THE AMATEURS - Wer zuletzt stirbt - Sara Shepard - E-Book

THE AMATEURS - Wer zuletzt stirbt E-Book

Sara Shepard

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Beschreibung

Die Wahrheit ist zum Sterben schön…

Aerin Kelly war elf, als ihre ältere Schwester Helena verschwand. Fünf Jahre später wird Helenas Leiche gefunden. Sechs Jahre später legt die Polizei den Fall zu den Akten, ohne einen Spur vom Mörder. Aerin macht sich auf eigene Faust auf die Suche. Über die Website Case Not Closed nimmt sie Kontakt zu zwei Teenagern auf, Seneca und Maddox, die ebenfalls Angehörige verloren haben. Gemeinsam versuchen sie, den Fall Helena zu lösen. Doch als ihre Nachforschungen voranschreiten, schwant ihnen, dass ihre Zusammenarbeit kein Zufall ist. Und dass etwas – oder jemand – alle drei Fälle verbindet …

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Seitenzahl: 439

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DIE AUTORIN

Foto: © www.danphoto.com

Sara Shepard hat an der New York University studiert und am Brooklyn College ihren Magisterabschluss im Fach Kreatives Schreiben gemacht. Sie wuchs in einem Vorort von Philadelphia auf, wo sie auch heute lebt. Ihre Jugend dort hat die »Pretty Little Liars«-Serie inspiriert, die in 22 Länder verkauft wurde und die, ebenso wie ihre Reihe »Lying Game«, zum New York Times Bestseller wurde. Inzwischen wird »Pretty Little Liars« mit großem Erfolg als TV-Serie bei ABC gesendet. In Deutschland wird »Pretty Little Liars« seit Mai 2014 auf Super RTL ausgestrahlt.

Mehr zur Autorin auch auf www.twitter.com/sarabooks, auf facebook/sarashepardbooks und auf Instagram @saracshepard

Mehr zu cbt auf Instagram @hey_reader

Von der Autorin sind außerdem bei cbt erschienen:

Pretty Little Liars – Unschuldig (Band 1)

Pretty Little Liars – Makellos (Band 2)

Pretty Little Liars – Vollkommen (Band 3)

Pretty Little Liars – Unvergleichlich (Band 4)

Pretty Little Liars – Teuflisch (Band 5)

Pretty Little Liars – Mörderisch (Band 6)

Pretty Little Liars – Herzlos (Band 7)

Pretty Little Liars – Vogelfrei (Band 8)

Pretty Little Liars – Unerbittlich (Band 9)

Pretty Little Liars – Skrupellos (Band 10)

Lying Game – Und raus bist du (Band 1)

Lying Game – Weg bist du noch lange nicht (Band 2)

Lying Game – Mein Herz ist rein (Band 3)

Lying Game – Wo ist nur mein Schatz geblieben? (Band 4)

Lying Game – Sag mir erst, wie kalt du bist (Band 5)

Lying Game – Und du musst gehen (Band 6)

The Perfectionists – Lügen haben lange Beine (Band 1)

The Perfectionists – Gutes Mädchen, böses Mädchen (Band 2)

Sara Shepard

THE AMATEURS

Wer zuletzt stirbt

Aus dem Amerikanischen

von Violeta Topalova

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
© 2016 by Alloy Entertainment, LLC and Sara Shepard Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »The Amateurs« bei Freeform Books, New York. Published by arrangement with Rights People, London. © 2017 für die deutschsprachige Ausgabe by cbt Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Aus dem Amerikanischen von Violeta Topalova Lektorat: Ulrike Hauswaldt Umschlaggestaltung: init | Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen, unter Verwendung eines Motivs von Thinkstock/Eivaisla he · Herstellung: ang Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach ISBN: 978-3-641-17887-1V003
www.cbt-buecher.de

Für Kristian und Henry

Vorher

Der Schnee fiel die ganze Nacht und hatte die Welt am Morgen verwandelt. Es war Kristallschnee, magischer Schnee, der eine perfekte, einheitliche Decke bildete, die alles unter ihr verbarg.

Die elfjährige Aerin Kelly eilte die drei Ebenen der hinteren Terrasse hinunter und ihre Stiefel versanken im glitzernden Pulver. Sie ließ sich lachend nach vorne fallen, drehte sich dann auf den Rücken und starrte zum weißen Himmel hinauf. Eine Gestalt beugte sich über sie. Es war ihre siebzehnjährige Schwester Helena, die einen taillierten weißen Wintermantel mit Pelzkragen, Fellstiefel und einen braunen Herrenhut trug. Ihre Augen leuchteten strahlend blau, und ihr frisch kurz geschnittenes, platinblondes Haar umspielte ihr Gesicht. Später dachte Aerin immer, dass Helena an jenem Tag schöner gewesen war als jemals zuvor.

Aerin rappelte sich auf und Helena legte den Kopf in den Nacken.

»Seltsam, dass Schnee einen Geruch hat«, sagte sie nachdenklich.

»Ich glaube, es soll noch mehr schneien«, sagte Aerin eifrig.

Helena stellte einen Stiefel in eine Schneewehe. »Hast du dein Handy da? Kann ich beim Wetterdienst nachsehen?«

»Ist dein Handy schon wieder weg?«, fragte Aerin gutmütig und warf ihrer Schwester ihr iPhone, das sie letzten Sommer ihrer Mutter abgeschwatzt hatte, zu.

Helena fing es mit ihren roten Lederhandschuhen, zog den rechten dann aus und tippte auf das Display. »Heute kommen noch dreißig Zentimeter runter.« Sie grinste. »Eigentlich sollten wir unseren traditionellen Schneemann also morgen bauen, aber da bist du mit Sicherheit den ganzen Tag auf der Piste. Hast du jetzt Lust dazu?«

»Klar.« Die Mädchen stapften zum Mittelpunkt ihres riesigen, zwei Hektar großen Grundstückes, wo sie schon seit ihrer frühesten Kindheit jedes Jahr den ersten Schneemann des Winters bauten. Helena formte einen Schneeball zwischen den Händen und rollte ihn dann über die Wiese. Dabei rutschte ihr der Hut ins Gesicht.

