THE AMATEURS - Wenn drei sich streiten - Sara Shepard - E-Book

THE AMATEURS - Wenn drei sich streiten E-Book

Sara Shepard

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Beschreibung

Nur sie kennen den Mörder. Nur sie können ihn aufhalten.

Aerin, Seneca und Maddox stehen immer noch unter Schock: Ausgerechnet Brett ist der Mörder von Aerins Schwester Helen. Brett, dem sie vertraut haben. Der ihre Geheimnisse kennt. Der sie auf die Spur von anderen Fällen gesetzt hat. Kann es sein, dass Brett auch etwas mit dem Tod von Senecas Mutter zu tun hatte? Mit dem Mord an Maddox‘ Freundin? Und wer ist »Brett« überhaupt? Fieberhaft versuchen die drei Freunde, seine wahre Identität zu entlarven, sein nächstes Opfer zu erahnen und weitere Morde zu verhindern. Doch Brett ist ihnen immer einen Schritt voraus…

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Seitenzahl: 341

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DIE AUTORIN

Foto: © www.danphoto.com

Sara Shepard hat an der New York University studiert und am Brooklyn College ihren Magisterabschluss im Fach Kreatives Schreiben gemacht. Sie wuchs in einem Vorort von Philadelphia auf, wo sie auch heute lebt. Ihre Jugend dort hat die »Pretty Little Liars«-Serie inspiriert, die in 22 Länder verkauft wurde und die, ebenso wie ihre Reihe »Lying Game«, zum New York Times Bestseller wurde. Inzwischen wird »Pretty Little Liars« mit großem Erfolg als TV-Serie bei ABC gesendet. In Deutschland wird »Pretty Little Liars« seit Mai 2014 auf Super RTL ausgestrahlt.

Mehr zur Autorin auch auf Instagram @saracshepard

Mehr zu cbt auch auf Instagram @hey_reader

Von der Autorin sind außerdem bei cbt erschienen:

Pretty Little Liars – Unschuldig (Band 1)

Pretty Little Liars – Makellos (Band 2)

Pretty Little Liars – Vollkommen (Band 3)

Pretty Little Liars – Unvergleichlich (Band 4)

Pretty Little Liars – Teuflisch (Band 5)

Pretty Little Liars – Mörderisch (Band 6)

Pretty Little Liars – Herzlos (Band 7)

Pretty Little Liars – Vogelfrei (Band 8)

Pretty Little Liars – Unerbittlich (Band 9)

Pretty Little Liars – Skrupellos (Band 10)

Lying Game – Und raus bist du (Band 1)

Lying Game – Weg bist du noch lange nicht (Band 2)

Lying Game – Mein Herz ist rein (Band 3)

Lying Game – Wo ist nur mein Schatz geblieben? (Band 4)

Lying Game – Sag mir erst, wie kalt du bist (Band 5)

Lying Game – Und du musst gehen (Band 6)

The Perfectionists – Lügen haben lange Beine (Band 1)

The Perfectionists – Gutes Mädchen, böses Mädchen (Band 2)

The Amateurs – Wer zuletzt stirbt (Band 1)

Sara Shepard

THE AMATEURS

Wenn drei sich streiten

Aus dem Amerikanischen

von Ursula Held

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe Januar 2018

© 2017 by Alloy Entertainment, LLC and Sara Shepard

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel

»Follow Me« bei Freeform Books, New York.

Published by arrangement with Rights People, London.

© 2018 für die deutschsprachige Ausgabe

by cbt Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Amerikanischen von Ursula Held

Lektorat: Ulrike Hauswaldt

Umschlaggestaltung: init | Kommunikationsdesign,

Bad Oeynhausen, unter Verwendung eines Motivs

von Thinkstock (iconogenic, HearttoHeart0225)

he · Herstellung: cm

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-17888-8V001

www.cbt-buecher.de

Davor

Der Tag war einfach perfekt für eine Party. Es war ein Sommernachmittag mit angenehmen sechsundzwanzig Grad, am Himmel war keine Wolke zu sehen, und der Atlantik schlug in hypnotischem Rhythmus gegen die Steilküste. Er machte sich fertig, zog eine Leinenhose an, dazu ein weißes Poloshirt und ausgetretene lederne Flipflops. Als er sich Wasser auf die Schläfen spritzte, blickte ihm aus dem Spiegel ein fein geschnittenes, freundliches Gesicht entgegen. Er sah aus wie der starke, schweigsame Typ. Wie Teddy Roosevelt. Über diesen Vergleich lächelte er zufrieden. Hatte Roosevelt nicht gesagt: Sprich höflich, aber trage stets einen Knüppel bei dir? Vielleicht sollte er sich also heute wie Teddy fühlen, nur so als kleiner Insider-Witz.

Es war jetzt halb acht und hellrote bis kräftig orangene Streifen hatten den Horizont eingefärbt. Der Strand war leer gefegt bis auf die Möwen, die auf dem Hochsitz der Rettungsschwimmer hockten. Allmählich trudelten die Partygäste ein und liefen mit Flaschen unterm Arm und Smartphones in der Hand zu dem Luxus-Beachclub beim Apartmentkomplex. Hinter der Absperrung sah man entlang dem Poolbereich Windlichter brennen, und kleine bunte Badeinseln wippten im blauen Wasser. Die Gäste verteilten sich im Club und ließen die Bierflaschen aufploppen. Alle redeten durcheinander und lachten. Die Musik schwoll an, Bob Marley, die Beach Boys und Dave Matthews waberten herüber.

Teddy saß auf einer Liege, mit einem Bier in der Hand, und sah zu, wie Jeff Cohen, der quasi zur Strandrequisite gehörte, über eine zwischen zwei Bäumen gespannte Slackline balancierte. Als Jeff ohne herunterzufallen die andere Seite erreichte, sah er grinsend zu Cole, dessen Independent-Film über surfende Nonnen mehrere Festivalpreise gewonnen hatte. »Willst du auch mal?«

Cole lachte. »Ist nicht so mein Ding.« Er nahm seine Nikon und fotografierte Jeff, als der gerade zu Boden sprang.

