Märchen und Mystik - Jürgen Wagner - E-Book

Märchen und Mystik E-Book

Jürgen Wagner

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Beschreibung

Dieses Buch möchte zeigen, wie tief der Märchenbrunnen sein kann – und wie hoch die Märchenweisheit. Mystische Momente des Selbstvergessenheit, des Losgelöstseins , des inneren Friedens und Glücks gibt es im Alltag. Und es gibt sie auch in den Volksmärchen. Es ist nicht nur Magie, was sie antreibt, es sind auch spirituelle Erkenntnisse, die in sie eingeflossen sind: -wer sich hingibt, der empfängt -dem Einfältigen ('Dummling') wird es gelingen (Mt 5/3) -die Liebe kann erlösen -Hochmut und Haben-wollen sind unser Verderben -Schweigen muss man lernen und einhalten -Das Leben ist manchmal paradox und kann rational nicht bewältigt werden 12 Märchenbeispiele aus aller Welt zeigen, dass und wie mystische Momente zu unserem Leben gehören, die nicht immer moralisch astrein, nicht immer rational schlüssig, nicht immer ganz erklärbar sind, aber immer erlösend und verbindend.

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Seitenzahl: 92

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Märchen und Mystik

Der große Weg

Jürgen Wagner

Impressum

Copyright: © 2025 Jürgen Wagner

Druck und Verlag: epubli

GmbH, Berlin, www.epubli.de

INHALTSVERZEICHNIS

Die weiße Taube

Vorwort

1. Reinheit des Herzens und des Geistes – Die goldene Gans

2. Die Suche – Das Wasser des Lebens

3. Blindheit – Der Korb mit den wunderbaren Sachen

4. Schweigen – Die Prinzessin, die keiner zum Schweigen bringen konnte

5. Liebe – Die blaue Rose

6. Nichts – Die Sterntaler

7. Erlösung - Die Alte im Wald

8. Was von uns gefordert ist – Frau Holle

9. Die Schwere des Weges - Die Gänsehirtin am Brunnen

Nachwort

Anhang

Die weiße Taube

Vor eines Königs Palast stand ein prächtiger Birnbaum, der trug jedes Jahr die schönsten Früchte, aber wenn sie reif waren, wurden sie in einer Nacht alle geholt, und kein Mensch wusste, wer es getan hatte. Der König aber hatte drei Söhne, davon ward der jüngste für einfältig gehalten, und hieß der Dummling.

Da befahl er dem ältesten, er solle ein Jahr lang alle Nacht unter dem Birnbaum wachen, damit der Dieb einmal entdeckt werde. Der tat das auch und wachte alle Nacht, der Baum blühte und war ganz voll von Früchten, und wie sie anfingen reif zu werden, wachte er noch fleißiger, und endlich waren sie ganz reif und sollten am andern Tage abgebrochen werden; in der letzten Nacht aber überfiel ihn ein Schlaf und er schlief ein, und wie er aufwachte, waren alle Früchte fort, und nur die Blätter noch übrig.

Da befahl der König dem zweiten Sohn ein Jahr zu wachen, dem ging es nicht besser, als dem ersten; in der letzten Nacht konnte er sich des Schlafes gar nicht erwehren, und am Morgen waren die Birnen alle abgebrochen.

Endlich befahl der König dem Dummling ein Jahr zu wachen, darüber lachten alle, die an des Königs Hof waren. Der Dummling aber wachte, und in der letzten Nacht wehrte er sich den Schlaf ab, da sah er, wie eine weiße Taube geflogen kam, eine Birne nach der andern abpickte und fort trug. Und als sie mit der letzten fortflog, stand der Dummling auf und ging ihr nach.

Die Taube flog aber auf einen hohen Berg und verschwand auf einmal in einem Felsenritz. Der Dummling sah sich um, da stand ein kleines graues Männchen neben ihm, zu dem sprach er: »Gott segne dich!« »Gott hat mich gesegnet in diesem Augenblick durch diese deine Worte«, antwortete das Männchen, »denn sie haben mich erlöst, steig du in den Felsen hinab, da wirst du dein Glück finden.«

Der Dummling trat in den Felsen, viele Stufen führten ihn hinunter, und wie er unten hinkam, sah er die Weiße Taube ganz von Spinnweben umstrickt und zugewebt. Wie sie ihn aber erblickte, brach sie hindurch, und als sie den letzten Faden zerrissen, stand eine schöne Prinzessin vor ihm, die hatte er auch erlöst, und sie ward seine Gemahlin und er ein reicher König, und regierte sein Land mit Weisheit.

