Magnus Carlsen - Aage G. Sivertsen - E-Book

Magnus Carlsen E-Book

Aage G. Sivertsen

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Beschreibung

Wie ist es möglich, dass der amtierende Schachweltmeister aus Norwegen kommt, einem Land ohne große Schachtradition? Aage G. Sivertsen zeichnet Magnus Carlsens Weg an die Spitze der Weltschachelite nach, der auf den ersten Blick wie Zufall aussieht, sich bei genauerem Hinsehen aber als logische Konsequenz kluger Förderung eines früh erkannten Genies begreifen lässt. Bereits mit 13 Jahren wird Carlsen, geboren 1990, Schach-Großmeister und kurz vor seinem 23. Lebensjahr Weltmeister. Diese Biografie ist die Geschichte eines Jungen, der es ohne Drill zum besten Schachspieler der Welt gebracht hat. Magnus Carlsen spielt Schach, weil es ihm Spaß macht. Hautnah hat Sivertsen das immer wieder vor Ort erfahren, bei wichtigen Wettkämpfen und Turnieren wie in Stavanger, London, Chennai, Dubai, Sotschi und zuletzt in New York. Daneben hat der Autor fast die gesamte Weltelite – darunter vier ehemalige Weltmeister – interviewt. Die wichtigste Grundlage dieses Buches aber sind die zahllosen Gespräche mit Henrik Carlsen, Magnus' Vater. Magnus Carlsen ist ein auch für Laien höchst lesenswertes Buch über ein Schachphänomen, in dem der Autor zeigt, aus welchem Holz Genies geschnitzt sind. Sivertsen bezieht dabei auch die Ereignisse vom Weltmeisterschaftskampf gegen Sergei Karjakin in New York vom 11. bis 30. November 2016 ein.

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Aage G. Sivertsen

MAGNUS CARLSEN

Das unerwartete Schachgenie

Aus dem Norwegischen vonUlrich Sonnenberg undRainer Vollmar

Titel der Orginalausgabe:

Magnus

Kagge Forlag, Oslo 2015

Copyright © Aage G. Sivertsen

Published in agreement with

Stilton Literary Agency

This translation has been publishedwith the financial support of NORLA.

Erste Auflage 2017© der deutschsprachigen AusgabeOsburg Verlag Hamburg 2017www.osburgverlag.de

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Bernd Henninger, Heidelberg

Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg

Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-95510-130-5eISBN 978-3-95510-138-1

Für Ekaterina

Inhaltsverzeichnis

Boy meets Beast

Magnus als Mozart

Die Erziehung von Genies

Eine kompromisslose Methode

Magnus’ familiärer Hintergrund

Die Schwestern Gara

Die Welt entdeckt den Mozart des Schachs

Zum ersten Mal Vollprofi

Der Sieger Simen Agdestein

Ist Spielstärke altersabhängig?

Malysj

Der Weltbeste

Ratingverluste

Nein zu Kasparow

Mit den Figuren sprechen

In seiner eigenen Welt

Schüler verliert gegen Lehrer

Nummer 10 von hundertachtundzwanzig Großmeistern

Lehrer verliert gegen Schüler

Begegnung mit der Weltelite

Der Nervenkrieg gegen Aronjan

Halsbrecherisches Turniertempo

Heimliche Zusammenarbeit mit Kasparow

Geldsorgen

Glück ist kein Zufall

Kasparow wird entlassen

Der Bruch mit Simen Agdestein

Heimliche Helfer

An der Spitze der Rangliste

Verlegenheit und Berühmtheit

Magnus zieht zurück

Nichts Vergleichbares auf der Welt

Nervenkrieg in London

Kramniks Finte

Besorgte Mutter

Vor der dreizehnten Runde: Psychokrieg

Die dreizehnte Runde: Blut aus einem Stein pressen

Vor der vierzehnten Runde: Crescendo

Eine Stippvisite in der Hölle

Weltmeister in Chennai

Donald Duck und Kartenspiel

Alles oder nichts

Die neunte Partie

Dreifacher Weltmeister

Der Tiger aus Chennai

Das Drama von Sotschi

Das Nervenspiel

Die zweite Partie: Anand überspielt

Die dritte Partie: Der Schock

Die vierte Partie: Magnus stocksauer

Die fünfte Partie: Kontrolle

Die sechste Partie: Ein Geschenk für Anand

Die siebte Partie: Die wissenschaftliche Herangehensweise

Die achte Partie: Magnus schläft

Die neunte Partie: Die Ruhe vor dem Sturm

Die zehnte Partie: Die vorletzte Chance

Die elfte Partie: »All-In«

Magnus Carlsen im Licht von Fischer und Kasparow

»Zwanzig Prozent Schach, achtzig Prozent Psychologie«

Nachwort

Anmerkungen

Anhang:

Schachbegriffe

Literaturverzeichnis

Artikel und Filme

Bildnachweis

Boy meets Beast

Reykjavik, 12. März 2004

Nach dem normalen Open fand in Island noch ein Blitzturnier statt. Dabei kam es zu einer kleinen Schachsensation. Denn Magnus Carlsen schlug den ehemaligen Weltmeister Anatoli Karpow.

Direkt nach der Partie wandte Magnus sich der Tribüne zu, auf der seine gesamte Familie saß. Der dreizehnjährige Junge lächelte und reckte den Daumen nach oben. Seine ältere Schwester Ellen erwiderte die Geste.

Karpow spielte zu dieser Zeit noch immer auf sehr hohem Niveau, und die norwegischen Medien überschlugen sich vor Begeisterung. Insgesamt vielleicht ein wenig übertrieben, aber den norwegischen Journalisten wurde allmählich bewusst, dass sich etwas Großes anbahnte. Allerdings ging es um die Randsportart Schach, nicht um Langlauf oder Fußball. Daher nahm man es nicht richtig ernst – noch nicht.

Am darauffolgenden Tag sollte Magnus gegen Garri Kasparow zum Schnellschach antreten. Kasparow hatte bei dem Blitzturnier den 2. Platz belegt, Magnus war Vorletzter geworden. Aufgrund dieser Ausgangssituation mussten die beiden beim anschließenden Schnellschachturnier gegeneinander antreten. Es war das erste Mal, dass Magnus Carlsen der Schachlegende begegnete.

Karpow war 2004 noch immer stark, aber Kasparow galt weiterhin als bester Spieler aller Zeiten. Er stand auf dem 1. Platz der Weltrangliste. »Boy meets Beast« titelte das Internetmagazin Chess-Base. Der Vergleich David gegen Goliath lag allerdings näher. Der gestandene, ernste, gut gekleidete Kasparow gegen einen Jungen, der mit den Beinen kaum den Boden berührte, wenn er sich an den Tisch setzte.

Magnus Carlsen belegte zu diesem Zeitpunkt Platz 786 der Weltrangliste. Kasparow hatte ein Rating von 2831, während Magnus gerade einmal bei 2484 stand. Die Partie war aussichtslos. Beim Fußball könnte man sie mit dem Spiel einer hervorragenden Erstligamannschaft gegen eine Jugendauswahl vergleichen. Normalerweise würde die Erstligamannschaft zweistellig gewinnen. Ein paarmal vielleicht nur mit sechs oder sieben Toren Unterschied, aber dass sie unentschieden spielen oder gar verlieren würde – undenkbar. Aber Schach ist kein Fußball. Der psychologische Faktor ist weitaus wichtiger und kann dazu führen, dass der Beste sogar gegen einen klar schwächeren Gegner verliert. Dennoch war der Unterschied in der Spielstärke so groß, dass es nahezu utopisch war, auf eine Sensation zu hoffen.