»Ich finde, dieses Jahr sollten wir eine Schneefrau bauen«, sagte sie entschieden. »Mit riesigem Busen.«

»Und einem breiten Hintern«, fügte Aerin hinzu. Sie war von dem Marsch hierher immer noch atemlos.

Helena grinste. »Vielleicht sogar mit einer Vagina. Damit sie anatomisch völlig korrekt ist.«

Aerin kicherte. Dabei hätte sie ihre Schwester am liebsten fest in die Arme geschlossen. Helena spielte es zwar herunter, aber es war schon schräg, dass sie beide wieder Zeit miteinander verbrachten. Miteinander lachten.

Früher waren Helena und Aerin unzertrennlich gewesen. Sie hatten sich Zelte aus Decken gebaut und sich darin Geistergeschichten erzählt. Sie hatten schönere Schuluniformen für Windemere-Carruthers entworfen, die Privatschule in Dexby, Connecticut, die sie beide besuchten. Sie erfanden verrückte Eiscremerezepte wie zum Beispiel Erdbeer-Chili, die ihre Mutter dann in ihrer Eismaschine anrührte, obwohl die Mädchen sich strikt weigerten, auch nur eine ihrer Sorten zu probieren.

Aber zu Beginn dieses Sommers hatte Helena sich … verändert. Sie hatte sich in ihrem Zimmer eingeigelt, sich ihr langes Haar abgeschnitten und aufgehört, mit ihrer Familie zu reden. Auch mit Aerin.

Sie ist eben ein Teenager, hatte ihre Mutter achselzuckend zu Aerin gesagt. Sie hat zum ersten Mal einen Freund. Lass ihr den Raum, sich selbst zu finden.

Dabei hätte Aerin ihre große Schwester gerade in dieser Zeit besonders dringend gebraucht. Ihre Eltern, die immer wie frisch verliebt gewirkt hatten, stritten sich ununterbrochen. Aerin wusste, dass Helena die Streitereien durch die dünnen Wände ihres Zimmers hören konnte. Aber jedes Mal, wenn Aerin versuchte, mit ihr darüber zu reden, wechselte ihre Schwester augenblicklich das Thema.

Doch jetzt formte Helena den Oberkörper der Schneefrau und grinste, als sei alles in Butter. Sie begann sogar, darüber zu reden, dass Aerin der Skimannschaft der Schule beitreten sollte, weil sie so viel Talent hätte.

»Kevin hatte wohl keine Lust, einen Schneemann zu bauen, oder?«, platzte Aerin plötzlich heraus.

Helena hielt inne und schaute sie an. »Ich habe ihn nicht gefragt.«

»Macht ihr es eigentlich miteinander?«, fragte Aerin dann schnell.

Helena runzelte die Stirn. »Wie bitte?«

Aerin hatte gefragt, weil sie glaubte, dass sie dadurch älter und reifer wirken würde, wie ein Mädchen, mit dem ihre Schwester gern Zeit verbringen wollte. Aber wahrscheinlich würde Helena gleich kopfschüttelnd ins Haus gehen, die Tür hinter sich zuknallen und sie hier draußen zurücklassen.

Stattdessen legte Helena Aerin behutsam die Hand auf die Schulter, wie sie es früher bei Schwimmwettkämpfen getan hatte, wenn Aerin traurig als Letzte aus dem Wasser geklettert war. Die Geste war so zärtlich und vertraut, dass Aerin Tränen in die Augen stiegen. »Ich vermisse dich einfach.«

Helena drückte ihre Schulter fest. »Wir reden bald wieder mehr miteinander. Aber … einiges davon muss insgeheim laufen.«

Aerin blinzelte verwirrt. »Hä?«

»Per Handy.«

»Du meinst … mit SMS?«

Helena schaute sie an, als wolle sie noch etwas sagen, aber dann drehte sie den Kopf in Richtung Wald, als habe sie dort etwas gehört. Aerin folgte ihrem Blick, sah aber nur die Bäume, die immer dort standen. Als sie wieder zu ihrer Schwester schaute, warf Helena ihr einen Schneeball an den Kopf. Aerin kreischte auf. »Komm, wir suchen Stöcke für die Arme«, sagte Helena. »Ich friere mir hier den Hintern ab.«

Sie rollten eine Kugel für den Kopf und formten das Haar. Sprachen darüber, dass sie einen neuen Hund haben wollten. Aerin träumte von einem Golden Retriever, den sie Captain Crunch nennen würde.

»Das ist ein guter Name«, sagte Helena leise.

Aerin schaute auf. Sie wurde immer verwirrter. Es war ein dämlicher Name, und das wussten sie beide. Warum war Helena so nett zu ihr? Aerin wurde unsicher. Wusste sie etwas über ihre Eltern, das sie selbst nicht wusste? Wollten sie sich womöglich scheiden lassen? Aerin fühlte sich nicht bereit für dieses Gespräch.

Aber Helena schnitt das Thema nicht an, und dann war die Schneefrau fertig. Beide Mädchen wichen ein paar Schritte zurück. Aerin betrachtete lächelnd ihr Werk.

»Sie ist unser Meisterwerk.«

Als sie zu Helena blickte, hatte diese den Kopf in Richtung Wald gedreht. »Klaro«, sagte sie leise. Einen Moment lang sah es so aus, als würde sie gleich weinen, aber dann heftete sie den Blick auf die Schneefrau und lächelte fröhlich. »Irgendetwas fehlt noch, findest du nicht auch?«

»Was denn?«

»Hm …« Helena legte nachdenklich eine Hand an den Mund. »Vielleicht eine Handtasche. Ich habe vor ein paar Tagen beim Trödel eine braune aus Kunstleder erstanden. Sie liegt auf meinem Bett. Willst du sie holen?«

Aerin war sicher, dass sie sich verhört haben musste. Helenas Zimmer war verbotenes Terrain. War das ein Test? »O … okay.«

Aerin schob die Glastüre zur Terrasse auf und stapfte durchs Wohnzimmer. Ihre Schuhe hinterließen nasse Spuren auf dem handgewebten Teppich. Im Haus herrschte Stille, ihre Eltern waren nicht daheim. Sie lächelte ihrem Spiegelbild in dem gigantischen Flurspiegel zu. Sie hatte dasselbe hellblonde Haar wie Helena, aber ihre Gesichtszüge waren weniger scharf, ihre Schultern breiter und maskuliner. Dennoch war es offensichtlich, dass sie beide Schwestern waren.