Chelsea Dawson, Jeffs Ex-Freundin, warf Cole ein süßes Lächeln zu. »Cole, du wirst garantiert mal ein berühmter Paparazzo.«

Cole schnaubte. »Pah! Ich verfolge höhere Ziele, als auf einem schäbigen Parkplatz auf Möchtegern-Promis zu lauern. Es sei denn, du kämst des Weges.«

»Tja, ich fotografiere mich aber lieber selbst.« Chelsea zog etwas aus ihrer Handtasche. Ein iPhone in einer pinkfarbenen Glitzerhülle, das an einem batteriebetriebenen Selfie-Stick steckte. Sie drückte einen Knopf, die Stange fuhr aus, Licht ging an und ein Mini-Ventilator surrte. Ihre blonden Haare wehten hübsch im künstlichen Wind, ihre Haut strahlte im goldenen Schein. Der kobaltblaue Schimmer in ihrem Kleid brachte die stahlblauen Sprenkel in ihren Augen erst so richtig zur Geltung. Sie blickte lächelnd in die Linse. Die Menge verstummte. Alle sahen zu Chelsea Dawson und bestaunten die Vollkommenheit in Person.

Sie musterte das Ergebnis und tippte aufs Display. Kurz darauf summte Teddys Handy, aber er nahm es nicht einmal heraus. Er wusste schon, was daraufstand: Neue Nachricht von ChelseaDFab.

Wieder dröhnte ein Bob-Marley-Klassiker aus den Lautsprechern. Jemand vollführte den perfekten Köpper vom Sprungbrett. Teddy beschloss, sich unten am Strand umzusehen. Am Lagerfeuer stritten sich die Kiffer darüber, wo es die bessere Karamellsoße gab, bei Cindy’s, einem Laden in derselben Stadt, oder bei Lulu’s einen Ort weiter. »Mann, das wird doch alles von derselben Firma hergestellt«, meinte ein glasig guckender Typ. »Das ist eine große Karamellsoßenverschwörung.«

Teddy gluckste mit den anderen, aber dann lenkte ihn eine schrille, wohlbekannte Stimme ab. »Seit wann bist du so ein Fiesling?«

Er wandte sich rasch um. Chelsea stapfte durch den Sand, die Stöckelschuhe in der Hand, das Gesicht schmerzhaft verzogen. Jeff trottete hinter ihr her. Er hatte seine langen Haare lässig zusammengebunden und das Hemd hing ihm aus der Hose. Ein paar Leute am Lagerfeuer schauten kurz auf, ohne ihre Karamelldiskussion zu unterbrechen.

Jeff wedelte mit einem Smartphone vor ihrem Gesicht herum. Auf dem Display war Chelseas letzter Instagram-Post zu sehen. »Ich kapiere nur nicht, warum du meinst, du müsstest zehntausend wildfremden Leuten deine Titten zeigen«, sagte er so laut, dass Teddy es hörte. »Es gibt so viele hübschere Fotos von dir.«

»Es sind einundfünfzigtausendachthundertdreiundsiebzig wildfremde Leute«, fauchte Chelsea.

»Aha, also fast zweiundfünfzigtausend schmierige Typen, die wissen, wie deine Brüste aussehen. Ich dachte, du als Frau –«

Chelsea stöhnte. »Komm mir nicht mit diesem Feminismus-Quatsch. Deine Meinung interessiert eh nicht mehr. Ich muss mich als Marke etablieren, darum geht es.«

Jeff lachte auf. »Du tust, als würdest du zum Kardashian-Clan gehören.«

Chelsea wurde immer zorniger. Sie wandte sich ab und lief auf den Trampelpfad zu, der durch die Dünen führte, am Apartmentkomplex vorbei bis zum Parkplatz.

»Warte!«, rief Jeff. »Was ist denn jetzt los?«

»Vergiss es.«

»Du hast mehr zu bieten als ein hübsches Gesicht, Chel. Du solltest mehr Selbstachtung haben.«

»Die habe ich.« Chelseas Augen blitzten. »Du bist es, der mich nicht achtet.«

»Was redest du da? Ich …«

Chelsea wies ihn ab. »Lass mich einfach in Ruhe.«

Jeff sah aus, als hätte man ihn geschlagen. Chelsea verschwand durchs Schilfgras. Nach ein paar Augenblicken drehte sich Jeff um und setzte sich auf einen Klappstuhl neben einen der Kiffer. Er starrte ins Feuer und sah aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Die anderen schienen ihn erst jetzt richtig wahrzunehmen. »Alles klar bei dir?«, fragte einer, doch Jeff antwortete nicht.

Teddy atmete tief durch, dann nahm er sein Telefon und schrieb eine Nachricht.

Bist du o.k.?

Er stellte sich vor, wie Chelsea auf dem zugewachsenen Strandpfad stehen blieb. Wie sie in ihrer Tasche wühlte und das Handy herausnahm, das er ihr geschenkt hatte. Wie auf Zuruf summte sein Handy.

Alles gut, danke.

Seine Finger flogen übers Display. Willst du reden? Sollen wir uns treffen?

Ein Luftkuss-Emoji ploppte auf. Schon gut, bin müde. Wir reden morgen.

Er umkrallte das Telefon. Das eben war ihre allerletzte Chance gewesen, und sie hatte sie verpatzt. Na schön. Dann war es jetzt an der Zeit, seinen sorgsam ausgefeilten Plan in die Tat umzusetzen.

Teddy brachte es fertig, ganz ungezwungen dazustehen. Niemand sah, wie er sich vom Lagerfeuer entfernte. Ohnehin wollte er Chelsea auf einem anderen Weg folgen. Ein paar Hundert Meter weiter warf eine Laterne einen hellen Lichtkegel auf den Bereich mit dem Kiosk, das die Strandkarten verkaufte, und dem Betongebäude, in dem sich die Toiletten und Duschen befanden. Eine schlanke Gestalt strich dort vorbei. Teddy atmete aus. Er schwitzte vor Anspannung.

Die Xenon-Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos blendeten ihn. Teddy kauerte hinter den Umkleiden. Seine Oberschenkel zitterten, das Herz zog sich in seiner Brust zusammen. Er wäre Chelsea so gerne nähergekommen. Er wollte, dass sie ihn kennenlernte. Wenn sie nur einen Funken Interesse gezeigt hätte, wenn sie seine Freundlichkeit erwidert hätte, dann hätte er sie eingeweiht. Er hätte ihr erzählt, wer er wirklich war, woher er kam und wie er so geworden war, wer ihn dazu gebracht hatte. Stattdessen hatte sie ihn immer wieder abgewiesen und kannte daher nur die Basics, die Lügen. Sie kannte ihn unter demselben Namen wie alle anderen. Diesen Namen würde er gleich wieder aufgeben, wenn es woandershinging, nach Washington oder nach Texas vielleicht. Es war kein so guter Name wie Brett Grady, den er in Connecticut benutzt hatte. Brett Grady, den hatte er gemocht. Manchmal nannte er sich sogar noch so, wenn er allein war oder gelangweilt oder auch gleich nach dem Aufwachen, wenn er nicht wusste, wer er gerade zu sein vorgab.

