Im wilden Wald - Jürgen Wagner - E-Book

Im wilden Wald E-Book

Jürgen Wagner

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Beschreibung

Der naturbelassene, wilde Wald gilt heute als das Ideal und Ziel für einen artenreichen, gesunden und vitalen Wald. So war der Märchenwald schon immer. Aus ihm kommt man immer anders heraus als man hineinging. Man wird geprüft, aber auch beschenkt, verzaubert - und erlöst, hinein-, aber auch wieder hinausgeführt. Trotz der hohen Bedeutung des Waldes für Tier und Mensch und obwohl der Wald in vielen Volksmärchen ein zentraler, magischer Ort ist, gibt es bislang keine nennenswerte Sammlung von Waldmärchen. Das Buch kann diese Lücke schließen. Es präsentiert 38 spannende Waldmärchen von Deutschland bis Finnland und Kamerun bis Tibet samt einer ausführlichen Einführung in die Bedeutung des Waldes in Märchen und Mythen.

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Seitenzahl: 296

Veröffentlichungsjahr: 2025

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IM WILDEN WALD

Die schönsten Waldmärchen aus aller Welt

Jürgen Wagner

Impressum

© 2025 Jürgen Wagner

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Tigelbild: Ivan Shishkin, Waldlandschaft, 1878

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

I Einführung: Der mythische Wald der Götter und der magische Märchenwald

Der wilde Wald

Der Wald, in dem die Räuber sind

Der bezaubernde Wald

Der verzauberte Wald

Der unheimliche Wald

Der Wald als Zuflucht

Der Wald der Reifung und Bewährung

II Waldmärchen aus aller Welt

Herr und Herrin der Tiere

Das Waldhaus - Deutschland

Lippo und Tapio – Finnland

Bainatscha, der Gott der Wälder und Wildtiere – Mandschurei

Die Waldfrau: die Seele des Waldes

Die Waldfrau - Tschechien

Die Waldfee – Österreich

Wassilissa, die Wunderschöne - Russland

Ada, der Waldgeist – Kamerun

Waldminchen – Deutschland

Die Waldfrau – Norwegen

Die Alte im Walde – Deutschland

Der süße Brei - Deutschland

Jorinde und Joringel – Deutschland

Die Grüne Jungfer - Deutschland

Der weiße Hirsch – Österreich

Die Waldmutter – Banat

Der Waldmann: der Geist des Waldes

Der Waldkönig – Italien

Goldhaar – Siebenbürgen

Och, der Waldkönig – Ukraine

Der geheimnisvolle Wald – Schweiz

Der mitfühlende Holzhacker – Estland

Der Waldmensch – Dänemark

Waldkinder

Wald-Marie – Portugal

Die schlafende Schöne im Wald – Frankreich

Die dankbare Schlange und der Mönch – Myanmar

Das Birkenreis – Österreich

Der Mythos des Waldes

Die Waldnymphe - Tibet

Das Wasser des Schweigens – Schottland

Der arme Korbflechter und die drei Quellen – Rumänien

Die Drachenfedern – Süddeutschland

Sorge und Leid – Norwegen

Die drei kleinen Männer im Wald - Deutschland

Die Bremer Stadtmusikanten – Deutschland

Der heilige Wald – Benin

Der Wünsche erfüllende Baum - Indien

Wahre Freundschaft – Indien

Die sechs Schwäne – Deutschland

Tiere des Waldes

Iwan Zarewitsch und der graue Wolf - Russland

Von der Großmutter, die in den Wald ging, um Beeren zu sammeln - Bosnien

Der Steinknabe – Nordamerika

Das Waldmädchen – Honduras

Statt eines Nachwortes: Die Wälder schweigen

Anhang

VORWORT

Der Wald gehört zu den großen Reichtümern der Erde. Er ist eine Lebensgemeinschaft, die zur Zeit des Karbon so viel Sauerstoff in der Atmosphäre angereichert hat, das tierisches und später auch menschliches Leben möglich wurde. So verdanken wir ihm bis heute, dass wir atmen und leben können.

Als Primat hatte der menschliche Ahn selbst im Urwald gelebt, als Jäger und Sammler war die Menschheit immer noch mit ihm vertraut. Erst mit der Ackerbaukultur entfernten wir uns vom Wald, so dass er uns schließlich fremd und unheimlich wurde. Dort wollte niemand mehr leben. Der Mensch entwickelte eine für ihn bessere, ‚zivilisierte‘ Lebenswelt.

In den Volksmärchen aber ist er immer noch lebendig, der „wilde Wald“. Er ist sogar ein Ort, der die Kraft hat, den Menschen zu verwandeln und zu erneuern.1 Kein Märchenheld, der in den tiefen Wald geht, kommt so heraus, wie er hineinging. Man ist gefordert, wird geprüft, bekommt etwas ab, aber auch etwas geschenkt. Manche werden verängstigt, manche verzaubert. So haben die Menschen den Wald früher erlebt, so prägte er sich in die Seele der Menschen ein, so wurde und wird es weitererzählt. Einige der schönsten Waldmärchen aus aller Welt sind hier zusammengetragen.

