Lying Game - Und du musst gehn - Sara Shepard - E-Book
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Lying Game - Und du musst gehn E-Book

Sara Shepard

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Beschreibung

Sie sucht den MÖRDER ihres ZWILLINGS...

Seit Wochen spielt Emma die Rolle ihrer ermordeten Zwillingsschwester Sutton Paxton perfekt – doch Suttons Mörder hat sie immer noch nicht gefunden. Als plötzlich die Leiche von Sutton entdeckt wird, gerät Emmas sorgfältig konstruierte Lügenwelt ins Wanken. In kürzester Zeit wird Emma Hauptverdächtige Nummer eins. Wenn sie nicht bald den Mörder überführen kann, wird sie hinter Gitter landen – oder noch schlimmer: ihr Leben verlieren …

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DIE AUTORIN

Foto: © Daniel Snyder

Sara Shepard hat an der New York University studiert und am Brooklyn College ihren Magisterabschluss im Fach Kreatives Schreiben gemacht. Sie wuchs in einem Vorort von Philadelphia auf, wo sie auch heute lebt. Ihre Jugend dort hat die »Pretty Little Liars«-Serie inspiriert, die in 22 Länder verkauft wurde und die, ebenso wie ihre neue Reihe »Lying Game«, zum New-York-Times-Bestseller wurde. Inzwischen werden »Pretty Little Liars« und »Lying Game« mit großem Erfolg als TV-Serien bei ABC gesendet. In Deutschland wird »Pretty Little Liars« seit Mai 2014 bei Super RTL ausgestrahlt.

Von der Autorin sind außerdem bei cbt erschienen:

Pretty Little Liars – Unschuldig (Band 1)

Pretty Little Liars – Makellos (Band 2)

Pretty Little Liars – Vollkommen (Band 3)

Pretty Little Liars – Unvergleichlich (Band 4)

Pretty Little Liars – Teuflisch (Band 5)

Pretty Little Liars – Mörderisch (Band 6)

Pretty Little Liars – Herzlos (Band 7)

Pretty Little Liars – Vogelfrei (Band 8)

Lying Game – Und raus bist du (Band 1)

Lying Game – Weg bist du noch lange nicht (Band 2)

Lying Game – Mein Herz ist rein (Band 3)

Lying Game – Wo ist nur mein Schatz geblieben? (Band 4)

Lying Game – Sag mir erst, wie kalt du bist (Band 5)

Sara Shepard

Und du musst gehn

Aus dem Englischen

von Violeta Topalova

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Kinder- und Jugendbuchverlagin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.Alle deutschsprachigen Rechte vorbehaltenAus dem Englischen von Violeta TopalovaLektorat: Ulrike HauswaldtUmschlaggestaltung: *zeichenpool, MünchenUmschlagfoto: Jacket Photo © 2013 by Gustavo Marx/Mergeleft Reps, Inc.Jacket design by Liz Dresnerhe · Herstellung: kwSatz: KompetenzCenter, MönchengladbachISBN: 978-3-641-14251-3V003
www.cbt-buecher.de

»Brave Mädchen kommen in den Himmel.

Böse Mädchen kommen überallhin.«

Helen Gurley Brown

Prolog

Der begehbare Kleiderschrank wäre der Traum eines jeden Mädchens gewesen.

Auf dem Dielenboden lag ein dicker pinkfarbener Teppich, der sich morgens unter nackten Zehen wunderbar weich anfühlte. Regale und Fächer säumten die Wände, gefüllt mit Designerhandtaschen, Schmuck und unzähligen Paar Schuhen. Luxuriöse Kleidungsstücke in allen Farben des Regenbogens hingen sorgfältig aufgehängt an den Kleiderstangen; Blusen und Röcke aus Seide, Kaschmir und Baumwolle.

Für die meisten Mädchen wäre ein solcher Schrank das Paradies gewesen. Für mich war er nur eine weitere Erinnerung daran, dass ich eben dort nicht war.

Neben mir in dem engen Raum stand meine Zwillingsschwester Emma Paxton und strich über die kostbaren Stoffe meiner Kleider. Ihr Herz war zu einem Knoten der Trauer verkrampft. Ihr Haar ist genauso kastanienbraun wie meines, ihre Beine ebenso lang wie meine. Auch ihre Augen sind marineblau und von dunklen Wimpern eingerahmt. Kein Wunder, schließlich sind wir eineiige Zwillinge. Aber obwohl ich direkt neben ihr stand, sah sie in dem dreiteiligen Spiegel am Ende des Schranks nur ihr eigenes Spiegelbild.

Seit ich gestorben war, konnte mich niemand mehr sehen. Aber aus unerfindlichen Gründen hielt ich mich immer noch unter den Lebenden auf, durch Kräfte, die ich nicht verstand, an meine Zwillingsschwester gefesselt, die ich zu Lebzeiten nie hatte kennenlernen dürfen. Die Schwester, die von meinem Mörder dazu gezwungen worden war, mein Leben zu übernehmen. Seit meinem Tod hatte Emma all meine Freunde und meine Familie dazu gebracht, sie für Sutton Mercer zu halten. Und sie kämpfte verbissen darum, herauszufinden, was in der Nacht meines Todes geschehen war. Wenigstens hatte sie es geschafft, die Unschuld meiner Familie und meiner besten Freundinnen zu beweisen. Aber es gab immer weniger Hinweise darauf, wer für meinen Tod verantwortlich war. Die Fährte war nicht mehr frisch. Und der Mörder beobachtete immer noch jede ihrer Bewegungen aus dem Hinterhalt und sorgte dafür, dass sie brav mitspielte.

Emma stand in Socken und Unterwäsche vor meiner Garderobe, einen benommenen Ausdruck im Gesicht. Es kam ihr lächerlich vor, dass sie der einfache Akt des Sich-Anziehens nach allem, was sie durchgemacht hatte – all den Verlusten und dem Schrecken, den sie ertragen musste –, immer noch so überforderte. Aber vielleicht lag es auch gerade an den Verlusten und dem Schrecken, dass ihrem überhitzten Verstand inzwischen auch die einfachsten Entscheidungen schrecklich kompliziert vorkamen. In ihrem alten Leben hatte Emma nie einen solchen Schrank gehabt. Nachdem unsere Mutter Becky sie als Kind verlassen hatte, war sie bei Pflegefamilien im Umkreis von Las Vegas aufgewachsen und hatte nie mehr besessen als ein paar Secondhand-T-Shirts in einer Sporttasche. Ich hatte so viele Klamotten, so viele Kleider: kurze, lange fließende, wild bedruckt oder einfarbig, mit Pailletten, Rüschen oder Spitze verziert. Allein an schlichten schwarzen stand mindestens ein halbes Dutzend zur Auswahl.

Plötzlich begann Emma zu zittern. Sie sank auf den flauschigen Teppich, schlang die Arme um die Knie und ließ ihren Tränen freien Lauf.

»Was ist dir bloß zugestoßen, Nisha?«, flüsterte sie. »Was wolltest du mir sagen?«

Vor knapp zwei Wochen war meine alte Rivalin Nisha Banerjee ertrunken in ihrem Pool gefunden worden.

Die Nachricht löste eine Schockwelle in der Schule aus. Nisha war in unzähligen Clubs gewesen, zwar nicht ganz so beliebt, wie ich es gewesen war, aber alle hatten sie gekannt. Die Gerüchteküche begann beinahe augenblicklich zu brodeln. Nisha war sportlich und eine gute Schwimmerin gewesen – die halbe Schule war schon einmal auf einer ihrer Poolpartys gewesen. Wie hatte sie ertrinken können? War es ein unglücklicher Unfall oder etwas noch Schrecklicheres gewesen? Eine Überdosis? Selbstmord?