Vielleicht würden sie sich später Pizza bestellen oder Helena würde in ihrem VW Käfer einen Ausflug mit ihr machen. Vielleicht würden sie einen Weg finden, ihre Eltern wieder miteinander zu versöhnen.

Helenas Zimmertür war geschlossen und Aerin drehte vorsichtig den Türknauf. Drinnen roch es nach Patschuli und Jasmin – schwere Düfte, die geheimnisvoll und erwachsen wirkten. Aerin betrachtete den Tisch voller Malutensilien, die Poster von ihr völlig unbekannten Bands, das iPhone auf dem herzförmigen Kissen auf dem Bett, die braune Kunstledertasche. Helenas Schranktüren standen offen und gaben den Blick auf die extravaganten Klamotten frei, die sie seit Kurzem trug – Federn, Seide, psychedelische Muster und Fransen. Aerins Blick wanderte zu der Kommode, auf der ein Origami-Kranich aus glänzendem rotem Papier wie ein Wachposten stand.

Aerin lief ein Schauder über den Rücken. Er schien sie anzustarren.

Sie ging zu dem Papiervogel und berührte seinen Flügel. Neben ihm lag ein in Stoff gebundenes Tagebuch. Aerin hob den Deckel und betrachtete den Namen ihrer Schwester, der in ihrer krakeligen Handschrift dort stand.

Eine Diele knarrte und Aerin erstarrte zu Eis. Dann schnappte sie sich die Handtasche von Helenas Bett, hängte sie sich über den Ellbogen und rannte in den Flur. Die riesige Küche war immer noch leer. Aerin schaute in den Garten hinaus. Helena war nicht mehr dort. Die Schneefrau stand mit gespreizten Stockarmen im Mittelpunkt der verschneiten Wiese.

»Helena?«, rief Aerin und ging ein paar Schritte auf die Terrasse hinaus.

Auf einem hohen Ast krächzte ein Vogel. Der Wind hatte sich gelegt. Der Garten war ein leeres, offenes, einsames Viereck.

»Helena?«, schrie Aerin wieder und rannte die Stufen hinunter. »Wo bist du?«

Ihre Stimme hallte in der Stille wider. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Ist sie weg, weil ich zu neugierig war?

Sie rannte um das Haus herum. In der Einfahrt stand Helenas Auto, der Fahrersitz leer. Aerin dachte an das Handy ihrer Schwester, das auf ihrem Bett lag. Niemals würde ihre Schwester das Haus ohne ihr iPhone verlassen.

Zwischen den Bäumen bewegte sich etwas und Aerin drehte sich um.

»Helena?«

Dann sah sie etwas im Schnee liegen. Die Beeren, die von den Büschen am Rand des Grundstücks gefallen waren, wirkten auf dem weißen Schnee wie Blutstropfen. In dem Muster, das sie bildeten, hatte Aerin die roten Lederhandschuhe, die Helena getragen hatte, zuerst gar nicht gesehen. Sie lagen zwischen den Beeren, die Handflächen nach oben gerichtet.

Aerin rannte mit heftig klopfendem Herzen dorthin.

»Helena?«, schrie sie. »Helena!«

Doch ihre Schwester würde nie wieder antworten.

Fünf Jahre und vier Monate später

Willkommen bei Offener Fall, der Web-Community für ungeklärte Verbrechen

FORUM

ORDNER: LAUFENDE FÄLLE

NEUER THREAD: HELENA KELLY, DEXBY, CT

Posts: (1), 14. April, 21:02.

AKellyReal: Ich brauche Antworten über meine Schwester. Hilfe …

1

Am letzten Donnerstag vor den Frühlingsferien saß Seneca Frazier im Schneidersitz auf ihrem Bett, in ihrem kleinen Wohnheimzimmer in der University of Maryland. Es war nach 23 Uhr und das Wohnheim war ruhig. Alle Studenten feierten in den Burschenschaften oder in den WGs der höheren Semester. Aus den Lautsprechern von Senecas Laptop ertönte Tove Lo und um sie herum stapelten sich gepackte Kartons. Sie hatte das Deckenlicht ausgeschaltet und im Schein ihres Bildschirms wirkte ihre lohfarbene Haut beinahe golden. Das stechende Parfüm, mit dem ihre Mitbewohnerin Eve sich vor dem Ausgehen eingedieselt hatte, ließ Senecas Nase jucken, und obendrein lösten sich immer wieder Haarsträhnen aus ihrem drahtigen Pferdeschwanz und kitzelten ihre Wangen. Aber als sie sah, was Maddy gerade im Chat von Offener Fall gepostet hatte – einem Forum für Amateurdetektive, von dem Seneca ein bisschen besessen war –, vergaß sie diese kleinen Unannehmlichkeiten. Ihr scharfer Blick bohrte sich geradezu in die Worte auf dem Schirm.

MBM0815:

Kennst du diesen Fall?

Darunter befand sich ein Screenshot eines Posts, den vor ein paar Stunden ein User namens AKellyReal verfasst hatte. Senecas Magen hob sich, als sie im Thread-Titel den Namen Helena Kelly las. Oh ja, Maddy. Diesen Fall kenne ich bis ins kleinste Detail in- und auswendig.

Aber das konnte sie Maddy nicht sagen. Ihre Finger sausten über die Tastatur.

TheMighty:

Reiches Mädchen, ist vor etwa fünf Jahren verschwunden. Die Leiche wurde in einem Park gefunden?