I Einführung: Der mythische Wald der Götter und der magische Wald der Volksmärchen

Da sprach der Bauer: „Ich bin müde geworden und will mich setzen und ein wenig ausruhen.“ Und als er sich auf den Baumstumpf niederließ, sagte er ächzend: „Och! wie bin ich müde!“ Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als im selben Augenblick aus dem Baumstumpf ein kleines altes Männchen hervorkroch; ganz runzlig war es, und ein grüner Bart hing ihm bis zu den Knien hinab. „Was brauchst du von mir, guter Freund?“ fragte es. Der Bauer staunte: von wo ist der hergekommen? Und er sprach zu ihm: „Hab ich dich denn gerufen? Geh weg!“ – „Wie hast du mich denn nicht gerufen?“ erwiderte das Männchen, „natürlich hast du's getan!“ - „Wer bist du denn?“ fragte der Bauer. „Ich bin der Waldkönig Och." ... (Der Waldkönig Och).

Die Tiefe der endlosen russischen Wälder verkörpert im Märchen die Baba Jaga, die sumpfigen Wälder Germaniens der Eisenhans; in den weitläufigen ukrainischen Wäldern herrscht Och, der Waldkönig, in den tschechischen die Waldfrau. Sie hat das Märchen nicht einfach erfunden: sie alle wandeln auf den Spuren derer, die man in vorchristlichen Zeiten im Wald wusste und ehrte. Die Griechen hatten die Jagd- und Mondgöttin Artemis, die Slawen die Waldmutter Leshachikha, die Kelten hatten den Hirschgott Cernunnos usf. Diese repräsentierten die numinosen Mächte, die man in den Urwäldern einst wähnte, das Unbekannte und Gefährliche, das man fürchtete, aber auch das Göttliche und Wunderbare, das man erlebte. Von den Waldgottheiten führen keine direkten Wege zu den Märchen-Waldfrauen und -männern, sonst hätte man sie gar nicht erzählen dürfen. Aber es gibt Spuren. Zum einen in Tieren wie Ziegen, Hirsche und Wölfe. Sie tauchen in vielen Waldmärchen auf und waren einst die Begleittiere der Waldgottheiten und deren Attribute. Zum anderen in den Waldgeistern, in Riesen, Zwergen, Nymphen und anderen, die die geistige Dimension des Waldes zum Ausdruck brachten. Im ukrainischen Märchen ist es besonders die Grünkraft des Waldes, die hervorgehoben wird. Wissenschaftlich gesprochen: die Errungenschaft der Photosynthese.

Und als der Waldkönig mit ihm fortging, führte er ihn in jene andere Welt unter der Erde und brachte ihn in eine grüne Hütte, die war von einem Rohrzaun umgeben. In der Hütte aber war alles grün: die Wände waren grün und die Bänke, Ochs Frau war grün, und die Kinder waren grün, kurz - alles, alles. Und die Wasserweibchen, die bei ihm dienten, die waren so grün wie Rauten!

Ein anderer zentraler Aspekt des Waldes ist seine Fähigkeit zu wachsen, „wuchern“ und sich auszubreiten. Man könnte auch sagen: seine „Fruchtbarkeit“. Wenn der Knabe Goldhaar in einem Siebenbürger Märchen beim Alten im Wald zwölf Jahre lang „die Geißen hüten“ soll, so klingt da ein Aspekt der Götter PAN, SILVANUS und FAUN nach: sie waren mit der Ziege verbunden. Ihr ziegenhafter Unterleib steht für die Fruchtbarkeit des Waldes und der Natur. Auch im slawischen Märchen „DieWaldfrau“ weidet das Mädchen Ziegen. Die Waldfrau erscheint hier als Frühlingsgöttin im Birkenwald mit goldenen Haaren und einem Blumenkranz auf dem Haupt. „Komm, dann tanzen wir miteinander, ich will es dich lehren“, sagt sie zu dem Mädchen. Die Göttin der Jagd und des Waldes ARTEMIS liebte den Tanz und den Reigen. Und von PAN wissen wir, dass er Musik, Tanz und Fröhlichkeit pflegte. Von diesem Geist ist das ganze Märchen erfüllt.

Auch in „Waldminchen“ ist die Frühlingsgöttin greifbar:

Vor Waldminchen gingen zwei Hasen, von denen jeder ein langes Licht auf dem Rücken hatte, hinter ihr gingen auch zwei Hasen, die trugen ihre ungeheure Schleppe.

Die größte Nähe zur ARTEMIS hat Die Grüne Jungfer im Harzer Märchen. Auch sie „hat ein grünes Kleid, ein grünes Gesicht und selbst die Haare waren grün.“ Auf den ersten Blick ist sie eine Vegetationsgottheit. Auf den zweiten ist sie „halb Fisch und halb Mensch“ und hat den goldenen Hirsch an ihrer Seite. Als Wald- und Jagdgottheit war ARTEMIS mit dem Hirsch verbunden, als Fluss- und Quellgottheit mit dem Fisch. Dass die Grüne Frau Jungfer ist, verbindet sie ebenfalls mit der Jungfräulichkeit der ARTEMIS.

Männliche Pendants zur ‚Grünen Jungfer‘ gibt es in der Gascogne („Der Grüne“2) und in der Artussage (Der Grüne Ritter‘ der Artus-Sage. Auch ein norwegisches Märchen kennt den Grünen Ritter3.

Den Eisenhans (KHM 136) als Hüter des heiligen Waldbrunnens, der nicht getrübt werden darf, sehen wir heute noch manchmal als Wasserfaun oder in weiblicher Gestalt als Artemisbrunnen.