Aber Emma und ich wussten es besser. Am Tage ihres Todes hatte Nisha verzweifelt versucht, Emma zu erreichen. Sie hatte sie wieder und wieder vergeblich angerufen. Emma hatte erst spät zurückgerufen, denn sie war an diesem Tag total durch den Wind gewesen. Thayer Vega, mein heimlicher Freund, hatte ihr ins Gesicht gesagt, sie sei anders als früher und er werde der Sache auf den Grund gehen. Als Emma sie endlich anrief, war Nisha bereits tot gewesen. Das konnte kein Zufall sein. Falls Emma recht hatte und Nisha zufällig an Informationen gelangt war, die meinen Tod betrafen, dann war sie das neueste Opfer des tödlichen Spiels, das mein Mörder spielte. Die Person, die mich umgebracht hatte, lief immer noch frei herum – und war bereit, weiter zu töten, um sein oder ihr Geheimnis zu bewahren.

Endlich stand Emma auf und wischte sich ungeduldig die Tränen ab. Um Nisha zu trauern war ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnte. Sie musste herausfinden, was in der Nacht meines Todes passiert war, bevor noch jemand anders dafür bezahlen musste – und bevor der Mörder auch sie aus dem Weg räumte.

1

Im Netz der Lüge

»Es sind beinahe zwei Wochen vergangen, seit dieses Mädchen tot im Pool ihrer Familie bei uns in Tucson gefunden wurde«, sagte die Stimme der Nachrichtensprecherin, während ein Foto von Nisha den Bildschirm füllte. Es war ein Samstag Ende November, und Emma stand vor Suttons Computer, betrachtete einen Livestream des Lokalnachrichtensenders und machte sich dabei für Nishas Beerdigung fertig. Sie wusste nicht genau, warum sie sich das ansah, denn die Details kannte sie bereits. Vielleicht würde sie irgendwann glauben, dass Nisha wirklich tot war, wenn sie es nur oft genug hörte.

Die Nachrichtensprecherin, eine schlanke Latina im malvenfarbenen Blazer, stand vor einem modernen Haus im Ranch-Stil, das Emma gut kannte. Nishas Zuhause war der erste Ort gewesen, an dem sie als Sutton aufgetreten war. An ihrem ersten Abend in Tucson hatten Madeline Vega und die Twitter-Zwillinge Lilianna und Gabriella Fiorello sie von der Parkbank »entführt«, auf der sie auf ihre Zwillingsschwester gewartet hatte. Emma erinnerte sich noch gut, wie verärgert Nisha darüber gewesen war, dass Emma sich auf der Party hatte blicken lassen. Sutton und Nisha waren seit Jahren Erzrivalinnen gewesen. Aber im Lauf des vergangenen Monats hatte Emma es tatsächlich geschafft, sich mit ihrer Co-Tennismannschaftsführerin anzufreunden.

»Das Mädchen wurde am Montag vergangener Woche um kurz nach zwanzig Uhr von seinem Vater gefunden. Wie die Polizei von Tucson mitteilte, liegen keine Hinweise auf Fremdeinwirken vor. Die Ermittler betrachten den Tod des Mädchens als tragischen Unfall. Aber es bleiben auch weiterhin viele Fragen offen.«

Die Kamera zeigte jetzt Clara, ein Mädchen aus Suttons Tennismannschaft. Ihre Augen waren entsetzt aufgerissen, ihr Gesicht leichenblass. »Eine Menge Leute sagen, es könnte … es könnte Mord gewesen sein. Weil Nisha so ehrgeizig war, wissen Sie. Wie viel kann ein Mensch ertragen, bevor er … ausrastet?« Clara liefen Tränen über die Wangen.

Schnitt. Jetzt erschien ein Junge auf dem Bildschirm. Emma traute ihren Augen nicht. Es war ihr Freund Ethan Landry, Nishas Nachbar, wie die Untertitel sagten. Er trug ein schwarzes Hemd und eine schwarze Krawatte und war offenbar schon auf dem Weg zur Beerdigung. Bei seinem Anblick wurden Emma die Knie weich. »Ich kannte sie nicht besonders gut«, sagte Ethan. Seine blauen Augen blickten sehr ernst. »Auf mich hat sie immer sehr ausgeglichen gewirkt. Aber man weiß ja nie, welche Geheimnisse die Menschen verbergen.«

Jetzt erschien die Nachrichtensprecherin wieder auf dem Schirm. »Die Beerdigung findet heute Nachmittag auf dem All-Faiths-Friedhof statt. Die Familie hat statt Blumen um Spenden für das Krankenhaus der University of Arizona gebeten. Dies war Tricia Melendez.« Emma klappte den Laptop zu und ging wieder in den Schrank zurück. Nach dem Geplapper der Sprecherin herrschte jetzt tiefe Grabesstille.

Sie war noch nie auf einer Beerdigung gewesen. Im Gegensatz zu anderen in ihrem Alter, die bereits Großeltern oder Freunde der Familie beerdigen mussten, hatte Emma noch nie jemanden gehabt, den sie verlieren konnte. Sie holte tief Luft und begann Suttons schwarze Kleider durchzusehen und nach etwas Passendem zu suchen.

Ich konnte mich nicht daran erinnern, ob ich schon jemals Trauer getragen hatte, denn seit ich tot war, wies mein Gedächtnis fast nur noch Lücken auf. Ich erinnerte mich an vage, allgemeine Bindungen – an meine Eltern und mein Zuhause –, aber nur an sehr wenig Konkretes. Hin und wieder überflutete mich eine Erinnerung in allen Details, aber ich hatte noch nicht herausgefunden, was sie auslöste oder wie ich den Vorgang gar steuern konnte. Ich versuchte, mich an die Beerdigung meines Großvaters zu erinnern, bei der ich sieben und Laurel sechs gewesen war. Hatten wir uns an den Händen gehalten, als wir zum Sarg gegangen waren?

Emma entschied sich endlich für ein Strickkleid aus Kaschmir, nahm es vorsichtig vom Bügel und zog es sich über den Kopf. Es war figurbetont, aber schlicht geschnitten. Während sie den zarten Strickstoff über ihren Hüften glatt strich, hallten Claras Worte in ihrem Kopf wider. Es könnte … Mord gewesen sein.

Am Donnerstag war Thanksgiving gewesen, und obwohl der Feiertag nicht sehr fröhlich verlaufen war, hatte Emma wenigstens ein paar Tage schulfrei gehabt und war nicht den wilden Spekulationen über Nishas Tod ausgesetzt gewesen. Ihr kam der Tratsch nicht richtig vor. Sie war am Wochenende vor Nishas Tod mit ihr zusammen gewesen und da hatte sie überhaupt nicht traurig gewirkt. Was auch immer sie davon abgehalten hatte, sich mit Sutton zu vertragen, schien endlich verschwunden zu sein, was sicher auch an Emmas Freundlichkeit lag. Nisha hatte Emma sogar geholfen, in den Raum einzubrechen, in dem das Krankenhaus die Patientenakten aufbewahrte, damit sie die Wahrheit über die Vergangenheit ihrer Mutter Becky herausfinden konnte. Zwei schreckliche Wochen lang hatte Emma geglaubt, Becky habe Sutton getötet – und sie wollte in ihrer Akte nachlesen, ob ihre Mutter sich schon früher gewalttätig verhalten hatte.

