Lovelights - Benjamin und Jane - Elias J. Connor - E-Book
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Lovelights - Benjamin und Jane E-Book

Elias J. Connor

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Beschreibung

Manchmal muss man über den Horizont hinausblicken, um die Dinge zu sehen, auf die man seit Langem vergeblich gewartet hat. Benjamin Foster ist Ende 30, trockener Alkoholiker und sehr zurückgezogen. Sein einziger Kontakt ist seine erwachsene Patentochter Crystal – aber ausgerechnet diese familiäre Bindung gerät ins Wanken, nachdem Benjamin erneut einen schweren Rückfall erleidet. Als er daraufhin den Job wechselt, lernt er eine geheimnisvolle Kollegin kennen, die seine Gefühle vollkommen ins Schleudern bringt. Jane ist nicht nur etliche Jahre jünger als Benjamin, sie ist auch sehr schüchtern und reserviert. Benjamin weiß, dass er sich in Jane verliebt hat, aber sie scheint unerreichbar zu sein. Als sie sich trotz aller Schwierigkeiten anfreunden, gewinnt Benjamin neuen Mut und Stärke. Er will um sie kämpfen – aber das scheint mit jedem Schritt schwieriger zu werden, denn Jane hat Geheimnisse, die Benjamin nicht kennt und die ihm gefährlich werden könnten... Eine packende Liebesgeschichte der ganz besonderen Art über zwei Menschen, die versuchen, in einer hoffnungslosen Welt ihren gemeinsamen Weg zu finden. (Angelehnt an den autobiografischen Roman TAUSEND WEGE BIS ZUR ENDSTATION von Elias J. Connor, jedoch aus einem völlig neuen und anderen Blickwinkel erzählt.)

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Elias J. Connor

Lovelights - Benjamin und Jane

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Kapitel 1 - Die Kälte in meinem Herzen

Kapitel 2 - Alleine im goldenen Käfig

Kapitel 3 - Ein neuer Weg

Kapitel 4 - Unerreichbar, aber du bist da

Kapitel 5 - Warum hört niemand zu?

Kapitel 6 - Jane hat Geburtstag

Kapitel 7 - Der Bruder

Kapitel 8 - Sind wir heimlich zusammen?

Kapitel 9 - Weit weg von mir

Kapitel 10 - Sie ist wieder da

Kapitel 11 - Neues Leben

Kapitel 12 - Mauern

Kapitel 13 - Benjamins Geständnis

Kapitel 14 - Der Ausflug in den Freizeitpark

Kapitel 15 - Hoffnungslos

Kapitel 16 - Gib es auf

Kapitel 17 - Trauriger Herbst

Kapitel 18 - Jane im Nirgendwo

Kapitel 19 - Crystals Schlaflied

Kapitel 20 - Wenn ein Traum Wahrheit wird

Kapitel 21 - Das erste Date

Kapitel 22 - Pandemie

Kapitel 23 - Janes Offenbarung

Kapitel 24 - Crystals Abschied

Kapitel 25 - Das Ende vom Regenbogen

Über den Autor Elias J. Connor

Impressum

Widmung

Für Jana

Meine Freundin, mein Engel, meine Prinzessin.

Muse, Ideenlieferin, Wegbegleiterin.

Ich bin wahnsinnig glücklich, dich zu kennen, mit dir zusammen zu sein und an deiner Seite sein zu dürfen.

Du bist das Wunderbarste, das mir jemals im Leben begegnet ist.

Kapitel 1 - Die Kälte in meinem Herzen

Langsam rattert der Zug über die Schienen. Keine Ahnung, wie lange ich schon hier drin sitze, aber es kommt mir vor wie Stunden. Und weil es noch so früh ist, ist es draußen auch noch stockdunkel.

Wie ich das hasse. Ich mag die Dunkelheit nicht. Jedenfalls jetzt nicht mehr. Und schon gar nicht am frühen Morgen.

Scheiß Arbeit, ehrlich.

Ich war die letzten vier Wochen krankgeschrieben. Offiziell wegen eines Bänderrisses. Ich wusste gar nicht, dass man den beim Arzt sogar vortäuschen kann, aber er hat es mir tatsächlich geglaubt. Er schickte mich natürlich zur Röntgen-Station, aber da bin ich nie hingegangen. Der Doc hat mir eine Krankmeldung geschrieben, und die habe ich in die Firma geschickt.

Gut. Gestern war der letzte Tag meines Kranken-Urlaubs, heute muss ich also wieder hin. Wieder das Gleiche, wie immer gereizte Stimmung, motzende Gruppenleiter und Mitarbeiter, tausend Beschwerden über den hohen Krankenstand in der Firma.

Gelangweilt steige ich aus dem Zug und wandere den Feldweg entlang, hier im Industriegebiet von Solingen, vorbei an den weiten Feldern. Etwa 15 Minuten muss man vom Bahnhof zur Firma laufen. Wer zum Henker kommt bloß auf die Idee, für unsere Werkstatt für psychisch kranke Menschen ein neues Gebäude zu bauen, das so weit ab vom Schuss liegt, dass es selbst Normalsterbliche nur schwer erreichen? Früh morgens, an einem kalten Januartag.

Aber gut. Vergangenen Herbst sind wir umgezogen und arbeiten seitdem hier. Na, ja, ich war eigentlich noch nicht so oft hier. Ich fehle seit einem halben Jahr immer wieder, bin öfter krank und überhaupt ziemlich demotiviert.