Der junge Mann, der mal als Brett Grady bekannt gewesen war, zog die Maske aus der Tasche. Der glatte Stoff fühlte sich an wie elektrisch geladen, wie etwas Lebendiges. Er zog sie sich übers Gesicht und schlich hinüber. Neben dem Gehweg stand Chelsea bei den Fahrradständern und hatte eine Hand um einen Fahrradlenker gelegt. Eine schöne zartweiße Hand mit feinen, langen Fingern.

Zu schade, dass er ihr jeden Knochen einzeln brechen musste.

Der nächste Morgen

1

An einem klebrig heißen Samstagmorgen im Juli stand Seneca Frazer in einer Seitenstraße mitten in Annapolis, Maryland. Sie trug die Uniform der Annapolis Parking Authority, ein nicht atmungsaktives Teil aus hundert Prozent Polyester. Wenn sie nicht innerhalb der nächsten drei Minuten in den Umkreis einer Klimaanlage kam, würde sie an einem Hitzeschlag eingehen.

Brian Komisky, der Beamte, dem sie zugeordnet war, sah auf die Parkuhr neben einem eierschalenfarbenen Range Rover. Seine braunen Augen leuchteten auf. »Treffer! Noch eine Minute und das Ding ist drüber.« Er reichte Seneca den grauen Apparat, der elektronische Strafzettel ausdruckte. »Möchtest du zur Tat schreiten?«

Na toll, dachte Seneca, während sie das Gerät in Empfang nahm. Es war deprimierend, dass es jetzt offenbar den Höhepunkt des Tages darstellte, wenn sie ein prähistorisches iPad ein Knöllchen ausspucken lassen durfte. Sie hatte nicht vorgehabt, ihr Sommerpraktikum als Politesse zu machen. Sie wollte zur richtigen Polizei, und ihr Vater hatte sogar (wenn auch widerwillig) ein Vorstellungsgespräch eingefädelt, indem er bei einem Freund vom Annapolis Police Department anrief. Aber irgendwie war sie dann bei den Knöllchenschreibern gelandet und nicht bei der Kripo.

Die beiden überprüften noch mehrere Autos im Umkreis, aber alle hatten vorschriftsmäßig bezahlt, sodass sie schließlich zu Brians Wagen zurückliefen. Seneca rann der Schweiß über den Rücken. Sie kamen bei einem Laden namens Astrid vorbei und Seneca fiel eine Horde Mädchen in Sommerkleidern auf, die sich kreischend über ihre Smartphones beugten. Ihr Herz verkrampfte sich. Ihr Dad, der Superkümmerer, fände es sicher schön, wenn sie auch so ein luftig-leichtes Leben führte.

Ja, in einem Paralleluniversum vielleicht.

Brian ließ den Wagen an, Seneca stellte die Klimaanlage auf die höchste Stufe und hielt ihr Gesicht direkt über die Lüftung. Brian sah zu ihr herüber, bevor er losfuhr. »Alles okay?«

Seneca redete sich ein, dass ihre Gänsehaut von der Kaltluft stammte. »Ich versuche nur gerade, mich nicht in eine Pfütze zu verwandeln«, sagte sie.

»Komm schon, Seneca. Du bist schon den ganzen Tag so abwesend. Woran denkst du?«

Seneca seufzte. War sie so leicht durchschaubar?

»Geht es um einen Kerl?«, erkundigte sich Brian sanft und drehte die Klimaanlage herunter.

Seneca spürte, wie sie rot wurde. »Nein!« Obwohl es eigentlich stimmte. Sie dachte an einen Kerl. Aber nicht so, wie Brian sich das vorstellte.

Zwischen Brians Augen bildete sich eine Falte. Mit vierundzwanzig war er schon verheiratet, mit seiner Jugendliebe, und Seneca verstand genau, was seine Frau in ihm sah. Er hatte dichtes kupferfarbenes Haar, haselnussbraune, freundlich dreinblickende Augen, und sein beeindruckender Körperbau gab Seneca ein beständiges Gefühl von Sicherheit. Wenn Brian bei ihr war, konnte ihr niemand etwas. Und mit niemand meinte sie Brett Grady.

Oder wie auch immer er gerade hieß.

Begonnen hatte das Ganze vor drei Monaten, als sie mit Maddox Wright, den sie über die Website »Offene Fälle« kennengelernt hatte, Nachforschungen zum Mord an Helena Kelly aus Dexby, Connecticut, angestellt hatte. Sie hatten sich mit Helenas jüngerer Schwester Aerin und mit Maddox’ Stiefschwester Madison zusammengetan, und außerdem mit einem anderen regelmäßigen Besucher der Site: BMoney60 alias Brett Grady. Sie fanden heraus, dass Helena eine Affäre mit einem viel älteren Mann namens Skip Ingram gehabt hatte. Sehr wahrscheinlich hatte Marissa Ingram, seine Frau, Helena getötet. Die Amateur-Ermittler hatten den Fall abgeschlossen.

Und dann eben doch nicht.

Kurz nachdem Brett Grady die Stadt verlassen hatte, wurde Seneca klar, dass ihr sogenannter Freund nicht der war, für den er sich ausgab. Nicht nur sein Name war falsch, er hatte den anderen außerdem jeden einzelnen Hinweis auf Marissa Ingram unter die Nase gehalten. Jedoch so unterschwellig und geschickt, dass Seneca glaubte, sie sei allein drauf gekommen. Sie war sich vorgekommen wie eine Top-Ermittlerin. Was natürlich besser war, als sich zu fühlen wie die gescheiterte Studienabbrecherin, die sie wirklich war.

Brett aber hatte all das gewusst, weil er selbst Helenas Mörder war. Und Helena war nicht sein einziges Opfer. Er hatte auch Senecas Mutter Collette ermordet. Seneca war dem Täter schon seit Jahren auf der Spur gewesen. Und sie hatte einen Haufen anderer Fälle entdeckt, bei denen es um blonde blauäugige Frauen ging und die alle Bretts Handschrift trugen.

