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Über Märchen und biblische Geschichten ist mittlerweile schon manches geschrieben worden. Kaum je aber hat man es unternommen, die Geschichten einfach einander gegenüberzustellen, so dass sie sich gegenseitig spiegeln. Die 'WUNDER' sind ein treffendes Thema, um den verschiedenen Umgang und Stil zu sehen, aber auch die gemeinsame Lebenserfahrung. Der Leser/die Leserin wird die Bezüge entdecken und sich leicht ein eigenes Urteil bilden können. Die Motivik ist oft so deutlich, die Aussagen so lebensbejahend und ermutigend, dass man nicht umhin kann, seine Ehrfurcht vor beiden Gattungen der Überlieferung zu bezeugen und den tiefen Einklang zu hören.
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Seitenzahl: 107
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Wunder in Märchen und biblischen Geschichten
Ein Plädoyer für ein neues Miteinander
Jürgen Wagner und Heidi Christa Heim
Impressum
Copyright: © 2025
Jürgen Wagner und Heidi Christa Heim
Epubli Verlag Berlin
Vorwort
Die Wahrheit und das Märchen
Die Geschichten
1. Der offene Himmel
Jakobs Traum
Die drei Ringe
2. Bewahrt werden
Die Geburt des Mose
Der Teufel mit den drei goldenen Haar
3. Tiere wissen mehr
Bileam und sein Esel
Die vier Federn
4. Endlich erhört werden
Hanna
Rapunzel
5. Seine Berufung finden
Die Berufung Samuels
Die sieben Raben
6. Der Jüngste
Davids Salbung zum König
Die Harfe, die über 7 Königreiche tönte
7. Der hoffnungslos Unterlegene
David und Goliath
Die Königstochter in der Flammenburg
8. Wunderbar versorgt werden
Elia der Prophet
Die Sterntaler
9. Der unverhoffte Erfolg
Der wunderbare Fischfang
Der Fischersohn
10. Wundersame Heilung
Die Heilung des Blinden
Die jungfräuliche Königin
11. Aus wenig mach viel
Die Speisung der Viertausend
Der süße Brei
12. Von den Toten zurückkehren
Die Auferweckung der Tochter des Jairus
Die Kinder mit den goldenen Haaren
Nachwort
Anhang
Die Autoren
Bücher der Autoren
Die Wahrheit ging durch die Straßen der Stadt, nackt wie am Tag ihrer Geburt. Jeder der sie traf, flüchtete vor ihr und niemand wollte sie in sein Haus lassen. Eines Tages begegnete ihr das Märchen. Das Märchen war geschmückt mit herrlichen, prächtigen, vielfarbigen Gewändern, die jedes Auge und jedes Herz entzückten. „Sage mir, geehrte Freundin“, fragte das Märchen, „warum bist du so betrübt und schleichst so gebückt umher?“ – „Es geht mir schlecht, ich bin alt und betagt und niemand liebt mich“, antwortete die Wahrheit. „Nicht weil du alt bist, lieben die Menschen dich nicht! Auch ich bin sehr alt, doch je älter ich werde, desto mehr lieben mich die Menschen. Siehe, ich will dir das Geheimnis der Menschen verraten: Sie lieben es, dass jeder ein wenig verhüllt ist und schön geschmückt. Ich will dir einige meiner Kleider geben und du wirst sehen, dass die Menschen auch dich lieben werden.“
Die Wahrheit befolgte diesen Rat und schmückte sich mit den Kleidern des Märchens Seit damals gehen Wahrheit und Märchen gemeinsam aus und die Menschen lieben sie.1
Das jüdische Märchen spricht aus, was wir uns mit diesem Buch wünschen: dass biblische Geschichten und Märchen ein Stück miteinander gehen. Ein paar wenige Gedichte mögen uns darauf einstimmen.
Mär-chen (Verkleinerungsform von Mär) bedeutet ursprünglich kleine Kunde, kleine Erzählung.
Evangelium wiederum bedeutet frohe Kunde, gute Nachricht.
