hauptsächlich von Güterzügen genutzt. Ansonsten gab es nur Pferde und Esel, Kutschen oder Fuhrwerke und, in den langen, schneereichen Wintern, Schlitten.

Manchmal spielten wir auf dem Dachboden. Das Haus hatte nur ein Geschoss, und in dem großen Dachraum hängten wir im Winter die Wäsche zum Trocknen auf und bewahrten das Pessachgeschirr und -besteck auf. Es gab dort auch viele geheimnisvolle alte Papiere und Briefe, die meinem Vater und Großvater gehörten, mit interessanten Briefmarken auf den Umschlägen, die wir gerne abnahmen, um sie in unsere Sammlungen zu stecken. Das Spielzeug, das wir drinnen am liebsten hatten, war ein wunderschönes, grauscheckiges Schaukelpferd mit echtem Rosshaar als Mähne und Schweif, einem Ledersattel und Zügeln sowie richtigen Steigbügeln aus Metall.

Aber meistens waren wir draußen, spielten Ballspiele, hüpften oder rutschten auf der einfachen Schlittschuhbahn, die wir jedes Jahr im November, sobald das Wetter eisig wurde, im Garten anlegten, indem wir Wasser auf den Rasen gossen. Die Winter waren sehr kalt, aber wir spielten gerne draußen im Schnee und kamen dann ins Haus, um unsere durchgefrorenen Finger am Herd zu wärmen. Weiche Pelzmützen und Muffs hielten uns warm, wenn wir Schlitten fuhren.

Viele unserer Freunde waren unsere Verwandten, und unsere Verwandten waren unsere Freunde. Das ganze Jahr über liefen wir ungehindert zwischen den Häusern hin und her, wann immer wir wollten, weil wir sicher sein konnten, dass es überall jemanden gab, mit dem wir spielen konnten, oder dass wir genug Leute für ein Spiel zusammentrommeln konnten. Obwohl sie die Ruhigste war, war Piri besonders beliebt. Ihre Freunde kamen ständig vorbei. Sie mochten sie, weil sie so freundlich und umgänglich war und man sich mit ihr unterhalten konnte. Auch Berta hatte sehr viele Besucher.

Eine meiner liebsten Gefährtinnen war meine Cousine Hilda, die fast genauso alt war wie ich und auch in meine Klasse ging. Sie war größer und ruhiger als ich und ein so kluges Mädchen. Sie war sehr hübsch, hatte glattes braunes Haar und braune Augen, ein bisschen wie meine. Sie war die Jüngste in ihrer Familie, hatte drei ältere Schwestern und einen Bruder. Wir spielten viel zusammen, aber als wir älter wurden, unterhielten wir uns mehr.

Bonyhád war ein freundlicher, geschäftiger Ort mit vielen kleinen Läden, ein paar größeren Geschäften, ein paar kleinen Fabriken, einem Freibad, zwei aktiven Synagogen und drei Kirchen. Und es war voll von Engelman-Familienmitgliedern. Die meisten waren auf die eine oder andere Weise geschäftlich tätig, und niemand wohnte oder arbeitete weiter als zehn oder zwanzig Minuten Fußweg voneinander entfernt. Zwei meiner Onkel, Leo und Sandor, hatten ein großes Porzellangeschäft in der Horthystraße 4. Apus eigenes Geschäft war nicht weit von unserem Haus und dem seiner Brüder entfernt, und wir liefen oft hin und her, um Nachrichten zu überbringen. Mein Vater verkaufte Textilien. In den Regalen stapelten sich die verschiedenen Stoffrollen bis zur Decke: warme Wolle, bunte Baumwolle, edle Seide und Satin, praktische Stoffe für die Arbeitskleidung, und das meiste wurde per Post aus der ganzen Welt nach Bonyhád bestellt, sodass mein Vater selbst nicht viel reisen musste und nur selten von zu Hause weg war. Aber es gab so viel Papierkram zu erledigen! Es schien, als würde er ständig Briefe schreiben. Der Laden hatte mehrere Angestellte, adrett gekleidete Männer mit hölzernen Meterstäben, mit denen sie auf großen Tischen den Stoff für die Kunden abmaßen, bevor sie ihn mit glänzenden Scheren zuschnitten.