Am Vorabend entschied Magnus, sich mit der Lektüre von Micky-Maus-Heften auf die Partie vorzubereiten. Nach dem langen Open war er noch ein wenig erschöpft, und es gab keinen Grund, sich unnötig unter Druck zu setzen.

Das Schnellschachturnier, bei dem die Spieler eine Bedenkzeit von fünfundzwanzig Minuten für die gesamte Partie zur Verfügung hatten, sollte um 18 Uhr beginnen. Doch ein Spieler tauchte nicht auf: Kasparow. Normalerweise wird die Uhr in Gang gesetzt, und wenn der Gegner nicht rechtzeitig erscheint, hat er die Partie verloren. Der Veranstalter entschied jedoch, Kasparows Uhr nicht anzustellen, denn dem russischen Schachgenie war versehentlich nicht mitgeteilt worden, dass das Turnier an diesem Tag eine Stunde früher begann. Während Magnus gespannt auf den weltbesten Schachspieler wartete, schlenderte er umher und verfolgte die anderen Partien. Nach zwanzig Minuten erschien die Schachlegende. In einem tadellosen blauen Anzug, hellblauen Hemd und mit passender Krawatte. Selbstsicher, eine Hand in der Jackentasche, ging er direkt zum Tisch, an dem Magnus bereits saß. Er erklärte ihm, dass nicht er, sondern der Veranstalter für sein Zuspätkommen verantwortlich sei.

Kurz zuvor hatte Carlsen sich ein Glas Cola geholt. Normalerweise trinkt er Orangensaft, eine volle Flasche stand auch auf dem Tisch, aber er hatte Lust auf eine Cola. Kasparow zog sein Jackett aus und nahm die Armbanduhr ab, legte sie links neben das Brett. Er hatte weder Saft noch ein anderes Getränk mitgebracht. Das Publikum sah einen ehemaligen Weltmeister, der ungewöhnlich nervös zu sein schien. Magnus führte seinen ersten Zug aus, Bauer nach d4. Kasparow berührte sämtliche Figuren, rückte sie exakt so zurecht, wie er sie haben wollte, und verhüllte mit den Händen sein Gesicht, ehe er Bauer nach d5 erwiderte und die Uhr drückte.

Die Nummer 1 der Weltrangliste beging in der Eröffnung einen Fehler und erhielt als Quittung schon früh die schlechtere Stellung. Wenig später stand Magnus sogar klar besser, laut Kasparow – wie er später bekannte – sogar auf Gewinn. Während der Partie schüttelte Kasparow mehrfach den Kopf, das Publikum verfolgte aufmerksam das Geschehen. Magnus sah Kasparow an und wandte seinen Blick nicht mehr von ihm ab. Ein Zeichen, dass er mit seiner Stellung zufrieden war.

Kasparow erklärte ein Jahr später, er habe angefangen, an die sensationsheischenden Überschriften zu denken, als seine Stellung zusehends schlechter wurde. Nie zuvor war er auf einen Gegner mit einem so großen Altersunterschied getroffen, allerdings hatte er als Jugendlicher selbst mehrfach Erwachsene bezwungen, die nominell klar besser waren als er.

Kasparow saß ein wenig zusammengekrümmt am Tisch, und die Art und Weise, wie er die Lippen bewegte, zeigte, wie sehr ihm seine Stellung missfiel. Mehrfach verbarg er das Gesicht in den Händen, ganz offensichtlich konnte er nicht fassen, was sich auf dem Brett gerade abspielte. Während die Schachlegende nachdachte, entfernte sich Magnus einige Meter vom Tisch, um sich die anderen Partien anzusehen. Dies war womöglich ein psychologisches Mätzchen, in jedem Fall jedoch ein Zeichen geradezu grenzenloser Arroganz. Beim Schnellschach ist es sehr ungewöhnlich, dass ein Spieler während der Partie herumschlendert. Zumindest, wenn man gegen den Weltbesten spielt. Bei normalen Partien, die sich über mehrere Stunden hinziehen, geschieht es häufig, dass einer der Spieler den Tisch verlässt. Hin und wieder, um dem Gegner demonstrativ zu zeigen, wie sehr einem die eigene Stellung gefällt. Steht man beim Schach schlecht, kann es unglaublich irritierend sein, wenn der Gegner gähnt, aufsteht oder so tut, als hätte er die Partie bereits gewonnen. Als Magnus sich erhob und den Tisch verließ, hob Kasparow den Kopf und starrte ihn an. Vielleicht wollte er ihn psychisch beeinflussen, vielleicht überlegte er aber auch nur, ob Magnus begriffen hatte, wie schlecht Kasparows Stellung tatsächlich war. Und als Carlsen sich in dieser Sekunde entschied, den eiskalten Blick nicht zu erwidern, indem er den Tisch verließ, war das Antwort genug.

Nachdem Magnus aufgestanden war, führte Kasparow sehr schnell seinen nächsten Zug aus. Der Exweltmeister ertrug es nicht, ignoriert zu werden. Sobald Kasparow die Uhr gedrückt hatte, kam Magnus zurück und machte blitzschnell seinen nächsten Zug. In dem sicheren Glauben, die Partie gewinnen zu können, faltete er die Hände. Der Rest der Familie Carlsen saß einige Meter entfernt. Henrik Carlsen erklärte der zweitältesten Tochter Ingrid, dass Magnus Vorteil hätte. »Wenn Papa sagt, dass Magnus gut steht, gewinnt er normalerweise auch, und dann freue ich mich«, so Ingrid. Kasparow sah aus, als hätte ihn der Blitz getroffen, doch er kämpfte und schaffte es, seine Position schrittweise zu verbessern. Magnus wurde ein wenig nervös und fand nicht immer die beste Fortsetzung. Die Partie endete mit einem Remis. Der Meister war mit dem Schrecken davongekommen.

Die zweite Partie gewann der Russe mühelos. Hinterher wurde Magnus Carlsen von dem Regisseur Øyvind Asbjørnsen interviewt, der ihm ein Jahr lang kaum von der Seite wich und den Film The Prince of Chess drehte. Magnus war enttäuscht, dass er die zweite Partie verloren hatte. »Ich habe wie ein Kind gespielt«, erklärte der Junge.

Und Kasparow sagte nach der Partie: »Bekommt er die richtige Förderung, kann er der weltbeste Schachspieler werden.«

Magnus als Mozart

»Nach Gott kommt gleich der Papa.«Wolfgang Amadeus Mozart

Sven Magnus Øen Carlsen wurde zum ersten Mal als Mozart des Schachs bezeichnet, nachdem er als Dreizehnjähriger beim renommierten »Corus-Turnier« in Wijk aan Zee seine erste Großmeisternorm errungen hatte. Magnus hatte ein so wunderbares Schach gespielt, dass der Vergleich angebracht war. In seiner wöchentlichen Schachkolumne in der Washington Post verlieh der Schachjournalist Lubomir Kavalek im Januar 2004 Magnus Carlsen den Titel The Mozart of Chess.