Wenn das Dienstmädchen im Märchen „Die Alte im Wald“ (KHM 123) einen verschlossenen Wunderbaum findet, der sie mit Nahrung, Schlafstatt und Kleidung versorgt, so darf daran erinnert werden, dass bei den Germanen große und alte Bäume als Sitz von Göttern und Naturgeistern angesehen und verehrt wurden. Am Ende des Märchens verwandelt sich eine ganze Baumgruppe in Menschen und wird erlöst. Dass Mensch und Baum sich im Wesen nah sind, behauptet der Mythos von Ask und Embla, wo die Götter der Edda den Menschen aus zwei Bäumen erschaffen. Die Märchen haben kein Problem damit, dass Bäume, Tiere und Menschen auch die Gestalt des Anderen annehmen können – sind wir im Lebensbaum doch alle Verwandte.

Im Grimm‘schen Märchen „Das Waldhaus“ (KHM 169) finden wir noch das alte Motiv des „Herrn der Tiere“, ein Vorläufer des Waldgottes, der in vielen Kulturen verbreitet war. Es gab ihn sowohl in männlicher wie in weiblicher Ausprägung. Das Märchen ist einzigartig darin, dass seine Motivik bis in die Bronzezeit zurückreicht, seine Ausrichtung auf Liebe und Mitgefühl noch lange aktuell sein wird.

Ein anderes eindrückliches Beispiel für den Herrn der Tiere ist das Märchen „Bainatscha, der Gott der Wälder und Wildtiere“ aus der Mandschurei. Er hilft den Schwachen, den Unachtsamen aber gibt er eine Lehre (s. S. 73ff).

Die mythischen Wesen des Waldes sind in den Märchen vielfach: Schneewittchen (KHM 53) findet sieben Zwerge, „Der Trommler“ (KHM 193) und „Der gelernte Jäger“ (KHM 111) treffen auf drei Riesen, der Junge Mads im norwegischen Märchen „Die Waldfrau“ auf eine Huldre (Waldfee). Sie stehen nicht unbedingt mehr für eine einzelne Gottheit, aber doch für die wilden Aspekte PANS, der Faune, der Nymphen. „Die drei Männlein im Walde“ (KHM 13) sind große Magier und darin einem Wodan ebenbürtig. „Die Waldnymphe“ im tibetischen Märchen trifft auf einen gutherzigen Mann, der fast so wenig von dieser Welt ist wie sie. Beide finden sich und heiraten, können ihre Ehe aber auf dieser Erde nicht führen. So finden sie ihr Glück letztlich nur in den Sternen.

Auch die Tiere gehören zu den magischen Wesen des Märchenwaldes. In einem serbischen Märchen „tritt aus einem Wäldchen Teta Lija, die Füchsin, hervor“ und begleitet und berät den Märchenhelden auf seiner Suche nach „Vaters Weinstock“.4

Der wilde Wald

Darauf gingen sie tiefer in den Wald hinein, und mitten drein, wo er am dunkelsten war, fanden sie ein kleines verwünschtes Häuschen (Die zwölf Brüder KHM 9).

Der Wald in den europäischen Volksmärchen entspricht nicht unserem heutigen übersichtlichen Forstwald mit vielen angelegten Wegen. Er entspricht dem Wald, wie er im Mittelalter war: dichtes Unterholz, wenig Wege, dunkle und weite Wälder, in denen es wilde Tiere und Räuber gab. Der „wilde walt“, wie man sagte, war damals ein gefürchteter und vielen Menschen unheimlicher Ort, der mancherlei Gefahren barg und wo man sich leicht verlaufen konnte. Es war die Zeit, in der man Hexen und Teufel fürchtete und in Eulen und Fledermäusen Dämonen und Gespenster wähnte. Nur in der höchsten Not war der Wald ein Ort der Zuflucht wie bei Schneewittchen und Allerleihrauh. Wer in den Wald ging, sammelte dort Beeren, Kräuter, Holz oder ging auf die Jagd. Dass einer wie heute „in den Wald spazieren“ ging, das gibt es erst im Kunstmärchen „Jorinde und Joringel“ von J.H. Jung-Stilling aus dem Jahre 1777.

Den Wesen des Waldes zu begegnen, ist manchmal eine große Hilfe, manchmal auch sehr gefährlich: sprechende Tiere (Fuchs, Wolf, Bär, Hirsch, Vogel), Zwerge und Männlein, Trolle und Riesen, Eremiten, weise Alte und sogar die Jungfrau Maria (Marienkind KHM 3). Manche sind hilfreich, manche auch gefährlich.

Das Mysterium des Waldes ist für viele Märchen in seiner Mitte: dort, wo er am tiefsten und dunkelsten ist. Was erleben wir, wenn wir dahinein geraten? Wir begegnen unseren Ängsten, unserer Ohnmacht, unserer Verzweiflung. Das alle kommt über uns, kann uns geradezu auffressen. Dafür haben die Märchen ein starkes Bild: das Hexenhaus. Wir kennen solch ausweglose Situationen, die uns ‚wie verhext‘ scheinen. Im tiefsten Wald - da steht ein kleines Häuschen. In diesem wohnt meist eine alte Frau, manchmal ein alter Mann. Es sind keine gewöhnlichen Sterblichen, die hier wohnen. Sie verkörpern den Waldgeist, aber eben auch unsere eigene Seele. Sie sind Magier – und sie sind oft schrecklich. Sie sind reich und können viel geben – und zugleich sind sie verzehrend wie die Hexe bei Hänsel und Gretel oder die Baba-Jaga in der slawischen Tradition. Wer dieser zu begegnen weiß, kann etwas von ihr haben. Aber wer ihr einfach so ins Haus kommt, den frisst sie. Ihr Haus ist drehbar, steht auf Hühnerbeinen und ist umgeben von Totenschädeln, in denen aber auch ein Licht leuchtet, das den Weg weist. Es ist ein magischer Ort, wo man Mut zeigen und sich bewähren muss, wo man in Dienst und Pflicht genommen wird und nicht zu neugierig sein darf (Wassilissa die Wunderschöne). Auch im Märchen aus Kamerun „Ada, der Waldgeist“ ist es „ein prächtiges Haus … und rings um das Haus lagen Haufen von menschlichen Schädeln und Knochen“ (S. 56). Bei Hänsel und Gretel ist es ein verlockendes Häuschen aus Brot, Kuchen und Zucker. Im Grimm’schen Märchen „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ ist es gar ein Räuberhaus, das von einer Alten gehütet wird. Erstaunlicherweise aber erbarmen sich die Räuber über das arme Kind, schreiben ihm sogar einen verhängnisvollen Brief neu und zeigen ihm den Weg aus dem Wald (KHM 29). Jeder Märchenheld, der aus dem tiefsten Wald wieder herauskommt, ist um einige Erfahrungen und Gaben reicher. Es ist eine Grunderfahrung der Menschheit: im tiefsten Dunkel scheint ein kleines Licht, in der Mitte der Nacht beginnt ein neuer Morgen.