Und natürlich waren wir selbst sehr gut gekleidet. Meine Mutter ließ drei- bis viermal im Jahr neue Kleider für die ganze Familie anfertigen. Als Älteste hatte ich nicht nur mehr Privilegien und Spielzeug, sondern auch mehr neue Kleider als die anderen. Aber natürlich wollte meine Mutter, dass wir uns alle gleich anzogen, sei es für die Synagoge oder für Familienfeiern. Wenn ich also ein neues Outfit bekam, bekamen alle meine Schwestern das gleiche. Ich erinnere mich, dass Matrosenanzüge in den frühen 1930er-Jahren in Ungarn der letzte Schrei waren. In England auch, wie ich später erfuhr. In einem Jahr trugen wir alle sechs identische, adrette Matrosenanzüge mit großen, quadratischen weißen Kragen und marineblauen Bändern, die vorne zusammengebunden wurden. Wir sahen wie eine Mannschaft aus und fühlten uns auch wie eine.

An den ganz besonderen Tagen – den Geburts- und Feiertagen – durfte ich meine goldene Kette mit dem Engelanhänger tragen. Der Anhänger war ganz einfach: ein goldenes Plättchen mit einem winzigen, nachdenklichen Engel, das Kinn in die Hand gestützt und der Blick wehmütig nach oben gerichtet. Ein süßer und unschuldiger Anhänger, der einem unschuldigen kleinen Mädchen geschenkt worden war, als es noch zu jung war, um sich genau zu erinnern, wann und warum. Vor Kurzem habe ich entdeckt, dass mein Engelchen einem Engel aus einem berühmten italienischen Gemälde nachempfunden ist – dem Gemälde mit dem beliebten Engelspaar am unteren Bildrand, Raffaels Sixtinische Madonna. Meine Mutter bewahrte meinen Anhänger in einer kleinen Schachtel in ihrem Kleiderschrank auf. An den Tagen, an denen sie wollte, dass ich gut aussah, holte sie die Halskette hervor und legte sie mir um. Da freute ich mich ganz besonders und fühlte mich geliebt.

Ich glaube, ich hatte die besten Eltern auf der ganzen Welt.

1930er-Jahre

Das Einzige, was meinen Eltern wirklich sehr wichtig war, war die Bildung. Sie wollten, dass wir lernen, und taten alles, um es uns leicht zu machen. Glücklicherweise waren wir alle recht gut in der Schule und lernten schnell. So wurde ich ein Jahr früher auf die jüdische Grundschule geschickt, die wir alle besuchten, Jungen und Mädchen zusammen, drei Jahrgänge in einer Klasse. Am Anfang hatte jeder von uns seine eigene kleine Tafel. Später bekamen wir Papier, auf das wir schreiben und zeichnen konnten.

Ich erinnere mich, dass ich eines Tages in Tränen ausgebrochen bin, weil einige Kinder Bücher bekamen und ich nur Blätter.

»Aber ich kann doch auch lesen und schreiben!«, sagte ich der Lehrerin. »Warum darf ich kein Buch haben?«

»Mach dir keine Sorgen! Diese Kinder sind schon älter. Niemand bekommt im ersten Jahr ein Buch«, erklärte sie, und das hat mich getröstet.

Für Imi war es in der Schule anfangs schwieriger, weil er Linkshänder war – wie Piri – und man ihn zwang, mit der rechten Hand zu schreiben. Aber er holte schnell auf, war klug und fleißig, sodass er am Ende alle Reifeprüfungen in einem Jahr statt in zwei Jahren machte, als er erst 15 oder 16 war. Jeden Tag nach der Schule ging er ins Beth midrash, ins Studienhaus neben unserer schönen neuen Synagoge, um die Thora zu studieren. An dunklen Winterabenden ging Imi, der unbedingt weiterlernen wollte, nach draußen und arbeitete im Licht der elektrischen Straßenlaternen, da ihm die Beleuchtung im Haus zu schwach war.