Seneca erzählte ausschließlich Maddox, Madison und Aerin von ihrer Theorie. Sie benannte überprüfbare Fakten in sachlichen Worten. Sie ließ die Gefühle aus. Auch das kalte Entsetzen darüber, dass sie von jemandem getäuscht worden waren, den sie als Freund betrachtet hatten. Sie hatten mit eben jenem Menschen zusammengearbeitet, der ihr Leben zerstört hatte. Seneca hätte die Polizei informiert, aber sie hatte keine handfesten Beweise. Sie kannte nicht einmal Bretts richtigen Namen oder sein Alter. Sie wusste nicht, woher er stammte. Wenn sie Brett auf die Spur käme, dann würde sie ihn verfolgen und Beweise gegen ihn sammeln. Aber er hatte sein Telefon abgeschaltet. Auch die Website für ungelöste Kriminalfälle besuchte er nicht mehr. Er war aus sämtlichen sozialen Netzwerken verschwunden. Seneca fragte sich, ob Brett ins Nichts abgetaucht war, weil er wusste, dass sie hinter ihm her war. Aber wenn das stimmte, warum war sie dann nicht längst tot?

An der nächsten Kreuzung lenkte Brian den Wagen nach links. »Komm, wir machen eine Pause und holen uns ein Eis. Ich lade dich ein. Mit Streuseln? In der Waffel?«

»Egal.« Seneca war in sich zusammengesunken. Es war ihr peinlich, dass Brian dachte, sie könnte tatsächlich wegen eines Jungen so neben sich stehen.

Brian hielt an der Eisdiele an – eine aufgemotzte Bretterbude mit einem kleinen Ausgabefenster und einer Rasenfläche, die an einen sumpfigen Wasserlauf des Chesapeake grenzte. Seneca stand auf dem Schotterparkplatz und sah sich nervös um. Sie hielt Ausschau nach Brett, so wie sie es jetzt immer tat, seit er an jenem kalten Aprilabend aus Dexby verschwunden war. Sie dachte an die Karte, die sie an der Innenseite ihrer Kleiderschranktür befestigt hatte. An den Orten, in denen eine Nadel steckte, waren Verbrechen geschehen, die Brett unter dem Decknamen BMoney60 auf »Offene Fälle« kommentiert hatte – Verbrechen, die er wahrscheinlich selbst begangen hatte. Sein Markenzeichen bestand darin, sich mit einem einzigen durchschlagenden Hinweis zu melden, der den Fall wieder ins Rollen brachte. Genauso hatte er es bei den Ingrams gemacht. Es steckten Nadeln in Arizona, Washington, Florida, Georgia, Utah, Maryland, Connecticut und Vermont. Wo würde Brett als Nächstes auftauchen? Sie wusste von Brett nur, was er bisher getan hatte, und nicht, was er in Zukunft tun wollte.

Im Schilf am Ufer bewegte sich etwas. Eine Maus schoss zwischen den Gräsern hervor und verschwand gleich wieder. Seneca stieß die Luft aus. Sie war nervlich schon vollkommen zerrüttet.

Brian bestellte Vanilleeis und die beiden nahmen unter einem dünnen Sonnenschirm Platz, der kaum Schutz vor der drückenden Hitze bot. »Wie heißt es noch«, meinte Brian. »Andere Mütter haben auch schöne Söhne.«

Seneca leckte eifrig an ihrem Eis, damit ihr die Soße nicht über die Hand lief, und ließ nur ein Schnauben hören.

»Vielleicht brauchst du mal ein Date«, meinte Brian. »Ich kenne da jemanden.«

Seneca spürte, wie ihre Wangen zu glühen anfingen. »Brian, kannst du das jetzt mal lassen?« Sich zu verlieben, das konnte sie sich im Moment überhaupt nicht vorstellen.

Ihr Telefon summte. Während sie ihre Umhängetasche durchwühlte, entdeckte Brian einen Honda Civic vor einem Trödler auf der gegenüberliegenden Straßenseite. »Der steht im Parkverbot.« Er griff nach dem Knöllchendrucker, als handle es sich um eine halb automatische Waffe. »Nicht mit mir.«

»Ich komme gleich nach.« Seneca hatte ihr Telefon gefunden und blinzelte aufs Display, aber es war so hell, dass sie es mit der Hand abschirmen musste. Als sich ihre Augen daran gewöhnt hatten, sah sie, dass der Alert, den sie vor Monaten eingerichtet hatte, angesprungen war. Sie hielt den Atem an.

BMoney60 hat soeben einen Kommentar bei »Offene Fälle« gepostet.

Mit zitternden Händen klickte sie auf den Link. Ein Thread öffnete sich, in dem es um ein Mädchen namens Chelsea Dawson ging, die am Vorabend von einer Party in Lafayette, New Jersey, verschwunden war. Der Kommentar von BMoney60 stand an vierter Stelle: So was von offensichtlich. Es wird ihr Ex gewesen sein. Ich war auf der Party und habe gesehen, wie sie sich gestritten haben. HEFTIGST gestritten.Wow, lobten die eifrigen Hobbydetektive, heiße Spur. Die müssen ihn befragen. Seneca aber hatte dem Post etwas ganz anderes entnommen. Es war, als wäre nach monatelangem Regen ein klitzekleiner Sonnenstrahl am Himmel aufgetaucht.

Brett Grady war wieder da.

2

Aerin Kelly lag in einem Liegestuhl an Bord einer zwanzig Meter langen Yacht namens That’s Amore mitten in der Newport Bay. Sie tat, als würde sie schlafen, aber Pierce – der Typ, mit dem sie derzeit was hatte – fummelte an den Bändern ihrer karierten Bikinihose. Das nervte.

»He, Süße.« Es war noch nicht Mittag, aber Pierce’ Atem roch bereits nach Bier. »He, ich brauch dich. Jetzt.«

»Mmm.« Aerin öffnete ein Auge. Pierce hatte kein T-Shirt an und zeigte seine steinharten Bauchmuskeln, die er sich zusammen mit seinem Personal Trainer Jules erarbeitet hatte. Seine Haare standen in Büscheln ab und er trug eine Pilotenbrille mit grün getönten Gläsern. Eine Spezialanfertigung. Pierce ließ sich seine Sachen immer maßschneidern. Von der Stange kaufen, das fand er geistlos.

»Gut, du bist wach.« Pierce reichte ihr eine Tube Sonnencreme. »Kannst du mir mal den Rücken eincremen?«

»Können das nicht deine Freunde machen?«, stöhnte Aerin.

Pierce grinste. »Ich mag es aber lieber, wenn du mich einreibst.«

Aerin spritzte widerwillig Sonnenlotion in ihre Handfläche und verteilte sie zwischen seinen Schulterblättern. »Danke«, sagte Pierce. Er gab ihr einen Kuss und schwirrte zu seinen Freunden ab.

Aerin ließ sich wieder in den Liegestuhl fallen und versuchte, noch einmal wegzudämmern. Es war ein extrem schöner Tag – warm, aber nicht zu heiß – die Villen an der Küste von Newport strahlten wie Diamanten, und sie lag auf der größten Yacht im Hafen.