MBM0815:

Jupp. Ist in meiner Nachbarstadt passiert. Ich könnte Nachforschungen anstellen.

Seneca zupfte an dem dicken Loop-Schal um ihren Hals und betrachtete noch einmal den Screenshot. War die Person, die das gepostet hatte, etwa Aerin Kelly, Helenas Schwester? Wie hatte Aerin denn von Offener Fall erfahren? Wahrscheinlich genauso wie Seneca selbst – durch puren Zufall. Ashton, einer ihrer Collegefreunde, mit dem sie immer eselsohrige Agatha-Christie-Taschenbücher tauschte, hatte das Portal einmal in der Mensa erwähnt.

»Wusstest du, dass es eine Website gibt, auf der Amateurdetektive Verbrechen aufklären?«, hatte er sie aufgeregt gefragt. »Ist wie eine Mischung aus Videospiel und Bones und macht total süchtig.«

Seneca hatte nur desinteressiert mit den Achseln gezuckt und in dem Brei aus Erdbeerjoghurt und Rice Crispies gerührt, aus dem ihr Mittagessen bestand. »Klingt toll.«

Aber in ihrer ersten freien Minute danach war sie in ihr Zimmer gerannt, hatte sich auf ihren Laptop gestürzt und Offener Fall in die Suchleiste getippt.

In den Messageboards von OF konnte man problemlos Stunden verbringen. Seneca nahm ihren Rechner in die Vorlesungen mit und tat so, als mache sie sich eifrig Notizen, während sie sich in Wahrheit mit den anderen Mitgliedern des Forums über ungelöste Mordfälle und Entführungen austauschte. Manchmal schwänzte sie die Vorlesungen gleich ganz – sie konnte sie später online nachholen. Es war wichtiger, bei den neuen Entwicklungen in »ihren« Fällen auf dem Laufenden zu bleiben. Manche Poster waren Trolle oder Gaffer, aber viele gaben sehr kluge Dinge von sich und verfügten über praktisches Wissen: MizMaizie hatte früher bei der Polizei von Seattle gearbeitet. UnicornHorn kam aus der Forensik. BMoney60 warf immer Sätze wie: Achtung, Spoiler: Es war die Mutter in die Diskussion ein. Und hatte sehr oft mit ihnen recht.

Seneca hatte im Grunde genommen ihre eigene kleine CSI-Einheit in ihrem Rechner.

Und dazu noch ihre Freundin Maddy – oder MBM0815, richtiger Name Madison Wright, aus Connecticut. Auf Facebook war Maddy eine lächelnde Cheerleaderin mit perfekter asiatischer Haut und einer Vorliebe für Pink, aber ihre Posts auf OF waren intelligent und witzig. Als sie irgendwann begannen, auch privat miteinander zu chatten, redeten sie über allen möglichen Quatsch und erfanden sogar ein Spiel, in dem sie ihre Bekannten und Freunde mit verschiedenen Süßigkeiten verglichen. Seneca hatte Maddy einiges über sich anvertraut. Aber nicht alles. Sie erzählte niemandem alles, wenn es nicht unbedingt sein musste.

Die Versuchung war zu groß und Seneca begann zu schreiben.

TheMighty:

Verrückte Idee. Ich habe ab morgen Ferien und werde mich sicherlich extrem langweilen. Soll ich dich besuchen? Wir könnten den Fall Helena gemeinsam unter die Lupe nehmen.

Sie fügte den Überraschungs-Smiley hinzu, drückte auf Senden und trommelte angespannt mit den Fingernägeln auf den Bettpfosten. Es wäre toll, wenn sie Zeit mit einer neuen Freundin verbringen könnte. Sie hatte an der Uni zwar eine Clique, aber wirkliche Freunde waren das nicht.

Und Helena Kelly … nun ja. Für sie war dieser Mordfall der Heilige Gral der ungelösten Verbrechen. Sie wollte sich unbedingt darin verbeißen.

Vor fünfeinhalb Jahren, als Helena verschwunden war, hatte Seneca rund um die Uhr CNN geschaut. Die Story lief in den Nachrichten rauf und runter. Tapfere Suchmannschaften durchkämmten tagtäglich die Wälder, die ganze Stadt wurde interviewt, und sogar der Gouverneur von Connecticut hielt eine Rede, in der er versprach, Helena wohlbehalten wieder nach Hause zu bringen. Zuerst ekelte Seneca der Medienzirkus an und verursachte ein Gefühl der Leere in ihr, aber als die Monate vergingen und Helena weiterhin verschwunden blieb, änderten sich ihre Gefühle. Wann immer Seneca einen Bericht über Helena im Fernsehen sah, ließ sie alles stehen und liegen und starrte gebannt hin. Sie las alle verfügbaren Artikel über den Fall wieder und wieder. Sie trieb sich so lange auf Helenas Gedenk-Website herum, bis sie die Namen all ihrer Freunde kannte. Monatelang durchsuchte sie die Facebook-Profile der Familie und fand heraus, dass die Eltern Kelly sich getrennt hatten und Mrs Kelly in Dexby eine Traditionseisdiele wieder in Betrieb genommen hatte, ein Vorhaben, das von der gesamten Gemeinde unterstützt wurde, »um das Leid der Familie zu lindern«.

Seneca hoffte mit angehaltenem Atem darauf, dass Helena sicher zurückkehren würde. Ihr war klar, dass das Universum üblicherweise nicht mit Happy Ends um sich schmiss, aber sie wollte daran glauben, dass Helena die große Ausnahme sein würde.

Vier Jahre später wurde schließlich Helenas Leiche gefunden. Seneca betrachtete voller Entsetzen, wie die Polizei von Dexby gestand, dass es kaum Hoffnung darauf gäbe, den Mörder zu finden. Aber es ist noch so vieles ungeklärt, dachte sie. Warum war das Alibi des Freundes nicht genauer überprüft worden? Hätte man nicht noch weitere Hundestaffeln in den Park schicken müssen, in dem die Leiche gefunden worden war? Waren Helenas letzte Tage wirklich lückenlos dokumentiert?

