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Märchen galten lange als 'bloße' Märchen, biblische Geschichten dagegen als direkte göttliche Wahrheit. Schauen wir näher hin, stimmt beides nicht. Volksmärchen sind gewordene und geformte Geschichten, die kollektive Überzeugungen und Wahrheiten tradieren. Biblische Erzählungen haben ebenfalls einen jahrhundertelangen Prozess hinter sich und sind der spirituelle Schatz einer Gemeinschaft, eines Volkes. Beide sprechen eine verschiedene Sprache, aber sie haben gemeinsame gewachsene Überzeugungen und spiegeln grundlegende Erfahrungen der Menschheit wieder. Das Buch bietet 2 x 12 Geschichten aus Volksmärchen und Bibel mit Bildern und je einer kurzen Betrachtung. Sie geben uns keine direkten Antworten auf die großen Themen, die wir in unserer Zeit bewegen. Aber sie zeigen die Richtung. Ob Schutz der Natur oder Grenzen des Wachstums, ob Armut und Reichtum, Toleranz und Barmherzigkeit oder Schuld und Gerechtigkeit – vieles ist ihnen gar nicht fremd. Wir finden in ihnen manche unserer Hoffnungen und Befürchtungen. Es gibt, so sagen sie übereinstimmend, Mittel und Wege, mit denen man auch große Dinge angehen kann. Es gibt aber auch Mittel und Wege, die man besser lassen sollte.
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Seitenzahl: 145
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Märchen und biblische Geschichten
im Gespräch über große Themen der Menschheit
Jürgen Wagner
Impressum
Copyright: © 2015 Jürgen Wagner
Druck und Verlag: epubli
GmbH, Berlin, www.epubli.de
Titelbild: Marc Chagall
Einstimmung und Vorwort: Der Steinhauer
1. Die Himmlischen
Der Gottessohn
Der Korb mit den wunderbaren Sachen
2. Immer mehr, immer höher, immer größer
Der Turmbau zu Babel
Vom Fischer un siiner Frau
3. Die Katastrophe
Die Sintflut
Das große Wasser
4. Aufbruch ins Unbekannte
Abraham
Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen
5. Wie es zur Verfehlung kommt
Jakob und Esau
Das Märchen von der Unke
6. Gerettet werden
Die Geburt des Mose und seine Errettung
Die verstoßene Königin und ihre beiden ausgesetzten Kinder
7. Finden, was man nie gesucht hatte
Saul sucht die Eselinnen und findet das Königtum
Wie eine Waise unverhofft ihr Glück fand
8. Der Engel
Tobias
Die Reise zur Sonne
9. Armut
Das Opfer der Witwe
Das Töpflein mit dem Hulle- Bulle- Bäuchlein
10. Von der Klugheit
Das Gleichnis vom anvertrauten Geld
Der kluge Knecht
11. Vom Dienen
Der Knecht
Die Holundermutter
12. Barmherzigkeit
Jesus und die Ehebrecherin
Die Bienenkönigin
Anhang
Es war einmal ein Steinhauer, der ging täglich zu einem hohen Felsen und brach Steine aus ihm. Diese verkaufte er als Grabsteine und Hausschwellen. Und da er seine Arbeit verstand und die Steine stets sehr sorgsam bearbeitet waren, fand er auch immer Abnehmer dafür. Freilich war sein Verdienst gering und seine Last groß, aber er war lange Zeit zufrieden und wünschte nichts mehr.
Es ging die Sage, dass da, wo er arbeitete, ein großer Berggeist hause, der manchmal den Menschen erschiene und ihnen zu ihrem Fortkommen behilflich wäre; doch hatte er noch nichts von dem Berggeiste entdeckt und schüttelte stets ungläubig den Kopf, wenn von demselben die Rede war.