Jetzt nahm Emma Suttons iPhone und scrollte durch die Nachrichten. An Nishas Todestag hatte sie Emma vormittags etliche Male angerufen und ihr irgendwann schließlich eine SMS geschickt: Ruf mich sofort an. Ich muss dir etwas sagen. Nur Stunden später war sie ertrunken aufgefunden worden.

Es könnte auch ein Zufall sein, dachte Emma und steckte das Telefon zusammen mit ihrem Geldbeutel in ein schwarz-weißes Handtäschchen. Es gibt keine Hinweise darauf, dass Nisha ermordet worden ist oder ihr Tod irgendetwas mit mir zu tun hat.

Aber noch während sie das dachte, legte sich eine düstere Gewissheit über die Zweifel und die Trauer, die in ihrem Herzen wüteten. Sie konnte es sich nicht länger leisten, an Zufälle zu glauben. Wie viele Unwahrscheinlichkeiten waren schließlich nötig gewesen, um sie hierherzuführen? Travis, ihr ständig bekiffter Pflegebruder, hatte rein zufällig ein Pseudo-Snuff-Video von Sutton im Internet gefunden, auf dem er sie für Emma hielt? Sie war praktischerweise genau an dem Todestag ihrer Schwester in Tucson eingetroffen, nachdem sie achtzehn Jahre lang nichts von deren Existenz geahnt hatte? Und jetzt war Nisha an genau dem Tag gestorben, an dem sie unbedingt mit Emma reden wollte? Nein, das konnten nicht alles Zufälle gewesen sein. Emma fühlte sich wie ein Bauer, der von unsichtbarer Hand in einem Spiel, dessen Regeln sie nicht kannte, über ein Schachbrett geführt wurde.

Und sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass Nisha in diesem Spiel das Bauernopfer gewesen war.

Ich betrachtete meine Schwester, die mit einer Handvoll Haarnadeln versuchte, ihr Haar zu einem französischen Knoten aufzustecken.

Emma war hoffnungslos, was Hochsteckfrisuren anging – sie schaffte eigentlich nichts Komplizierteres als einen schlichten Pferdeschwanz. Ich hätte mich gerne hinter sie gestellt und ihr geholfen. Ich hätte mich gerne mit ihr zusammen auf die Beerdigung vorbereitet und am Sarg ihre Hand gehalten. Ich hätte ihr gerne gesagt, dass ich bei ihr war und sie sich nicht so schrecklich einsam fühlen musste.

Es klopfte leise an der Tür. Emma spuckte eine Haarnadel aus und schaute auf. »Komm rein.«

Mr Mercer schob die Tür auf. Er trug einen schwarzen Maßanzug und eine bordeauxrote Krawatte. Seine Haare wirkten ergrauter als noch vor ein paar Wochen; auch er hatte in letzter Zeit viele Geheimnisse bewahren müssen. Emma hatte vor Kurzem erfahren, dass Becky die Tochter der Mercers war – und sie selbst ihre leibliche Enkelin. Seit sie das wusste, sah sie auch die Familienähnlichkeit: Sie hatte Mr Mercers gerade Nase und geschwungene Lippen geerbt. Aber Mr Mercer hatte seiner Frau und Suttons Schwester Laurel verschwiegen, dass Becky wieder aufgetaucht war.

»Hallo, meine Kleine«, sagte er jetzt und lächelte zaghaft. »Wie geht’s dir hier oben?«

Emma wollte schon »gut« antworten, aber dann schloss sie den Mund und zuckte nur wortlos mit den Achseln. Sie wusste nicht, wie sie auf diese Frage antworten sollte, aber »gut« ging es ihr definitiv nicht.

Mr Mercer nickte und atmete dann geräuschvoll aus.

»Du hast so viel durchgemacht.« Er sprach nicht nur über Nisha. Als wäre der Tod ihrer Freundin nicht bitter genug gewesen, musste Emma auch noch damit klarkommen, dass sie kürzlich ihre leibliche Mutter Becky zum ersten Mal seit dreizehn Jahren wiedergesehen hatte – unter schrecklichen Umständen.

Sie hatte es zwar geschafft, zu beweisen, dass Becky Sutton nicht umgebracht hatte, aber das Bild der mit Schaum vorm Mund am Krankenbett festgeschnallten Becky verfolgte sie immer noch bis in ihre Träume. Sie hatte sich so viele Jahre gefragt, was mit ihrer Mutter geschehen war, aber sie hatte nie gewusst, wie krank Becky war. Wie instabil.

Emma nahm ihr mit Taschentüchern gefülltes Täschchen. »Ich bin fertig.«

Ihr Großvater nickte. »Komm doch bitte zuerst ins Wohnzimmer, Sutton. Ich glaube, es ist Zeit für eine Familienkonferenz.«

»Familienkonferenz?«

Mr Mercer nickte. »Laurel und Mom warten schon unten.«

Emma biss sich auf die Lippe. Bei einer Familienkonferenz war sie noch nie gewesen, und sie wusste nicht, was sie erwarten würde.

Unsicher stand sie auf Suttons schwarzen Keilsandalen auf und folgte Mr Mercer die Treppe hinunter und durch die helle Diele. Strahlendes Frühnachmittagslicht strömte durch das hohe Fenster.

Das Wohnzimmer der Mercers war in den warmen Farben des Südwestens gehalten – erdige Rot- und Brauntöne gepaart mit Navajo-Mustern. An den Wänden hingen Ölbilder von Wüstenblumen und vor einem Fenster glänzte ein Steinway-Flügel in der Sonne. Mrs Mercer und Laurel saßen bereits dicht nebeneinander auf dem breiten Ledersofa.

Genau wie bei Mr Mercer sah Emma inzwischen auch bei ihrer Großmutter, wie ähnlich sie ihr sah. Sie hatten dieselben marineblauen Augen und dieselbe zarte Figur. Mrs Mercer biss sich nervös auf die Lippen und verschmierte dabei ihren Lippenstift. Laurel saß neben ihr, hatte die Beine übereinandergeschlagen und wippte nervös mit dem Fuß. Ihr honigblondes Haar war zu genau dem französischen Knoten aufgesteckt, an dem Emma vorher verzweifelt war. Sie trug einen schwarzen Rock, eine schwarze Bluse und ein schmales Goldarmband mit einem Anhänger in Form eines Tennisschlägers. Unter den hellen Sommersprossen auf ihrer Nase war sie sehr blass.

Emma setzte sich vorsichtig auf den mit Wildleder bezogenen Armsessel gegenüber von Laurel und ihrer Großmutter. Die Standuhr in der Diele schlug laut und dröhnend.

»Die Beerdigung fängt in einer Stunde an«, sagte Laurel. »Sollten wir nicht los?«

»Wir fahren gleich«, sagte Mr Mercer. »Aber eure Mutter und ich wollten euch vorher noch etwas sagen.« Er räusperte sich. »Nishas Tod ist eine Erinnerung daran, was im Leben wirklich wichtig ist. Ihr Mädchen bedeutet uns mehr als alles andere auf der Welt.« Seine Stimme brach, und er schwieg einen Moment, um die Fassung wiederzugewinnen.