Heute bin ich im Nachhinein schockiert, wenn ich darüber nachdenke, wie sich unsere Lehrer zum Teil verhalten haben. Anstatt die Kinder, die sich mit dem Lernen schwertaten, zu ermutigen, demütigten sie sie. Wenn jemand eine Matheaufgabe nicht lösen konnte, rief der Lehrer ein Kind aus einer der jüngeren Klassen herbei und ließ es die Frage beantworten. Da ich so gut mit Zahlen umgehen konnte, wurde ich oft in die älteren Klassen geholt. Trotzdem war es eine schreckliche und gar nicht pädagogisch gute Art zu unterrichten!

Ich bekam in der Schule immer nur für eine Sache Ärger: dass ich die Antworten herausschrie. Ich konnte nicht anders. Ich wollte nur eine gute Schülerin sein.

»Lily, sei still!«, sagte die Lehrerin immer. (Mein richtiger Name war Livia Engelman, aber alle nannten mich immer schon Lily.)

Wir mussten viele Gedichte auswendig lernen, auf Ungarisch und auch auf Deutsch – wir sprachen beide Sprachen sehr gut –, und ich kann mich noch an sie erinnern. Je älter wir wurden, desto mehr Gedichte mussten wir lernen. Das war nicht sehr fair, denn manche Kinder haben ein gutes Gedächtnis und andere nicht so. Ich hatte Glück, denn mir fiel es leicht. Zu Hause hörte ich meine jüngeren Geschwister ab und half ihnen beim Auswendiglernen. Imi mochte Gedichte so sehr, dass er selbst welche schrieb.

In Bonyhád gab es noch viele andere Deutschsprachige, den Milchbauern etwa, seine Familie gehörte zu den Donauschwaben. Wie die Juden waren auch die Schwaben im 19. Jahrhundert ermutigt worden, in den kleinen Städten der neuen österreichisch-ungarischen Monarchie den Handel aufzubauen. Beide Gemeinschaften wurden für ihre harte Arbeit und ihren Unternehmergeist geschätzt. Das Wichtigste war, dass wir alle Ungarn waren egal, ob katholisch, evangelisch oder jüdisch. Neben den orthodoxen Juden wie uns gab es eine separate Gemeinde der neologen Juden, die moderner und liberaler eingestellt waren. Sie waren etwa halb so viele wie wir. Jeder Einzelne von uns fühlte sich durch und durch ungarisch, ohne jede Frage. Die orthodoxen Juden waren sicherlich viel strenger als die Neologen, aber nur wenige der Männer trugen Bärte, wie man es vielleicht erwarten würde. Rasierapparate sind im orthodoxen Judentum nicht erlaubt, aber unser Vater benutzte ein schrecklich stinkendes chemisches Zeug namens Rasol und sah dadurch immer glattrasiert aus.

Wir kamen alle sehr gut miteinander aus. Es gab sogar christliche Kinder in unserer jüdischen Grundschule, weil ihre Eltern meinten, sie bekämen dort eine bessere Ausbildung.

Am liebsten habe ich neue Dinge gelernt, vor allem Mathematik. Aber wir Mädchen mussten auch Nähen und Sticken lernen. Sticken hat mir von Anfang an Spaß gemacht. Wie Gedichte ist es etwas, was man nicht vergisst. Deshalb weiß ich noch genau, wie man jeden Stich macht, den ich als kleines Mädchen gelernt habe – Kreuzstich, Plattstich, Kettenstich, Rückstich, Deckenstich, Federstich und Knoten aller Art. Aber sobald ich einen neuen Stich beherrschte, hatte ich keine Geduld mehr, um das ganze Werk mit seinen Blumen-, Vogel- oder Herzmustern fertigzustellen. Ich wollte lieber mit Zahlen als mit einer Nadel arbeiten.