Einstmals aber, als der Steinhauer bei einem reichen Manne einen Grabstein abgeliefert und gesehen hatte, wie schön dieser wohnte und auf was für einem kostbaren Bette der schlief, da rief er bei seiner sauren Arbeit, die ihm den Schweiß auf die Stirne trieb: »O, wäre ich doch ein reicher Mann, dann bräuchte ich mich nicht so zu plagen und könnte auch auf einem Bett mit rotseidenen Vorhängen und goldenen Quasten schlafen!«
Kaum hatte er die Worte gesprochen, so ertönte eine Stimme durch die Lüfte, welche ihm zurief: »Dein Wunsch ist dir gewährt, du sollst ein reicher Mann sein!«
Verwundert blickte der Steinhauer um sich; doch da er niemand gewahrte, nahm er sein Werkzeug und ging heim, denn er beschloss, für heute die Arbeit ruhen zu lassen. Als er zu Hause angelangt war, da staunte er aber erst recht, denn statt seiner kleinen Hütte fand er ein schönes, stattliches Haus mit einer herrlichen Einrichtung, bei welcher auch das gewünschte Bett nicht fehlte. Erfreut nahm er von allem Besitz, vergaß sehr bald sein mühevolles Gewerbe und ließ es sich gut gehen.
Doch eines Tages, als die Sonne vom Himmel brannte und es so heiß war, dass er nicht hinauszugehen wagte, da sah er einen stattlichen Zug von Menschen an seinem Hause vorüberziehen. Zwischen herrlichen Rittern hielten schön geputzte Diener einen Tragkorb, in dem ein Fürst saß, der sich einen goldschillernden Schirm über das Haupt halten ließ, um ihn vor der Sonne zu schützen. Missvergnügt blickte der ehemalige Steinhauer dem Zuge nach, und als er seinen Augen entschwunden war, rief er: »O, wäre ich doch ein Fürst, dann könnte ich mich auch so tragen lassen und hätte einen goldenen Schirm, der mich vor den Strahlen der Sonne schützte!«
Und als er die Worte gesprochen, da ertönte abermals die Stimme des Berggeistes: »Dein Wunsch sei erfüllt, du sollst Fürst sein!«
Und nun war er Fürst. Vor seinem Tragkorb ritten viele Reiter einher und ebenso viele folgten ihm, er hatte Ehre, Glanz und Reichtum vollauf, kurz alles, was er sich wünschte, und natürlich auch den goldenen Schirm, mit dem er sich schützte. Dennoch war er nicht zufrieden; stets blickte er umher und suchte herauszufinden, womit er seine Lage noch angenehmer machen könnte. Als er sah, wie die mächtige Sonne alles ringsumher verbrannte, als er sah, dass in ihren Strahlen das Gras verdorrte und sein Gesicht trotz des goldenen Schirmes von der Sonnenhitze immer stärker gebräunt wurde, da gefiel ihm sein Leben nicht mehr. Ärgerlich rief er: »Die Sonne ist mächtiger als ich; ich möchte die Sonne sein!«
Abermals rief der Berggeist: »Dein Wunsch sei dir gewährt, du sollst die Sonne sein!«
Und da war er die Sonne und fühlte sich sehr stolz in seiner Macht. Er sandte seine Strahlen nach oben und unten, nach rechts und links, er versengte das Gras auf der Erde und verbrannte die Haut den Fürsten so gut wie allen anderen Leuten. Doch als er seine Lust gekühlt hatte, da fing er schon an, seiner Macht überdrüssig zu werden, und als eine Wolke kam und sich schützend zwischen die Erde und ihn stellte, da rief er voll Zorn: »Was ist denn das? Die Wolke fängt alle meine Strahlen auf, sie ist ja mächtiger als ich! Das geht nicht an, ich will die größte Macht besitzen und möchte die Wolke sein!«
Und wie er diesen Wunsch ausgesprochen, da ertönte abermals die Stimme des großen Berggeistes: »Dein Wunsch sei dir gewährt, du sollst die Wolke sein!«
Und nun war er die Wolke und legte sich zwischen Sonne und Erde. Er fing die sengenden Strahlen der Sonne auf und sah zu seiner Freude, wie die ganze Erde grünte und blühte; doch das war ihm nicht genug, er wollte so recht seine große Macht zeigen, und deshalb sandte er den Regen in großen, schweren Tropfen hinab, tage- und wochenlang. Da schwollen die Ströme und Flüsse gewaltig, die Dämme und Deiche brachen und alle Felder wurden verwüstet. Die Wogen rissen alles mit sich fort, was sich ihnen in den Weg stellte. Nur der Fels blieb ruhig stehen und blickte spöttisch auf die entfesselten Fluten. Ihn kümmerte all der Wirrwarr nicht, und nicht ein Stückchen des harten Gesteins konnte das wütende Element ihm rauben.