Märchen der Brüder Grimm

VORWORT

Die Sehnsucht nach Erlösung ist sicher eine der tiefsten in der Menschheit. Und einer der Gründe, warum Märchen erzählt werden, warum es spirituelle Wege gibt, warum es auch so mühevolle Wege wie die Mystik gibt. Volksweisheit und Religion haben vermutlich doch mehr gemeinsam, als das auf den ersten Blick erscheint. Beide bieten Wege und Lösungen an, die nicht immer so weit voneinander entfernt sind: ein einziges Segenswort, eine einzige Begegnung kann, wie unser Eingangsmärchen zeigt, die Erlösung bewirken. Aber ohne Selbst-überwindung und einen ‚Weg in die Tiefe‘ wird es, wie das Märchen wunderbar schildert, kaum gehen.

Dieses Buch stellt im Folgenden weitere 9 Märchen vor, die mit einer kurzen Auslegung versehen transparent werden für Tiefendimensionen, die man ‚mystisch‘ nennen kann. Ein leerer Korb mit wunderbaren Sachen (Kap 3), das Wasser des Lebens (Kap 2), mit nichts dastehen (Sterntaler Kap 6) gefangen im Spinnennetz und die Befreiung (die weiße Taube), der Durchbruch zum Stillsein-können (Kap 4), das ‚Koan‘ einer ‚‘blauen Rose‘ (Kap 5), was das Leben in Wahrheit von uns verlangt (Frau Holle Kap 8), der reine Geist (Kap 1), die Verführung des kostbaren Geschmeides und die erlösende Kraft des schlichten Ringes (Kap 7), die weise Lehrerin, Prophetin und Behüterin (Kap 9).

Kurze mystische Texte lassen die Bezüge aufleuchten und stellen vielleicht das eine oder andere Märchen noch einmal in ein anderes Licht, als wir es gewohnt sind.

Mystik (wohl von griech. μύειν die Augen oder Lippen schließen) ist im Kern eine Erfahrung von tiefer Versenkung, auch spontaner Einheit. Ein Gefühl völliger Gelöstheit, eine Erfahrung, mit allem eins zu sein. Sie mündet in einen alltäglichen Weg des natürlichen Einklangs, ist aber zunächst ein geistiger Weg hoher Bewusstheit. In vielen Kulturen und Religionen ist sie ein spiritueller innerer Weg, der in die Stille führt und erhofftermaßen zu eben diesen Erfahrungen von Tiefe und Frieden, von Freiheit und Einheit.

„Es war einmal – es wird wieder sein“ – Volksmärchen sind alte und doch zeitlose Erzählungen. In ihrer Bilder- und Symbolsprache schildern sie geheimnisvoll und dramatisch das Lebensschicksal und den Lebensweg in einer Weise, die dem Hörer zu Herzen geht. Die Märchen erreichen ebenfalls eine Tiefe jenseits des Verstandesdenkens, so, dass er es nicht weiß, aber sich danach ausrichten mag und kann. Sie zeigen ihm dabei ungeahnte Lösungswege auf. Deshalb lohnt es sich, gleichsam in den ‚Brunnen‘ hinabzusteigen und einmal behutsam auszuloten, wohinein sie sprechen oder sprechen können.

Man kann Märchen ebenso wie biblische Geschichten auf mehreren Ebenen lesen oder hören: auf der Erzählebene, auf der symbolischen Ebene, auf der psychologischen Ebene – z.B. Nicht alle, aber manche Geschichten können uns sehr tief und innerlich berühren. Und manchmal erahnt man etwas vom Tao, vom großen Weg.

1. Reinheit des Herzens und des Geistes

Die goldene Gans

Es war ein Mann, der hatte drei Söhne, davon hieß der jüngste der Dummling und wurde verachtet und verspottet und bei jeder Gelegenheit zurückgesetzt. Es geschah, dass der älteste in den Wald gehen wollte, Holz hauen, und eh' er ging, gab ihm noch seine Mutter einen schönen feinen Eierkuchen und eine Flasche Wein mit, damit er nicht Hunger und Durst litte. Als er in den Wald kam, begegnete ihm ein altes, graues Männlein, das bot ihm einen guten Tag und sprach: "Gib mir doch ein Stück Kuchen aus deiner Tasche und lass mich einen Schluck von deinem Wein trinken ! Ich bin so hungrig und durstig." Der kluge Sohn aber antwortete: "Geb ich dir meinen Kuchen und meinen Wein, so hab ich selber nichts, pack dich deiner Wege !" ließ das Männlein stehen und ging fort. Als er nun anfing, einen Baum zu behauen, dauerte es nicht lange, so hieb er fehl, und die Axt fuhr ihm in den Arm, dass er musste heimgehen und sich verbinden lassen. Das war aber von dem grauen Männchen gekommen. Darauf ging der zweite Sohn in den Wald, und die Mutter gab ihm, wie dem ältesten, einen Eierkuchen und eine Flasche Wein. Dem begegnete gleichfalls das alte, graue Männchen und hielt um ein Stückchen Kuchen und einen Trunk Wein an. Aber der zweite Sohn sprach auch ganz verständig: "Was ich dir gebe, das geht mir selber ab, pack dich deiner Wege !" ließ das Männlein stehen und ging fort. Die Strafe blieb nicht aus, als er ein paar Hiebe am Baum getan, hieb er sich ins Bein, dass er musste nach Haus getragen werden.