Laurel schaute zu Mr Mercer auf und runzelte die Stirn. »Dad, das wissen wir. Das müsst ihr uns nicht sagen.«

Er schüttelte den Kopf. »Eure Mutter und ich sind nicht immer ehrlich zu euch Mädchen gewesen, Laurel, und das hat unserer Familie geschadet. Wir wollen euch jetzt die Wahrheit sagen. Geheimnisse trennen uns nur voneinander.«

Mit einem Mal begriff Emma, wovon er sprach. Weder Mrs Mercer noch Laurel wussten bisher, dass Mr Mercer mit Becky in Kontakt geblieben war. Laurel wusste nicht einmal, dass Becky existierte. Ihres Wissens war Suttons leibliche Mutter eine ihnen völlig fremde Person. Was Mrs Mercer anging, so hatte sie Emmas Mutter schon vor vielen Jahren aus der Familie ausgeschlossen. Emma warf Mr Mercer einen panischen Blick zu. Er klammerte sich an seiner Stuhllehne fest, als wappne er sich gegen einen Sturm.

Mrs Mercer schien Emmas Angst zu spüren und lächelte schwach. »Schätzchen, es ist okay. Dein Vater und ich haben darüber geredet. Ich weiß alles. Du bist nicht in Schwierigkeiten.«

Laurel schaute ihre Mutter scharf an. »Wovon sprichst du?« Ihr Blick wanderte zu Mr Mercer. »Bin ich die Einzige, die keine Ahnung hat, was hier vorgeht?«

Ein verlegenes Schweigen senkte sich über das Zimmer. Mrs Mercer starrte auf ihren Schoß, während Mr Mercer an seiner Krawatte herumspielte.

Emma schluckte entschlossen und blickte Laurel in die Augen. »Ich habe endlich meine leibliche Mutter kennengelernt.«

Laurels Mund klappte auf und sie streckte ruckartig den Kopf vor. »Was? Das ist ja der Wahnsinn!«

»Das ist aber noch nicht alles«, unterbrach Mr Mercer. Sein Mund verzog sich unglücklich. »Laurel, Schatz, die Wahrheit ist, dass wir Suttons leibliche Großeltern sind.«

Laurel erstarrte einen Augenblick. Dann schüttelte sie langsam den Kopf. »Das verstehe ich nicht. Unmöglich. Wie kann Sutton eure …«

»Ihre Mutter – Becky – ist unsere Tochter«, fuhr Mr Mercer fort. »Wir haben sie sehr jung bekommen. Becky ist noch vor deiner Geburt von zu Hause fortgegangen.«

»Aber … warum sagt ihr mir so etwas nicht?« Rote Flecken erschienen auf Laurels Wangen, und wütend fügte sie hinzu: »Das ist doch totaler Schwachsinn!«

»Schatz, es tut mir sehr leid, dass wir dir nichts gesagt haben«, sagte Mr Mercer beinahe flehend. »Wir hielten es für die richtige Entscheidung. Wir wollten euch Mädchen vor unseren Fehlern schützen.«

»Sie ist meine Schwester!«, kreischte Laurel schrill. Einen Moment lang dachte Emma, sie spreche von Sutton, aber dann kapierte sie, dass Becky gemeint war. »Ihr habt meine Schwester vor mir geheim gehalten!«

Emma umklammerte den Stoff ihres Kleides so fest, dass ihre Knöchel weiß wurden. Überrascht stellte sie fest, dass sie selbst nach allem, was sie durchgemacht hatte, immer noch Angst bekam, wenn einer von Laurels berüchtigten Wutausbrüchen im Anflug war. Aber sie konnte Laurel ihre Reaktion nun wirklich nicht vorwerfen. Emma hatte Becky so lange nur als ihre verschollene Mutter betrachtet, dass sie ganz vergessen hatte, dass Becky und Laurel eigentlich Schwestern waren. Laurel hatte recht: Es war extrem unfair, dass sie nie die Chance bekommen hatte, sie kennenzulernen.

»Wo ist sie? Wie ist sie?«, fragte Laurel herausfordernd.

Emma öffnete den Mund, um zu antworten, aber Mrs Mercer kam ihr zuvor.

»Zerstörerisch.«

Dieses eine Wort, leise ausgesprochen, schien den ganzen Raum auszufüllen. Alle schauten zu Mrs Mercer, die lautlos weinte, die Hand vor den Mund gepresst. Der Anblick ihrer unglücklichen Mutter schien Laurels Ärger verpuffen zu lassen. Sie biss sich auf die Lippe und ihr Blick wurde weicher.

Mrs Mercer ließ ihre Hand auf die Brust sinken und fuhr mit zitternder, kaum hörbarer Stimme fort. »Becky hat deinem Vater und mir sehr wehgetan, Laurel. Es ist unendlich schwierig, sich um sie zu kümmern. Irgendwann haben wir entschieden, dass es für uns alle besser wäre, den Kontakt zu ihr abzubrechen. Sie hat dieser Familie im Laufe der Jahre schon so viel Schaden zugefügt.«

»Aber das ist nicht allein Beckys Schuld«, warf Mr Mercer ein und beugte sich vor. »Sie ist geisteskrank, Laurel, und deine Mutter und ich wussten nicht, wie wir in ihrer Jugend damit umgehen sollten.«

Laurel drehte sich zu Emma um. Ihre Miene war nicht mehr wütend, sondern verletzt. »Und wie lange weißt du das alles schon?«

Emma holte tief Luft. Sie nahm sich von dem nächsten Sessel ein Kissen und drückte es sich wie ein Stofftier an die Brust. Wie würde Sutton auf diese Frage antworten? »Ich habe sie an dem Abend vor Nishas Tennis-Pyjamaparty im Sabino Canyon getroffen.«

Emma hatte versucht, die Nacht meines Todes so gut wie möglich zu rekonstruieren. Außerdem waren einige meiner Erinnerungen zurückgekehrt. Ich hatte Laurel an jenem Abend gesehen, als ich sie angerufen und gebeten hatte, Thayer Vega ins Krankenhaus zu bringen, nachdem jemand – wahrscheinlich mein Mörder – ihn mit meinem Auto angefahren hatte. Laurel war schon lange in meinen heimlichen Freund verliebt gewesen. Ich sah, dass Laurel sich ebenfalls erinnerte. Ihre Augen wurden groß, als ihr der Zusammenhang klar wurde.

»Es tut mir leid, dass ich dir nicht die Wahrheit gesagt habe«, sagte Emma und verzog bei dem Gedanken an das andere schreckliche Geheimnis, das sie vor den Mercers hütete, schmerzvoll das Gesicht. »Es war ziemlich überwältigend und ich konnte einfach noch nicht darüber reden.«

Laurel nickte langsam. Sie spielte mit ihrem goldenen Anhänger, während sich in ihrem Gesicht widersprüchliche Emotionen spiegelten.

Emma wusste genau, wie sie sich fühlte, denn schließlich waren die Entdeckungen über Becky und die Mercers auch für sie noch ganz frisch.

Es war so still, dass sie den Atem von Drake, der Dänischen Dogge der Familie, hörten, die neben dem Kamin in einem riesigen Hundebett döste. Mr Mercer starrte aus dem Fenster. Ein paar Kaktuszaunkönige bauten sich gerade in einer Weide ein Nest. Nach einer langen Pause lachte Laurel leise.

»Was ist?«, fragte Emma erstaunt.

»Mir ist gerade klar geworden, dass du meine Nichte bist«, sagte Laurel und lächelte schief.

Emma lachte ebenfalls leise. »Das stimmt wohl.«

»Technisch gesehen schon«, fügte Mr Mercer hinzu. Er knöpfte sein Anzugjackett auf und zu und wirkte sichtbar erleichtert über ihre Reaktion. »Aber da wir Sutton offiziell adoptiert haben, ist sie vor dem Gesetz deine Schwester.«

Laurel drehte sich wieder zu Emma um, und obwohl ihr Lächeln ein bisschen gezwungen wirkte, blickten ihre Augen warm.