Senecas Rechner piepte wieder und sie klickte die Nachricht an.

MBM0815:

Kannst du Gedanken lesen? Genau dasselbe habe ich auch gerade gedacht. Du kannst bei mir wohnen. Nimm den Metro-Zug nach Norden. Dexby hat einen Bahnhof.

Seneca lehnte sich zurück und stieß dabei gegen den Karton mit der Aufschrift Krimis A-L. Aufregung durchströmte ihren Körper, gefolgt von einem kalten Angstschauer. Sie würde es wirklich tun. An den Ort reisen, der ihre Gedanken so lange beherrscht hatte. Die Menschen befragen, über die sie bereits so viel wusste. Das Ganze würde eine Menge Erinnerungen in ihr wecken, die sie lange zu vergessen versucht hatte.

Aber sie fühlte sich trotzdem belebt durch die Herausforderung, die vor ihr lag. Sie wusste mehr über den Fall als die meisten Polizisten, die ihn damals bearbeitet hatten. Maddy brauchte sie. Noch wichtiger: Helena brauchte sie, und Aerin ebenfalls. Seneca konnte sich genau vorstellen, wie Aerin sich bei Offener Fall eingeloggt hatte, verzweifelt auf der Suche nach Antworten. Genau wie sie damals. Falls Seneca es schaffte, dieses Verbrechen aufzuklären, würde sie es vielleicht auch schaffen, ihr Leben wieder in geordnete Bahnen zu lenken.

Also gut: Sie würde fahren. Und herausfinden, was damals geschehen war.

Das würde nicht all ihre Probleme lösen oder die ungelösten Rätsel in ihrem eigenen Leben aufklären. Aber zumindest war es ein Anfang.

3

Am Sonntag setzte sich Seneca nach ein paar Gesprächen mit Studienberatern und einem Streit mit dem Kundenbetreuer von Storage Lockers 4U in einen Zug der Metro-North-Linie in Richtung Dexby. Der Waggon roch nach Desinfektionsmittel und Kaffee. Sie war sich beinahe sicher, dass sie im Ruhewagen saß, aber sie hatte trotzdem ihr Handy ans Ohr gedrückt und versuchte, ihren Vater zu beruhigen.

»Ich wollte dich auch unbedingt besuchen«, murmelte sie. »Aber Annie steckt in Berkeley in einer Krise und braucht meine Hilfe.«

»Ich mag nun mal den Gedanken nicht, dass du alleine unterwegs bist«, sagte Senecas Vater.

»Dad. Ich bin neunzehn Jahre alt. Ich glaube, ich schaffe es, alleine Zug zu fahren.«

Er seufzte. »Na gut. Soll ich Annies Eltern anrufen und ihnen dafür danken, dass sie dich bei sich aufnehmen?«

»Nein!«, japste Seneca. Mist, das hatte viel zu panisch geklungen. »Ich meine, das schaffe ich schon selbst, danke.« Sie holte tief Luft und schaute sich um. Ein paar Reihen vor ihr saß ein Junge mit übergroßem Kapuzenshirt und lächerlichen Sneakern aus goldenem Steppstoff, der seine Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen hatte. Sie erwischte ihn hin und wieder dabei, wie er sie ansah. Auf der anderen Seite des Ganges las ein grell geschminktes Mädchen eine Klatschzeitschrift und bewegte dabei lautlos die Lippen.

»Aber du kommst auf jeden Fall noch für ein paar Tage nach Hause, bevor die Uni wieder losgeht, oder?«, fragte ihr Vater. »Wann musst du wieder zurück sein? Montag in einer Woche?«

»Dienstag in einer Woche.« Insgeheim betete sie darum, dass die Studienberater der University of Maryland keine Anrufe auf dem Festnetzanschluss zu Hause tätigten.

»Viel Spaß mit Annie, Tweety«, sagte ihr Vater traurig. Er benutzte den Kosenamen aus ihrer Kindheit, was ihre Schuldgefühle noch verstärkte. Sie fand es schrecklich, ihn anlügen zu müssen. Er machte sich solche Sorgen um sie – es war beinahe ein Wunder, dass er sie im Wohnheim wohnen ließ. Er war gegenüber allen neuen Menschen in ihrem Leben extrem misstrauisch, aber als sie ihm von Annie Sipowitz erzählte, einem Mädchen, das sie an der Uni kennengelernt hatte, schien er ihr auf Anhieb zu vertrauen. Wieso auch nicht? Annie war eine ehrgeizige Musikerin, Schrägstrich ein Mathegenie, Schrägstrich eine Pfadfinderin, und sie geriet nie in irgendwelche Schwierigkeiten. Nur dass Seneca diesmal nicht zu Annie fuhr. Aber was sie wirklich vorhatte, konnte sie ihrem Dad auf keinen Fall erzählen.

Sie steckte das silberne P, das an einer Kette um ihren Hals hing, in den Mund und lutschte daran. Das tat sie nur, wenn sie schrecklich nervös war. Wieder einmal schaute sie auf die SMS, die Maddy ihr vor ein paar Minuten geschickt hatte.

Das wird so cool! Ich habe übrigens gesagt, dass ich dich von der Leichtathletikfreizeit kenne, also tu am besten so, als wärst du Marathonläuferin!

Seneca nickte. Maddy hatte ihr erzählt, dass sie Langstreckenläuferin war. Sie tippte: Wir sind gerade an Stamford vorbeigefahren. Habe dir Krispy Krememitgebracht. Seneca gefiel es, dass Maddy die Sorte Mädchen war, die gerne auch mal einen Donut oder zwei verdrückte.

Cool, schrieb Maddy zurück. Ich habe eine grüne Jacke an und warte am Gleis.

Seneca lächelte, drückte auf ihren Home-Button und rief Google Chrome auf. Gestern Abend hatte sie sich noch einmal die Artikel über den Fall Helena Kelly durchgelesen. Jetzt klickte sie auf einen Link, der zu Helenas Abschlussjahrbuch der Windemere-Carruthers-Schule führte. Hier war das Foto von Helena, dass sie früher Ewigkeiten lang angestarrt hatte: Es zeigte sie in ihrer karierten Schuluniform, auf dem Kopf einen keck sitzenden Herrenhut. Sie wirkte völlig unbekümmert.