Die schöne Piri konnte sehr viel besser mit ihren Händen umgehen als ich. Sie war künstlerisch begabt und liebte nichts mehr, als zu zeichnen oder zu malen. Aber sie war auch eine Perfektionistin. Sie hätte nie etwas angefangen, wenn sie nicht gewusst hätte, dass sie es so zu Ende bringen konnte, wie sie es wollte.

Zum Mittagessen kamen wir immer nach Hause. Es gab meistens Kartoffelsuppe oder Nudeln. Aber wir kamen alle zu unterschiedlichen Zeiten zurück, sodass wir mittags nicht gemeinsam aßen. Trotzdem hat meine Mutter das Essen immer selbst für uns zubereitet. Rückblickend kann ich nicht verstehen, warum wir es zugelassen haben, dass sie so viel für uns getan hat. Wir hätten uns leicht selbst etwas zu essen holen können. Aber so war sie eben, sie hat immer alles für ihre Kinder getan. Unterstützung bekam sie von unserer Haushälterin Burgi, einer christlichen Frau im Alter meiner Mutter, die einer Familienangehörigen gleich bei uns lebte. Sie konnte die Arbeiten erledigen, die wir am Schabbat nicht machen durften, und dann am Sonntag in die Kirche gehen, wenn sie es wollte. Es gab so viel zu kochen und zu haushalten, weil alles von Grund auf hergestellt werden musste. Man konnte ja nicht einfach Nudeln kaufen – sie mussten aus Mehl und Eiern hergestellt werden. Aber obwohl ich die Älteste und ein Mädchen war, wollte meine Mutter nicht, dass ich meine Zeit in der Küche verschwende. Sie wollte, dass ich lerne. Ich frage mich, ob sie wusste, dass ich diese Chance zum Lernen nie wieder bekommen würde. Jüdische Mädchen wie ich gingen nur selten auf die Universität, und ich nehme an, der übliche nächste Schritt nach der Schule wäre gewesen, zu heiraten, einen eigenen Haushalt zu führen und irgendwann eine Familie zu gründen. Aber wir sprachen nicht darüber, auch nicht, als ich älter war, und ich habe nie mitbekommen, dass Ehen arrangiert wurden. Ich glaube, Anyuka konnte sehen, wie gern ich in die Schule ging und meinen Verstand benutzte, und sie war froh, mich so lange wie möglich vor der harten Realität des Lebens zu beschützen. Und wenn ich noch zur Schule ging, konnte ich auch meinen jüngeren Geschwistern helfen.

Normalerweise machten wir unsere Hausaufgaben gemeinsam im größten Raum des Hauses, wo sich auch der Esstisch befand und wo wir uns jeden Abend um sechs Uhr zum Essen niederließen, nachdem Apu aus der Synagoge und Imi – und später auch Bela – aus der Talmudschule zurückgekehrt waren.

Im Haus gab es viele Bücher, sowohl auf Ungarisch als auch auf Deutsch. Anyuka liebte es zu lesen, wenn sie Zeit hatte, und sie las uns gerne vor. Ihr Lieblingsbuch war ein dicker, schwerer Shakespeare-Band in ungarischer Übersetzung. Sie saß auf einem Stuhl und las laut vor, während wir sechs Kinder zu ihren Füßen saßen und zuhörten. Jeden Abend lasen wir uns in den Schlaf, Imi und Bela in einem Zimmer, wir Mädchen wechselten uns im Besetzen der anderen Zimmer ab und tauschten die Betten, wann immer wir wollten. Niemand musste uns jemals sagen, wann wir das Licht ausmachen sollten. Vielleicht folgten die anderen aber auch nur meinem Beispiel.

Daran waren sie gewöhnt. Wenn wir Mama und Papa spielten, war ich natürlich immer die Mama. Wenn wir Schule spielten, war ich – klar – immer die Lehrerin. Streng und gerecht. Mein Wort galt. Wie gesagt, in Bonyhád herrschte Harmonie. Wir hatten ein zufriedenes und angenehmes Leben, und vielleicht nahmen wir es aus Naivität als selbstverständlich hin.