Beide haben also etwas zu sagen, zu berichten: die Weisheit des Volkes und die Geschichten der Bibel. Beide künden dem Menschen etwas. Es liegt also in beiden etwas Hohes, etwas, das uns angeht. Während die Religionen und Mythen überall auf der Welt große Geschichten von Göttern und Menschen erzählen, begnügen sich die Märchen immer mit ‚kleinen‘ wundersamen Erzählungen von Menschen, ihren Umständen und ihrem Weg, was ihnen widerfährt und wie sie ihr Lebensziel erreichen - oder verfehlen. Sie sind so etwas wie die kleine Schwester der großen Mythe. Die Anliegen sind nahe beieinander, beispielsweise die Kritik der Maßlosigkeit (Der Fischer und seine Frau und der Turmbau zu Babel), aber auch das Ereignis des Wunders, das wir hier ein wenig entfalten. Vielleicht ist das sogar der Ort, wo die ‚religiöse‘ Dimension im Märchen so klar präsent ist wie bei keinem anderen Thema.
Wer etwas zu sagen hat, auf den darf man immer hören - und man wird sehen, wohin man damit kommt. Wenn wir hier bei unseren ausgewählten Geschichten den Focus auf das Wunder legen, so berühren wir etwas, wo beide Gattungen spiegeln, wie tief uns Menschen das bewegt. Beide wissen um das, was uns geschenkt werden und widerfahren kann, wenn wir Rat und Weisheit annehmen und nicht eigenmächtig unsere Pläne umsetzen und schnurstracks nur unsere Ziele verfolgen. Das gibt dann eher die ‚blauen Wunder‘.
Man hat in der Vergangenheit immer betont, dass biblische Geschichten keine Märchen sind. Man war nur auf Abgrenzung bedacht. ‚Erzähl mir doch keine Märchen!‘ Wie das Wort ‚Mär‘ ('die Mär vom Klapperstorch') waren auch die ‚Märchen‘ immer mehr in den Ruf gekommen, ‚nichts Wahres‘ zu erzählen. Das hat sich in den letzten Jahrzehnten gründlich geändert. Man hört heute wieder neu hin, nicht zuletzt dank der tiefenpsychologischen Deutung ihrer Figuren und Bilder und einer neu belebten Märchenforschung und Erzählkultur.
Und: man hat die Wahrheit des Wunders wieder gefunden – in vielen Facetten.
Wir haben im Folgenden zu unserem Thema zu einer Erfahrung je eine biblische Geschichte und ein Märchen nebeneinandergestellt. Uns liegt nicht so viel an der Einzel-Interpretation als an dem Versuch, dass beide sich gegenseitig spiegeln und bereichern. Wenn wir die Erzählfreude der biblischen Geschichten auch wieder genießen und die Märchen auch als verschlüsselte Weisheitstexte lesen können, sind wir wohl besser im Gleichgewicht mit beiden.
Wir kommentieren hier nicht und möchten es dem geneigten Leser überlassen, seine Entdeckungen zu machen.
Die biblischen Texte sind zitiert nach der Einheitsübersetzung. Die ausgewählten Märchen sind alle aus dem europäischen Raum.
Märchen
Aus längst vergang'nen alten Tagen
hör'n wir Geschichten, hören Sagen,
dringen wundersam an unser Ohr.
Man meint zu hören einen Chor,
wo alle miteinander klingen,
von alter Weisheit zärtlich singen
und leise unser Herz berühr'n,
uns zu uns selber heimlich führ'n
Sie haben immer noch etwas zu sagen
in diesen uns‘ren schnellen Tagen
Biblische Geschichten
Es war einst ein Prophet, der sprach:
Steht es nicht fürchterlich? - Demnach
wird etwas kommen, was verzehrt,
das, was verdorben, was verkehrt
Der Mensch wird ernten, was er sät
Mal kommt es rasch, mal auch erst spät
Drum ändert euren trüben Sinn,
denkt an des Herzens Anbeginn
und führt es treulich dann hinaus
Der Mensch sei liebevoll, gerecht und gut
und schau, was er so denkt und tut
Wenn er sich prüft, gehorsam ist,
bekommt er Zeit und eine Frist
Wunder
Der Apfel hat noch nie so gut geschmeckt
Es war noch nie so still in mir
Die Frucht die hat mich aufgeweckt
für das Leben jetzt und hier
Was für ein Baum! Was für ein Wesen!