Stumm dackele ich durch den Korridor zur Raucherecke.

„Hey, Alter“, grüßt mich daraufhin eine bekannte männliche Stimme, als ich mich wortlos auf die Bank setze. Ich drehe mich um und blicke einen Mann von vielleicht Mitte 20 an, der mich mit einem breiten Grinsen betrachtet.

„Hey, Jack“, meine ich, während er neben mir Platz nimmt.

„Lange nicht gesehen“, sagt Jack daraufhin. „Wo warst du? Ich hab’ dir ein paar Nachrichten geschickt, aber du hast sie wohl nicht bekommen.“

Genervt schnaufe ich aus, aber ich will nicht, dass es genervt klingt.

„Ich hab’ keinen Bock mehr“, stößt es dann aus mir heraus. „Ich mag einfach nicht mehr.“

„Was ist los?“ Jack schaut mich ernst an. „Hättest dich ja wenigstens mal melden können, Benny.“

Zur gleichen Zeit betritt ein stämmiger junger Mann mit dunklen Haaren den Außenbereich, in den wir uns immer zum Rauchen zurückziehen. Er ist vielleicht 30 Jahre oder etwas älter, und mir fällt auf, dass er trotz der Kälte nur einen Pullover trägt. Ich habe ihn lange nicht gesehen, aber ich weiß noch, wer er ist.

„Sieh an“, meint er nachdenklich. „Der lange verschollene Benjamin Foster ist wieder da.“

„Lex, lass ihn“, mahnt Jack den Mann. „Er wird seinen Grund gehabt haben.“

Der junge Mann setzt sich schließlich zu uns und zündet sich eine Zigarette an.

„Benjamin“, sagt er ernst. „So kann es nicht weiter gehen. Die reden vom Fachausschuss. Da sollen Leute gefeuert werden, die zu oft fehlen. Was ist, wenn sie dich feuern?“

Aufgeregt stehe ich auf. „Lex“, sage ich. „Du hast dich noch nie aufgeregt. Was machst du mich jetzt so doof von der Seite an?“

Perplex blickt mir Lex in die Augen. Aber er sagt nichts.

Lex und Jack sind so etwas wie meine besten Freunde. Ich kenne sie seit Jahren – zuerst Lex, und später dann Jack. Wir sind eine richtige Clique. Öfters mal, meistens an Freitagen nach der Arbeit, unternehmen wir etwas: Döner essen, ins Kino gehen, solche Sachen eben. Unsere Gang hat sogar einen Namen: The Alliance. Das sind wir ja auch, eine richtige Allianz.

Lex war noch nie sauer auf mich, egal, was ich wieder verbockt habe, und davon gibt es in letzter Zeit jede Menge. Zu spät oder gar nicht zur Arbeit kommen, Verabredungen nicht einhalten, sie versetzen ohne ersichtlichen Grund. Das ist mir echt nicht aufgefallen, dass sich dies in den letzten Monaten so sehr gehäuft hat. Aber sauer ist er nie darüber gewesen.

Jetzt anscheinend schon.

Ich weiß doch selbst nicht, was los ist. Sie kennen mich doch. Ich bin eben so, wie ich bin. Auch, wenn sie meine besten Freunde sind, brauche ich hin und wieder mal die Zeit, um mich zurückzuziehen, um für mich sein zu können. Aber in letzter Zeit hat Lex oft den Eindruck, dass dies zu häufig vorkommt.

Sie wissen fast alles von mir. Sie kennen eigentlich fast alles, was ich so erlebt habe und durchmachen musste. Sie wissen, dass ich darüber geschrieben habe und diese Geschichte sogar in einem Buch im kleineren Rahmen veröffentlicht habe.

Endstation.

Benjamin Fosters Geschichte. Ex-Alkoholiker mit einer jahrelangen Karriere als Trinker. Der Mann, der erst einen Weg aus seiner Sucht gefunden hatte, als er eine große Aufgabe bekam. Derjenige, der für ein Mädchen Namens Crystal, die später seine aller beste Freundin und langjährige Vertraute wurde, die Patenschaft übernahm. Jahrelanges Bestehen und Wachsen an der Freundschaft zu ihr, jahrelange Kämpfe um sie und ihr Leben. Mit 16 von Zuhause ausgezogen, wohnte sie in einer WG und später bei ihm. Schließlich, als junge Erwachsene, zog sie zu ihrem Freund.

Crystal.

Ich denke in letzter Zeit oft an sie. Ich freue mich immer wieder, wenn sie mal schreibt oder fragt, ob ich bei ihr vorbeikomme. Sie ist jetzt erwachsen und lebt mit ihrem Freund in einem Ort, der gar nicht mal so weit entfernt ist.

Aber dennoch sehen wir uns nur noch selten.

Crystal macht eine Ausbildung und ist schwer eingebunden in ihre Arbeit. Sie ist jetzt 20 und macht eben das, was junge Menschen machen. Leben.

Sie ist noch immer meine Patentochter, das wird sie auch immer bleiben. Ich bin ihre einzige Familie, die sie noch hat, und sie meine. Oh ja, wir haben sehr viel gemeinsam durchgemacht. Wir haben alles verloren und dann wiedergewonnen. Ihr Leben ist nie leicht gewesen. Meins auch nicht. Aber an mein früheres Scheiß Leben will ich nicht denken, jetzt nicht.