Da rief die Wolke voller Staunen: »Was ist denn das? Der Fels ist stärker als ich? Niemand soll mächtiger sein als ich, und deshalb möchte ich wohl der Fels sein!«
Kaum hatte er diesen Wunsch ausgesprochen, so rief der Berggeist: »Was du dir wünschst, sei dir gewährt, du sollst der Fels sein!«
Nun wurde er der Fels und freute sich seiner Macht. Stolz stand er da, wenn die Sonne heißglühend vom Himmel strahlte und wenn der Regen herabfiel. Ihn kümmerten die Elemente nicht; stark und fest war er mit der Erde verwachsen. Doch eines Tages hörte er ein merkwürdiges Geräusch zu seinen Füßen, und als er nach der Ursache forschte, sah er einen unscheinbaren Steinhauer, der eiserne Keile in sein Gestein eintrieb und große Klüfte davon loslöste, die donnernd zur Erde fielen. Als er dies sah, da wurde er sehr entrüstet und rief aus: »Was ist denn das? So ein kleines Menschenkind ist mächtiger als ich, der starke Felsen? Das geht nicht an, da will ich lieber der Mann sein!«
Und als die Stimme des großen Berggeistes wiederum ertönte und ihm verkündete, dass sein Wunsch erfüllt werden sollte, da war er der arme Steinhauer von ehedem. Im Schweiße seines Angesichts verdiente er sich sein kärgliches Brot, aber er war damit zufrieden und wünschte sich niemals wieder eine andere Stellung als die, welche er seit früher Jugend gehabt hatte. Und da er keine vermessenen Wünsche mehr hegte und vom Schicksal nichts weiter forderte, so hörte er auch nie wieder die Stimme des großen Berggeistes.1
***
Märchen können unterhaltsam, sie können aber auch weisheitlich, geradezu spirituell sein. In diesem japanischen Eingangsmärchen kommt beides zusammen. Das Märchen spricht vom Weg des Menschen, wohin er eigentlich muss: wir sollten letztlich bei uns selber ankommen und uns selbst und unser Los annehmen können. So könnten wir glücklich und zufrieden werden, nicht so, dass wir immer mehr wollen und immer höher hinaus. Auch in dem deutschen Parallelmärchen «Von dem Fischer und syner Fru»2 enden die Hauptpersonen dort, wo sie begannen. Doch während der Grössenwahn hierzulande im Sturm endet und Mann und Frau wieder in ihrem Elend sitzen, kennt die Weisheit Asiens die Gelassenheit: dass man die Dinge sein lässt, wie sie sind – und darin Frieden findet. Das ist kein Sich-arrangieren nur mit dem Unabänderlichen, es ist ein langer Weg, in dem man vieles erfährt und ausprobiert – um am Ende noch einmal sich selbst und sein Geschick aus einer Distanz zu sehen und zu erleben. Wer in der Ferne war, kann das Zuhause wirklich schätzen und ehren. Sonst ist es einfach das Gewohnte und Vertraute, das, was einem manchmal lieb ist – und manchmal verhasst.
‚Biblische Geschichten sind doch keine Märchen!‘ – hört man hier und dort. Nein, das sind sie nicht. Aber beide sind einander nicht so fern und nicht so fremd, wie es uns traditionell erscheint. Sie haben eine verschiedene Sprache, eine unterschiedliche Tradition, aber viele gemeinsame Anliegen. Sie ergänzen sich und sie kontrastieren sich. Und: sie haben uns etwas zu sagen, gerade zu den Dingen, die uns als Menschen zutiefst beschäftigen.