»Das ist alles total verrückt … aber irgendwie ist es cool, dass wir verwandt sind. Blutsverwandt, meine ich. Du weißt, dass du schon immer meine Schwester gewesen bist. Aber es freut mich, dass wir auch rein biologisch verwandt sind.«

Erinnerungsfragmente von uns beiden als kleine Mädchen schossen mir durch den Kopf. Laurel hatte recht. Wir waren wirklich Schwestern gewesen. Wir hatten uns wie Schwestern gestritten, aber wir hatten uns auch wie Schwestern umeinander gekümmert, so wie es sein sollte.

Mr Mercer räusperte sich und strich sich über den Kiefer. »Da ist noch etwas«, sagte er. Emma schaute überrascht zu ihm hoch. Noch mehr? »Becky hat diesmal ein paar merkwürdige Dinge zu mir gesagt, bevor sie gegangen ist. Es ist bei ihr schwer, Wahrheit von Fantasie zu unterscheiden; in dieser Hinsicht ist Becky nicht sehr … zuverlässig. Aber irgendwie sagt mir mein Bauchgefühl, dass sie diesmal nicht gelogen hat. Sie sagt, sie habe noch eine zweite Tochter geboren. Suttons Zwillingsschwester.«

Emmas Herz verkrampfte sich in ihrer Brust. Einen endlosen Augenblick lang verschwamm das Wohnzimmer der Mercers vor ihren Augen zu einer Dali-esk verzerrten Landschaft. Sie kannten immer noch nicht die ganze Wahrheit. Als Emma vor zwei Wochen in Beckys Akte geblättert hatte, hatte sie erfahren, dass ihre Mutter noch eine dritte Tochter hatte, ein zwölfjähriges Mädchen, das Beckys Angaben zufolge bei seinem Vater in Kalifornien lebte.

»Zwillinge?«, krächzte Laurel.

»Ich weiß nicht, ob es wirklich stimmt.« Mr Mercer schaute mit schwer zu deutender Miene auf Emma herunter. »Becky schien nicht zu wissen, wo sich deine Schwester – deine Zwillingsschwester – gerade befindet. Aber ihr Name ist Emma.«

»Emma?« Laurel schaute Emma ungläubig an. »So hast du dich an unserem ersten Schultag doch beim Frühstück genannt, oder?«

Emma zupfte an einem losen Fädchen an Suttons Kleid und betete um eine Eingebung. Aber ihr blieb eine Antwort erspart, weil Mr Mercer wieder sprach.

»Becky hat dir an dem Abend im Sabino von ihr erzählt, stimmt’s?«, fragte er leise.

Emmas Gedanken überschlugen sich, aber sie schaffte es, zu nicken. Gott sei Dank hatte Mr Mercer ihr eine Erklärung geliefert, die wahrscheinlich sogar der Wahrheit entsprach. Bei Emmas Gespräch mit Becky letzte Woche hatte Becky über Emma geredet, als habe sie sie Sutton gegenüber bereits erwähnt.

»Sie hat mir nur ihren Namen gesagt«, erzählte Emma leise. »Ich hätte es euch sagen sollen. Aber ich war so wütend. Ich wollte wissen, ob ihr auch von ihr wisst, ob ihr auf den Namen reagiert. Ich wollte einen Streit vom Zaun brechen und dann hättet ihr mir die Wahrheit sagen müssen.«

Wieder senkte sich angespanntes Schweigen über das Zimmer. Emma sah aus dem Augenwinkel, wie Drake den Kopf hob und unsicher mit dem Schwanz wedelte. Der Sekundenzeiger von Mr Mercers Cartier-Uhr tickte laut. Gegen Emmas rasendes Herz wirkte er schleppend und träge.

Endlich brach Mrs Mercer das Schweigen. »Es tut mir so leid, dass wir dich angelogen haben, Sutton. Euch beide. Ihr habt jedes Recht dazu, wütend zu sein. Ich hoffe nur, dass ihr uns eines Tages versteht und vielleicht sogar verzeihen könnt.«

Mein eigenes Herz schmerzte, als ich die Qual auf dem Gesicht meiner Mutter sah. Natürlich verzieh ich ihr, auch wenn ich es ihr niemals sagen konnte. Ich hoffte nur, dass sie sich selbst vergeben konnte, wenn die ganze Wahrheit ans Licht kam und sie begriff, wie viel all diese Geheimnisse unsere Familie wirklich gekostet hatten.

Dass jemand sie gegen uns – gegen mich – verwendet hatte, um Emma dazu zu zwingen, nach meinem Tod meinen Platz einzunehmen.

»Und was jetzt?«, fragte Laurel, den Blick auf Emma gerichtet. Ihr Gesicht wirkte entschlossen. »Wir müssen diese Emma finden, richtig? Sie ist schließlich unsere Schwester. Oder unsere Nichte. Oder … äh, was auch immer.«

Mrs Mercer nickte eifrig. »Wir werden versuchen, sie aufzuspüren. Ich möchte, dass wir sie wenigstens kennenlernen und uns vergewissern, dass sie glücklich und in Sicherheit ist, egal, wo sie lebt. Wenn sie möchte, können wir sie in die Familie aufnehmen.« Sie schaute Emma an. »Hat sie dir noch irgendetwas gesagt, Sutton? Wo Emma sein könnte oder wie ihr Nachname lautet?«

Emma biss sich heftig auf die Wange, um ihre Tränen zu unterdrücken. Es war so unfair – sie wollten sie suchen, sie in Sicherheit bringen, und dabei saß sie genau vor ihnen und war in größerer Gefahr als jemals zuvor. »Nein«, flüsterte sie. »Sonst hat mir Becky nichts über sie gesagt.«

Mr Mercer seufzte, beugte sich vor und küsste Emma auf die Stirn. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Wir werden sie schon finden. Und von nun an werden wir alle ehrlich zueinander sein, das verspreche ich.«

Einen kurzen, panischen Augenblick lang war Emma versucht, ihnen alles zu gestehen. Der Gedanke jagte ihr schreckliche Angst ein – sie würden am Boden zerstört sein. Sie musste ihnen sagen, dass das Mädchen, das sie als Tochter großgezogen hatten, tot war und sie dabei geholfen hatte, den Mord zu vertuschen. Aber es wäre auch eine große Erleichterung für sie. Dann hätte sie endlich Hilfe bei ihren Nachforschungen, vielleicht sogar Schutz. Und sie wäre endlich das Zentnergewicht los, das seit ihrem ersten Morgen in Tucson auf ihrer Brust lastete.

Aber dann dachte sie daran, dass der Mörder sie ständig beobachtete – ihr Botschaften auf ihrem Auto hinterlassen, sie in Charlottes Haus gewürgt und ihr beinahe einen Scheinwerfer auf den Kopf geworfen hatte. Sie dachte daran, wie Nisha wieder und wieder versucht hatte, sie anzurufen … und dann ganz plötzlich gestorben war. Sie konnte ihre Familie einer solchen Gefahr nicht aussetzen. Das durfte sie nicht riskieren.

Mrs Mercer räusperte sich. »Ich weiß, dass ihr Mädchen das sofort euren Freundinnen erzählen wollt, aber ich fände es besser, wenn wir diese Information fürs Erste noch für uns behalten könnten. Euer Vater und ich überlegen immer noch, wie wir am besten nach Emma suchen können und … wir müssen noch über so vieles reden.«

Laurel verzog kampflustig den Mund, und einen Augenblick lang war Emma sicher, dass sie nicht gehorchen wollte. Aber dann nahm sie nur Mrs Mercers Hand und drückte sie. »Klar, Mom«, sagte sie sanft. »Wir können ein Geheimnis bewahren.«

In der Diele schlug die Standuhr Viertel nach.