Helena würde das gefallen.

Sie zuckte zusammen. Ihre Schwester, das war wie ein Werbejingle, der sich immer von Neuem in ihrem Kopf abspulte. Aerin wollte nicht an Helena denken. Und sie wollte sich schon gar nicht vorstellen, dass Helena hier sein könnte. Sie war immer noch furchtbar wütend auf ihre Schwester. Helena hatte sie belogen, sie hatte sich mit einem älteren Mann davongemacht, ihre Familie einfach so im Stich gelassen. Natürlich liebte Aerin ihre Schwester immer noch, aber manchmal fragte sie sich, ob sie Helena überhaupt richtig gekannt hatte.

Wusste Aerin, was mit Helena geschehen war? Alle Welt ging inzwischen davon aus, dass Marissa Ingram ihre Schwester getötet hatte. Aber Seneca Frazier hatte eine andere Theorie, die Aerin zu denken gab. Aerin wollte nicht glauben, dass Brett Grady der Täter war. Marissas Motiv war klar, einleuchtend und logisch, und die Vorstellung, dass Brett – den sie beinahe geküsst hatte – es gewesen sein könnte, war vollkommen unsinnig und verstörend. Wie sollte ihre Schwester diesen Brett Grady überhaupt kennengelernt haben?

Aerin sprang auf. Wenn ihre Gedanken in dieses schwarze Loch abzustürzen drohten, half immer ein Ortswechsel. Auf dem unteren Deck öffneten Pierce und seine Kumpel Weston und James gerade neue Bierflaschen. Sie ging zu ihnen, nahm Piere das geöffnete Anchor Steam aus der Hand, kippte es in einem Zug hinunter und gab ihm die Flasche mit einem Zwinkern zurück. »Entschuldige«, sagte sie und wischte sich den Mund ab. »Aber das hatte ich nötig.«

Pierce grinste, verdutzt und belustigt zugleich. »Baby, du darfst mir jederzeit mein Bier klauen.« Es gefiel ihm, dass Aerin ein bisschen verrückt war. Genau das hatte er ihr auch gesagt, als sich die beiden auf einer Party in Paris kennengelernt hatten – wohin Aerins Eltern sie nach Marissa Ingrams Verhaftung mitleidsvoll geschickt hatten, anstatt über alles zu sprechen. Ihre Eltern hatten nach diesem tragischen Ereignis viele Versprechungen gemacht: Sie wollten mehr Zeit zusammen verbringen und eine Familientherapie beginnen. Aber dann hatte es nur ein paar Wochen gedauert, bis sie wieder in ihre alte Routine zurückgekehrt waren.

Anstatt in Paris Trauerarbeit zu leisten, schöpfte Aerin ihre Kreditkarte bis zum Limit aus und kaufte allen, die sie nur beiläufig kannte, teure Geschenke. Sie ging in zwielichtige Clubs, trank den Champagner gleich aus der Flasche und torkelte mitten in der Nacht durch die übelsten Pariser Viertel nach Hause.

Anstatt sich mit der Möglichkeit auseinanderzusetzen, dass Brett Grady tatsächlich Helenas Mörder sein könnte, beschloss Aerin, mit einem Typen, den sie eben erst kennengelernt hatte, nach Nizza zu reisen. In Pierce’ Privatflugzeug tranken die beiden Tequila und leckten sich das Salz von allen möglichen Körperstellen. In der Villa von Pierce’ Familie legte Aerin als Erstes einen besoffenen Striptease hin und wollte dann zum Pool rennen – rutschte aber auf den Steinen aus und schlug sich den Kopf auf.

Spielte sie allen etwas vor? Was sonst. Schleppte sie etwas mit sich herum? Ein Tonnengewicht. War ihr das bewusst? Eindeutig. Aber was sollte sie tun? Eine Therapie machen? Sich mit ihren Eltern zusammentun, die sich wie Fremde verhielten? Ihre Gefühle niederschreiben? Über all das konnte sie nur bitter lachen.

Der Alkohol schoss ihr durch die Adern und beruhigte ihr rasendes Hirn, aber sie spürte immer noch den Vorschlaghammer, der in ihr polterte und randalierte. Beweg dich. Tu etwas. Sie lief zum Steuer der Yacht und ließ sich in den feisten Ledersitz fallen. »Habt ihr was gegen eine kleine Ausfahrt?«, rief sie den Jungen zu.

»Mach nur«, antwortete Weston.

Aerin drückte den Gashebel. Das Boot startete mit einem Ruck und überholte Wasserskifahrer, einen Vergnügungsdampfer und eine mittelgroße Yacht mit einem halb nackten, ineinander verschlungenen Pärchen auf dem Bug. Aerins Haare flatterten, sie genoss den Wind im Gesicht. Sie schob den Hebel weiter, sodass das Boot noch schneller übers Wasser schoss. Wellen schlugen gegen den Rumpf. Sie fühlte sich stark. Sie drückte den Hebel noch weiter nach vorn und stieß einen gellenden Schrei aus, der in das Aufheulen des Motors einstimmte.

»Juhu!«, schrie Weston und reckte die Faust.

Aerin traf eine Boje und ließ sie über die Wasseroberfläche schlittern. Vor ihnen war der Leuchtturm, den sie fest ins Visier nahm. Wie würde es sich wohl anfühlen, gegen seinen felsigen Untergrund zu krachen? Würde das Boot zerbersten? Würden sie hinausgeschleudert? Würden sie sterben?

Würde sie dann Helena wiedersehen?

»Das ist der Wahnsinn!«, grölte Pierce.

Aber irgendetwas in ihr war auf einmal anders. Aerin merkte, wie krampfhaft sie das Steuer umklammerte. Ihr Herz stolperte, sie war außer Atem. Der Adrenalinschub war vorbei, sie fühlte sich nur noch … leer. Kaputt.

Sie drehte vor dem Leuchtturm ab, verlangsamte das Boot und rutschte vom Steuersitz. »Warum hast du angehalten?«, fragte Pierce von seinem Platz aus.

»Weil wir beinahe an die Küste gekracht wären«, antwortete Aerin zittrig. »Weil ich beinahe da reingekracht wäre.«

Die Jungs lachten nur, als habe sie einen Witz gemacht. Aerin eilte in die Kabine. Drinnen war es dunkel und kühl. Sie ließ sich auf die lederne Sitzbank in der Essecke fallen und atmete ein paarmal tief durch, damit sie nicht losheulte.