Auf einer anderen Seite hatten die Zwölftklässler unter ihre Fotos Widmungen geschrieben. Helenas Widmung, die sie kurz vor ihrem Tod eingereicht hatte, war besonders schmalzig: Ich vermisse euch, liebe euch so, dich besonders und ewig, Kaylee, du mein Bienchen, LOL, Samurai!

Zum Schluss klickte Seneca die Nachrichten von letztem Jahr an, als Helenas sterbliche Überreste gefunden worden waren. Kinder hatten in einem Bach in einem Park in Tolland County, Connecticut, gespielt, als ein Junge einen Knochen fand, den er für ein Hundespielzeug hielt. Seine Mutter erkannte, dass es sich um einen Menschenknochen handelte, und rief die Polizei. Aus dem zahnärztlichen Befund ging hervor, dass man auf Helenas Überreste gestoßen war.

Seneca musste herausfinden, wer sie dort zurückgelassen hatte.

Ein paar Minuten später fuhr der Zug in den Bahnhof von Dexby ein. Seneca holte ihren alten Lederkoffer aus der Gepäckablage. Das Mädchen mit der Zeitschrift wartete vor ihr am Ausgang und säuselte mit Sirupstimme in ihr iPhone. Weiter vorne stand Goldschuh und starrte Seneca mit hochgezogenen Augenbrauen an. Seneca warf ihrem Spiegelbild einen Blick zu. Ihre honigfarbene Haut, die hellblauen Augen und ihr wildes dunkles Haar führten dazu, dass bestimmte Typen sie »exotisch« fanden – aber andererseits trug sie kaum Make-up, und ihre Bikerstiefel hatten Stahlkappen. Die Klatschbase vor ihr war doch sicher eher Goldschuhs Typ, oder? Als sie wieder aufblickte, war der Junge verschwunden.

Auf dem Bahnsteig wimmelte es von Menschen und beinahe alle schienen pastellfarbene Polohemden zu tragen. Am Horizont ragten riesige Kiefern auf, genauso geformt wie die Lufterfrischer, die in so vielen Autos am Rückspiegel baumelten, und die reine Luft war frostig frisch.

Hier bin ich also, dachte Seneca. Alle Artikel hatten betont, wie reich Dexby war, also hatte sie Schlösser auf den Hügeln und Rolls-Royce auf dem Parkplatz erwartet. Sie schaute sich um. Auf der anderen Straßenseite sah sie eine kleine Einkaufszeile mit einem Wein-, einem Käse- und einem Delikatessenladen. Gleich dahinter sah sie ein Skihotel namens Restful Inn. Seneca war unschlüssig, ob das Chalet nun ein Schandfleck oder liebenswert kitschig war.

Sie hielt Ausschau nach einem asiatischen Mädchen in grüner Jacke. Die Menschen strömten entweder zur Treppe oder zu den Passagieren, die aus Senecas Zug gestiegen waren. Sie öffnete ihre Chats. Ich bin da, schrieb sie Maddy. Wo bist du?

Die Fahrgäste eilten zu den Parkplätzen und die Maddy-Auswahl wurde immer kleiner. Seneca schaute auf ihr Handy: Maddy hatte nicht geantwortet. Ein paar Minuten später stand außer Seneca nur noch ein großer, attraktiver Junge mit braunen Locken, einem markanten Kiefer und einem T-Shirt mit dem Logo der University of Oregon auf dem Bahnsteig. Seltsam. Maddy hatte Seneca erzählt, dass sie gerade ein Leichtathletik-Stipendium der University of Oregon bekommen hatte. Vielleicht ging der Typ ja auch an diese Uni und kannte sie womöglich.

Seneca wanderte langsam in Richtung Parkplatz. War sie an der falschen Haltestelle ausgestiegen?

»Hallo?« University of Oregon war ihr gefolgt. »Bist du Seneca?«

»Ja …?«

Er streckte ihr grinsend die Hand entgegen. »Hi! Ich bin’s! Maddy.«

Seneca starrte zuerst die ausgestreckte Hand und dann den Jungen an. Ehrlich gesagt war es ziemlich schwierig, ihn nicht anzustarren. Er hatte leuchtend grüne Augen, die durchaus als glutvoll zu bezeichnen waren, und ein Grübchen im Kinn. Die weiche olivgrüne Jacke, die er über seinem T-Shirt trug, betonte die Farbe seiner Augen. Seine weiß-orangefarbenen New-Balance-Sneaker waren ein bisschen abgestoßen und bildeten einen Kontrast zu seiner ansonsten perfekten Erscheinung – als habe er sein Outfit sorgfältig darauf abgestimmt, zugänglich und umwerfend zugleich zu wirken. Seneca ertappte sich dabei, wie sie im Geiste das Spiel spielte, das sie und Maddy – Online-Maddy, ganz bestimmt nicht dieser Junge hier – erfunden hatten. Die Süßigkeit, die am besten zu seinem Äußeren passte, war die Ritter-Sport-Vollnuss-Schokolade, die sie sich in New York immer kaufte: zartschmelzend und unendlich knackig.

Das Blut stieg ihr in die Wangen und sie zwang sich, den Blick abzuwenden.

»Moment. Du bist wer?«

»Maddy!« Er zeigte auf sich und lächelte verschmitzt. »Von Offener Fall.«

»Du bist MBM0815?«, prustete Seneca.

Er legte fragend den Kopf schief. »Ja …« Dann schaute er auf die Donut-Schachtel in Senecas Hand. »Fett. Du hilfst mir aber dabei, die zu vernichten, oder?«

Seneca hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Nie im Leben würde sie vor diesem Typen einen Donut essen – dafür war sie viel zu unsicher.

»Wie kann man einen Jungen denn Madison nennen?«, fragte sie schließlich.