»Er zeigte sein enormes Talent mit einer der großartigsten Angriffspartien, die in diesem Jahr in Wijk aan Zee gespielt wurden«, schrieb er. Danach verglich er ihn wiederholt mit dem Wunderkind der klassischen Musik. Es war allerdings nicht das erste Mal, dass ein junges Schachgenie mit Mozart verglichen wurde. Schon mehrere Weltmeister waren als »Mozart des Schachs« bezeichnet worden.

Außerdem gibt es von 60 Minutes auf CBS einen Dokumentarfilm mit dem Titel The Mozart of Chess. Weder der amerikanische Sender noch andere Schachjournalisten haben sich aber je die Mühe gemacht herauszufinden, ob die beiden tatsächlich irgendwelche Gemeinsamkeiten aufweisen. So verkam die Bezeichnung »Mozart des Schachs« zum reinen Klischee. Die Frage ist also, ob es Parallelen zwischen dem Wunderkind des Schachs und dem mystischen Wolfgang Amadeus Mozart gibt. Auch Magnus Carlsen hat etwas Mystisches. Das zumindest behauptete der ehemalige Weltmeister Boris Spasski im November 2014 in Sotschi: »Magnus Carlsen ist ein unterirdischer Kobold. Ich mag ihn. Er ist ein feiner Kerl und ein guter Schachspieler. Und er hatte schon immer etwas Mystisches.«1

Fraglos hatte Wolfgang Amadeus’ Vater, Leopold, beschlossen, dass sein Sohn sich zu einem musikalischen Phänomen entwickeln sollte. Alle entsprechenden Maßnahmen wurden eingeleitet. Bei Magnus Carlsen war es nicht ganz so. Zwar lernte er bereits im Alter von fünf Jahren die Schachregeln, doch erst als Achtjähriger begann er, sich ernsthaft mit dem königlichen Spiel zu beschäftigen. Allerdings spielte der Vater, Henrik Carlsen, durchaus mit dem Gedanken, dass sein Sohn sich zu etwas Außerordentlichem entwickeln könnte, und auch er veranlasste die notwendigen Maßnahmen.

Die Bedingungen und Voraussetzungen waren für Magnus nicht besser als für seine drei Schwestern Ellen, Ingrid und Signe. Es zeigte sich nur, dass Magnus schon früh besondere Eigenschaften besaß. Bereits im Alter von einem Jahr spielte er mit großem Interesse und großer Ausdauer mit Lego-Steinen. Als Zweijähriger kannte er die Namen sämtlicher Automarken, und noch vor seinem vierten Geburtstag konnte er sich bestimmte Dinge besser merken als mancher Erwachsene. Im Alter von fünf Jahren kannte Magnus die Namen aller norwegischen Orte, erkannte die Ortswappen, wusste die Namen sämtlicher Hauptstädte auf der ganzen Welt und konnte exzellent Kopfrechnen.

»Wichtiger als der Erwerb sozialer Eigenschaften war für mich, dass Magnus sich Kenntnisse aneignete und intellektuelle Fertigkeiten entwickelte«, erklärt Henrik Carlsen.

Als Magnus in die Schule kam, konnte er bereits lesen und schreiben. Man erwog, ihn die erste Klasse der Grundschule überspringen zu lassen, die Eltern lehnten es ab. Allerdings vereinbarten sie mit dem Lehrer, dass er zusätzliche Anregungen und Anreize bekommen sollte, so durfte er neben dem normalen Pensum Sportbücher lesen.

Magnus bedeutet auf Lateinisch »der Große«. Norwegen hatte sieben Könige namens Magnus. »Für uns war es vollkommen normal, dass wir ihn Magnus nannten«, berichtet sein Vater. »Selbstverständlich war uns klar, dass es ein königlicher Name ist, aber er gefiel uns.«

Amadeus. Man muss sich diesen Namen auf der Zunge zergehen lassen. Eigentlich war er als Theophilus geboren, das griechische Wort für »den von Gott Geliebten«. Auf Lateinisch wurde daraus Amadeus.

Henrik Carlsen ging nicht davon aus, dass Magnus der beste Schachspieler der Welt werden würde. Jedenfalls nicht, bevor er zehn Jahre alt war. Damals, im Jahr 2000, wurde dem Vater klar, dass er einen Sohn mit einem ganz außergewöhnlichen Talent für das Schachspiel hatte:

»Als ich eines Tages die Karl Johans gate in Oslo entlangging, klingelte das Telefon. Ein enger Freund erklärte mir, dass Magnus Schachweltmeister werden könne. In dem Gewimmel auf der Straße hatte ich das Gefühl, die anderen Leute könnten das Gespräch mithören. Ich flüsterte daher, auch ich sei dieser Ansicht. In diesem Moment kam mir zum ersten Mal der Gedanke, er könnte der beste Schachspieler der Welt werden. Er war zehn Jahre und ein paar Monate alt.«

Henrik hatte damals dasselbe Rating wie heute, rund 2000 Elo. Eine solche Spielstärke erreichen sehr viele recht gute Spieler nach jahrelangem Training. Viele Schachspieler trainieren mehrere Stunden am Tag, und das zwanzig bis dreißig Jahre lang, um ein höheres Rating zu erreichen. Magnus spielte als Neunjähriger bereits so gut wie sein Vater, und das, obwohl er erst ein Jahr am Brett verbracht hatte.

In Anbetracht seines jungen Alters war das Bemerkenswerteste an Wolfgang Amadeus Mozart die Qualität seiner Musik. Die Musikstücke, die er bereits als Fünfjähriger komponierte, sind nahezu unerklärlich gut. Schon im Alter von sechs, sieben Jahren steckte in seiner Musik eine Reife, die ihn in ganz Europa bekannt machte. Das Klavierspiel prägte seinen Alltag. Der Junge liebte es zu spielen. Er musste gezwungen werden, ins Bett zu gehen, sonst wäre er am Klavier eingeschlafen.

Amadeus liebte nicht nur die Musik, er spielte mit ihr. Das Publikum konnte eine Melodie summen, zu der er Variationen spielte, oder er begleitete eine Arie, die er nie zuvor gehört hatte. Er konnte sogar mit einer Binde vor den Augen oder mit dem Rücken zum Klavier spielen. Mit anderen Worten, er fand Gefallen daran, etwas Außergewöhnliches zu veranstalten. Vor allem aber suchte Wolfgang Amadeus Mozart in der Musik die Harmonie.

Magnus Carlsen wünschte sich vom frühen Alter an die totale Harmonie seiner Figuren. Er sagt: »Ich wünsche mir um jeden Preis, dass die Figuren zusammenarbeiten, dass sie auf den richtigen Feldern stehen und eine Harmonie bilden, eine Art Vollkommenheit.«

Leopold Mozart sorgte dafür, dass der Sohn mehrere Instrumente beherrschte. Neben Klavier lernte er Violine und Orgel, damit er ein kompletter Musiker werden konnte.