»Hier bist du?«

Pierce stand auf der Treppe und wirkte besorgt. Aerin hatte einen Kloß im Hals. Vielleicht war er ja mitfühlender, als sie dachte. Und vielleicht, ganz vielleicht, war sie jetzt bereit, darüber zu sprechen, was eigentlich los war. Doch dann hatten sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnt und sie sah, dass er etwas in der Hand hielt. Die Sonnenlotion, sein Banana Boat. Er drehte sich um und zeigte auf seinen Rücken. »Du hast da unten eine Stelle vergessen. Die wird schon rot.«

Aerin wollte ihm die Flasche an den Kopf werfen, aber dann drückte sie sich doch noch einmal Lotion in die Hand. Was hatte sie erwartet? Sie führten nun mal nicht so eine Art von Beziehung. Sie führten eigentlich gar keine Beziehung. Sie rieb seine Muskeln ein und sehnte sich auf einmal nach Thomas Grove – das war der Polizist, den sie bei den Ermittlungen zu Helenas Tod kennengelernt hatte. Thomas hätte gemerkt, wie sie langsam verrückt wurde. Thomas hätte wissen wollen, warum sie beinahe eine Millionenyacht zerschmettert hätte.

Quatsch, dachte Aerin jetzt. Sie sprach ja nicht einmal mehr mit Thomas. Er hatte den Polizeidienst quittiert und war kurz nach Marissa Ingrams Verhaftung nach New York ans College gegangen. Und das, als Aerin ihn am meisten brauchte. Ihm ging es bestimmt prächtig dort. An Aerin dachte er wohl kaum noch.

Etwas summte. Aerins Blick fiel auf die Arbeitsplatte aus Granit, auf der sie die große cremefarbene Chanel-Tasche abgelegt hatte, die Pierce ihr in Frankreich gekauft hatte. Aus ihr brummte es. Sie holte ihr Telefon aus dem seidenen Innenfutter. Seneca hatte ihr eine Nachricht geschickt: Das musst du dir ansehen.

Sie öffnete den Link. Eine Schlagzeile tauchte auf: Chelsea Dawson, 21, spurlos verschwunden in Lafayette, New Jersey. Daneben sah man ein Mädchen in einem durchscheinenden blauen Kleid. Aerin besah sich die blauen Augen, das weißblonde Haar, die schlanke Figur. Und ihr gefror das Blut in den Adern.

Das Mädchen sah Helena unheimlich ähnlich.

3

Maddox beendete seinen Lauf mit drei Minuten auf 18 km/h und ließ seine hämmernden Schritte durch das LA Fitness hallen. Normalerweise lief er lieber draußen, aber im Moment war es in Dexby einfach zu heiß und feucht, selbst für einen Supersportler wie ihn.

Außer Atem stoppte er das Laufband, wischte die Handgriffe ab und setzte seine mit Kakao gefüllte Trinkflasche an den Hals. Kakao nach dem Training fand er furchtbar, aber John Quigley, sein zukünftiger Coach an der University of Oregon, hatte in seinem Bestseller-Ratgeber The Path to Gold geschrieben, Kakao biete die optimale Mischung aus Proteinen, Kohlenhydraten und Fetten, um sich nach einem Lauf zu regenerieren. Maddox hatte fest vor, Quigleys Topathlet zu werden.

»Hey.«

Ein großes, durchtrainiertes Mädchen mit grünen Augen und glänzenden Kusslippen lachte ihn an. Als sie auf Maddox zukam, nahm er einen leichten Zimtgeruch wahr.

»Du bist ja gerannt wie ein Wahnsinniger.« Sie senkte ihre langen Wimpern. »Bist du so was wie ein Profi?«

Maddox hob die Schultern. »Wenn alles gut geht, nehme ich im Sommer an der Ausscheidung für die Olympischen Spiele teil.«

Das Mädchen machte große Augen, dann hielt sie ihm die Hand hin. »Ich bin Laila. Hast du Lust auf einen Smoothie? Dann kannst du mir noch mehr erzählen.«

Aus einem Raum nebenan tönte die Stimme eines Trainers: Im Tempo bleiben! Und die Knie hoch! Maddox klebte die Zunge von dem Schokozeug. Er räusperte sich und stammelte schließlich: »Eigentlich muss ich nach Hause.«

Laila blinzelte. »Oh. Na dann.«

Maddox schenkte ihr ein höfliches Lächeln und eilte zum Ausgang. Da hielt ihn ein spöttisches Lachen auf: Seine Stiefschwester Madison hockte in der Nische vor dem kleinen Sportartikelshop. Sie sah ihn derart entrüstet an, als wäre Maddox eben splitternackt durchs Fitnessstudio stolziert.

»Was ist denn jetzt los?«, schnaubte er. Es ergab absolut keinen Sinn, dass Madison hier auftauchte. Immer wenn Maddox seine Schwester fragte, ob sie mit ihm ins Fitnessstudio gehen wollte, antwortete sie: Ich habe schon gestern Abend einen Powerwalk durch sämtliche Schmuckgeschäfte gemacht, weil ich unbedingt einen neuen Gucci-Taschenanhänger brauche – das war genug Sport. Oder so ähnlich.

Madison steckte sich eine glänzende Strähne ihrer glatten schwarzen Haare hinters Ohr. »Hast du da eben allen Ernstes Laila Gregory abblitzen lassen?«

Maddox baute sich vor ihr auf. »Hast du mir eben allen Ernstes aufgelauert?«

Er strebte abermals auf den Ausgang zu, doch seine Schwester sprang ihm hinterher. »Victoria’s Secret hat Laila als Laufstegmodel engagiert«, hauchte sie ihm ins Ohr.

Er lachte auf. »Als ob ein Model in diesem Kaff abhängen würde.«

»Ihre Familie kommt aus Dexby.« Madison deutete zu den Laufbändern. »Geh zurück und entschuldige dich. Sag ihr, dass du ein Idiot bist, aber in Therapie. Das könnte was ganz Großes werden, Maddox.«

Maddox verdrehte die Augen. »Mag ja sein, aber ich muss mich aufs Laufen konzentrieren. Nicht auf irgendwelche Mädchen.«

»Du versetzt also ein Victoria’s-Secret-Model, weil du lieber rennst.«

Maddox entriegelte seinen Jeep, öffnete die Tür und warf seine Sporttasche auf den Beifahrersitz. Sie kippte in den Fußraum und ihr Inhalt purzelte heraus. Das Display von Maddox’ Telefon leuchtete auf und zeigte den neuen Hintergrund: ein Foto von Seneca auf der Ritz-Carlton-Party in New York. Die dunklen, welligen Haare fielen ihr ins Gesicht, ihr hellbrauner Teint schimmerte und die Mundwinkel waren zu einem trägen, leicht beschwipsten Lächeln verzogen.