Ich habe es abgehakt. Nach dem schweren Alkoholrückfall im Sommer 2016, vor einem halben Jahr, habe ich endlich mit meinem ganzen früheren Leben abgeschlossen, habe alles aufgeschrieben und habe es erzählt.

Und Crystal ist diejenige, die damals da war. Diejenige, die mir Mut gemacht hat, es zu sagen. Und sie ist die Erste, die es während unserer langjährigen Freundschaft herausgefunden hat, warum ich jahrelang getrunken habe.

Ich weiß, dass Crystal klar ist, wie dankbar ich ihr bin, dass ich diesen verheerenden Rückfall überlebt habe und sie mich darin nicht alleine gelassen hat.

Ich bin wieder sicher. Zufrieden, gestärkt und sicher, dass ich nicht mehr daran denken und nicht mehr trinken muss.

Ich habe seit fast zwei Monaten keine Nachricht mehr von ihr erhalten. Was sie wohl so tut? Ob es ihr gut geht?

Ich vertraue ihr. Wenn du von den Kindern nichts hörst, geht es ihnen gut, heißt es ja immer. Ihr geht es sicher gut, warum mache ich mir Gedanken?

Mein Blick schweift ins Leere und ich fühle mich so, als würde ich schweben. Ich fühle mich frei von allem Negativen, das vergangen ist. Ich erinnere mich an die schönen Dinge, die mich dieses vergangene Leben ändern ließen und zu dem machten, der ich jetzt bin. Das will ich doch. So will ich es doch.

„Benny“, meint Lex. „Wie alt bist du jetzt?“

Ich schaue Lex fragend an.

„38“, antworte ich. „Warum?“

„Mann, Benny“, meint Lex. „Du igelst dich ein. Komm mal raus.“

Komm mal raus.

Er hat es oft gesagt. Aber ich bin jedes Mal der Meinung, dass er nicht wirklich denkt, ich würde mich abkapseln. Klar, ich bin oft zu Hause und gehe bei vielen Treffen nicht mit, das ist mir schon aufgefallen.

Aber jetzt scheint er es bitterernst zu meinen.

Ich bin Ex-Alkoholiker. Ich bin zudem wahrscheinlich irgendwie ein Schizo oder Psycho. Das sind wir alle hier ein bisschen, der Eine mehr, der Andere weniger. So ist es, und ich komme klar damit. Die, die mir nahe stehen, wissen, wie ich bin und wer ich bin. Vor allem Crystal, denn keiner steht mir näher als sie, die meine einzige Familie ist.

Warum verstehe ich die Bemerkung von Lex nicht und fasse sie als Angriff auf? Warum versteht er mich anscheinend auch nicht?

Zur gleichen Zeit tritt ein älterer Mann heraus, der hier in der Einrichtung als Gruppenleiter arbeitet. Er kommt direkt auf mich zu.

„So, Herr Foster“, spricht er. „Wie angekündigt haben wir jetzt ein Gespräch beim sozialen Dienst.“

Klar. So was von klar.

Ich habe eine Krankmeldung geschickt, was wollen die denn?

Als wir oben im Büro sitzen, nehme ich fast nicht wahr, was sie mir sagen. Irgendwas von Abmahnung habe ich verstanden. Weil ich zu viel fehle, und weil ich angeblich letztens Gummibärchen aus einem Auftrag geklaut habe.

Ich habe keinen Nerv mehr. Echt nicht. Es geht mir gut, warum checken die das nicht?

Auch auf dem Weg zum Bahnhof – einfach abgehauen, morgens um 9 Uhr – weiß ich, dass könnte es jetzt mit der Werkstatt gewesen sein. Das ist zu viel. Ich kassiere Abmahnungen und haue jetzt sogar auch noch ab. Jetzt müssen sie mich feuern.

Es ist mir egal. Es ist mir alles egal. Ob das jetzt auf einmal so ist oder ob sich diese Gleichgültigkeit gegenüber meinem Leben schon vorher angekündigt hat, das weiß ich nicht.

Mittags um zwölf Uhr sitze ich zu Hause auf meinem Sofa und habe einen komplett leeren Kopf. Keine Gedanken, keine Grübeleien, keine Gefühle.

Ich sehe die halbvolle Dose Starkbier auf meinem Wohnzimmertisch. Jemand muss sie zur Hälfte geleert haben, denn es ist noch etwas drin.

Ich merke nicht, ob ich derjenige bin, der davon trinkt, oder ob das irgendwie jemand anderes ist.

Ich, Benjamin Foster, seit fast einem Jahrzehnt trocken, mit Unterbrechung von einem schweren Rückfall vor einem halben Jahr.

Bei eins anfangen, denke ich bei mir. Eigentlich bin ich dann erst seit einem halben Jahr trocken. Aber jetzt nicht mehr.

Job weg, Crystal meldet sich nicht, und meine Freunde sind sauer auf mich. Ich kann mir viele Gründe ausmalen, warum ich jetzt, heute, wieder ein Bier trinke. Die Angewohnheit des Alkoholikers kommt in mir zum Vorschein, der mich die Verantwortung wieder auf andere Dinge abwälzen lässt.

Ja, ich kenne den wahren Grund meiner langjährigen Trinkerei. Und nachdem ich das völlig verarbeitet und damit abgeschlossen habe, ist es doch nicht mehr nötig zu trinken. Ich darf es auch nicht. Ich habe Verantwortung – nicht nur für mein Leben, auch für das von Crystal und für meine Freunde. Ich habe eine Verantwortung als Patenonkel, Freund und Mensch.