Du stehst hier viele hundert Jahr’
Heute bin ich mal genesen,
weil ich in Ehrfurcht bei Dir war
Wie die Amsel grad’ gesungen!
Noch nie hab’ ich DICH so geseh’n
Dieses Buch hab’ ich verschlungen
Wie vieles ist wo wunder-schön!
Jakobs Traum (Mosaner Psalterfragment; 12. Jh.)
Isaak rief Jakob, segnete ihn und befahl ihm: Nimm keine Kanaaniterin zur Frau! Mach dich auf, geh nach Paddan-Aram, zum Haus Betuëls, des Vaters deiner Mutter! Hol dir von dort eine Frau, eine von den Töchtern Labans, des Bruders deiner Mutter! Gott der Allmächtige wird dich segnen. Jakob zog aus Beerscheba weg und ging nach Haran. Er kam an einen bestimmten Ort, wo er übernachtete, denn die Sonne war untergegangen. Er nahm einen von den Steinen dieses Ortes, legte ihn unter seinen Kopf und schlief dort ein.
Da hatte er einen Traum: Er sah eine Treppe, die auf der Erde stand und bis zum Himmel reichte. Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder. Und siehe, der Herr stand oben und sprach: Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott Isaaks. Das Land, auf dem du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Deine Nachkommen werden zahlreich sein wie der Staub auf der Erde. Du wirst dich unaufhaltsam ausbreiten nach Westen und Osten, nach Norden und Süden und durch dich und deine Nachkommen werden alle Geschlechter der Erde Segen erlangen.
Ich bin mit dir, ich behüte dich, wohin du auch gehst, und bringe dich zurück in dieses Land. Denn ich verlasse dich nicht, bis ich vollbringe, was ich dir versprochen habe.
Jakob erwachte aus seinem Schlaf und sagte: Wirklich, der Herr ist an diesem Ort und ich wusste es nicht. Furcht überkam ihn und er sagte: Wie Ehrfurcht gebietend ist doch dieser Ort! Hier ist nichts anderes als das Haus Gottes und das Tor des Himmels. Jakob stand früh am Morgen auf, nahm den Stein, den er unter seinen Kopf gelegt hatte, stellte ihn als Steinmal auf und goss Öl darauf. Dann gab er dem Ort den Namen Bet-El (Gotteshaus). Jakob machte das Gelübde: Wenn Gott mit mir ist und mich auf diesem Weg, den ich eingeschlagen habe, behütet, wenn er mir Brot zum Essen und Kleider zum Anziehen gibt, wenn ich wohlbehalten heimkehre in das Haus meines Vaters und der Herr sich mir als Gott erweist, dann soll der Stein, den ich als Steinmal aufgestellt habe, ein Gotteshaus werden und von allem, was du mir schenkst, will ich dir den zehnten Teil geben (Aus 1. Mose 28).