Wir stellen hier einige Geschichten aus der Bibel und der Märchenweisheit zusammen, so, dass der Leser selbst auf Entdeckungsreise gehen mag. Am Ende der Gegenüberstellungen regt eine kleine Betrachtung den Leser zu eigenen Gedanken an. Die biblischen Texte sind in der Regel nach der Einheitsübersetzung zitiert (Lk 17 ist nach Luthers Übersetzung verändert).
Fragen wir heute nach den großen Themen der Menschheit, denken wir an Schutz der Natur, Krieg und Frieden, Gerechtigkeit, Ökonomie und Ökologie, Globalisierung, Bevölkerungswachstum, Begegnung der Kulturen und Religionen, Werte und Menschenrechte, Möglichkeiten und Grenzen des Wachstums und Fortschritts. Das sind weder die Themen der Märchen noch der biblischen Geschichten. Und doch sprechen diese an, was wir dazu brauchen, wenn wir diese Aufgaben bewältigen wollen. Wer die Wesen schützt wie der Dummling in der ‚Bienenkönigin‘ (Kap 12), wer auf die Zeichen und Mahnungen der Natur/Gottheit hört und sein Leben entsprechend ausrichtet (Kap 3), wer mit der Angst umzugehen weiß (Kap 12), wer Barmherzigkeit und Gerechtigkeit walten lässt wie Jesus gegenüber einer ertappten und verurteilten Frau, kann auch in unserer Welt heute Akzente setzen und etwas bewegen.
Die Geschichten sprechen an, dass man seiner inneren Wahrheit folgen soll wie der kluge Knecht (Kap 10), wie man Verfehlungen vermeidet oder daraus hervorgehen kann (Kap 5), dass man bereit sein möge zu Aufbruch und Reise (Kap 12), dass man verantwortungsvoll mit seinen Gaben umgehen soll (Kap 10). Man ist oft auf äußere Hilfe angewiesen und soll diese auch annehmen (Kap 8). Die Gefahren grenzenlosen Wachstums und Begehrlichkeiten waren auch schon früher bekannt (Kap 3). Das Buch beginnt in Kap 1 mit dem grundlegenden Thema der Begegnung von Himmel und Erde: da erscheinen die himmlischen Gaben, ja Himmlisches selbst. Hier scheint unsere Sehnsucht ans Ziel zu kommen – und doch werden wir das nie festhalten können – es muss wieder gelassen werden. Die Mysterien müssen Geheimnis bleiben und dürfen nicht ins Gerede oder ins Profane gezogen werden. Liebe und Begehren kann Großes hervorbringen, aber auch schnell den Untergang einleiten. Gleich wie schwierig und aussichtslos eine Lage sein mag. Märchen und Bibel geben immer Hoffnung, machen Mut, dass Rettung möglich ist (Kap 6).
Die Erzählungen können nie sagen, wie unsere heutigen Probleme zu lösen sind, beispielsweise das der Armut. Aber sie zeigen Personen, die arm sind als positives oder negatives Beispiel (Kap 9). Und sie mahnen, dass Bosheit und ‚Falschheit‘ schon bestraft wird (Kap 6,9) und tunlichst vermieden werden sollte.
Was von uns Menschen verlangt ist, ist meist weniger als wir denken und mehr als wir tun (Kap 11). Damit mag dieser erzählerische Kreis sich schließen und wir mit Neugier auf diese alten und manchmal auch neuen Geschichten hören. Märchen und Bibel sprechen eine verschiedene Sprache, aber sie sind zwei Spiegel, zwei Gesichter einer menschlichen Vision zu leben.
Ein Aussätziger kam zu Jesus und bat ihn um Hilfe; er fiel vor ihm auf die Knie: Wenn du willst, kannst du mich rein machen. Jesus hatte Mitleid mit ihm; er streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will - werde rein! Sogleich verschwand der Aussatz und der Mann war rein. Jesus schickte ihn weg, wies ihn streng an: Sieh, dass du niemandem etwas sagst, sondern geh, zeig dich dem Priester und bring für deine Reinigung dar, was Mose festgesetzt hat - ihnen zum Zeugnis.