Der Wald, in dem die Räuber sind

Sie konnten aber die Stadt Bremen in einem Tag nicht erreichen und kamen abends in einen Wald, wo sie übernachten wollten. "Was siehst du, Grauschimmel?" fragte der Hahn. "Was ich sehe?" antwortete der Esel, "einen gedeckten Tisch mit schönem Essen und Trinken, und Räuber sitzen daran und lassen's sich wohl sein" (Die Bremer Stadtmusikanten KHM 27).

Wer unvorhergesehen in einem Wald übernachten musste, der fürchtete sich nicht nur vor wilden Tieren, sondern auch vor Übeltätern, die dort möglicherweise ihr Lager oder Versteck hatten. Das ist leider keine Erfindung der Märchen. Bis vor etwa 150 Jahren war es nichts Ungewöhnliches, dass Reisende von Räubern überfallen wurden, vor allem in den Wäldern, die viele Verstecke boten. So gibt es gerade im ausgehenden Mittelalter – nicht nur im Spessart – deutliche Worte:

„Möge doch Gott uns einen deutschen Herkules schicken“, klagte 1559 der Nürnberger Dichter Hans Sachs, „der das Land vor Raub, Mord und Plackerei säubere - denn vor den Räubern und Mördern ist niemand mehr sicher.“

Deshalb ist das Märchen der Bremer Stadtmusikanten nicht nur ein heiteres Tiermärchen, sondern auch ein Hoffnungs- und Befreiungsmärchen für sicherere Wälder. Was die Menschen nicht hinbekommen, das schaffen die vier alten Tiere mit ihrer List.

Der bezaubernde Wald

Oben am Berg saß eine Jungfrau und nähte, und sie war so schön und so fein, dass sie nur so glänzte. „Bring mir das Garnknäuel, du“, sagte sie. Das tat Mads auch und blieb lange stehen und schaute sie an und wurde nicht müde, sie anzuschauen, so gut gefiel sie ihm. Da war er bei ihr drei Tage lang. Seitdem war er nicht mehr richtig; die Huldre hatte ihm den Sinn verrückt, sage ich (Die Waldfrau, Norwegen).

In der nordischer Tradition gibt es die Waldfrau, die Huldre, die die Schätze des Waldes und Berges hütet. Sie ist von himmlischer Schönheit, aber sie hat auch einen Schwanz als Zeichen ihrer Verbundenheit mit den Tieren, der Sinnlichkeit und des Irdischen. Wenn man ihr begegnet und ihr folgt, ist nichts mehr so wie es früher war: man verfällt ihr, wird ver-rückt, hat seine Sinne nicht mehr ganz beisammen.

Im Eisenhans ist es der wilde, starke Mann, der den Geist des Waldes repräsentiert, hier ist es die wilde, schöne Frau. Beide stehen hier für den ursprünglichen, nicht beherrschbaren Wald in seiner Kraft und Schönheit, in seinem Reichtum, aber auch in seiner Gefährlichkeit.

Im Mythos war der Hirschgott CERNUNNOS der Herr des Waldes - und ARTEMIS, die Hüterin der Jagd, der Frauen und Kinder, die Göttin des Waldes. Im Märchen sind alle Götter entmythologisiert, sie sind das, was sie immer waren: Figuren unserer Seele, verlebendigte Gestalten des Geistes. Die Märchen sagen in ihrer Sprache, was wir schon immer wussten: man kann sich im Wald verlaufen und verirren, kann verängstigt und geradezu verrückt werden. Man kann aber auch Nahrung finden und Unterschlupf, man kann, wenn man einige Tage oder Nächte überstanden und aus dem Wald wieder herausgefunden hat, gestärkt und gereift daraus hervorgehen und sogar einiges von den Schätzen und Mysterien des Lebens dabei erfahren. Und: man lernt sich selbst besser kennen.

Der verzauberte Wald

Im tiefen Sequoienwald lebte in der Felsenhöhe eine alte Hexe. Die Hexe aus der Felsenhöhle hängte hölzerne Käfige an die Bäume. Sie verwandelte Mädchen in Vögel und sperrte sie in Käfige. Die Holzfäller, die um Mittag auf der Waldschneise ausruhten und dem Gesang der Vögel lauschten, ahnten nicht, dass es dem Stimmen der Mädchen waren. Eines Tages ging die schöne Melinda mit Jonathan, ihrem Bräutigam, am Waldrand spazieren … (Der verzauberte Wald, Nordamerika).