Verdammte Scheiße. Warum?

Ich sehe das Bier an.

Dann kippe ich es weg. Ich will es in den Ausguss kippen, aber vermutlich kippe ich es stattdessen in mich rein. Irgendwie versuche ich mir einzureden, dass ich das nicht merke, und dass ich das gar nicht bin, sondern ein Anderer, der jetzt hier sitzt und wieder trinkt. Ich will es glauben, wirklich.

Ich weiß nicht, wo ich bin. Draußen ist es dunkel. Ich höre das monotone Geräusch von grölenden Menschen, aber es kommt mir so leise vor, dass es mich überhaupt nicht berührt.

Ich sehe aus dem Fenster. Der Scheinwerfer eines Autos scheint hinein, und ich realisiere plötzlich Tausende kleine Muster, die sich im Licht symmetrisch auf dem Fenster verteilen.

Wo bin ich? Es ist so ruhig hier.

„Benny“, ruft einer. „Wieder da?“

„Trinkst du einen mit?“

Sie stellen mir irgendwas auf den Tisch, an dem ich sitze. Ich sitze dort alleine.

Sie setzen sich nicht zu mir, aber ich bekomme etwas hingestellt, das ich trinke. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich trinke es, und je mehr ich davon trinke, desto schwebender wird dieses Gefühl, das ich dabei habe.

Irgendein verfickter Januarabend im Jahr 2017. Ich sitze in meiner damaligen Stammkneipe und trinke wieder. Das ist jetzt so.

Und keiner ist bei mir. So soll das wohl sein.

Nein, nein, nein, rufe ich zu mir selbst. Was mache ich hier nur? Warum nur?

Ich schaue nach oben. Ich denke, ich habe dort ein Seil wahrgenommen.

„Benjamin, komm, trink noch einen. Ist schon eine ganze Weile her.“

Ich versuche, die Hände in die Höhe zu strecken und will irgendwie an das Seil herankommen.

Der Klang der Stimmen, die singen und rufen, nehme ich gar nicht wahr. Es ist wie eine fremde Sprache für mich.

Die Zeit scheint stehen zu bleiben und sich gleichzeitig schneller zu drehen. Ich merke verschiedene Momente einfach nicht, andere kommen mir vor, als würden sie ewig dauern.

Ich sitze auf einmal in der S-Bahn. Ob es in meinem Kopf klar ist, spüre ich nicht. Ich merke den Alkohol nicht, bin auch nicht besoffen. Ich spüre einfach nichts mehr. Nur noch den einen Wunsch: ich will raus. Einfach raus aus allem.

Die S-Bahn hält, und noch immer unwissend, wo ich bin, stapfe ich im Regen die Treppen vom Bahnhof hinunter. Auf dem Vorplatz ist eine Bank, auf die ich mich setze. Hier sitze ich nun, mitten in der Nacht und in der Kälte. Frierend halte ich mir die Jacke zu.

„Kalt“, höre ich jemanden sagen.

Ich drehte mich kurz um…

Sie steht da und sieht mich mit ihren großen Augen an. Ihr Blick ist ernst und ängstlich. Sie atmet regelmäßig ein und aus, und ihre Atemzüge machen kleine Wolken, die vor ihrem unglaublich hübschen Gesicht herumtanzen.

Ich habe keine Ahnung, wer diese junge Frau ist. Ich kenne sie nicht. Wie soll ich auch? Ich bin wahrscheinlich noch nie hier in dieser Ecke gewesen.

Die fremde Frau, vielleicht Ende zwanzig, zittert genau wie ich auch. Ihre Hände umklammern ihren weißen Anorak. Und ihre schulterlangen, zu einem Zopf zusammengebundenen hellbraunen Haare, wehen im leichten Nachtwind hin und her. Aber sie steht ganz still da.

Ich sehe sie nur an, aber wahrscheinlich registriere ich das gar nicht. Ich weiß es nicht.

Es sind nur fünf, vielleicht zehn Sekunden, aber als mich ihr Blick trifft, kann ich es spüren. Es ist etwas, das ich noch nie im Leben zuvor gespürt habe, und ich kann es mir absolut nicht erklären.

Ich schließe kurz meine Augen und als ich noch einmal in ihre Richtung sehe, um einen zweiten Blick auf sie zu werfen, ist sie weg.

Ich lehne mich zurück und fühle mich plötzlich klarer als sonst im Kopf. Ich habe keine Ahnung, was da gerade passiert ist, aber ich muss einen Geist gesehen haben.

Wer ist diese Frau? Ich habe sie nur einige Sekunden gesehen, aber ich merke, dass sie nicht irgendjemand ist. Sie hat in den wenigen Sekunden, während sie mich angesehen hat, irgendetwas in mir ausgelöst, das ich nicht erklären kann. Etwas, das mich sie nicht vergessen lässt.

Es sind nur fünf oder zehn Sekunden – aber durch diesen Blick von ihr weiß ich es jetzt mehr als zuvor, und es ist stärker in mir, als ich es je für möglich gehalten habe. Ich weiß, ich habe nur eine Wahl, und es würde nur eine Entscheidung geben – und die war: Leben.

Langsam laufe ich zum Gleis, als die nächste Bahn einfährt. Dann fahre ich los.

Nach mehreren Stationen, noch immer nicht wissend, wo ich bin, steige ich aus. Mechanisch laufe ich eine Straße entlang, bis in den nächsten Nachbarort, in eine ruhigere Siedlung aus mehreren Zweifamilienhäusern.