»Wir müssen los«, sagte Mr Mercer leise. »Sonst kommen wir zu spät.«

»Ich muss noch schnell aufs Klo«, sagte Emma, die sich kurz beruhigen musste. Sie schnappte sich ihre Tasche und eilte den Flur entlang. Sobald sie alleine im Gästeklo war, beugte sie sich über das Waschbecken und betrachtete sich im Spiegel. Ihre Haut war leichenblass, ihre blauen Augen leuchteten fiebrig. Ich tue das Richtige, sagte sie zu sich selbst. Sie musste unter allen Umständen ihre Familie schützen.

Ich war froh darüber, dass Emma sich um meine Familie kümmerte. Aber während ich in ihr Gesicht schaute, das meinem so herzzerreißend ähnlich sah, fragte ich mich nicht zum ersten Mal, wer sich eigentlich um Emma kümmerte.

2

Grabesmienen

»Mit großer Trauer nehmen wir heute von Nisha Abschied. Sie war ein strahlendes, talentiertes Mädchen und wir werden sie sehr vermissen.«

Die Trauerfeier fand am Grab statt, unter den Platanen und Zedern, die den Friedhof überragten. Die Sonne stand herbstlich tief, aber strahlend am Himmel und verlieh den grauen und weißen Grabsteinen einen melancholischen Schimmer. Emma saß auf einem Klappstuhl zwischen Madeline Vega und Charlotte Chamberlain, Suttons besten Freundinnen. Direkt hinter ihnen saßen die Twitter-Zwillinge, die ihre Handys aber ausnahmsweise in ihren Taschen gelassen hatten. Neben ihnen saß Laurel und schluchzte lautlos. Die gesamte Schule war zur Beerdigung erschienen, auch die meisten Lehrer und sogar die Schulleiterin, Ms Ambrose. Emma sah Ethan im Schatten eines Baumes stehen. Er trug das schwarze Hemd, das er vorhin bei dem Interview angehabt hatte.

Die Rednerin, eine vollschlanke Frau im weißen Sari, fuhr fort: »Es ist besonders grausam, einen so jungen Menschen zu verlieren. Nisha hatte so viel Potenzial. Die Versuchung, sich auf all das zu konzentrieren, was sie in ihrem Leben noch alles hätte erreichen können, ist groß. Wir wollen darüber trauern, dass sie die Welt nicht mehr verändern kann und dass sie ihre Ziele nie erreichen wird.«

Hinter der Frau im Sari stand der Sarg aus poliertem Eichenholz, der in der Sonne glänzte. Der Deckel war geschlossen; es hatte keine Aufbahrung gegeben. Die Trauerfeier schien recht kurz zu werden. Bevor die Rednerin ans Mikrofon getreten war, hatten Nishas Freundinnen ein paar kurze Texte verlesen, und der Chor der Hollier Highschool hatte »Wind Beneath My Wings« gesungen. Emma konnte sich vorstellen, dass Nisha von der Liedauswahl nicht begeistert gewesen wäre – sie war kein sentimentales Mädchen gewesen. Aber alle Trauergäste hatten Rotz und Wasser geheult. Charlotte war heftig schluchzend zusammengebrochen und Madeline hatte bleich und zitternd die Fäuste in ihren Rock gekrallt.

Ich betrachtete die Trauernden wehmütig. Würde ich jemals eine Beerdigung bekommen? Und was würde man dann über mich sagen? Würden die Menschen auch um mich weinen? Ich betrachtete den Sarg und das tiefe Loch neben ihm und mir lief ein Schauer über den Rücken. Irgendwo da draußen lagen meine sterblichen Überreste, die mit Gewalt von meiner Seele getrennt und dem Verfall überlassen worden waren. Ich schaute mich wieder um, in der Hoffnung, Nishas Geist zu entdecken. Aber soweit ich sehen konnte, war ich auch weiterhin das einzige Gespenst.

Die Rednerin hatte eine sonore, wohlklingende Stimme mit demselben schwachen anglo-indischen Akzent wie Dr. Banerjee. »Aber ich glaube, dass wir Nisha keinen Gefallen damit tun, wenn wir uns darauf konzentrieren, was alles hätte sein können. Jetzt, da wir von ihr Abschied nehmen müssen, bitte ich alle darum, sich nicht darauf zu besinnen, was wir verloren haben, sondern darauf, wie sehr Nisha unsere Leben bereichert hat.«

Ein Streichquartett begann leise »Let It Be« zu spielen und die Trauergäste erhoben sich von den Stühlen und nahmen das Gespräch wieder auf.

Charlotte wischte sich mit einem Taschentuch über die Augen, das sie in den Tiefen ihrer Tasche gefunden hatte. Ihre langen roten Locken waren aufgesteckt gewesen, aber ein paar Strähnen hatten sich gelöst und umrahmten ihr rundes, sommersprossiges Gesicht. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass es wahr ist. Sie kann doch nicht tot sein.«

»Ich begreife einfach nicht, wie jemand glauben kann, dass sie es absichtlich getan hat«, sagte Madeline mit rot geweinten Augen. Sie schüttelte den Kopf. »Am Sonntag ging es ihr doch gut.«

Am Sonntag hatten sie eine Pseudo-Séance veranstaltet, um einem Mädchen namens Celeste Echols einen Streich zu spielen. Dies war der erste Lügenspiel-Streich gewesen, an dem Nisha aktiv beteiligt gewesen war – nachdem sie bereits ein paarmal das Opfer gewesen war. Es hatte ihr definitiv Spaß gemacht, auf der Macherseite mitzuwirken.

»Ich auch nicht. Es ergibt einfach keinen Sinn. Sie ist eine hervorragende Schwimmerin«, flüsterte Laurel unter Tränen. »Ich meine, sie war eine.«

»Was meinst du, Sutton?«, fragte Gabby. Emma schaute abrupt auf. Wie üblich bildeten die Outfits der Twitterzwillinge einen perfekten Kontrast zueinander. Gabby trug ein schlichtes Etuikleid und Perlenohrringe. Ihr Lippenstift war von gedecktem Rot. Lili hingegen trug ein schwarzes Tutu aus dem Secondhandshop und dazu kniehohe Armeestiefel. Sie hatte sich einen kleinen Trauerschleier ins Haar gepinnt.

»Ja, ihr zwei habt euch doch in letzter Zeit angefreundet«, fügte Lili hinzu. »Hat sie auf dich traurig gewirkt?«

»Spielt das wirklich noch eine Rolle?«, fragte Emma. Ihre Stimme brach. »Sie ist tot. Das ›Warum‹ bringt sie uns auch nicht zurück.«

Die Mädchen schwiegen. Emma beobachtete, wie die Rednerin am anderen Ende der Rasenfläche mit Dr. Banerjee sprach, der noch immer mit abwesendem Gesicht auf seinem Klappstuhl saß. Emma hatte Nishas Vater vor ein paar Wochen kennengelernt. Er war der behandelnde Arzt ihrer Mutter gewesen und war sogar dann geduldig und gütig geblieben, als Becky gewalttätig geworden war. Jetzt war sein schlimmster Albtraum Wirklichkeit geworden – und das so kurz nach dem Tod seiner Frau.

»Entschuldigt mich bitte kurz«, sagte Emma zu ihren Freundinnen und ging zwischen den nun leeren Stühlen hindurch zu Nishas Vater.