Zum Märchenwald gehört auch die Hexe. Sie frisst Menschen, kann sie in Tiere oder Bäume verwandeln und hat magische Kräfte. Sie ist eine einsame Frau, die zur Menschenhasserin wurde und aus ihrer Vertrautheit mit dem Wald Zauberkräfte bekommen hat. Wer ist sie? Frauen, die mit der Natur vertraut und magisch versiert waren, die zudem meist alleine lebten, waren ursprünglich Schamaninnen und Seherinnen. Sie dienten den Menschen mit ihren Gaben und lebten davon. Da gab es solche und solche, aber niemals waren sie von vorneherein böse. Hier handelt es sich um ein religiöses Missverständnis. Im Märchen repräsentiert die Hexe – wie der böse Wolf - das Gefährliche des Waldes, das böse enden kann. Das, was man nicht kennt und nicht weiß, das fürchtet man oft am meisten.

Ich geh' nicht in den Wald hinein, darin springen Hexen und Gespenster herum (Der Soldat und der Schreiner, KHM 130).

Solche numinosen Ängste gab es in alter Zeit viele. Man hatte nicht das Wissen, nicht die Technik und nicht die Macht, die man heute hat. So gab man dem Gefürchteten Name und Gestalt und konnte es so wenigstens benennen und begreifen. Man kann das nachempfinden, wenn man nachts in den Wald geht und die Dunkelheit und die Geräusche auf sich wirken lässt. Dann ist man in kurzer Zeit dort, wo die Märchen sind: bei dem, was einem fremd und unheimlich ist. Dann ist man zugleich bei sich und erlebt die Tiefen der eigenen Seele. Heute wissen wir, dass wir im Wald keine Gespenster und keine Geister zu fürchten haben, aber damals wusste man es nicht. Was wir dort erleben, ist nichts anderes als der lebendige Wald mit seinen vielen Bewohnern. Sie sind uns großteils fremd, auch unheimlich, ob das nun Spinnen oder Mäuse sind, Eulen oder Hirsche. Viele von ihnen hat man verteufelt, weil man zu wenig von ihnen wusste und sich zu sehr fürchtete. Deshalb gehört es auch zur Liebe zum Wald, dass man dessen eigentliche Bewohner achtet und respektiert, dass man Rücksicht nimmt und ihren Lebensraum schützt. Wenn die Tiere in unseren Lebensraum eindringen, sind wir ja auch nicht begeistert.

Der unheimliche Wald

Awsang Atikawt entdeckte im Wald ein so prächtiges Haus, wie er noch nie eins gesehen hatte. Es gehörte der Beherrscherin des Waldes, und rings um das Haus lagen Haufen von menschlichen Schädeln und Knochen. … Erzählen werde ich, dass ich einer Frau begegnet bin, die allein im Wald lebt und die alle verschlingt, die sie eingefangen hat, einer Frau, die in ihrem Leib Trommeln, blasende Hörner und sogar große Waffen hat, einer Frau, die eine Gefahr ist für jedes menschliche Wesen. Je eher sie getötet wird, desto besser ist es für alle Jäger!" (Ada, der Waldgeist – Kamerun).

Das afrikanische Märchen zeigt unser menschliches Missverständnis am allerdeutlichsten: dass der Wald, personalisiert in einem weiblichen Waldgeist, ein menschenverschlingendes Ungeheuer sei. Zwar können Menschen sich tatsächlich im Wald verirren und sogar darin umkommen, aber dafür kann die Lebenswelt des Waldes nichts. Der Dschungel war uns Primaten lange Zeit Heimat, aber nach Jahrmillionen haben wir uns von ihm entfremdet und nehmen ihn nicht mehr so ohne weiteres als mütterlich und bergend wahr. Vielmehr erscheint er uns als düster und bedrohlich. Er will uns scheinbar verschlingen. Wir können noch so laufen, wenn wir uns verirrt haben, wir entfliehen ihm nicht so leicht. Der Ur-wald, der Wald, wie er ursprünglich ist, kann mal schrecklich, mal wunderschön sein wie ‚Ada‘. Wir müssen uns einfach anpassen, wenn wir ihn betreten. Dann müssen wir sein ‚prächtiges Haus‘ weniger fürchten. Der Waldgeist braucht nicht getötet werden, weder als afrikanisches Ungeheuer noch als slawische Baba-Jaga noch als deutsche Hexe in ihrem leckeren Häuschen. Sie ist in Wahrheit unsere Mutter, die uns Jahrmillionen genährt und beherbergt hat, als wir noch auf den Bäumen lebten und von den Waldfrüchten lebten, als wir unsere Sinne entwickelten und unsere Geschicklichkeit. Ohne diese Entwicklung hätten wir auch als Zweibeiner nicht in der Savanne überlebt und hätten nicht unseren Geist entwickeln können.

Der Wald als Zuflucht

„ Dann befahl sie sich Gott und ging fort und ging die ganze Nacht, bis sie in einen großen Wald kam. Und weil sie müde war, setzte sie sich in einen hohlen Baum und schlief ein“ (Die Alte im Wald, KHM 123)

Ein treues Dienstmädchen überlebt den Angriff von Räubern, indem es sich hinter einem Baum versteckt. Dort erfährt sie durch eine weiße Taube und einen verzauberten Baum Hilfe: Nahrung, ein Bett und Kleider. Einige Tage lebt das Mädchen dort und wird immer wieder von der weißen Taube und dem Baum versorgt.