Maddox versuchte schnell, das Bild zu verdecken, aber es war schon zu spät. Madison zog scharf die Luft ein. »Oh, oh!«

Er reagierte wütend. »Deine Oh-ohs kannst du dir sparen.« Wie hatte er nur diesen Hintergrund aussuchen können. War ja klar, dass Madison ihn deswegen triezen würde.

Seine Schwester setzte einen wissenden Blick auf. »Wenigstens erklärt das die Abfuhr.«

»Tut es nicht!« Maddox war sich genau bewusst, dass seine Stimme um eine Oktave höher war. Wie kam es eigentlich, dass Madison so ein Händchen dafür hatte, seine intimsten Geheimnisse ans Tageslicht zu zerren?

Ja, er dachte öfter mal an Seneca. Er hatte zwar keine Chance bei ihr, aber seitdem sie Dexby vor drei Monaten verlassen hatte, konnte ihr kein Mädchen das Wasser reichen. Er dachte immerzu an ihren hüpfenden Gang, an ihr raues Lachen und an das Fältchen, das zwischen ihren Augen auftauchte, wenn sie über etwas nachgrübelte. Mindestens zweitausendmal hatte er den Moment durchgespielt, in dem sie sich geküsst hatten. Wenn eine E-Mail von ihr eintraf – was jetzt seltener geschah –, ließ er alles stehen und liegen, hörte sogar zu laufen auf und stürzte sich auf ihre Nachricht. Aber sie schrieb kühl und sachlich: Immer ging es um Personen, für die sich Brett Grady auf der Plattform für ungeklärte Kriminalfälle interessiert hatte. Sie streute nicht einmal ein, welches Buch sie gerade las oder welche Musik sie für sich entdeckt hatte. Sie gab keine Auskunft darüber, ob sie wieder in ihrem Lieblingslokal essen war, nämlich der fettigen Asia-Nudelbude im Zentrum von Annapolis. Sie tat so, als wäre das, was sich zwischen ihnen entwickelt hatte – wie nahe sie einem Kuss gewesen waren –, niemals geschehen.

Ein paarmal schrieb Maddox eine E-Mail, in der er den ganzen Mist beiseiteließ und ihr zu verstehen gab, dass er immer noch verrückt nach ihr war und sich Sorgen machte, dass sie sich vollends zur Agoraphobikerin entwickelte. Denn sie verbrachte unendlich viel Zeit in ihrem Zimmer und widmete sich nur noch den Ermittlungen zu Brett. Er schrieb, er habe keine Vorstellung von ihrem Schmerz. Er fühle sich hintergangen, ja, aber das sei kein Vergleich zu dem, was sie durchmache. Ich bin da, schrieb er. Wir schaffen das zusammen. Aber wenn er die Sätze dann noch einmal las, hörten sie sich furchtbar abgedroschen an. Seneca war die Letzte, die Hilfe annehmen würde, um die sie nicht gebeten hatte. Vielleicht sollte er sie einfach in Ruhe lassen. Er schickte dann eine ebenso nüchterne E-Mail als Antwort zurück und vergrub die Wahrheit tief in sich.

Aber all das musste ja Madison nicht wissen. Er schaute sie böse an. Sie wirkte sehr selbstzufrieden, so als habe sie eben ein schwieriges Rätsel geknackt. Sie trug ein Kleid mit Herzmuster und Riemchensandaletten mit Blockabsatz. Ihre Haare hatte sie zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden, und sie roch, als habe sie eben noch eine hübsche Portion Gras geraucht.

»Was machst du hier überhaupt?«, erkundigte sich Maddox verärgert.

»Ich wollte dir etwas bringen. Du hast Post bekommen.« Sie reichte ihm einen dünnen Umschlag. Maddox Wright, stand darauf, und darunter seine Adresse. In der rechten oberen Ecke stand nur ein Name: Brett Grady.

Maddox spürte, wie ihm das Blut aus den Wangen wich.

Der Brief trug eine nichtssagende Briefmarke mit der amerikanischen Flagge und einen Poststempel aus Cleveland in Ohio. Er war mit einer altmodischen Schreibmaschine adressiert worden, aber mit dem Schriftbild stimmte etwas nicht, denn die Buchstaben versprangen. Maddox wurde schwindlig, als würde er auf eine optische Täuschung starren.

Er warf einen Blick auf seine Schwester. Sie beobachtete ihn genau, doch in ihrem Gesicht war nichts Spöttisches mehr.

»Oh.« Als er den Brief in seine Tasche stopfen wollte, fasste Madison ihn am Handgelenk.

»Stell dich nicht blöd. Alles, was von Brett kommt, will ich auch sehen«, sagte sie.

Maddox spürte sein Herz klopfen. Als er zum ersten Mal Senecas Theorie über Brett gehört hatte, hielt er sie für verrückt. Brett war ein cooler Typ. Sie hatten sich bei einem OF-Treffen kennengelernt und sofort super verstanden. Aber je mehr er darüber nachdachte, desto deutlicher wurde ihm, dass sich Brett während der Ermittlungen wirklich seltsam verhalten hatte. War Seneca da auf der richtigen Spur? Hatte Brett einen falschen Namen benutzt und sie über seine wahre Identität belogen? War es dann wirklich so weit hergeholt, dass Helenas Mörder die Ermittlungen die ganze Zeit gesteuert hatte und sie einen falschen Verdacht verfolgen ließ? Lauerte hinter Bretts scheinbar harmlosem Auftreten ein Monster? Diese Möglichkeit versetzte ihn in Angst und Schrecken. Sie hatten Brett in ihren Kreis aufgenommen. Sie hatten zusammen Partys gefeiert. Maddox hatte nicht die leiseste Ahnung gehabt, dass er vielleicht belogen wurde.

Die Sonne verkroch sich hinter einer Wolke und verfärbte den Himmel grau-lila. Grillen begannen zu zirpen – ein hässliches, schrilles Geräusch. Maddox hatte ein Brausen in den Ohren und sah sich nervös um, weil er schon halb damit rechnete, dass Brett ihn verfolgte. Ein Windstoß schlug den Deckel eines rostigen Müllcontainers zu. Er war mit einem Graffiti-Auge bemalt, das Maddox anstarrte. Er bekam eine Gänsehaut.

Plötzlich schnappte sich Madison den Umschlag, riss ihn auf und holte zwei gefaltete Papierseiten heraus. »He!« Maddox versuchte ihr den Brief zu entreißen, aber seine Schwester rannte über den Parkplatz davon. »Das geht uns beide an«, schnaubte sie.