Bei Magnus Carlsen könnte man das Klavier vielleicht mit dem Mittelspiel im Schach vergleichen. Darin lag sein großes Talent, und damit überraschte er in den ersten Jahren oft seine Gegner. Im Mittelspiel konnte er eine Leichtfigur opfern, um anschließend die Partie zu gewinnen. Um neue Wege beschreiten zu können, war es aber notwendig, auch die Eröffnung und das Endspiel zu beherrschen. Dies ließe sich mit der Rolle der Geige und der Orgel bei Mozart vergleichen. Nachdem Magnus sich auch zu einem Experten in der letzten Partiephase entwickelt hatte, dem Endspiel, war er der beste Schachspieler der Welt.

Als er anfing, sich für Schach zu interessieren, stand zunächst das Spielerische im Vordergrund. »Ich habe mehrfach versucht, Magnus dazu zu bringen, seine Hausaufgaben zu machen, aber ich habe ihn nie aufgefordert, Schach zu spielen. Es sollte ein Spiel sein, und die Motivation sollte von innen kommen. Wenn er sich abends ans Schachbrett setzte, mussten wir ihn oft zwingen, ins Bett zu gehen«, erzählt sein Vater Henrik Carlsen.

Das Besondere an Magnus’ Herangehensweise beim Schach war die Impulsivität. Statt mithilfe russischer Schachdisziplin besser zu werden, tat er nur das, was ihm selbst Spaß machte. Das ändert nichts an der Tatsache, dass er sich als Kind den ganzen Tag mit Schach beschäftigte. Wenn er abends zu Bett ging, dann nicht, um zu schlafen, sondern um Schachbücher zu lesen. Nachdem Henrik Carlsen die Tür zugezogen hatte, schaltete der Sohn das Licht ein.

Will man Magnus’ wichtigste Eigenschaft benennen, oder vielleicht den wichtigsten Faktor, warum er ein so extrem guter Schachspieler geworden ist, dann ist es vor allem die Freude am Trainieren und Spielen. Sein Freund und Sekundant Jon Ludvig Hammer beschreibt es so:

»Von seinem zehnten bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr spielte er den ganzen Tag Schach. Je mehr er spielte, desto mehr gefiel es ihm. Training ist wichtig, aber wenn du dann noch glaubst, dass unbegrenztes Training nur positiv sein kann, hast du einen Vorsprung.«

Magnus begann als Achtjähriger vergleichsweise spät mit dem Schachspiel. Die meisten Spieler der Weltspitze fingen im Alter von fünf oder sechs Jahren an, allerdings gibt es auch Beispiele für Weltklassespieler, die später begonnen haben.2

Mozart entwickelte früh ein musikalisches Gedächtnis, das unfassbar erscheint. Als er fünf Jahre alt war, konnte er Musikstücke nachspielen, die er nur ein einziges Mal gehört hatte. Selbst herausragende erwachsene Pianisten haben damit Probleme.

Das Gedächtnis ist beim Schach wie in der Musik ein wichtiger Faktor. Sowohl Wolfgang Amadeus Mozart als auch Magnus Carlsen haben ein extremes Erinnerungsvermögen entwickelt, das weit über die normale Gedächtnisleistung hinausgeht.3

»Als Magnus sechs oder sieben Jahre alt war, kannte er sich unglaublich gut im Sport aus. Er hätte als Experte für sämtliche Sportarten bei Quizsendungen im Fernsehen auftreten können«, erzählt sein Vater.

Leopold Mozart war selbst ein Musiker auf hohem Niveau. Er war in der damaligen Zeit recht bekannt und als Musiker vermutlich weit besser als Henrik Carlsen als Schachspieler. Dennoch hatten sie die gleiche Leidenschaft, wenn es um ihre Söhne ging. Obwohl Henrik Carlsen Schach nie auf Spitzenniveau gespielt hat, ist seine Liebe zum Spiel zweifellos ein wichtiger Faktor. Dazu kommt, dass elterliche Liebe und Fürsorge für alle Kinder sowohl in der Familie Mozart wie in der Familie Carlsen einen sehr hohen Stellenwert hatten.

Leopold Mozart bestand 1736 das Abitur mit hervorragenden Noten. Später gab er sein Studium auf und widmete sich ausschließlich der Karriere seines Sohnes. Dies ist durchaus vergleichbar mit den Ideen und Plänen, die Henrik Carlsen für Magnus hatte. Als Magnus zwölf Jahre alt war, und die Familie sich zu einem schulfreien Jahr für die Kinder entschloss, geschah dies vor allem mit Blick auf den Sohn.

Wolfgang Amadeus Mozart ging bereits als Fünfjähriger mit seinem Vater auf Reisen, um aufzutreten und zu spielen. Vater und Sohn Mozart reisten mit Pferden und Kutschen durch ganz Europa. Auch die Familie Carlsen hatte ihre »Hauskutsche« – einen Kleinbus, mit dem sie von Turnier zu Turnier fuhr. Beiden Vätern ging es darum, die Bedingungen zu schaffen, damit ihre Söhne sich optimal entwickeln konnten. Amadeus besuchte nie eine Schule. Er lernte Latein, Englisch und Französisch vom Vater. Sowohl Leopold Mozart wie Henrik Carlsen begriffen, dass sie zu außerordentlichen Maßnahmen greifen mussten, wenn ihre Söhne etwas Außerordentliches werden sollten.

Frederic Friedel, der Erfinder der Schachdatenbank ChessBase, ist zugleich einer der erfahrensten Schachjournalisten. In einem Gespräch, das wir 2013 in Zürich führten, erklärte er: »Fraglos ist Magnus ein Genie. Aber … Henrik ist klüger.«

Beide Väter hatten verstanden, dass Inspiration ein wichtiger Schlüssel ist. Wolfgang Amadeus musste die großen europäischen Städte wie München, Paris und London besuchen und dort auftreten. Das anspruchsvolle und empfängliche Publikum war nur außerhalb der Kleinstadt zu finden, aus der sie stammten – Salzburg in Österreich. Amadeus lernte die großen Komponisten seiner Zeit kennen. Damals wurde die Musikwelt von Johann Sebastian Bachs jüngstem Sohn, Johann Christian Bach, dominiert. 1764 begegneten sich die beiden in London und spielten vierhändig. Wolfgang Amadeus Mozart saß auf Johann Christian Bachs Schoß, sie spielten zwei Stunden für das englische Königspaar.

Sollte Magnus richtig gut werden, musste er hinaus in die Welt, er musste an den großen Turnieren teilnehmen und auf die besten Spieler treffen. Inspiriert werden.

Amadeus verdiente viel Geld. Er hatte ein unkompliziertes Verhältnis zum Geld und war gewöhnt, dass sich das meiste von allein regelte. Was nicht immer der Fall war.

Seit Magnus Carlsen ein Weltstar im Schach ist, führt er ein Luxusleben. In den letzten fünf, sechs Jahren hat er Millionen verdient, Geldsorgen sind kein Thema. Im Gegenteil, er fährt die schicksten Autos, fliegt Business Class, wohnt in den teuersten Hotels und besucht zwischendurch die Finanzelite. Seine Begegnungen mit Milliardär Bill Gates oder Facebook-Gründer Mark Zuckerberg und sein Auftritt in einer populären norwegischen Talkshow erinnern an Mozarts Einladungen bei Hofe.

Amadeus wurde von den meisten europäischen Höfen eingeladen. Sein ohnehin großes Selbstvertrauen wurde dadurch nicht unbedingt kleiner. Immer wieder wies er darauf hin, wie gut er komponieren und spielen konnte.