Dass wir Menschen uns bei bestimmten Bäumen wohlfühlen, dass wir Schutz und Geborgenheit erleben, Verbundenheit und Respekt fühlen, ist keine Seltenheit. Einzelne Bäume wie der Wald überhaupt können durchaus als ein Stück Heimat erlebt werden, als ein Kraftort, an dem man zur Ruhe und zu sich selbst kommt. Zauberhafter geht es im Märchen zu. Da wird der Baum personalisiert: einmal ist es ein Prinz, der in diesen besonderen Baum verwandelt wurde (Die Alte im Wald), ein anderes Mal ist es der Baumgeist selbst, der einem etwas gewährt (Der Wunsch des Webers). Im Aschenputtel-Märchen scheint es die Ahnin zu sein, der Geist der verstorbenen Mutter, die Gaben gibt.

Der Wald als Ort der Reifung und Bewährung

Goldhaar geriet nur immer tiefer in den Wald, und es wurde schon Abend; er ging und lief voll Angst hin und her; endlich sah er ein kleines Häuschen. Als er eintrat, saß an dem Tisch ein alter blinder Mann und aß Hühnersuppe. Der Knabe war so hungrig, dass er zum Tisch ging, einen Löffel nahm und mit aß. Der blinde Mann aber merkte es und fragte: „Wer isst von meiner Hühnersuppe?“ „Ich bin's, lieber Großvater“, rief der Junge, „denn ich habe gar großen Hunger!“ Da freute sich der Alte und sprach: „Ich habe lange auf dich gewartet, du sollst es gut haben bei mir!“5

So wie Marie im Hollemärchen in Todesangst in den Brunnen springt, das Bewusstsein verliert und auf der grünen Wiese die gütige alte Frau trifft, so ist hier ein männlicher Reifungsweg beschrieben als das Durchleben von Irrungen und Wirrungen, bis man beim blinden Alten ankommt und dort sein darf. Zwölf Jahre darf der Junge nun dessen Ziegen hüten – dann bekommt er das Schwert, das Signum der Kraft und des Geistes, mit dem er als Mann in der Welt bestehen kann. Es ist nicht das Schwert, mit dem man Abenteuer sucht oder Gewalt übt, sondern mit dem man sich erwehren und das Böse überwinden kann. Nachdem der Junge die Drachen besiegt hat, hat er seine Aufgaben gemeistert und erfüllt. Das Schwert gibt er zurück und darf nun an den Waldbrunnen, den Lebensborn, der ihm sein Haar vergoldet. Das entspricht der Marie, die durch das Tor schreitet und den himmlischen, güldenen Segen erhält. Das Gold ist Symbol des Göttlichen, des Höchsten, was der Mensch verwirklichen kann. Da ist der Mensch in Verbindung mit dem Göttlichen, mit seiner eigenen, inneren Quelle:

Rufe nicht nach Gott, denn die Quelle ist in dir (A. Silesius)

II Waldmärchen aus aller Welt

HERR UND DIE HERRIN DER TIERE

Der Herr der Tiere, seltener auch die Herrin der Tiere, wurde angerufen, wenn es um die Hut der Tierwelt ging. Sie hat vermutlich schamanisch-animistische Ursprünge und war auf fast allen Kontinenten verbreitet.

Im Urwald “wohnt die Göttin Caa Porá, die Beschützerin der Tiere. Nur mit ihrer Gunst kann der Jäger erfolgreich sein. Die Göttin gewährt sie mit sorgfältiger Wahl, damit weder Mensch noch Tier Not leiden müssen.“6

Ob Pashupati in Indien, Sedna bei den Inuit, die Potnia theron in der minoischen Kultur oder Caa Porá bei den Guarani-Indianern in Südamerika: sie wurden als Mann, Frau, Tier oder als Mischwesen von Mensch und Tier dargestellt. Sie agierten ja im Grenzbereich von Mensch und Tier: sie entschieden, ob und welche Tiere getötet werden dürfen. Gegebenenfalls muss der Jäger den Waldgott um Versöhnung bitten. Rituale regelten den Umgang mit dieser Gestalt aus der Geistwelt, die wie jede Gottheit und jeder Geist erst durch den Menschen ins Leben gerufen wurde – und auch wieder vergeht, wenn sie nicht mehr gebraucht und angerufen wird. Solange wir uns ein Kreuz um den Hals oder an die Wand hängen oder ein Hufeisen am Auto anbringen, solange wirken auch die geistigen Mächte in und durch uns. Hören wir damit auf, hören auch sie auf und wir sind wieder vollständig in unserer Kraft und Verantwortung. Im Märchen hört sich das so an:

Den alten blinden Mann (Herrn des Waldes) aber suchte er vergebens, der war samt dem Häuschen verschwunden, und er konnte sein Lebtag nichts mehr von ihm erfahren (Goldhaar).

DAS WALDHAUS

Ein armer Holzhauer lebte mit seiner Frau und drei Töchtern in einer kleinen Hütte an dem Rande eines einsamen Waldes. Eines Morgens, als er wieder an seine Arbeit wollte, sagte er zu seiner Frau: "Lass mir ein Mittagsbrot von dem ältesten Mädchen hinaus in den Wald bringen, ich werde sonst nicht fertig. Und damit es sich nicht verirrt", setzte er hinzu, "so will ich einen Beutel mit Hirse mitnehmen und die Körner auf den Weg streuen."