Der Mann aber ging weg und verkündete bei jeder Gelegenheit, was geschehen war; er verbreitete die Geschichte, sodass sich Jesus in keiner Stadt mehr zeigen konnte; er hielt sich nur noch an einsamen Orten auf. Dennoch kamen die Leute von überallher zu ihm (Markus 1/40-45).
Er war in der Welt, aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf. Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit (Johannes 1/10ff).
Es war einmal ein Mann, der hatte eine wunderbare Rinderherde. Alle Tiere trugen ein schwarzweißes Fell; das war geheimnisvoll wie die Nacht. Der Mann liebte seine Kühe und führte sie immer auf die besten Weiden. Wenn er abends die Tiere beobachtete, wie sie zufrieden waren und wiederkäuten, dachte er: „Morgen früh werden sie viel Milch geben!“ Eines Morgens jedoch, als er seine Kühe melken wollte, waren die Euter schlaff und leer. Er glaubte, es habe an Futter gefehlt, und führte seine Herde am nächsten Tag auf saftigen Weidegrund. Er sah, wie die Kühe sich satt fraßen und zufrieden waren, aber am folgenden Morgen hingen die Euter wieder schlaff und leer. Da trieb er sie nochmals auf eine neue Weide, doch auch diesmal gaben sie keine Milch. Jetzt legte er sich auf die Lauer und beobachtete das Vieh. Als um Mitternacht der Mond weiß am Himmel stand, sah er, wie sich eine Strickleiter von den Sternen heruntersenkte. Auf ihr schwebten sanft und weich junge Frauen aus dem Himmelsvolk herab. Sie waren schön und fröhlich, lachten einander leise zu und gingen zu den Kühen, um sie leer zu melken. Als der Hirt das sah, sprang er auf und wollte sie fangen. Die Frauen aber stoben auseinander und flohen zum Himmel hinauf. Es gelang ihm aber, eine von ihnen festzuhalten, die allerschönste. Er behielt sie bei sich und machte sie zu seiner Frau.
Täglich ging von da an seine Frau auf die Felder, während er weiterhin das Vieh hütete. Die gemeinsame Arbeit machte sie reich, und er dünkte sich glücklich. Eines aber quälte ihn: als er seine Frau eingefangen hatte, trug sie einen Korb bei sich. „Niemals darfst du da hineinschauen!“ hatte sie gesagt. „Wenn du es dennoch tust, wird uns beide großes Unglück treffen.“
Nach einiger Zeit vergaß der Mann sein Versprechen. Als seine Frau heimkehrte, wusste sie sofort was geschehen war. Sie schaute ihn an und sagte weinend: „Du hast in den Korb geschaut!“ Der Mann aber lachte nur und sagte: „Du dummes Weib, was soll das Geheimnis um diesen Korb? Da ist ja gar nichts drin!“ Aber noch während er dies sagte, wendete sie sich von ihm ab, ging in den Sonnenuntergang und ward auf Erden nie wieder gesehen. Und wisst ihr, warum sie wegging? Sie ging nicht, weil er sein Versprechen gebrochen hatte; sie ging, weil er die schönen Sachen, die sie für ihr beider Leben vom Himmel mitgebracht hatte, nicht sehen konnte und darüber sogar noch lachte.3
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Wenn Himmel und Erde zusammen wirken, kann etwas Großes geschehen. In der Natur ist es das Hervorkommen und Wachsen der Pflanzen, wenn es geregnet hat. Im Mythos sind es die Himmlischen, die die Menschen besuchen. Das kann eine Prüfung sein, ein Segen, eine Heimsuchung. Das kann durch einen Engel geschehen oder einen Gott oder, wie bei Philemon und Baucis, auch durch mehrere Götter. Meist ist der Segen an Bedingungen geknüpft. Die Menschen dürfen das göttliche Geheimnis nicht verletzen. Sie müssen das aushalten, dass sie nicht alles wissen, sehen oder bereden dürfen. Sie dürfen das Geschenk annehmen und in sich bewahren. Begehrlichkeiten aber machen alles wieder zunichte. Die Gier, und sei es nur die Neu-gier, ist ein grundmenschliches Problem, woran man arbeiten und wo man sich lösen muss. Darin sind sich Religion, Sage und Märchen an vielen Stellen einig.