Viele Trauergäste nickten ihr zu, als sie an ihnen vorbeiging. Die Tennistrainerin, Maggie, stand bei ein paar Spielerinnen, die alle geschockt und traurig wirkten. Unter ihnen war auch Clara, das Gesicht tränenüberströmt.

Nachdem die Rednerin Dr. Banerjee noch ein letztes Mal umarmt hatte, ging sie zu den anderen Gästen und ließ ihn allein. Emma zögerte. Sie wollte ihm sagen, wie schrecklich leid ihr sein Verlust tat und dass Nisha ihr eine gute Freundin geworden war. Aber noch mehr als das wollte sie herausfinden, was er über Nishas Tod dachte – und wo seine Tochter an dem Tag gewesen war, an dem sie starb.

Bevor sie sich überlegt hatte, was sie sagen würde, setzte sich jemand anders neben Dr. Banerjee. Emma erstarrte, als sie Detective Quinlan erkannte, der seine Festtagsuniform trug und seine Mütze in den Händen hielt. Quinlan war kein Fan von Sutton Mercer – er hatte einen dicken Aktenordner über Suttons Lügenspiel-Streiche auf dem Revier. Außerdem hatte er Emma vor zwei Monaten wegen Ladendiebstahls verhaftet. Instinktiv wich sie zur Seite und duckte sich hinter einen Grabstein dicht neben den beiden Männern.

Quinlan sprach mit leiser, mitfühlender Stimme. Emma lehnte sich gegen den kühlen Marmor und lauschte angestrengt. Sie erhaschte ein »Mein Beileid« und »Tragisch« und wollte sich gerade zurückziehen, als das Wort »Autopsie« in ihre Richtung schwebte.

Dr. Banerjee schüttelte als Reaktion auf Quinlans Erläuterungen heftig den Kopf.

»Hör mal, Sanjay«, sagte Quinlan geduldig, aber bestimmt. »Es gab keinerlei Anzeichen für einen Kampf. Keine Schrammen, keine Blutergüsse, keine Handabdrücke. Es war schlichtweg ein Unfall.«

»Nein.« Dr. Banerjee hielt die Hände weiter im Schoß gefaltet, aber seine Kiefermuskeln zuckten. »Nisha konnte schwimmen, seit sie zwei Jahre alt war. Sie hätte ausrutschen und sich den Kopf stoßen müssen, wenn es ein Unfall gewesen wäre. Keine Blutergüsse? Keine Gehirnerschütterung?« Er presste einen Moment lang verzweifelt die Lippen zusammen, bevor er weitersprach. »Meine Tochter wurde ermordet.«

Quinlan zögerte und verzog unter seinem Schnurrbart unglücklich den Mund. »Da ist noch mehr«, sagte er leise. »Es tut mir leid, dass ich es dir hier sagen muss. Aber der Gerichtsmediziner hat in hoher Konzentration Diazepam in ihrem Blut gefunden. Das ist …«

»Valium. Ich bin Arzt«, blaffte Nishas Vater. Seine Knöchel wurden weiß, so fest hatte er die Hände ineinander verkrallt. »Nisha nimmt aber kein Valium.«

Quinlan rieb sich seufzend das stoppelige Kinn. »Ich weiß. Wir haben ihre Krankenakte durchgesehen.«

»Willst du damit andeuten, dass …«

»Ich weiß, dass das schwer für dich ist. Aber Nisha hatte ein sehr hartes Jahr.« Quinlan wand sich und drehte nervös seine Mütze in den Händen. »Ich will ihr nichts unterstellen, Sanjay. Aber Teenager probieren immer mal wieder neue Dinge aus und kennen oftmals ihre Grenzen nicht.«

Dr. Banerjees Miene war eisig. »Ihr Zimmer war verwüstet, Shane. Jemand hat es durchsucht und auf den Kopf gestellt.«

»Es gab keine Hinweise auf einen Einbruch«, sagte Quinlan skeptisch. »Und wir haben nur deine und ihre Fingerabdrücke in ihrem Zimmer gefunden. Nisha muss das selbst getan haben. Manchmal machen Leute komische Dinge, wenn sie unter Medikamenteneinfluss stehen.«

Dr. Banerjee saß einen langen Augenblick still da und schaute auf seine Hände. Seine Brille hing ihm schief auf der Nase, was ihn leicht irre wirken ließ. Quinlan sah sich Hilfe suchend um und einen Moment lang tat er Emma beinahe leid.

»Hör mal«, sagte er schließlich so leise, dass Emma ihn kaum hören konnte. »Wenn du wegen irgendjemandem ein komisches Gefühl bekommst – wenn Fremde um dein Haus herumlungern oder Jungs sich irgendwie aggressiv verhalten – oder du herausfindest, ob sie irgendwelche Feinde hatte, dann gib mir ihre Namen, und ich gehe der Sache nach. Aber im Moment habe ich nicht die geringsten Hinweise. Gib mir irgendetwas, womit ich arbeiten kann.«

Dr. Banerjee schüttelte den Kopf. »Soviel ich weiß, hatte sie keine Feinde.« Er löste seine Hände voneinander und vergrub das Gesicht in ihnen. »Ich weiß nicht, wer meinem kleinen Mädchen so etwas antun würde«, stöhnte er und begann zu zittern.

Hinter dem Grabstein wurde Emma von Schuldgefühlen überwältigt. Sollte sie ihnen von Nishas Anrufen und panischen SMS erzählen? Ihr Magen verkrampfte sich ängstlich. Quinlan wurde immer sofort misstrauisch, wenn Sutton Mercer in eine Sache verstrickt war. Bestenfalls würde er ihre Angaben als neuen Versuch abtun, sich mit einem dummen Streich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Und schlimmstenfalls würde Emma auf einer Verdächtigenliste landen. Ihre eigene Geschichte würde einem Verhör jedoch niemals standhalten.

»Ich brauche etwas zu trinken«, sagte Dr. Banerjee schließlich. Seine Stimme klang angespannt, als kämpfe er darum, die Fassung nicht zu verlieren. Sein Gesicht war wieder ausdruckslos. Nur seine blutunterlaufenen Augen blickten wild und verzweifelt.

Quinlan nickte. »Komm, Sanjay.« Überraschend sanft half er Dr. Banerjee auf, und die beiden gingen zu dem Getränketisch, der im Schatten einer Zeder stand.

Emma ließ sich mit hämmerndem Herzen gegen den Grabstein sinken.

Nishas Zimmer war also durchsucht worden. Aber was hatte der Mörder gesucht? Und hatte seine Suche Erfolg gehabt oder befand sich die Sache noch in Nishas Zimmer?

Emma starrte einen Moment lang auf Nishas Sarg, der in der Sonne glänzte. »Es tut mir so leid«, flüsterte sie. Ihr Blick fiel auf den Grabstein, hinter dem sie sich versteckt hatte. Jesminder D. Banerjee, stand dort. Geliebte Ehefrau und Mutter. Nishas Mom. Sie hatte bisher gar nicht darüber nachgedacht, aber natürlich würde Nisha direkt neben ihrer Mutter begraben werden.

Emma rappelte sich auf und ging über den Rasen. Die Trauergäste zerstreuten sich langsam. Aus der Ferne hörte sie, wie auf dem Parkplatz Motoren angingen und Türen zugeschlagen wurden.

Sie ging an ein paar Hollier-Schülern vorbei, die sich bei einem verwitterten Mausoleum zusammengeschart hatten, vor dem eine Urne mit welken Lilien stand. Garrett Austin stand zwischen seiner kleinen Schwester Louisa und seiner neuen Freundin Celeste Echols. Garrett war zum Zeitpunkt von Suttons Tod ihr »offizieller« Freund gewesen, obwohl sie gleichzeitig eine heimliche Affäre mit Thayer gehabt hatte. Als Emma Suttons Platz eingenommen hatte, hatte Garrett ihr seine Jungfräulichkeit als Geburtstagsgeschenk angeboten, und nachdem sie panisch vor ihm geflüchtet war, hatte er mit ihr Schluss gemacht.