Als nun die Sonne mitten über dem Walde stand, machte sich das Mädchen mit einem Topf voll Suppe auf den Weg. Aber die Feld- und Waldsperlinge, die Lerchen und Finken, Amseln und Zeisige hatten die Hirse schon längst aufgepickt, und das Mädchen konnte die Spur nicht finden. Da ging es auf gut Glück immer fort, bis die Sonne sank und die Nacht einbrach. Die Bäume rauschten in der Dunkelheit, die Eulen schnarrten, und es fing an, ihm Angst zu werden. Da erblickte es in der Ferne ein Licht, das zwischen den Bäumen blinkte. Dort sollten wohl Leute wohnen, dachte es, die mich über Nacht behalten, und ging auf das Licht zu. Nicht lange, so kam es an ein Haus, dessen Fenster erleuchtet waren. Es klopfte an, und eine raue Stimme rief von innen: "Herein!" Das Mädchen trat auf die dunkle Diele und pochte an die Stubentür. "Nur herein," rief die Stimme, und als es öffnete, saß da ein alter, eisgrauer Mann an dem Tisch, hatte das Gesicht auf die beiden Hände gestützt, und sein weißer Bart floss über den Tisch herab fast bis auf die Erde. Am Ofen aber lagen drei Tiere, ein Hühnchen, ein Hähnchen und eine buntgescheckte Kuh. Das Mädchen erzählte dem Alten sein Schicksal und bat um ein Nachtlager. Der Mann sprach:

Schön Hühnchen,

Schön Hähnchen

Und du schöne bunte Kuh,

Was sagst du dazu?

"Duks!" antworteten die Tiere, und das musste wohl heißen 'wir sind es zufrieden', denn der Alte sprach weiter: "Hier ist Hülle und Fülle, geh hinaus an den Herd und koch uns ein Abendessen." Das Mädchen fand in der Küche Überfluss an allem und kochte eine gute Speise, aber an die Tiere dachte es nicht. Es trug die volle Schüssel auf den Tisch, setzte sich zu dem grauen Mann, aß und stillte seinen Hunger. Als es satt war, sprach es: "Aber jetzt bin ich müde, wo ist ein Bett, in das ich mich legen und schlafen kann?" Die Tiere antworteten:

Du hast mit ihm gegessen,

Du hast mit ihm getrunken,

Du hast an uns gar nicht gedacht,

Nun sieh auch. wo du bleibst die Nacht.

Da sprach der Alte: "Steig nur die Treppe hinauf, so wirst du eine Kammer mit zwei Betten finden, schüttle sie auf und decke sie mit weißem Linnen, so will ich auch kommen und mich schlafen legen." Das Mädchen stieg hinauf, und als es die Betten geschüttelt und frisch gedeckt hatte, da legte es sich in das eine, ohne weiter auf den Alten zu warten. Nach einiger Zeit aber kam der graue Mann, beleuchtete das Mädchen mit dem Licht und schüttelte den Kopf. Und als er sah, dass es fest eingeschlafen war, öffnete er eine Falltür und ließ es in den Keller sinken.

Der Holzhauer kam am späten Abend nach Haus und machte seiner Frau Vorwürfe, dass sie ihn den ganzen Tag habe hungern lassen. "Ich habe keine Schuld," antwortete sie, "das Mädchen ist mit dem Mittagessen hinausgegangen, es muss sich verirrt haben; morgen wird es schon wiederkommen." Vor Tag aber stand der Holzhauer auf, wollte in den Wald, verlangte, die zweite Tochter solle ihm diesmal das Essen bringen. "Ich will einen Beutel mit Linsen mitnehmen," sagte er, "die Körner sind größer als Hirse, das Mädchen wird sie besser sehen und kann den Weg nicht verfehlen." Zur Mittagszeit trug auch das Mädchen die Speise hinaus, aber die Linsen waren verschwunden: die Waldvögel hatten sie, wie am vorigen Tag, aufgepickt und keine übriggelassen. Das Mädchen irrte im Walde umher, bis es Nacht ward, da kam es ebenfalls zu dem Haus des Alten, ward hereingerufen und bat um Speise und Nachtlager. Der Mann mit dem weißen Barte fragte wieder die Tiere:

Schön Hühnchen,

schön Hähnchen

Und du schöne bunte Kuh,

Was sagst du dazu?

Die Tiere antworteten abermals: "Duks!" und es geschah alles wie am vorigen Tag. Das Mädchen kochte eine gute Speise, aß und trank mit dem Alten und kümmerte sich nicht um die Tiere. Und als es sich nach seinem Nachtlager erkundigte, antworteten sie:

Du hast, mit ihm gegessen,

Du hast mit ihm getrunken,

Du hast an uns gar nicht gedacht,

Nun sieh auch, wo du bleibst die Nacht.

Als es eingeschlafen war, kam der Alte, betrachtete es mit Kopfschütteln und ließ es in den Keller hinab. Am dritten Morgen sprach der Holzhacker zu seiner Frau: "Schick unser jüngstes Kind mit dem Essen hinaus, das ist immer gut und gehorsam gewesen, das wird auf dem rechten Weg bleiben und nicht wie seine Schwestern, die wilden Hummeln, herumschwärmen." Die Mutter wollte nicht und sprach: "Soll ich mein liebstes Kind auch noch verlieren?" - "Sei ohne Sorge," antwortete er, "das Mädchen verirrt sich nicht, es ist zu klug und verständig; zum Überfluss will ich Erbsen mitnehmen und ausstreuen, die sind noch größer als Linsen und werden ihm den Weg zeigen." Aber als das Mädchen mit dem Korb am Arm hinauskam, so hatten die Waldtauben die Erbsen schon im Kropf, und es wusste nicht, wohin es sich wenden sollte. Es war voll Sorgen und dachte beständig daran, wie der arme Vater hungern und die gute Mutter jammern würde, wenn es ausblieb. Endlich, als es finster ward, erblickte es das Lichtchen und kam an das Waldhaus. Es bat ganz freundlich, sie möchten es über Nacht beherbergen, und der Mann mit dem weißen Bart fragte wieder seine Tiere:

Schön Hühnchen,

Schön Hähnchen

Und du schöne bunte Kuh,

Was sagst du dazu?