In meiner Kindheit gab es nur eine große Veränderung, und das war die Zeit, als ich in die Mittelschule wechselte. Die gesamte Familie meines Vaters lebte in Bonyhád, aber die vielen Geschwister meiner Mutter waren weit verstreut. Eine ihrer Schwestern, Gisela, lebte etwa 160 Kilometer entfernt in Pápa, einer alten Stadt auf der anderen Seite des Plattensees. Die jüdische Gemeinde war dort sehr groß und stand seit mehreren Jahrhunderten unter dem Schutz der berühmten Familie Esterházy. Gisela war mit David Gunsberger verheiratet, einem Mann von einigem Ansehen, denn er war der Direktor der Knabenschule in Pápa. Nach zehn Jahren Ehe waren sie aber immer noch kinderlos.

Wer den Vorschlag gemacht hat, weiß ich nicht. Und ich kann mir vorstellen, dass es meinen Eltern schwergefallen ist, mich gehen zu lassen, vor allem meiner Mutter. Aber Nina hatte ein volles Haus, und sie hatte Mitleid mit ihrer einsamen Schwester. Und so wurde ich im Herbst, bevor ich 13 wurde, nach Pápa geschickt, wo ich die nächste Stufe meiner Schullaufbahn begann und bei meiner Tante und meinem Onkel als deren Tochter lebte. Ich war natürlich eine sehr verwöhnte einzige Tochter! Obwohl ich es mochte, dass mir so viel Aufmerksamkeit zuteil kam, vermisste ich meine Eltern und Geschwister sehr. Ich ließ es mir nicht anmerken, und es gab viel, womit ich mich ablenken konnte, da ich in der neuen Stadt schnell und problemlos Freundinnen fand. Wer weiß, wie lange ich geblieben wäre, wenn Gisela nicht endlich doch noch schwanger geworden wäre.

Loyaush, mein kleiner Cousin, wurde im Sommer geboren. Das bedeutete, dass das Fest zu seiner Brit Mila, der Beschneidungszeremonie, die stattfand, als er acht Tage alt war, im Garten abgehalten werden konnte. Es war ein sehr schönes Fest mit vielem guten Essen. Als Mädchen brauchte ich mich nicht um die Details zu kümmern – das geschah alles außer Sichtweite der Frauen. Das Gunsberger-Haus füllte sich mit Gästen. Eine große Menschenmenge, die sich sehr für meine Tante und meinen Onkel freute.

Zu Rosch ha-Schana, dem jüdischen Neujahrsfest, war ich wieder zu Hause und bereit, meine Freundinnen in einer neuen Schule wiederzusehen. Das war im September 1936. War mein Platz als Anführerin der Kinderbande schon neu besetzt? Sicher nicht. Imi hatte keine Lust, sich in den Vordergrund zu stellen. René, Piri, Bela und Berta freuten sich ebenso über meine Rückkehr wie ich selbst. Bela, der jetzt zur Schule ging, entwickelte sich zu einem ernsten, fleißigen kleinen Jungen und war sehr religiös. Berta wurde immer noch von der ganzen Familie gehätschelt und verwöhnt, besonders von unserem Vater. Aber sie zog es vor, sich so zu benehmen, als wäre sie schon älter, anstatt sich von uns bevormunden zu lassen, und sie versuchte immer, mit ihren großen Schwestern mitzuhalten. Und so kehrte ich zu meinen alten Gewohnheiten zurück, fühlte mich ein wenig erwachsener und übernahm ein paar mehr Aufgaben. Darauf war ich immer stolz.