Da sagte der Dummling: "Vater, lass mich einmal hinausgehen und Holz hauen !" Antwortete der Vater: "Deine Brüder haben sich Schaden dabei getan, lass dich davon, du verstehst nichts davon." Der Dummling aber bat so lange, bis er endlich sagte: "Geh nur hin, durch Schaden wirst du klug werden." Die Mutter gab ihm einen Kuchen, der war mit Wasser in der Asche gebacken, und dazu eine Flasche saures Bier. Als er in den Wald kam, begegnete ihm gleichfalls das alte, graue Männchen, grüßte ihn und sprach: "Gib mir ein Stück von deinem Kuchen und einen Trunk aus deiner Flasche, ich bin so hungrig und durstig." Antwortet der Dummling: " Ich habe nur Aschenkuchen und saures Bier, wenn dir das recht ist, so wollen wir uns setzen und essen." Da setzten sie sich, und als der Dummling seinen Aschenkuchen herausholte, so war's ein feiner Eierkuchen, und das saure Bier war ein guter Wein. Nun aßen und tranken sie, und danach sprach das Männlein: "Weil du ein gutes Herz hast und von dem deinigen gerne mitteilst, so will ich dir Glück bescheren. Dort steht ein alter Baum, den hau ab, so wirst du in den Wurzeln etwas finden." Darauf nahm das Männlein Abschied.

Der Dummling ging hin und hieb den Baum um, und wie er fiel, saß in den Wurzeln eine Gans, die hatte Federn von reinem Gold. Er hob sie heraus, nahm sie mit sich und ging in ein Wirtshaus, da wollte er übernachten. Der Wirt hatte aber drei Töchter, die sahen die Gans, waren neugierig, was das für ein wunderlicher Vogel wäre, und hätten gar gern eine von seinen goldenen Federn gehabt. Die älteste dachte: Es wird sich schon eine Gelegenheit finden, wo ich mir eine Feder ausziehen kann. Und als der Dummling einmal hinaus gegangen war, fasste sie die Gans beim Flügel aber Finger und Hand blieben ihr daran fest hängen. Bald hernach kam die zweite und hatte keinen andern Gedanken, als sich eine goldene Feder zu holen, kaum aber hatte sie ihre Schwester angerührt, so blieb sie fest hängen. Endlich kam auch die dritte in der gleichen Absicht. Da schrien die andern: "Bleib weg, um Himmels Willen bleib weg!" Aber sie begriff nicht, warum sie wegbleiben sollte, dachte: Sind die dabei so kann ich auch dabei sein und sprang hinzu, und wie sie ihre Schwester angerührt hatte, so blieb sie an ihr hängen. So mussten sie die Nacht bei der Gans zubringen.

Am anderen Morgen nahm der Dummling die Gans in den Arm ging fort und kümmerte sich nicht um die drei Mädchen, die daran hingen. Sie mussten immer hinter ihm drein laufen, links und rechts, wie's ihm in die Beine kam. Mitten auf dem Felde begegnete ihnen der Pfarrer, und als er den Aufzug sah, sprach er : "Schämt euch, ihr garstigen Mädchen, was lauft ihr dem jungen Bursch durchs Feld nach, schickt sich das?" Damit fasste er die jüngste an der Hand und wollte sie zurückziehen, wie er sie aber anrührte, blieb er gleichfalls hängen und musste selber hinterdreinlaufen. Nicht lange, so kam der Küster daher und sah den Herrn Pfarrer, der drei Mädchen auf dem Fuß folgte. Da verwunderte er sich und rief: "Ei, Herr Pfarrer, wohinaus so geschwind ? vergesst nicht, dass wir heute noch eine Kindtaufe haben." Lief auf ihn zu und fasste ihn am Ärmel, blieb aber auch fest hängen. Wie die fünf so hintereinander her trabten, kamen zwei Bauern mit ihren Hacken vom Felde. Da rief der Pfarrer sie an und bat, sie möchten ihn und den Küster losmachen. Kaum aber hatten sie den Küster angerührt, so blieben sie hängen, und waren ihrer nun siebene, die dem Dummling mit der Gans nachliefen.



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