»Madison …« Maddox eilte ihr nach, wobei ihm das Blut in den Ohren rauschte. Einzeilig getippte Buchstaben liefen im Zickzack über die Seite. Ganz oben entdeckte er seinen Namen, Maddox. Er fühlte sich wie auf einem wackeligen Boot, ohne Boden unter den Füßen und unsicher, welche Regeln ab jetzt gelten sollten.

Um ihn herum schien alles zu verstummen. Er las jeden Satz einzeln und sein Magen schnürte sich zusammen. Fassungslos las er den Brief ein zweites Mal und versuchte zu begreifen, was Brett sagen wollte.

He, was geht, Maddox,

hoffe, bei dir ist alles klar. Du fragst dich sicher, wo ich stecke, oder? Ich weiß von euren Nachforschungen. Ich weiß, worüber ihr im Stillen redet. Dieser Brief richtet sich also an euch alle. Ich vermisse euch. Jetzt echt. Es könnte aber sein, dass ich, als wir uns das letzte Mal gesehen haben, ein paar wichtige Details vergessen habe. Ich dachte, die liefere ich jetzt nach, falls es euch noch interessiert.

Seneca, ich weiß, wie sehr du nach Fakten gierst, also hör zu: Erinnerst du dich, wie ihr zum Target-Supermarkt gefahren seid, um Bücher zu kaufen? Wusstest du, dass deine Mama bei Starbucks mit jemandem geflirtet hat, während du in der Taschenbuchabteilung gestöbert hast? Wusstest du, dass sie da sogar jemanden geküsst hat?

Und Aerin, wusstest du, dass die hübsche Blonde, die mit der Metro North nach New York gependelt ist, immer so weit wie möglich von den Toiletten entfernt saß? Wusstest du, dass ihre Lieblingsbar im Grand Central das Campbell Apartment war und dass sie dort nicht nur den alten Knacker getroffen hat, mit dem sie was hatte? Sicher hattest du davon keine Ahnung.

Ich weiß, dass ihr wisst, was ich getan habe. Und ich weiß, dass ihr mich finden wollt. Ich bin auch noch nicht fertig mit euch. Das Spiel geht weiter. Ihr habt meinen ersten Hinweis erhalten, also kommt her und holt mich. Wenn ihr lieber zur Polizei geht, wird jemand sterben.

Haut rein.

Brett

»Das. Kann nicht. Sein«, flüsterte Madison. Sie trat einen Schritt zurück, als gäbe der Brief giftige Strahlung ab.

Maddox faltete die Blätter mit zitternden Händen zusammen. »Wir müssen die Polizei verständigen.«

»Bist du verrückt?«, schrie Madison. »Er hat doch gesagt, dann stirbt jemand!«

Aus dem Auto heraus klingelte sein Handy. Verdutzt riss Maddox die Jeeptür auf und sah das Telefon im Fußraum liegen. Er fragte sich, ob das Brett war, jetzt schon … aber Senecas Name erschien auf dem Display. Sein Herz stolperte.

»Maddox?«, brüllte Seneca ins Telefon. »Bist du da? Aerin hört mit. Wir müssen mit dir reden.«

Maddox spürte seine Beine nicht mehr. Sein Blickfeld verschwamm. Seine Stimmbänder waren wie verknotet. »Was ist?«, hörte er sich sagen.

»Brett hat etwas bei Offene Fälle gepostet. Über ein Mädchen, das in New Jersey vermisst wird. Die Polizei hat die Sache erst nicht besonders ernstgenommen, aber dann haben sie auf dem Parkplatz neben einer Party-Location Blutspuren gefunden, die zu ihrer Blutgruppe passen. BMoney60 hat geschrieben, er hält den Exfreund für den Täter. Er sagt, er war auf der Party.«

»Chelsea Dawson sieht Helena ähnlich«, meldete sich Aerin.

Maddox schnürte es die Brust zu. »Vielleicht hat er das in dem Brief gemeint. Dieser Post bei OF ist sein erster Hinweis.«

»Brief?«, hakte Seneca nach. »Welcher Brief?«

Maddox schloss die Augen. »Brett hat mir einen Brief geschickt.« Seine Stimme zitterte. »Madison hat ihn eben gerade im Briefkasten gefunden. Wir hätten euch gleich angerufen.«

»Hallo, bin auch hier«, fügte Madison zögernd hinzu.

»Brett hat dir einen Brief geschrieben?« Seneca klang entsetzt. »Lies ihn vor!«

Maddox dachte daran, was in dem Brief stand. Auf keinen Fall wollte er ihn Seneca laut vorlesen. »Äh …«

Madison riss ihm den Umschlag aus der Hand. »Ich lese«, sagte sie, als ahne sie, warum er zögerte. Maddox nickte kurz, zum Dank. Madison entfaltete die Seiten und trug die Sätze mit grimmigem Gesicht vor.

4

Seneca hatte sich auf die kleine Toilette in dem Eisladen zurückgezogen, wo sie in Ruhe telefonieren konnte. Sie stand in dem engen Raum, dessen Wände mit Eiswaffelgesichtern bemalt waren, und hörte zu, wie Madison den Brief vorlas. Als die Worte in ihr Bewusstsein drangen, spürte sie ein grelles, beinahe surreales Gemisch aus Wut, Entsetzen, Ekel und Verzweiflung. Und dann auf einmal wollte sie laut loslachen. Das war ihr bisher nur einmal passiert, auf der Beerdigung ihrer Mutter, gerade in dem Moment, als der Deckel auf den Sarg gesetzt wurde. Es war wie ein Kurzschluss im Kopf.

Aber gleich nach dem Wunsch, loszulachen, kam der Wunsch, etwas zu zerschmettern. Den Spiegel über dem winzigen Waschbecken zu zertrümmern. So fest gegen die Tür zu treten, dass sie sich den Knöchel brach. Sie ließ sich gegen die Wand fallen und ihre Gefühle machten wieder eine Kehrtwende. Jetzt kam es ihr so vor, als würde sich in ihr drin ein großes Loch ausbreiten und alles von innen auffressen. Konnte das wahr sein? Waren sich Brett und ihre Mutter wirklich so nah gewesen? Sie kannte diesen Starbucks, den Brett meinte. Er befand sich im vorderen Bereich des Target, des riesigen Supermarkts gleich außerhalb von Annapolis. Sie konnte sich vage erinnern, dass sie dort einen Typen gesehen hatte, der hinter der Theke stand und seiner Mutter einen Café Latte servierte. War das Brett gewesen?

Aber geküsst? Hatten Brett und ihre Mutter sich geküsst?