Als ich vor Crystals Türe ankomme, bleibe ich einige Minuten lang dort stehen. Schließlich nehme ich mein Handy aus der Jackentasche und schreibe ihr.

„Crystal, bist du zu Hause?“

Es kommt keine Antwort in den nächsten Minuten. Auch nach einer halben Stunde tut sich noch nichts.

Plötzlich geht im Treppenhaus das Licht an, wie ich durch die große Eingangstür aus Glas sehen kann.

Ich höre Schritte, wie jemand eine Treppe hinab läuft.

Daraufhin öffnet sich die Tür, und Crystal sieht mich mit einem tiefen, fragenden Blick an.

„Crystal“, sage ich verzweifelt.

„Du hast getrunken, Benny…“, stellt sie fest.

Mir laufen Tränen an den Wangen herunter. Es ist ein Wunder, dass sie bei der Kälte nicht zu Eis werden.

„Alles weg“, stammele ich. „Nichts mehr da. Kein Job, keine Menschen…“

Crystal streichelt mir über die Schulter. Da steht die junge Frau, meine beste Freundin, meine Patentochter, und sieht mir tief in die Augen.

„Benny, einmal kann es passieren, aber zweimal? Das ist nicht gut.“ Ihr Blick ist verständnisvoll, fast mitleidig, aber auch etwas vorwurfsvoll. Das weiß ich, und ich habe es nicht anders gewollt.

„Marlon ist nicht da“, meint sie schließlich. „Er kommt morgen wieder.“

„Haben dein Freund und du Streit?“, will ich wissen.

Crystal sagt nichts und schüttelt nur mit dem Kopf.

„Benny, komm rauf“, fordert sie mich schließlich auf. „Ich mache dir einen Kaffee.“

Wir laufen die Treppen hinauf zu ihrer Wohnung im ersten Obergeschoss.

Als ich mich aufs Sofa setze, nehme ich alles nur noch ganz vage wahr. Es wird mir schwindelig, und ich fühle mich schwer. In meinem Kopf dreht sich alles, auch dann noch, als ich den ersten Schluck Kaffee trinke, den Crystal mir hinstellt.

Und sie sitzt da und sieht mich einfach nur an.

Was habe ich getan? Warum habe ich es getan? Was ist passiert?

Ihre ungekämmten, schwarzen Haare bindet sie sich zu einem Zopf zusammen. Ich weiß nicht, ob sie die Antworten kennt, denn ich kenne sie selbst nicht. Aber sie scheint mehr über mich und von mir zu wissen, als irgendjemand sonst. Das ist so. Sie ist einfach Crystal. Und sie ist jetzt da.

Ich merke, dass es vor meinen Augen dunkler wird. Hat Crystal das Licht gedimmt? In ihrem Wohnzimmer ist ja ein Lichtdimmer, das weiß ich. Aber hat sie das Licht dunkler gemacht? Warum?

„Crystal, glaubst du an Engel?“, will ich wissen. „Oder an besondere Wesen, die nicht wie wir sind?“

Sie scheint mich fragend anzusehen, aber das merke ich nicht wirklich.

„Warum fragst du das?“, höre ich ihre Stimme aus der Ferne.

„Ich glaube, ich habe so ein Wesen gesehen“, stammele ich.

In diesem Moment wird mir schwarz vor Augen.

Kapitel 2 - Alleine im goldenen Käfig

Der Wind peitscht ihr ins Gesicht. Sie hält sich die Hände vor die Augen und umklammert gleichzeitig mit ihren Armen ihre dicke Jacke.

Langsam läuft sie die Straße hinunter. Es ist dunkel, und sie sieht nicht genau, wohin sie geht. Der kleine Hund, den sie bei sich hat – ein Beagle – trottet langsam neben ihr her.

Man kann ihr ansehen, dass sie Angst hat. Angst vor der Dunkelheit? Angst davor, dass jemand kommen könnte und sie ansprechen würde?

Die junge Frau mag Mitte 20 sein, aber ihre natürlich aussehende Frisur lässt sie etwas jünger erscheinen. Ihr dunkelblondes Haar weht im Wind. Das Licht der Laternen in der Allee lässt ihren Angstschweiß auf der Stirn aufblitzen.

Plötzlich hört sie ein Geräusch. Hastig versteckt sie sich hinter einer Wand am Straßenrand. Sie atmet heftig. Ihr Hund sitzt neben ihr und schaut sie an.

„Jane“, hört sie plötzlich die Stimme eines Mannes. „Jane, bist du da draußen?“

Die junge Frau sagt nichts. Sie drückt sich noch enger an die Wand. Sie will mit der Wand verschmelzen, so dass sie keiner sieht.

Würde sich bloß eine Mauer um sie bilden, die sie einkesselt. Dann wäre sie ganz für sich.

„Jane“, ruft die Stimme des Mannes erneut.

Die junge Frau schließt angstvoll ihre Augen. Niemand soll sie sehen.

Plötzlich spürt sie eine Hand auf ihrer Schulter. Ruckartig dreht die Frau sich um.

„Jane, komm' nach Hause“, sagt der Mann in einem ruhigen Ton zu ihr.

Resigniert schnauft Jane aus.

„Ja, Papa“, sagt sie.

Kapitel 3 - Ein neuer Weg

Es ist noch immer recht kühl, aber langsam wird es wärmer.