Auch Magnus verhehlt nicht, wie gut er ist. Nachdem er 2009 in China eines seiner besten Turniere gespielt hatte, erklärte er: »Ich will das Schachspiel auf ein neues Niveau heben.«

Beide Söhne gehorchten ihren Vätern. Über Magnus lässt sich sagen, dass sein Vater die wichtigste Person in seiner Karriere war und ist, aber er legt großen Wert darauf, dass die ganze Familie ihm sehr viel bedeutet.

Leopold Mozart wollte streng genommen immer die volle Kontrolle über seinen Sohn haben. Das wurde mehr oder weniger unmöglich, nachdem Amadeus erwachsen geworden war. Leopold Mozarts Ambitionen waren extrem hoch, und er wusste, was er verlangte. Vielleicht sind auch Henrik Carlsens Ambitionen extrem hoch gewesen. Dann allerdings hatte er die ungewöhnliche Eigenschaft, sie gut verbergen zu können. Im Gegensatz zu vielen Eltern, die oft weit größere Ambitionen haben als ihre Kinder, ist Henrik Carlsen ungewöhnlich gelassen. So sieht es zumindest aus. An dieser Stelle muss eine Episode aus dem Film Searching for Bobby Fischer erwähnt werden, bei der mehrere Eltern bei einem Kinderschachturnier einen geradezu hysterischen Eindruck hinterlassen. Leider ist es tatsächlich so, dass viele junge Schachspieler wie dressierte Hunde wirken. Die Eltern wollen, dass sie gut werden.

Da es eine Reihe von Publikationen gibt, die auf Wolfgang Amadeus Mozarts Briefen basieren, ist die Quellenlage sehr gut, um sein musikalisches Genie zu beurteilen. Die Briefe belegen, dass er sich jahrelang in einem geradezu euphorischen Zustand befand, sie beschreiben eine tiefe Freude und beweisen, dass er sich als unabhängig und souverän wahrnahm.

Magnus Carlsen hat seit seinem dreizehnten Lebensjahr nahezu nichts anderes getan, als Schachpartien zu gewinnen, und seine Freude, Schach spielen zu dürfen, ist ganz offensichtlich. Sein Selbstvertrauen scheint unübertroffen.

Einer der größten Feinde des Musikers ist die Nervosität. Dasselbe lässt sich von Schachspielern sagen. Beim Schach ist Selbstvertrauen für den Erfolg von entscheidender Bedeutung. Mozart strahlte auf der Bühne Selbstsicherheit aus, und das gilt auch für Magnus, wenn er sich bei wichtigen Partien in Zeitnot befindet und von tausenden Zuschauern beobachtet wird. Auch auf diesem wichtigen Gebiet gibt es eine Gemeinsamkeit zwischen ihm und Mozart.

Die Erziehung von Genies

»Jedes Kind kann mit der richtigen Anleitung überragende Resultate in einem beliebigen Bereich erreichen.«Lászlo Polgár

Kann ein beliebiges Kind unabhängig von Geschlecht und Abstammung Höchstleistungen in einem beliebigen Bereich erbringen? Spielt es eine Rolle, ob die Eltern oder ein Familienmitglied eine höhere Bildung haben? Ist eine Voraussetzung, damit aus einem Kind ein guter Schachspieler wird, dass ein Elternteil oder beide Eltern gute Schachspieler sind?

Eine kompromisslose Methode

Das extremste Beispiel aus der Schachszene sind die drei ungarischen Schwestern Susan, Sófia und Judit Polgár. Ihr Vater Lászlo Polgár behauptet in seinem Buch Die Erziehung von Genies, dass jedes beliebige Kind enorme Resultate in einem beliebigen Bereich erreichen könne.4 Voraussetzung dafür ist seiner Ansicht nach, dass die richtigen Grundlagen geschaffen werden müssen und dass fehlende angeborene Eigenschaften durch harte Arbeit ausgeglichen werden.

Diese Theorie ähnelt ein wenig der Überzeugung Malcolm Glad-wells, der behauptet, es seien zehntausend Trainingsstunden notwendig, um in einer Sportart in die Spitze vorzustoßen. In seinem Buch Überflieger versucht Gladwell zu erklären, welche Komponenten nötig sind, um Erfolg zu haben. Er führt mehrere gute Beispiele an, warum man über einen Zeitraum von zehn Jahren etwa diese Stundenzahl qualitativ hochwertiger Trainingseinheiten absolvieren muss, um in einer Sportart extrem gut zu werden.

Auch Magnus Carlsen hatte laut Angaben seines Vaters ungefähr zehntausend Stunden mit Schach verbracht, als er mit fünfzehn Jahren in die erweiterte Weltelite vordrang.

László Polgár hatte sich von vornherein für ein Experiment entschieden. Er suchte eine kluge Frau, die ihm sechs Kinder gebären sollte, und er wollte jedes dieser Kinder auf einem bestimmten Gebiet zu einem Genie erziehen. Es wurden schließlich nur drei Kinder, alles Mädchen, aber alle wurden ab ihrem vierten Lebensjahr systematisch zu Schachspielerinnen ausgebildet. Später wurden sie von der Schule genommen, spielten acht bis zehn Stunden am Tag Schach und reisten mit ihrem Vater zu Turnieren. Alle drei Mädchen erreichten die Weltspitze bei den Frauen. Die Jüngste, Judit, war der Konkurrenz vollkommen überlegen. Ihr gelang es sogar, in der Weltrangliste der Männer unter die besten Zehn zu kommen. Ein ziemlich ungewöhnliches Experiment, das mit einem aufsehenerregend guten Ergebnis endete.

Damit ein solches Unterfangen gelingt, muss das jeweilige Kind vermutlich bessere Voraussetzungen als andere mitbringen. Beim Beispiel der Polgár-Schwestern darf man ihre Eltern nicht vergessen. Beide verfügten über eine hohe Bildung, und zweifellos lagen ihre Veranlagungen und Fähigkeiten über dem Durchschnitt. Der Vater war Ingenieur, die Mutter ausgebildete Lehrerin. László Polgár war ein leidenschaftlicher Schachspieler mit einer Spielstärke auf dem Niveau Henrik Carlsens.

Allerdings zeigt sich, dass kein Elternteil zwangsläufig eine hohe Elo-Zahl haben muss, damit das Kind ein guter Schachspieler wird. Unter den hundert besten Spielern der Welt gibt es niemanden, dessen Vater oder Mutter den Titel eines Großmeisters errungen hat. Nur ein Spieler hat einen Vater, der Internationaler Meister (IM) ist: der ukrainische Großmeister Pavel Eljanow.

Es gab auch nie einen Weltmeister, dessen Eltern besonders gute Schachspieler waren. Dagegen ist bei Eltern von Weltmeistern sehr häufig ein höheres Bildungsniveau festzustellen. Dies deutet darauf hin, dass es beim Schach – im Gegensatz zu vielen anderen Sportarten – kein Vorteil oder gar eine Voraussetzung ist, dass die Eltern selbst zur Weltspitze zählten. Im Gegenteil, offenbar ist es sogar ein Nachteil, und zwar in dem Sinne, dass die Motivation möglicherweise nachlässt, wenn man es nicht schafft, den eigenen Vater im Schach zu schlagen.