"Duks!" sagten sie. Da trat das Mädchen an den Ofen, wo die Tiere lagen, und liebkoste Hühnchen und Hähnchen, indem es mit der Hand über die glatten Federn hinstrich, und die bunte Kuh kraute es zwischen den Hörnern. Und als es auf Geheiß des Alten eine gute Suppe bereitet hatte und die Schüssel auf dem Tisch stand, so sprach es: "Soll ich mich sättigen, und die guten Tiere sollen nichts haben? Draußen ist die Hülle und Fülle, erst will ich für sie sorgen." Da ging es, holte Gerste und streute sie dem Hühnchen und Hähnchen vor und brachte der Kuh wohlriechendes Heu, einen ganzen Arm voll. "Lasst's euch schmecken, ihr lieben Tiere," sagte es, "und wenn ihr durstig seid, sollt ihr auch einen frischen Trunk haben." Dann trug es einen Eimer voll Wasser herein, und Hühnchen und Hähnchen sprangen auf den Rand, steckten den Schnabel hinein und hielten den Kopf dann in die Höhe, wie die Vögel trinken, und die bunte Kuh tat auch einen herzhaften Zug. Als die Tiere gefüttert waren, setzte sich das Mädchen zu dem Alten an den Tisch und aß, was er ihm übriggelassen hatte. Nicht lange, so fing das Hühnchen und Hähnchen an, das Köpfchen zwischen die Flügel zu stecken, und die bunte Kuh blinzelte mit den Augen. Da sprach das Mädchen: "Sollen wir uns nicht zur Ruhe begeben?"

Schön Hühnchen,

Schön Hähnchen

Und du schöne, bunte Kuh,

Was sagst du dazu?

Die Tiere antworteten: "Duks,

Du hast mit uns gegessen,

Du hast mit uns getrunken,

Du hast uns alle wohlbedacht,

Wir wünschen dir eine gute Nacht.

Da ging das Mädchen die Treppe hinauf, schüttelte die Federkissen und deckte frisches Linnen auf, und als es fertig war, kam der Alte und legte sich in das eine Bett, und sein weißer Bart reichte ihm bis an die Füße. Das Mädchen legte sich in das andere, tat sein Gebet und schlief ein. Es schlief ruhig bis Mitternacht, da ward es so unruhig in dem Hause, dass das Mädchen erwachte. Da fing es an, in den Ecken zu knittern und zu knattern, und die Türe sprang auf und schlug an die Wand; die Balken dröhnten, als wenn sie aus ihren Fugen gerissen würden, und es war, als wenn die Treppe herabstürzte, und endlich krachte es, als wenn das ganze Dach zusammenfiele. Da es aber wieder still ward und dem Mädchen nichts zuleid geschah, so blieb es ruhig liegen und schlief wieder ein. Als es aber am Morgen bei hellem Sonnenschein aufwachte, was erblickten seine Augen? Es lag in einem großen Saal, und ringsumher glänzte alles in königlicher Pracht: An den Wänden wuchsen auf grünseidenem Grund goldene Blumen in die Höhe, das Bett war von Elfenbein und die Decke darauf von rotem Samt, und auf einem Stuhl daneben stand ein Paar mit Perlen gestickte Pantoffeln. Das Mädchen glaubte, es wäre ein Traum, aber es traten drei reichgekleidete Diener herein und fragten, was es zu befehlen hätte. "Geht nur," antwortete das Mädchen, "ich will gleich aufstehen und dem Alten eine Suppe kochen und dann auch schön Hühnchen, schön Hähnchen und die schöne bunte Kuh füttern." Es dachte, der Alte wäre schon aufgestanden, und sah sich nach seinem Bette um, aber er lag nicht darin, sondern ein fremder Mann. Und als es ihn betrachtete und sah, dass er jung und schön war, erwachte er, richtete sich auf und sprach: "Ich bin ein Königssohn und war von einer bösen Hexe verwünscht worden, als ein alter, eisgrauer Mann in dem Wald zu leben, niemand durfte um mich sein als meine drei Diener in der Gestalt eines Hühnchens, eines Hähnchens und einer bunten Kuh. Und nicht eher sollte die Verwünschung aufhören, als bis ein Mädchen zu uns käme, so gut von Herzen, dass es nicht nur gegen die Menschen allein, sondern auch gegen die Tiere sich liebreich bezeigte, und das bist du gewesen, und heute um Mitternacht sind wir durch dich erlöst und das alte Waldhaus ist wieder in meinen königlichen Palast verwandelt worden." Und als sie aufgestanden waren, sagte der Königssohn den drei Dienern, sie sollten hinausfahren und Vater und Mutter des Mädchens zur Hochzeit herbeiholen. "Aber wo sind meine zwei Schwestern?" fragte das Mädchen. "Die habe ich in den Keller gesperrt, und morgen sollen sie in den Wald geführt werden und sollen bei dem Köhler so lange als Mägde dienen, bis sie sich gebessert haben und auch die armen Tiere nicht hungern lassen."7

LIPPO UND TAPIO



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