Das Mädchengymnasium, auf das ich mit meinen alten Freundinnen und Cousinen nun ging, darunter auch Hilda, war eine katholische Schule in der Zárda-Straße, in der Nähe des Vörösmarty-Platzes. Dieser Platz war das Zentrum von Bonyhád. An den Markttagen, dienstags und donnerstags, war hier immer viel los, wenn die Bauern vom Land kamen, um ihre Waren zu verkaufen: Gänse, Hühner, Eier, Nüsse, Obst, Gemüse und Käse wurden auf Pferdewagen geladen oder von den Frauen in Körben auf dem Kopf getragen. Unsere Lehrerinnen waren Nonnen, aber es waren auch viele jüdische Mädchen in der Klasse. Obwohl wir samstags zur Schule gehen mussten, respektierten sie unsere Religion, und wir wurden nie gezwungen, am Schabbat etwas zu schreiben. Man hat uns auch nie das Gefühl gegeben, anders zu sein. Niemand hat mich jemals gehänselt, weil ich Jüdin war.

Soweit ich weiß, hat Imi an seiner Schule genau die gleichen Erfahrungen gemacht. Ich bin mir nicht sicher, ob wir, als wir noch sehr jung waren, überhaupt wussten, dass es so etwas wie Antisemitismus gibt. Es wäre uns als eine vollkommen lächerliche Vorstellung vorgekommen.

1939 bis 1941

Wir haben zu Hause nie über Politik gesprochen. Ich nehme an, Politik war etwas für Männer, vor allem für junge Männer. Ich bin sicher, dass mein Vater alles über die neuen Gesetze zur Kontrolle der Juden in Ungarn wusste. Aber er hielt dieses Wissen vor seinen Kindern geheim, vielleicht sogar vor seiner Frau.

Weder antisemitische Gewalt noch politischer Antisemitismus waren in Ungarn etwas Neues, aber beide erreichten nach dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der österreichisch-ungarischen Monarchie einen neuen Höhepunkt. Durch den Friedensvertrag von Trianon war Ungarn auf weniger als ein Drittel seiner früheren Größe geschrumpft. Die Juden wurden schnell zu Sündenböcken gemacht.

Einige Jahre vor meiner Geburt und lange vor Hitlers Aufstieg wurden an den ungarischen Universitäten Quoten eingeführt, die die Zahl der jüdischen Studenten von 15 bis 20 Prozent auf nur noch 6 Prozent reduzierten. Das »Numerus-clausus-Gesetz« von 1920 besagte offiziell, dass nicht mehr als 6 Prozent irgendeiner Minderheit studieren durften, aber es zielte eindeutig auf die Juden ab, die damals die bei Weitem zahlreichste und erfolgreichste Gruppe im ungarischen Bürgertum waren. Jüdische Studenten wurden regelmäßig verprügelt. Jüdische Frauen hatten noch weniger Chancen auf eine über die Schule hinausgehende Ausbildung. Vielleicht war das Numerus-clausus-Gesetz der Grund dafür, dass Imi sich schon in jungen Jahren für eine Lehre als Zahnarzthelfer entschied. Vielleicht war es aber auch schon immer seine Berufung gewesen, weil er so schnell und geschickt mit den Händen war und sich gern um andere Menschen kümmerte.

Das Königreich Ungarn näherte sich immer mehr dem nationalsozialistischen Deutschland an, zum einen wegen des unverhohlenen Antisemitismus des Reichsverwesers und faktischen Staatsoberhaupts Miklós Horthy, zum anderen, weil ein Bündnis dazu beitragen würde, die umstrittenen ungarischsprachigen Gebiete in der Tschechoslowakei und in Rumänien zurückzugewinnen. Nach Hitlers Machtübernahme in Österreich 1938 erließ die rechte, autokratische Regierung Ungarns eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen, die sich direkt gegen Juden richteten und wonach wir nicht mehr gleichberechtigte Bürger in unserem Land waren. Als der Krieg in Europa ausbrach, ein paar Monate bevor ich 16 und Imi 15 wurde, hatte Ungarn eine gemeinsame Grenze mit Deutschland (wegen des »Anschlusses« Österreichs 1938).