Judit Polgár meint: »Die Entwicklung in den ersten sechs, sieben Jahren der Kindheit ist für einen Schachspieler extrem wichtig. Es ist so gut wie unmöglich, unter die Besten der Welt zu kommen, wenn man als Kind nicht von Anfang an Kreativität und intellektuelle Fähigkeiten beigebracht bekommt. Schach war unsere Muttersprache.« Es gibt keinen wissenschaftlichen Beleg, ob Judit Polgárs Behauptung stimmt. Wahrscheinlich aber schon.

Eine Besonderheit des Polgár-Experiments war, dass es sich bei den Probanden um Mädchen handelte. Man sollte meinen, dass Mädchen und Jungen bei der Geburt die gleichen Voraussetzungen mitbringen. Falls das zutrifft, müssten Mädchen sich genauso gut wie Jungen behaupten. Das ist definitiv nicht der Fall. Judit Polgár ist die einzige Schachspielerin, die sich jemals in der männlichen Weltelite etablieren konnte.

Man muss auf die Schachgeschichte zurückblicken, um die Gründe zu verstehen. Schach war normalerweise ein Spiel für Männer.5 In mehreren Ländern der Erde war Schach verboten. Und wenn es zugelassen wurde, war es oft ausschließlich Männern gestattet. Da Schach als Kriegsspiel bekannt ist, bei dem das erklärte Ziel streng genommen darin besteht, dem Gegner das Leben zu nehmen, ist es keine Überraschung, dass das Spiel lange nur Männern vorbehalten war.

In den letzten zehn Jahren hat die Zahl der Schachspielerinnen immer mehr zugenommen, vor allem junge Frauen zeigen zunehmend Interesse. Trotzdem gibt es nach wie vor eine strikte Trennung von Jungen und Mädchen. Bei Turnieren können Mädchen in der Gruppe der Jungen spielen, aber nicht umgekehrt. Der Grund liegt zum Teil in der Rekrutierung der Schüler. Es ist schwierig, Mädchen zu bewegen, sich an einer Aktivität zu beteiligen, die so von Jungen dominiert wird. Daher wurden eigene Mädchengruppen eingeführt. Doch diese Regeln können sich ändern. Über kurz oder lang werden sie sich sicherlich nicht mehr so behandeln lassen.

Judit Polgár gehört zu den Frauen, die sich weigern, an reinen Frauenturnieren teilzunehmen. Sie ist eine Pionierin unter den Schachspielerinnen – und sie war vor ihrem Karriereende stärker als fast alle Männer auf der Welt.

Magnus’ familiärer Hintergrund

Es gibt genügend Beispiele, dass Kinder erfolgreicher Eltern selbst Erfolg haben. Trifft dies in Magnus Carlsens Fall auch zu? Es ist interessant, sich ein bisschen mit Magnus’ Stammbaum zu beschäftigen. Mit dem Stammbaum eines Kindes kann man kaum etwas beweisen, aber es ist nun einmal so, dass der Weltmeister Magnus Carlsen ein ganz spezielles genetisches Erbe aufweist. Eine kleine Untersuchung der mütterlichen und väterlichen Seite liefert ein paar erstaunliche Informationen. Fangen wir bei der Mutter an.

Mutter Sigrun hat Chemie an der Technisch-Naturwissenschaftlichen Universität von Trondheim studiert, aber nie Schach gespielt. Ihr Lieblingsfach war allerdings immer Mathematik. Sigruns Vater, Sverre Øen, war Elektroingenieur und spielte mit seinen Schulkameraden Schach. Sverre Øen war mit Berit verheiratet, einer Chemikerin. Die Lieblingsfächer von Sigruns Eltern waren die Naturwissenschaften.

Sigruns Großeltern väterlicherseits besuchten keine weiterführende Schule, beide spielten auch nicht Schach. Dies gilt auch für ihre Großeltern mütterlicherseits. Wie viele Norweger in dieser Zeit besaßen sie einen Hof. Sigrun Carlsen beschreibt Magnus’ Urgroßeltern als hart arbeitende Bauern.

Auf der väterlichen Seite stehen uns detailliertere Informationen zur Verfügung, und dabei stößt man auf ein erstaunlich hohes Bildungsniveau, das mehrere Generationen zurückreicht. Henrik Carlsen war ein sehr guter Schüler, vor allem im Fach Mathematik. Er konnte exzellent Kopfrechnen. Als Erwachsener wurde er Ingenieur, sein Interesse an der Mathematik hielt also auch nach der Schule noch an.

Henriks Bruder Fredrik ist Professor für Sozialwirtschaft. Auch er zeigte mathematische Fähigkeiten, die weit über den Durchschnitt hinausgehen. Fredrik kann sich nicht erinnern, dass er im Kopfrechnen so gut war wie Henrik, berichtet aber, er habe in Mathematik immer ausgezeichnete Noten bekommen. Ihre Schwester Birte, Magnus Carlsens Tante, machte in den USA einen Masterabschluss in Mathematik.

Magnus’ Großvater väterlicherseits, Kurt Magnus Carlsen, wuchs in Bergen auf. Er verließ die weiterführende Schule als bester Schüler seines Jahrgangs mit Bestnoten in sämtlichen Fächern. Er studierte ebenfalls an der Technisch-Naturwissenschaftlichen Universität von Trondheim, wurde Diplomingenieur und spezialisierte sich auf Metallurgie. Kurt Magnus Carlsen wurde Leiter von Norsk Hydro Aluminium. Als Henrik Carlsen, lange nachdem der Vater in Rente gegangen war, bei derselben Firma eingestellt wurde, war dies nicht die schlechteste Voraussetzung, wie er erzählt: »Vater war oberster Chef bei Hydro Aluminium, und als ich mich bewarb, erinnerte man sich noch gut an ihn. Mir wurde mir erklärt, er habe die Aluminiumsparte des Unternehmens aufgebaut.«

Kate, Magnus’ Großmutter väterlicherseits, holte als Erwachsene ihr Chemiestudium nach und schloss es in den USA mit Diplom ab. Das Besondere an Kates Familie war, dass sechs von sieben Geschwistern die Universität besuchten. Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg war es höchst ungewöhnlich, dass sämtliche Kinder die Möglichkeit bekamen, ein Universitätsstudium zu absolvieren. Die Geschwister studierten Mathematik, Ingenieurswesen, Geologie, Medizin und Chemie. Eines der Kinder besuchte eine Gärtnerschule, und nur das Mathematikstudium wurde ohne Abschluss beendet.

Henriks Grußmutter väterlicherseits hieß Berta Ølmheim, wuchs in Sogndal auf und heiratete Albert Herman Carlsen. Sie war für ihre Willensstärke bekannt und galt als außerordentlich kluge Frau mit eindeutigen Meinungen. Albert Herman Carlsen hatte eine Halbschwester, die eine begeisterte Leserin war und ein fantastisches Gedächtnis hatte. Es hieß, sie könne sich sogar an die Seitenzahlen der Texte erinnern, die sie gelesen hatte.

Betrachtet man Magnus Carlsens Stammbaum auf der väterlichen Seite, zieht sich das Fach Mathematik wie ein roter Faden durch die Generationen.