Garrett wirkte völlig fertig. Seine Augen waren rot, sein blondes Haar glanzlos und ungewaschen. Er war ein paar Wochen lang mit Nisha zusammen gewesen, und obwohl sie miteinander Schluss gemacht hatten, schien er ihren Tod nicht gut zu verkraften. Er schaute auf, bemerkte Emma und schaute sie mit leeren Augen an, als erkenne er sie gar nicht.

Ertappt machte Emma einen unsicheren Schritt auf ihn zu. »Wie geht es dir?«, fragte sie schüchtern und berührte zaghaft seine Schulter.

Garrett blinzelte und ganz plötzlich verzog sich seine Miene zu einer Grimasse der Wut. Er zuckte vor ihr zurück, den Körper wie eine Stahlsaite angespannt. Instinktiv wich Emma einen Schritt zurück. Einen Moment lang fürchtete sie, er werde sie gleich schlagen.

»Was geht dich das an? Du kanntest sie doch kaum«, zischte er.

Hinter ihm sah Emma Celestes schockiertes Gesicht. Louisa schaute verwirrt zwischen ihrem Bruder und ihr hin und her.

Emma war zur Salzsäule erstarrt. Kanntest sie kaum? Klar, Emma kannte Nisha erst seit ein paar Monaten. Aber Sutton war mit ihr aufgewachsen.

»Garrett, ich weiß, dass du traurig bist …«, begann Celeste und legte ihm die Hand auf den Arm. Er wirbelte heftig herum und baute sich vor seiner Freundin auf. Emmas ganzer Körper spannte sich an, als sie seinen wilden Gesichtsausdruck sah. Sein Mund war höhnisch verzogen.

»Du weißt gar nichts«, blaffte er. »Halt doch einfach mal fünf Minuten lang das Maul. Ich glaube allmählich, Nisha hatte recht, was dich betrifft.«

Emmas Mund klappte auf und Celestes Miene verdüsterte sich.

»Ach ja?«, zischte sie, und ihre Stimme war auf einmal gar nicht mehr hauchig. »Und wann habt ihr zwei euch so traulich über mich unterhalten?«

»Das geht dich nichts an«, brüllte Garrett. Inzwischen hatten sich fast alle anderen Schüler, die bei ihnen gestanden hatten, verlegen verdrückt. Louisa beobachtete ihren Bruder mit besorgtem Blick.

Laurel erschien an Emmas Seite, packte sie am Arm und lenkte sie an Garrett vorbei in Richtung Parkplatz.

»Komm schnell«, flüsterte sie, während hinter ihnen Celeste wütend ihre Stimme erhob. »Bei einer Beerdigung Streit anfangen? Wie schäbig ist das denn?«

»Unglaublich, dass er seine Freundin so anschreit«, sagte Emma ganz benommen. Sie ließ sich von Laurel an den endlosen Reihen von Grabsteinen vorbeiführen.

Laurel blieb einen Moment stehen und zog eine Augenbraue hoch.

»Wie bitte? Ihr zwei hattet euch doch ständig in der Wolle.«

Emma starrte Suttons Schwester verständnislos an.

»Ach, komm schon, Sutton. Er ist ständig ausgeflippt«, sagte Laurel achselzuckend. »Wenn du ihn nicht schnell genug zurückgerufen hast, wenn ihm dein Rock zu kurz war oder du es nicht zu seinen Spielen geschafft hast. Er ist nicht gerade von der ausgeglichenen Sorte.«

»Ja«, stammelte Emma und versuchte ihre Verwirrung zu überspielen. »Schon wahr. Gehen wir.«

Sie gingen weiter. Hinter sich konnten sie Garrett und Celeste immer noch streiten hören. Emma schwirrte der Kopf. Warum hatte er gesagt, sie kenne Nisha kaum?

Ich wusste es auch nicht. Aber irgendetwas sagte mir, dass Emma es schnell herausfinden sollte. Garrett war offenbar ziemlich jähzornig und Emma sollte ihm lieber nicht zu nahe kommen.

3

Endlich allein

Am nächsten Nachmittag gingen Ethan und Emma einen hügeligen Wanderweg in den kahlen Bergen des Tucson Mountain Parks entlang. Emma wickelte sich ihren grauen Kaschmirschal enger um den Hals und fröstelte in der kühlen Winterluft. Die Felsen glühten rotgolden in der Spätnachmittagssonne, und Emma und Ethan liefen nebeneinander her, die Hände ineinander verschränkt.

Emma gefiel die öde Landschaft. Seit ihrer Ankunft in Tucson hatte sie sich immer beobachtet gefühlt, aber in dieser weiten Umgebung gab es kaum Deckung. Suttons Killer würde sich hier oben nicht an sie heranschleichen können.

Während sie wanderten, erzählte Emma Ethan von der Familienkonferenz der Mercers. Er hörte aufmerksam zu, den Blick auf den schmalen Pfad vor ihnen gerichtet.

»Sie werden nach mir suchen, Ethan, und ich habe nicht gerade darauf geachtet, meine Spuren zu verwischen.« Emma dachte an alle CSI-Folgen, die sie jemals gesehen hatte. Es war geradezu lächerlich einfach, jemanden aufzuspüren. Man brauchte dazu nur einen Internetzugang und ein paar Augenzeugen. »Ich weiß nicht, wie lange mir noch bleibt, bevor sie es herausfinden. Und wenn es so weit ist, bin ich sofort die Hauptverdächtige. Dafür hat der Killer gesorgt.«

Sie erreichten einen Felsvorsprung mit überdachtem Picknickbereich, von dem aus man den ganzen Park überblicken konnte. Ein dicker Waschbär schaute gelassen von einem McDonalds-Einwickelpapier auf, als sie ankamen, und watschelte dann gemächlich ins Unterholz. Emma setzte sich auf den Picknicktisch und holte eine Flasche Wasser aus ihrem Rucksack. Sie nahm einen tiefen Schluck und reichte die Flasche dann Ethan.

»Wir sind alle in Gefahr.« Sie schaute kläglich zu ihm auf. »Du, ich und meine Familie. Wir müssen den Fall lösen, und zwar schnell.«

Ethan legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie fürsorglich an sich. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter und sie atmete den Duft seines frisch gewaschenen Flanellhemdes ein.

»Okay, wir haben bisher Laurel, Thayer, Madeline, Charlotte, Mr Mercer, Becky und die Twitterzwillinge ausgeschlossen«, zählte Ethan der Reihe nach Suttons Freundinnen und ihre Familie auf. »Ist es völlig ausgeschlossen, dass es ein … Zufallsverbrechen war? Vielleicht hat sie ja ein Landstreicher umgebracht.«

Emma schüttelte den Kopf. »Dafür weiß der Mörder zu viel über Sutton. Wo sie lebt, wann sie wohin geht, wie wichtig ihr Anhänger ist … Der Mörder hat ihn ihr vom Hals genommen und mir umgelegt, weil er wusste, dass ich ohne das Teil keine glaubhafte Suttonkopie abgeben würde.« Sie erschauderte. »Für diesen Mord gab es ganz persönliche Motive.«

Ethan nickte. »Du hast wahrscheinlich recht.«

»Weißt du, wen ich bisher noch nicht überprüft habe