Nur in meinem Herzen nicht.

Anfang April, und ich bin noch immer auf unbestimmte Zeit krankgeschrieben. Ich bin schon froh, dass Crystal verhindert hat, dass ich in der Psycho-Klinik lande, denn da will ich nie wieder rein. Ich brauche das nicht mehr. Ich will das nicht mehr. Vehement bin ich noch immer fest im Glauben, ich hätte mit allem abgeschlossen.

Habe ich das nicht?

Ich sitze in meinem Wohnzimmer auf der Couch. Ich tu es, obwohl ich es eigentlich nicht wieder tun will. Aber ich mache es dann doch. Irgendwie erhoffe ich mir dadurch, einen Anhaltspunkt zu finden, was wirklich mit mir los ist. Ich versuche herauszufinden, was an mir nagt, obwohl ich denke, es sei überstanden.

Ich lese das Buch, das ich damals geschrieben habe. Es liegt seit einiger Zeit in gedruckter Form vor mir, eines der wenigen existenten Exemplare. Es sieht gut aus, und es ist meins. Eigentlich soll ich stolz sein, das hier vollbracht zu haben.

Aber das Lesen des Buchs mit dem Titel „Endstation“ ist weitaus schwieriger als die Zeit, in der ich es geschrieben habe. Dabei bekomme ich doch so viel Resonanz von den Menschen, die es auch gelesen haben.

Endstation macht Mut. Endstation spiegelt das nackte Leben, so wie es ist, wieder und zeigt, wie kämpferisch und stark Benjamin Foster eigentlich ist.

Aber bin ich es?

Ich sitze hier und lese Zeile für Zeile.

Ich bemerke nicht einmal, dass ein Schlüssel von außen in meine Wohnungstür gesteckt wird, diese sich öffnet und jemand herein tritt.

„Crystal“, sage ich zu ihr, als ich bemerke, dass sie plötzlich in meinem Wohnzimmer steht.

„Hey“, meint sie lächelnd. „Wie geht es dir?“

Ich schnaufe aus und lege das Buch weg.

„Es geht“, meine ich zu ihr. „Sorry, war grad ganz vertieft…“

Sie setzt sich aufs Sofa und sieht mich an.

So oft hat sie auf meinem Sofa gesessen. Ich weiß nicht mehr genau, wann zum letzten Mal. Irgendwie kommt es mir wie eine Ewigkeit vor, aber manche Sachen vergehen nicht. Das ist auch gut so. Manches bleibt, anderes vergeht und ist weg für immer.

Crystal bleibt. Sie ist immer geblieben. Auch wenn sie zeitweise nicht mehr so richtig an meinem Leben teilnimmt, ist sie immer da.

„Du liest dein eigenes Buch?“, fragt sie mich.

Ich nicke.

„Es bringt nichts“, denke ich laut nach. „Ich hatte gehofft, dass es mich in die Wirklichkeit zurückholen würde. Dass ich erkenne, wie mein Leben heute ist. Wie es ist, mit dem, was ich heute habe. Mit meiner jetzigen Familie, mit uns…“

„Benjamin“, beginnt Crystal, als sie mich scharf ansieht. „Ist dir klar, dass es kein Uns mehr geben kann? Jedenfalls nicht so.“

Ich habe befürchtet, dass sie das sagt. Aber ich habe gehofft, dass sie es nicht tun würde.

„Wie meinst du das?“, frage ich hilflos ins Leere.

Crystal antwortet nicht und sieht mich nur an.

„Ich will dich nicht auch noch verlieren“, stammele ich.

„Hör auf“, schreit sie plötzlich. „Ständig tust du so, als hättest du immer alles verloren. Du machst dich abhängig von Dingen, und wenn du sie dann nicht mehr hast, wenn auch nur zeitweise, glaubst du, alles verloren zu haben.“

Ich weine leise.

„Ich habe dein Buch nicht gelesen“, sagt sie dann zu mir. „Vielleicht werde ich das auch nicht. Benjamin, hör damit auf.“ Ihre Stimme wird ruhiger. „Ich kann das mit dir nicht mehr. Ich habe es immer gekonnt, aber wenn du jetzt nicht dein Leben grundlegend ändern und endlich mal für dich selbst erkennen kannst, was wichtig ist, ohne dass ich neben dir stehen und dir das bestätigen muss, dann ist es mit uns als Familie vorbei. Verstehst du, was ich sage?“

Ich zittere.

Es ist vielleicht egal. Ich habe sowieso schon alles verloren. Jetzt auch noch die letzte Person im Leben, die ich habe.

„Bitte gib mir noch eine letzte Chance“, will ich sie anflehen.

Aber das tu ich nicht. Ich bleibe leise.

Ich habe irgendetwas kapiert. Ich weiß nicht, was, aber ich habe etwas kapiert.

„Schmeißt du jetzt bitte dein Selbstmitleid weg, damit ich dir etwas sagen kann?“, haucht Crystal traurig.

Ich nicke.

„Okay“, meint sie. „Erstens: Auch wenn ich mich mal monatelang nicht melde – du bist und bleibst einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Für jetzt und für alle Zeit.“

Ich zittere. Hat sie das wirklich gerade gesagt?