»Mein richtiger Name ist Maddox.« Er beugte sich zurück. »Dachtest du … Ach du Scheiße! Du hast geglaubt, ich sei Madison Wright. Das Mädchen. Das ist meine Schwester.« Er verdrehte gutmütig die Augen. »Hat sie dich auf Facebook kontaktiert? Da treibt sie sich den ganzen Tag rum.«

Seneca hatte das Gefühl, als sei ihr Kopf mit Rasierschaum gefüllt, was sehr ungewöhnlich für sie war. Sie hasste es, aus dem Gleichgewicht zu geraten, und begab sich grundsätzlich nur gut vorbereitet und gegen alles gewappnet in neue Situationen.

»Äh, nein. Ich wusste, dass du du bist. Habe nur eure Namen verwechselt«, sagte sie schnell.

Das ergab überhaupt keinen Sinn. Online hatte Maddy ihr seine Liebe zu Kunst und Krempel gestanden. Er hatte ihr erzählt, dass er sich zwischen den reichen Kids an seiner Schule manchmal fehl am Platz fühlte. Aber hier stand er, groß, entspannt und selbstsicher, die Finger in die Gürtelschlaufen seiner teuren Jeans gehakt. Er lächelte das Lächeln eines Jungen, der wusste, dass er attraktiv und beliebt war.

Aber was noch schlimmer war: Seneca hatte ihm in ihren Chats erzählt, dass sie noch Jungfrau war, nachts noch eine Zahnspange trug, an der Uni mehr Zeit in der Bibliothek als in Bars – und als im Unterricht – verbrachte. Sie hatte Maddy von ihren Problemen an der Uni erzählt. Sogar Anekdoten über ihren Exfreund Chad hatte sie zum Besten gegeben, darunter die Geschichte von dem romantischen Dinner in Philly, an dem er sie total ignoriert hatte, weil auf dem Bildschirm an der Bar Football lief.

Dieser Junge, dieser Maddy, sah auch aus wie einer, der sie für ein Footballspiel links liegen lassen würde.

Oh Gott. Und sie war diejenige gewesen, die vorgeschlagen hatte, nach Dexby zu kommen. Dachte er womöglich, sie wolle ihn abschleppen?

Mit großer Anstrengung schüttelte Seneca ihre Unsicherheiten ab. Okay, er war ein Junge. Okay, er sah unglaublich gut aus. Und er vereinte Widersprüchliches: Ein cooler Leichtathlet? Aber das spielte keine Rolle. Sie wusste schließlich, warum sie hier war.

»Na, was sagst du?« Maddy hatte wieder sein selbstsicheres, müheloses Grinsen im Gesicht. »Sollen wir los?«

Er griff nach ihrem Koffer, aber Seneca wehrte ihn ab. »Danke, das geht schon.«

Sie ging los. Als sie endlich aufschaute, schlenderte Maddy neben ihr her. Sogar sein Gang war lässig und athletisch.

»Hey … Es ist alles okay. Ich bin’s. Du kennst mich.« Er hatte Lachfältchen, wenn er lächelte.

Seneca wechselte die Hand, mit der sie den Koffer trug. Nein, das tue ich nicht, hätte sie am liebsten gesagt. »Weißt du was?«, rief sie stattdessen über ihre Schulter zurück, »Maddy ist wirklich ein Mädchenname. An deiner Stelle würde ich bei Maddox bleiben.«

4

Maddox Wright kramte seinen Autoschlüssel hervor, der an einem langen Schlüsselband mit der Aufschrift Dexby Varsity Track hing, und öffnete die Heckklappe seines Jeeps.

»Gute Fahrt gehabt?«, fragte er Seneca, legte das Buch und die Schachtel Krispy Kremes neben ihre Tasche und glitt auf den Fahrersitz.

»War okay«, sagte Seneca kalt. Sie zögerte an der Beifahrertür, als sei sie nicht sicher, ob sie einsteigen sollte. Maddox fragte sich, was ihr Problem war. Hatte sie womöglich doch geglaubt, er sei ein Mädchen? So ein Quatsch. Seine Posts waren doch wohl supermaskulin gewesen.

Na gut, Maddy war ein Jungen- und ein Mädchenname, und es stimmte schon, dass er Seneca gegenüber sehr viel ehrlicher gewesen war als vor den Leuten hier. Manchmal fiel es ihm leichter, zu sagen, was er wirklich dachte, wenn es später Abend war und er wusste, dass die Person, der er seine Geheimnisse anvertraute, ihn nicht am nächsten Morgen in der Schule dafür hänseln würde. Aber trotzdem hatte Seneca keinen Grund, schockiert zu tun und sich so distanziert zu benehmen, wie sie es gerade tat. Am liebsten hätte Maddox ihr gesagt, dass die meisten Mädchen in seiner Schule komplett begeistert davon gewesen wären, mit ihm abzuhängen. Aber das klang sogar für ihn furchtbar arrogant.

Seneca wirkte nämlich ganz anders als die Mädchen in seiner Schule. Er musterte sie aus dem Augenwinkel. Sie sah auch anders aus, als er erwartet hatte. Ihre Wangen waren rosig, ihre Haut kupferfarben, und ihr Haar hatte einen schönen Ebenholzton und war zu einem wilden, lockigen Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie trug fransige Jeansshorts, ein Karohemd, das seinem Großvater hätte gehören können, und abgefahrene Bikerboots, die ihre langen Beine betonten. Wahrhaftig nicht, was er erwartet hatte.

In dieser Hinsicht war das Internet schon komisch. In der ganzen Zeit, in der sie sich online unterhalten hatten – zuerst in den Messageboards, dann im Chat und schließlich mit langen E-Mails, in denen sie über Fälle und andere Dinge sprachen –, hatte er immer gedacht, sie wäre irgendwie … unscheinbarer. Mit schlechter Haut, dicker Hornbrille und weniger heißer Figur. Nicht jemand, den man sich beinahe automatisch im Bikini vorstellte. Er hatte nicht geglaubt, er würde sich zu ihr hingezogen fühlen.