Mathematik wird häufig mit Schach in Verbindung gebracht. Sehr viele gute Schachspieler zeigen großes Interesse an einem Studium der Informatik, der Mathematik oder eines anderen Faches, das mathematische Fähigkeiten erfordert. Einige Weltmeister haben auf diesen Zusammenhang explizit hingewiesen.6

Magnus’ drei Schwestern sind ebenfalls mathematisch begabt. Die älteste Schwester Ellen studiert Medizin. Die beiden anderen, Ingrid und Signe, haben auf dem Gymnasium Bestnoten im Fach Mathematik.

Daher ist es schon erstaunlich, dass Magnus Carlsen auf der weiterführenden Schule nicht sonderlich gut in Mathematik war. Allerdings gibt es dafür eine schlichte Erklärung: Schon früh verlor er das Interesse an Mathematik. Dies hing damit zusammen, dass immer öfter Gleichungen mit x oder y und Kurvendiskussionen auf dem Lehrplan standen. Henrik Carlsen ist der Ansicht, dass Magnus bis heute nicht weiß, wofür ein x eigentlich steht. Auf dem Gymnasium, das Magnus wegen zu hoher Fehlzeiten ohne Abschluss verließ, hatte er in Mathematik meist eine Vier, im besten Fall eine Drei.

Dies bedeutet nicht, dass Magnus keine mathematischen Fähigkeiten besäße. Aber Mathematik war ihm zu langweilig, und er verstand nicht, warum er sich in diesem Fach anstrengen sollte.

»Meine Eltern haben mich gedrängt, einen ordentlichen Schulabschluss zu machen. Ich habe aber nie bereut, dass ich das getan habe, was mir am besten gefiel: Schach spielen.«

Man sagt, Schach sei die Verbindung von Rechnen und Harmonie. Musiker können ihre Noten lesen und die Musik hören, ohne dass sie gespielt wird. Auf die gleiche Weise können Schachspieler die Notation von Schachpartien lesen und visualisieren. Nach dem Schachspieler und Musiker François Philidor wurde eine Eröffnung (1. e4 e5 2. Sf3 d6) sowie eine Technik im Turmendspiel benannt – die sogenannte Philidor-Stellung. Er wurde als Komponist bekannt, dessen Werke noch immer gespielt werden, und er war im 18. Jahrhundert lange einer der stärksten Schachspieler der Welt.7

Die Schwestern Gara

Die jüdischen Schwestern Gara sind weit weniger bekannt als die Schwestern Polgár. Auch sie stammen aus Ungarn, doch ihre Geschichte blieb außerhalb ihrer Heimat erstaunlich unbeachtet.8 Anita und ihre Schwester Ticia sind heute Schachprofis, sie spielen von Kindesbeinen an Schach.

Ihr Vater, der heute fast achtzigjährige Imre Gara, ist Arzt, und der Zufall wollte es, dass der Großvater der Polgár-Schwestern in demselben Krankenhaus behandelt wurde, in dem Imre Gara arbeitete. Als László Polgár zu Besuch kam, erzählte er von der Schachkarriere seiner Töchter. Er garantierte, dass die Schwestern Gara, die damals fünf beziehungsweise sechs Jahre alt waren, in die Weltspitze im Schach vordringen würden, wenn sie seinen Plan befolgten. Imre Gara war begeisterter Schachspieler und hatte eine Spielstärke im Bereich von Henrik Carlsen, kein Wunder also, dass er die Idee interessant fand.

Etwa zur gleichen Zeit entdeckte die Leiterin von Ticias Kindergarten eine Besonderheit. Sie war der Ansicht, dass Ticia weit klüger war als die übrigen Kinder, und empfahl den Eltern, einen Psychologen aufzusuchen. Der Psychologe teilte die Ansicht der Kindergärtnerin und schlug vor, Ticia solle anfangen, Schach zu spielen.

Imre Gara hörte das gern. Er und seine Frau trafen eine Entscheidung. Sie wollten Anita und Ticia zu den weltbesten Schachspielerinnen erziehen.

László Polgár entwarf ein Trainingskonzept, das mit dem Plan identisch war, den er für seine Töchter entwickelt hatte. Ein Aktionsplan, der hundertprozentig eingehalten werden sollte. Er erklärte unmissverständlich, dass die gewünschten Resultate nicht erzielt werden könnten, wenn die Vorgaben nicht Punkt für Punkt erfüllt würden. László Polgár begleitete die Erziehung der Schwestern mehrere Jahre lang, er motivierte die Eltern wie auch die beiden Kinder.

Wie sollten aus zwei Kindern im Alter von fünf und sechs Jahren, die zuvor nie eine Schachfigur in der Hand gehabt hatten, die besten Schachspieler der Welt werden? Anita und Ticia waren zu dieser Zeit sportlich sehr aktiv. Die Mädchen spielten Tennis und Tischtennis, gingen in die Tanzschule und schwammen. Im Winter liebten sie es, Ski zu fahren und Schlittschuh zu laufen. Sie spielten mit anderen Kindern. Ticia ging in den Kindergarten, Anita in die erste Klasse. All dies wurde nun komplett auf den Kopf gestellt.

Laut Trainingsplan sollten die Mädchen pro Tag sieben bis acht Stunden Schach spielen oder Schachunterricht bekommen. Daneben hatten sie weiterhin die Gelegenheit zu anderen sportlichen Aktivitäten, aber weit weniger, als sie es gewohnt waren. Ein bisschen Sport war gut, aber nicht zu viel. Filme, Konzerte, Fernsehen, andere Spiele als Schach, Spielen mit anderen Kindern, Lesen oder sich einfach nur unterhalten, all dies waren aus László Polgárs Sicht störende Faktoren.

Für Anita und Ticia wurde eine Regelung gefunden, die sie vom Schulunterricht befreite, allerdings mussten sie jedes Halbjahr eine Prüfung ablegen. Die Eltern unterrichteten sie daheim. Besonderer Wert wurde auf das Erlernen von Sprachen gelegt. Dies war ein Teil von Polgárs Plan.

Sie lernten Esperanto und vor allem Englisch. Allerdings sei es nicht gut, zu viele Sprachen zu lernen. Laut László Polgár würde sich dies negativ auf die Schachentwicklung auswirken. Eine der Polgár-Schwestern, Susan, hatte sieben Sprachen gelernt, und ihr Vater war überzeugt, dass darunter ihre Fähigkeiten im Schach gelitten hatten.

Ein Teil des Plans sah vor, dass die Kinder sehr gute Trainer bekamen, einen Experten für jede Partiephase. »Sehr häufig waren vier, fünf Trainer gleichzeitig bei uns. Wir hatten einen Spezialtrainer für alle Teilbereiche. Einen für Eröffnungen, einen für das Mittelspiel, einen für das Endspiel, einen für Blitzschach und einen für Blindschach.«

Die Eltern wollten ihren Kindern mit Schach zu einem guten Leben verhelfen. Sie sollten Sprachen lernen, viel reisen, durch Turniersiege Geld verdienen, sie sollten es zu Selbstvertrauen und Wohlstand bringen. Das Problem bestand allerdings darin, dass die Eltern Polgárs Programm nicht Punkt für Punkt befolgten. Imre Gara wollte seine Kinder nicht zu reinen Schach-Nerds erziehen. Er wünschte sich, dass sie sich auch auf anderen Gebieten deutlich besser entwickelten, als das Programm vorsah.