„Ich habe genauso Angst, dich zu verlieren“, fährt sie fort. „Benjamin, du hast erneut einen schweren Rückfall erlitten. Du hast versucht, dir das Leben zu nehmen. Und du denkst nicht eine Sekunde daran, dass ich das Gefühl haben könnte, versagt und mit dir etwas falsch gemacht zu haben. Ich weiß nicht, warum du das gemacht hast, Benny, aber zweitens: Du versprichst mir, niemals wieder so etwas zu tun.“

Wieder nicke ich wortlos, während ich mir Tränen aus den Augen wische.

„Und drittens: Es muss und es wird etwas geben, was dir die Abhängigkeit – egal ob von mir, von anderen Menschen oder vom Alkohol – nehmen wird. Du wirst es suchen und finden, hast du verstanden?“

Ich sehe sie fragend an.

Dann steht Crystal auf und läuft zu meinem kleinen Schreibtisch. Sie schaltet den Computer ein und macht das Internet auf.

„Google“, sagt sie. „Du magst deine Arbeit nicht mehr? Dann suche dir einen neuen Job. Jetzt.“

Den Arbeitsplatz wechseln? Alte Gewohnheiten verlassen? Ein ganz neues Leben anfangen? Raus aus allen Abhängigkeiten? Das werde ich nie schaffen, denke ich bei mir.

„Ich weiß nicht, ob ich…“, beginne ich.

„Bitte zeige mir, dass du stark bist und es kannst, Benny“, sagt sie. „Es war deine Endstation. Unsere. Und jetzt nimm irgendeinen verfickten Zug in ein neues Leben. In eines, das dir liegt und gefällt, frei von allem Druck, allen negativen Gedanken und diesen Dingen, die dir als Kind geschehen sind. Frei von Alkohol und deiner Abhängigkeit von Menschen. Benny, ändere dein Leben und tu es jetzt. Bitte. Sonst…“

Sie redet nicht weiter, aber ich weiß, dass sie sagen wollte: „Sonst komme ich nie wieder.“

Das Internet ist an, die Google-Seite offen und Crystal steht auf. Ohne einen Ton zu sagen, läuft sie zur Tür.

„Bitte geh nicht“, traue ich mich zu sagen.

Dann kommt sie zurück, umarmt mich und streichelt mir über den Kopf, als ich weine.

„Du schaffst das, Benny“, flüstert sie. „Und du wirst mich nicht verlieren. Auch nicht, wenn ich eines Tages wegziehen sollte.“

„Wir sind doch Freunde…“, stammele ich nur.

Crystal nickt.

Dann läuft sie aus meiner Wohnung. Ich sitze auf dem Computerstuhl und sehe auf den Bildschirm. Nach zwei oder drei Minuten blicke ich reflexartig auf das Handy. Crystal hat mich nicht in WhatsApp blockiert. Sie bleibt erreichbar.

Ein neues Leben? Mit welchem Inhalt?

Ich gebe vorsichtig eine Suchanfrage ein. Mehrere Vorschläge werden mir gemacht. Bei einer ähnlichen Werkstatt wie der, in der ich tätig bin, bleibe ich irgendwie hängen und öffne die Seite.

„Perseus-Werkstätten für psychisch kranke Menschen und Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen“, steht in großen Lettern auf der Start-Seite.

Ich sehe mir die Bilder an und lese das Inhaltsverzeichnis. Sie haben dort eine angeschlossene Autowerkstatt, mit Montage-Sachen. Ich bin zwar nicht sicher, für was, aber es sieht interessant aus.

Die Menschen auf den Bildern scheinen fröhlich zu sein. Der Ton, in der die Seite verfasst ist, ist ausgeglichen und ruhig.

Und dann erscheint weiter unten plötzlich das Kontaktformular.

Ich weiß nicht, wer die Nachricht geschrieben hat, aber seit dieser Sekunde ist es plötzlich so, dass ich mich nicht wiedererkenne. Zitternd lese ich dann, was ich gerade abgeschickt habe.

„Sehr geehrte Damen und Herren, ich habe Ihre Werkstatt gerade im Internet gefunden und bewerbe mich hiermit für eine Stelle als Mitarbeiter in Ihrem Haus. Zu meiner Person: Ich bin seit acht Jahren in einer Werkstatt im Norden von Solingen tätig, fühle mich aber seit einiger Zeit dort nicht mehr wohl. Im letzten Jahr ist alles im Bereich Arbeit immer weiter nach unten gefallen. Ich habe Schwierigkeiten, früh aufzustehen und fühle mich sehr demotiviert. Dies möchte ich nun ändern und bin zu der Überlegung gekommen, dass ein Werkstattwechsel das Richtige für mich ist. Ihre Werkstatt scheint mir Möglichkeiten zu bieten, die ich ansonsten vielleicht nicht bekäme, und ich würde mich freuen, zu einer Besichtigung und/oder einem Erstgespräch bei Ihnen vorbei schauen zu dürfen. Mit freundlichen Grüßen, Benjamin Foster.“

Es dauert nicht einmal zwei Tage, bis eine Antwort kommt.

„Sehr geehrter Herr Foster, wäre es Ihnen möglich, morgen Vormittag in unsere Werkstatt zu kommen? Wir würden Sie dort gerne zu einem Erstgespräch begrüßen.“

Ich lese nicht mal, wer das unterschrieben hat. Ich schicke Crystal gleich eine Kopie der E-Mail über WhatsApp, und als ein lächelnder Smiley von ihr zurückkommt, weiß ich es. Es hat begonnen. Und es hat heute begonnen…

Ich bin am nächsten Morgen viel zu früh dran, als ich die gar nicht so weit von meinem Wohnort gelegene Werkstatt aufsuche. Schon um acht Uhr morgens stehe ich vor dem Gebäude. Es ist groß, obwohl es im Internet heißt, die Perseus-Werkstätten seien eine kleine Firma. Ich sehe die Fahnenmasten, auf denen die Zeichen der Werkstatt prangen. Und dann hängen da noch weitere Fahnen – wahrscheinlich sind mehrere Betriebe in dem Haus integriert und zusammengeschlossen. Sie haben ja im Internet bereits erwähnt, dass es die Möglichkeit gibt, auch in den anderen Bereichen zu arbeiten.