Jemand klopfte laut auf die Motorhaube. Carson Peters und Archer McFadden, zwei von Maddox’ Freunden aus der Leichtathletikmannschaft, tauchten neben dem Fenster auf.

»Yo, Mann, was geht? Machst du morgen den Achilles-5K?«, dröhnte Archer, als Maddox das Fenster heruntergekurbelt hatte. »Du reißt auf jeden Fall den ersten Platz runter, Alter. Und ich habe gehört, dass Tara auch am Start ist.« Er boxte ihm gegen den Arm.

Carson grinste. »Ich weiß, dass du diesem heißen Arsch den ganzen Tag hinterherrennen könntest.«

»Besser als euren Ärschen«, witzelte Maddox, aber dann sah er aus dem Augenwinkel Senecas saure Miene. »Nee, ich hab zu tun«, sagte er mit leiserer Stimme. Archer und Carson hatten Seneca inzwischen auch bemerkt und grinsten Maddox mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Das ist meine gute Freundin Seneca«, sagte Maddox. »Wir kennen uns aus der Leichtathletikfreizeit.«

»Was geht?«, sagten Archer und Carson und musterten sie von Kopf bis Fuß. Seneca nickte den beiden höflich zu. Es folgte ein angespanntes, unangenehmes Schweigen. Maddox ließ den Motor an.

»Wir müssen los«, sagte er seinen Mannschaftskollegen. Archer grinste ihn verschlagen an. Carson starrte immer noch auf Senecas Busen.

Bevor Maddox auf die Hauptstraße fuhr, warf er Seneca einen Blick zu. »Entschuldige. Aber sie sind echt okay, wenn man sie erst einmal kennt.«

Senecas Gesicht wirkte verkniffen. Sie biss die Zähne zusammen und murmelte halblaut vor sich hin.

»Okay«, sagte Maddox unbeirrt. »Hier sind wir also in Dexby. Du willst bestimmt eine Tour.«

»Ehrlich gesagt will ich gleich zu den Kellys«, sagte Seneca brüsk.

Maddox runzelte die Stirn. »Du meinst, zu Aerin Kelly?«

Sie schaute ihn an, als habe er den Verstand verloren. »Zu wem denn sonst?«

»Ich dachte, wir schauen uns zuerst ein paar von Helenas alten Jagdgründen an, Connecticut Pizza und die Skipiste vielleicht. Oder sogar die Windemere Prep. Und dann habe ich noch eine Liste mit ihren Freunden. Mit denen sollten wir sprechen. Ihre ehemals beste Freundin Becky hat ein Restaurant, in dem es fantastische Chili-Pommes gibt. Und sie war gut mit einem Mädchen namens Kelsey befreundet, die jetzt für die Rangers arbeitet, und danach treffen wir uns mit …«

»Aber Aerin hat einen Hilferuf an unser Forum geschrieben«, unterbrach Seneca ihn.

»Ob der wirklich von ihr stammt, wissen wir noch nicht. Und meiner Meinung nach wissen Helenas Freunde sicher mehr über sie als ihre kleine Schwester. Meinst du nicht auch?«

»Ihre kleine Schwester hat sie als Letzte lebend gesehen.« Seneca bohrte mit der Zunge in ihrer Wange. »Ich meine, korrigier mich, wenn ich falschliege, aber ist das nicht wichtiger als Chili-Pommes?«

»So habe ich das doch nicht …« Maddox schämte sich. Er hatte sich wie ein Vollidiot angehört. Seneca hatte recht, was Aerin anging … aber er wollte nicht, dass sie recht hatte.

»Na gut«, lenkte er ein und fuhr auf die rechte Spur in Richtung Aerins Haus, als sei das völlig normal für ihn. »Dann machen wir es eben so.«

Er biss die Zähne zusammen, als er in den Rückspiegel schaute.

Mist, Mist, Mist. Eine Begegnung mit Aerin Kelly hatte er so lange wie möglich hinauszögern wollen.

Im Auto herrschte Schweigen, also beschloss Maddox, Seneca etwas über die Gegend zu erzählen. »Diese Ausfahrt führt zu einem Park, in dem ein paar Leute mal Bigfoot gesehen haben wollen. Warst du mal auf einer Bigfoot-Jagd? Die Leute hier sind ganz verrückt danach. Da gibt es dann immer die wildesten Partys.«

Keine Antwort. Er bog auf einen langen Boulevard ein, an dem sich ein riesiger Komplex, das Dexby Sport- und Freizeitzentrum, befand.

»Hier trainiere ich mit Catherine.«

Eine lange Pause. Seneca spielte mit der Schnalle an ihrer Handtasche.

»Wer ist Catherine?«, fragte sie dann, als habe er die Frage aus ihr herausgepresst.

»Meine Lauftrainerin.«

Seneca sah ihn merkwürdig an. »Du brauchst jemanden, der dir zeigt, wie man rennt?«

»Dank Catherine bin ich meine 800 Meter sechs Sekunden schneller gelaufen als vorher. Das ist Wahnsinn. Dadurch habe ich mir mein Oregon-Stipendium verdient.«

Er warf Seneca einen Seitenblick zu. Das musste sie doch auch beeindruckend finden. Aber sie starrte nur wortlos aus dem Fenster.

Sie fuhren an der Windemere-Carruthers-Privatschule vorbei, an die Aerin Kelly und ein paar Bekannte von Maddox gingen – er selbst war an der Dexby Public. Windemeres Rasen war makellos grün, und das Hauptgebäude war ein ausladender Ziegelbau aus dem 18. Jahrhundert, der im Sonnenlicht zu leuchten schien. Daneben befand sich die Polizeiwache von Dexby, ein modernes Wunderwerk aus Stein und Glas. Als Nächstes folgte der Vorzeigeladen von Scoops of Dexby, dessen Markenzeichen – eine stilisierte Eiswaffel – sich am Straßenrand drehte. Maddox zermarterte sich das Hirn auf der Suche nach einem guten Witz, aber die einzigen guten Witze, die er kannte, waren unanständig.