Jude zu sein war keine religiöse Angelegenheit mehr, sondern wurde eine Frage der »Rasse«. Wenn man mehr als ein jüdisches Großelternteil hatte, galt man als Jude, auch wenn man noch nie einen Fuß in eine Synagoge gesetzt hatte. Juden wurden von allen möglichen Berufen ausgeschlossen, einschließlich Jura und Medizin, Journalismus und Ingenieurwesen. Sogar das Schauspielen in Filmen oder am Theater war nicht mehr möglich. Sie konnten überhaupt nicht mehr im öffentlichen Dienst arbeiten. Die meisten Juden verloren das Wahlrecht. Die Regierung behauptete, Ungarn sei »in den Klauen jüdischer Bankiers und Industrieller« und müsse befreit werden. Bis 1942 sollten weitere Gesetze zur Beschlagnahmung von Land und Eigentum führen, und die erzwungene jüdische Auswanderung wurde zur offiziellen Politik. Dennoch verkündeten die Juden weiterhin ihre unerschütterliche Loyalität zu ihrem Vaterland.

All das war die ungarische Version der bekannten Nürnberger Gesetze, doch als junges Mädchen wusste ich nichts davon. Die beiden ungarischen faschistischen Parteien – die Nationalsozialisten und die Pfeilkreuzler – erfuhren in unserem Teil des Landes, dem Komitat Tolna, westlich der Donau, nur wenig Unterstützung. Ich wusste nicht, dass eine Viertelmillion ungarische Juden ihr Einkommen verloren hatte. Falls die neuen Gesetze das Geschäft meines Vaters oder das seiner Brüder betrafen, so hätte er nicht gewollt, dass wir Kinder davon erfahren. Kinder waren Kinder. Männer waren Männer. Und unter den Frauen durften nicht viele wählen.

Für uns ging das Leben also ganz normal weiter. Ich erinnere mich, dass ich einige Wochen später, kurz vor Rosch ha-Schana, mit Anyuka in der Küche saß und im Radio vom Ausbruch des Krieges hörte. Die Nachricht, dass Deutschland in Polen einmarschiert war, beunruhigte mich, denn ich wusste, dass etwas Schreckliches passiert war.

Aber all diese Finsternis schien so weit weg zu sein, so weit weg von unserem Leben. Anyuka war ruhig und gelassen wie immer und knetete einfach den Teig weiter. In der Küche war es wie immer – warm und gemütlich durch den riesigen Herd, der immer wieder für die nächste Mahlzeit aufgeheizt wurde. Das Backen war die einzige Art des Kochens, bei der wir Kinder mithelfen durften, und es war immer ein Vergnügen, die Schüsseln auszulecken, wenn wir jeden Freitagmorgen Kuchen backten: ein Hefemilchbrot fürs Frühstück – mit Schokolade, Mohn oder Walnüssen verziert – und einen Biskuitkuchen für nach dem Mittagessen. Das reichte bis Sonntag oder Montag, wenn wir Glück hatten. Die ganze Küche – das ganze Haus – war erfüllt von dem süßen Duft, wenn die Kuchen gebacken wurden. Der Teig für die Challah musste ebenfalls vorbereitet werden, aber wir brachten ihn zum Bäcker, der für jede Familie einen Laib flocht und backte und den man später abholte.

Für Rosch ha-Schana gab es auch allerlei andere Lebensmittel vorzubereiten. Wie üblich machten wir in dieser Woche statt geflochtener Challah runde Brote, die die Jahre symbolisieren sollten, die ineinandergehen und sich ewig wiederholen. An diesem Abend gab es Karpfenkopf, und Apu sprach einen besonderen Segensspruch, der uns daran erinnerte, dass wir die Köpfe und nicht die Schwänze sein sollten. Anführer, nicht Gefolgsleute. Und es gab Honigkuchen und süße Früchte für ein süßes neues Jahr.

»Boldog új-évet!«, wünschten wir uns gegenseitig. »Frohes neues Jahr!«

Und 1939 war ein süßes neues Jahr, soweit es uns Kinder betraf. Für uns hatte sich nichts geändert. Ich fühlte mich überhaupt nicht in Gefahr. Wenn meine Mutter nicht besorgt war, warum sollte ich es sein?