Eine Idee Polgárs bestand darin, die Kinder aus ihren natürlichen Aktivitäten herauszureißen, damit sie sich voll und ganz aufs Schachspielen konzentrierten konnten. Dadurch sollten sich Leidenschaft und Besessenheit für die Kunst des Schachspiels entwickeln. In der Konsequenz hätte dies ein asoziales Leben bedeutet.

»Wir folgten Polgárs Methoden nicht sklavisch. Vor allem schätzten wir andere Aktivitäten, die nichts mit Schach zu tun hatten, aber der Alltag bestand schon hauptsächlich darin, Schachspielen zu lernen«, berichtet Anita, die ältere der beiden Schwestern.

Unabhängig von der konkreten Methode ist Disziplin eine der Voraussetzungen, die erfüllt sein muss, wenn man die Weltspitze erreichen möchte – ganz gleich, um welche Sportart oder Aktivität es geht. Schach ist da keine Ausnahme. Die Russin Alexandra Kostenjuk, ehemalige Gewinnerin der Frauen-Weltmeisterschaft, berichtete, dass sie ihr Weltklasseniveau nicht dauerhaft halten konnte: »Weitermachen hätte für mich und Judit Polgár bedeutet, in einem Gefängnis zu sitzen. Man muss sich zehn oder zwölf Stunden pro Tag ins Schach vergraben, und ein solches Leben will ich nicht führen.«

Die Schwestern Gara wurden zu einem solchen Leben erzogen. Sie sind mehr oder weniger schon ihr ganzes Leben lang Schachprofis. Beide errangen mehrere ungarische Meistertitel, in einigen Altersklassen haben sie auch bei Weltmeisterschaften Medaillen gewonnen. Anita hatte als Neunzehnjährige eine Elo-Zahl von 2365, ihr höchstes Rating betrug bisher 2405. Ticia erreichte mit siebzehn Jahren 2381 Elo-Punkte, das ist bis heute ihre höchste Notierung.

Wenn sie Kinder bekommen, wollen die beiden Schwestern sie genauso erziehen, wie sie aufgewachsen sind.

Die Welt entdeckt den Mozart des Schachs

»Es gab einen Ort, von dem ich sagen kann, dass ich dort nichts lernte. Die Schule.«Jens Bjørneboe

Der am 30. November 1990 in Tønsberg im Süden Norwegens geborene Magnus Carlsen war zwölf Jahre alt, als er den Titel eines Internationalen Meisters (IM) errang. Er war damals der jüngste IM und sein Ziel war eindeutig, Großmeister (GM) zu werden. Unter Schachspielern ist dieser Titel von großer Bedeutung. Norwegen hatte 2015 elf Großmeister, und einige von ihnen hatten mehrere Jahre gebraucht, bis ihnen der Titel verliehen wurde.

Zum ersten Mal Vollprofi9

Im Jahr 2003 entschied sich die Familie Carlsen, eines ihrer Autos zu verkaufen, ihr Haus zu vermieten und die Kinder von der Schule zu nehmen. Sie wollten kreuz und quer durch Europa reisen. Ein Sabbatjahr für die ganze Familie, ein anstrengendes, aber erfolgreiches Jahr für Magnus. Zum ersten Mal trat er als professioneller Schachspieler auf. Allerdings wird eine solche Vorgehensweise in Norwegen nicht sonderlich gern gesehen. Man darf in einer Disziplin ruhig zu einem Könner werden, doch sollte man die Regeln des Systems nicht überstrapazieren. Umgekehrt musste ein ganzes Jahr schulfrei nicht zwangsläufig bedeuten, dass die Kinder weniger lernten. Im Gegenteil. Ziel der Eltern war es, dass die Kinder sich mindestens weiter so entwickelten wie in einem normalen Schuljahr.

Ein alter sechssitziger Transporter, ein Hyundai Van, sollte die Familie Carlsen durch ganz Europa transportieren – von einem Schachturnier zum nächsten. »Von Hunderten Leuten haben wir eine Menge Ratschläge bekommen, wie Magnus trainieren soll, um ein noch besserer Schachspieler zu werden. Sie alle wussten ganz genau, was für Magnus am besten ist«, so Henrik Carlsen.

Mitte August 2003, kurz vor Schulbeginn, ging es los. Mit dem Transporter voller Gepäck verließ die Familie Carlsen Oslo in Richtung Österreich. Die Kinder nannten das Auto einfach den »Kasten«, alle freuten sich auf die Reise. Natürlich gefiel ihnen der Gedanke, ein ganzes Jahr nicht zur Schule gehen zu müssen.

Am 23. August 2003 begann Magnus’ erstes Turnier auf der Reise, das Schwarzacher Open in Österreich. Er spielte sehr stark und hätte fast seine erste Großmeisternorm errungen. Das heißt, er gewann gegen mehrere wesentlich höher eingestufte Gegner. Ein vielversprechender Start in das Schachjahr.

Das nächste Reiseziel war Budva in Montenegro. Hier fanden die Jugend-Europameisterschaften statt. Die Carlsens fuhren über die Alpen, durch Italien und Kroatien. In den Tagen vor der Jugend-Europameisterschaft bestand ihr Alltag darin, historische Stätten zu besuchen, zu baden und Spaß zu haben. Allerdings war von vornherein festgelegt, dass die Kinder täglich eine Stunde mit Schularbeiten verbrachten. Im Großen und Ganzen wurde diese Vereinbarung eingehalten.

Bei der Europameisterschaft führte Magnus nach sieben Runden souverän mit 6,5 Punkten. In den letzten zwei Partien war er jeweils klarer Favorit, brachte es aber fertig, beide zu verlieren. Er erreichte den dritten Platz in der Gruppe der Jungen unter vierzehn Jahren. »Es war verdammt ärgerlich, dass ich kein Gold geholt habe«, erklärte er später, »aber der Frust ging schnell vorbei.«

Schon bald gab es neue Möglichkeiten. Sechs Tage nach der Europameisterschaft kam das nächste Turnier, der Europacup der Vereinsmannschaften. Austragungsort war Kreta. Für die anderen Familienmitglieder war die Insel der perfekte Urlaubsort. Meer und Sonne, und überall gab es antike Stätten wie die über zweitausend Jahre alten Ruinen des Palastes von Knossos zu besichtigen. Alle Kinder mussten einen Aufsatz über den Palast schreiben, auch Magnus.

Norwegen hatte nie eine Mannschaft entsandt, die auch nur in die Nähe einer Spitzenplatzierung gekommen wäre. Bis dahin hatten die Osteuropäer die Ergebnislisten souverän dominiert. Magnus sollte für Asker antreten, einen Vorort von Oslo, und er bekam die Möglichkeit, am ersten Brett zu spielen. Dort sitzt der stärkste Spieler einer Mannschaft. Erneut erhielt der zwölf Jahre alte Junge die Chance, seine erste Großmeisternorm zu erringen.

Leider erkrankte Magnus direkt vor dem Turnier an einem Magenvirus. In Budva waren mehrere Spieler krank gewesen und hatten Magnus angesteckt. Während der gesamten Reise hatte er schlapp und kränklich hinten im »Kasten« gelegen. Als die Familie Carlsen auf Kreta ankam, war noch keine wesentliche Besserung eingetreten, »doch ich hatte mich so darauf gefreut zu spielen. Ich glaube, dadurch wurde ich gesund«, so Magnus.