***
Es war einmal ein König, der warb einem anderen König für seinen Sohn um dessen Tochter und schickte ihm einen Brief und eine kostbaren Ring als Brautgeschenk. Als der fremde König den Brief gelesen hatte, sagte er zu dem Boten: „Freund, ich kann dir keine Antwort geben, ehe ich nicht mit meiner Tochter gesprochen habe.“ Darauf ging er zu seiner Tochter und sagte ihr, dass ein König für sie um seine Sohn freie und dass er ihr als Ehepfand diesen Ring schicke. „Was soll ich ihm antworten?“ Die Königstochter schaute den Ring an und sprach: „Diesen Ring will ich nicht. Nur wenn er mir drei Ringe bringt, einen mit Sternenlicht, einen mit Mondenschein und einen mit Sonnenglanz, erst dann werde ich seine Gemahlin.“
Der König erzählte das dem Boten und fügte hinzu: „Grüße deine König und sage ihm Dank für die Anfrage, bitte ihn auch, mir nicht zu zürnen über die Antwort meiner Tochter, ich vermag ja nichts über sie.“ Der Bote kehrte zurück und berichtete seinem König, wie die Sache stehe. Der König wurde zornig, fing aber an, nachzudenken, wie er die drei Ringe beschaffen könne und ließ zuletzt in aller Welt verkünden, wer ihm einen Sternering, einen Mondenring und einen Sonnenring beschaffen könne, dem würde er die Hälfte seines Königreiches geben. Aber das war vergeblich. Zuletzt verfiel der Königssohn in großen Kummer und beschloss, selbst auszuziehen und die drei Ringe zu suchen. Wohin er auch kam, er fragte nach ihnen, aber er konnte sie nirgends finden. Zuletzt geriet er in ein großes Gebirge und wollte sich schon vor gram das Leben nehmen. Da begegnete ihm eine alte Frau, die grüßte er mit „Gott helfe!“ Sie erwiderte: „Gott kann freilich helfen, du unglücklicher und doch glücklicher, ja überglücklicher Sohn.“ Der Königssohn verwunderte sich und fragte, was das bedeuten solle. „Du bist ja fast zugrunde gegangen, aber in mir hast du eine Ärztin gefunden, die dich, so Gott will, von deinem Leid befreien wird.“ Nun wollte der Königssohn ihr alles erzählen, sie aber rief: „Genug, genug, ich weiß schon, was dir fehlt! Nimm diese Kraut von meinem Brusttuch und stecke es in dein Hemd, ganz nahe bei deinem Herzen. Dann löse mein Haar und lass die eine Hälfte nach vorn, die andere über meinen Rücken fallen.“ Und als er das getan hatte, füllte es das ganze Tal.
„Setz dich zu mir“, sagte die Alte. Nun müssen wir warten, bis der erste Stern aufgeht. Sobald du ihn siehst, nimm das Kraut in deine Hand und sprich: „Gib mir, o Gott, den Sternering.“ Das tat er und alsbald funkelte ein Ring vor ihm im Gras und in dem Ring war ein Stern.
Setz dich wieder zu mir“. Nun müssen wir warten, bis der Mond aufgeht. Sobald du ihn siehst, nimm das Kraut in deine Hand und sprich die Worte: Gib mir, o Gott, den Mondenring.“ Da tat er und alsbald schimmerte ein Ring vor ihm im Gras und in dem Ring war ein Mond.
„Setz dich wieder zu mir. Nun müssen wir warten, bis die Sonne aufgeht. Sowie du den ersten Sonnenstrahl siehst, schau durch mein Haar und sprich dreimal: o Gott, verwandle dieses Haar in den Sonnenring.“ So saßen die beiden die ganze Nacht, schwiegen und warteten. Endlich ging die Sonne auf. Der Königssohn tat alles, was die Alte ihm geraten hatte und alsbald strahlte ein Ring vor ihm im Gras und in dem Ring war eine Sonne. Als der Königssohn nun die drei Ringe erlangt hatte, fragte er: „Womit kann ich dir, Mütterchen, nun danken? „Mit nichts anderem, als dass du, solange ich lebe, für meine Seele betest, denn ich werde in wenigen Tagen sterben.“ Da bedankte sich der Königssohn, küsste ihre Hand und nahm Abschied. Dann zog er mit den drei Ringen zu der Königstochter und nun wurde sie seine Braut. Sie feierten Hochzeit und sie lebten glücklich miteinander. Denn der Sternenring, der Mondenring und der Sonnenring waren bei ihnen.2
Ein Mann aus einer levitischen Familie ging hin und nahm eine Frau aus dem gleichen Stamm.