Ich stehe da und rauche eine Zigarette nach der anderen, bis ich um neun Uhr dann endlich den Termin haben soll.

Wer hier wohl arbeitet? Die Menschen trudeln nacheinander ein. Ein paar laute, lustige Typen. Dann zwei sehr ruhige Frauen und schließlich ein Mann, dem man eigentlich ansieht, dass er möglicherweise ein Autist ist. Er kommt auf mich zu.

„Du bist neu“, stellt er fest und sieht mich mit einem breiten Grinsen an.

Ich nicke. „Das hoffe ich“, sage ich.

Daraufhin geht er weiter.

Ich mache gerade die Zigarette aus und sehe kurz zu Boden.

Zu Boden sehen, das muss ich doch jetzt nicht mehr. Sie haben doch diese nette E-Mail geschrieben. Ich muss nicht mehr traurig sein oder mich alleine fühlen, nein, das muss ich nicht.

Ich habe sie nur ganz kurz gesehen. Für einen Moment, der sich wie Stunden anfühlt, sehe ich diese junge Frau mit den hellbraunen Haaren vor mir stehen. So surreal, wie sie mir vorkommt, so real scheint sie zu sein. Sie steht da und sieht mich mit einem fragenden Blick an, der mir, obwohl ich ihn nicht deuten kann, mehr verraten hat, als ich es je im Leben verraten bekommen könnte. Ich sehe schon in diesem Moment, dass sie ein besonderer Mensch ist. Keine Ahnung, was sie hat und warum sie hier ist, das ist auch nicht wichtig. Aber ich habe – obgleich ich weiß, dass sie real ist – für diese Sekunde das Gefühl, als hätte ich einen Geist gesehen. Warum ist das so?

Ich denke nicht nach. Das kann ich nicht. Ich weiß nur seit diesem Moment, dass dieses Haus irgendwie magisch ist. Ja, daran glaube ich. Es ist magisch. Das alles hier irgendwie.

Sie sieht mich an und schnauft leise aus. Ihre großen Augen mustern mich eine Weile. Die fremde Frau mag Ende zwanzig sein, vielleicht sogar ein bisschen jünger, ich kann es ihr nicht direkt ansehen. Ihre Haare, die sie zu einem Zopf zusammengebunden hat, wehen leicht im Wind.

Dann hebt sie einen Arm kurz an und ich merke für den Bruchteil einer Sekunde, dass ihr an der Hand mindestens zwei Finger fehlen müssen. Es ist aber nicht befremdlich. Ich finde es so normal, dass es mir gar nicht weiter auffällt.

Sie steht da und sieht mich an.

Und dann dreht sie sich zur Tür und geht in die Werkstatt hinein.

Merkwürdig.

Ich werde einfach das Gefühl nicht los – wer auch immer diese fremde junge Frau ist – dass ich sie kenne, von irgendwo her. Ich werde das Gefühl nicht los, sie schon mal gesehen zu haben.

Mann, was passiert da gerade? Was geschieht hier nur? Ist das Magie?

Langsam stapfe ich ebenfalls hinein, denn es wird nunmehr Zeit für das Gespräch, welches ich hier heute haben soll.

Die Perseus-Werkstätten: Was wohl auf mich zukommen würde?

„Guten Tag“, begrüßt mich eine Frau gleich. „Sie sind Herr Foster, richtig?“

Ich nicke.

„Ich bringe Sie hinauf zum sozialen Dienst“, sagt die Frau.

Ich muss oben noch eine Weile warten. Aber schließlich kommt die Sozialarbeiterin und wir reden darüber, was es hier so alles gibt. Ich erzähle über meine Schwierigkeiten in der alten Werkstatt und sie sagt, dass ich in jedem Fall wechseln könnte. Wir würden dann den normalen Weg gehen, das hieße, dass ich hier ein Praktikum machen soll und wenn daraufhin festgestellt wird, dass ich hier rein passe und mir die Arbeit liegt, dann könnte ich zum nächstmöglichen Termin fest anfangen.

Schließlich werden mir noch alle Bereiche der Werkstatt gezeigt. Es sieht gut aus, was sie hier machen. Nicht so eintönige Dinge wie in der alten Werkstatt. Wichtigere Arbeiten, so richtig mit Metall und Maschinen.

Ob ich das kann?

Ich weiß es nicht. Aber heute traue ich mich mehr als je zuvor.

Am Schluss wird mir die Kantine gezeigt – und da sitzt sie wieder. Die unbekannte, fremde Frau. Wieder blickt sie mich an, und ich sie ebenfalls. Ich habe keine Ahnung, was geschieht, als sich unsere Blicke treffen. Ich habe nicht getrunken, nichts genommen – diesmal nicht – und dennoch ist es der gleiche Geist, der gleiche Engel, den ich damals sah, als ich nachts irgendwo in der Kälte stand.

---ENDE DER LESEPROBE---