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Kraftorte sind Orte der Natur mit einer besonderen Ausstrahlung: alte Bäume, Seen, Wasserfälle, Hügel, Berggipfel, Quellen u.a.m. Diese hatte man früher intuitiv gespürt und dort geruht, gebetet, Steine aufgestellt, Blumen niedergelegt, Städte und Klöster gebaut, Kultstätten und Kirchen errichtet. Dieses Buch mag eine Hilfe dazu sein, diese Orte und unser eigenes Gespür dafür wiederzuentdecken. Die 12 hier ausgewählten Volksmärchen haben ihre eigene, oft sehr anschauliche Art, die Magie eines jeweiligen Ortes mitsamt den jeweiligen Helden zu beschreiben. Man muss als heutiger Leser nicht das naive Weltbild der Märchen übernehmen, um zu erahnen, was damit gesagt ist. Wie lebendig und zauberhaft Seen und Berge, Flüsse und Bäume immer noch sein können, erfahren glücklicherweise viele Menschen. Wir sind heute sehr bemüht, diese besonderen Orte zu schützen. Aber es gilt auch, ihnen liebevoll und ehrend begegnen, wie das früher in einer mythischen Weltsicht praktiziert wurde. Wir würden dann möglicherweise auch wieder deren Erfahrungen machen: Erfahrungen der Kommunikation und Berührung, der Hilfe und Heilung, der Träume und Visionen.
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Seitenzahl: 190
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Kraftorte der Naturin den Volksmärchen
Jürgen WagnerHeidi Christa Heim
Impressum
Copyright: © 2025 Jürgen Wagner
Druck und Verlag: epubli
GmbH, Berlin, www.epubli.de
Überarbeitung und Neuauflage des Buches von 2015
Titelbild: Ivan Bilibin
Vorwort
Magische Orte in den Volksmärchen
1. Der Bach
Die Wasserose
Märdöll
2. Der Berg
Die Königstochter im Berg Muntserrat
Olwen und Einion
3. Der Baum
Der Weber
Die Waldfrau
4. Der Brunnen
Die drei Köpfe im Brunnen
Der Brunnen am Ende der Welt
5. Der See
Der verzauberte See
Die Jungfrau vom See
6. Der Wald
Die Waldmutter
Der Eisenhans
7. Die Höhle
Jon und die Riesin
Die Höhle der Tiere
8. Der Hügel
Die Krone des Schlangenkönigs
Fingerhütchen
9. Der Sumpf
Die Froschkönigin
Der Bursche, der um die Tochter der Mutter im Winkel freien wollte
10. Die Kirche
Die sieben Fohlen
Der Sprosser und die Nachtigall
Nachwort
Anhang
Es gibt Orte, die eine besondere Ausstrahlung besitzen. Sie ziehen uns in ihren Bann und wir sind meist gerne dort. In der Neuzeit werden sie gerne ‚Kraftorte‘ genannt: der Königssee im Berchtes-gadener Land, die Externsteine im Teutoburger Wald, der höhlenreiche Untersberg im Salzburger Land, die St.-Anna-Linde bei Heilbronn, die Bavaria-Buche bei Pondorf, um nur einige zu nennen. Aber auch von Menschen gestaltete Orte können etwas Kraftvolles, geradezu Magisches besitzen. Am bekanntesten sind wohl die Pyramiden von Gizeh und die auf die Sterne und Zeiten ausgerichtete Anlage von Stonehenge. Viele Kapellen und Kirchen stehen bereits an natürlichen Kraftorten und haben eine ähnliche Anziehungskraft. Wenn man erst einmal sich dafür öffnet und einen Sinn dafür entwickelt, wird man auch in der eigenen Umgebung manches entdecken, was sich heraushebt: am nahen Bach, auf einer blühenden Wiese, bei alten Bäumen, an markanten Felsen, im alten Park, in einer Waldlichtung, auf Berges Höhen. Auch menschlichen Räume können eine angenehme und einladende Kraft und Atmosphäre haben oder auch nicht.
Auch die Volksmärchen kennen all diese Orte und erzählen von ihnen – auf ihre Art. Jene Orte, an denen man einst ruhte, besondere Träume hatte und Steine errichtete (1. Mose 28), wo man sich niederließ, Städte und Klöster gründete, Tempel und Kultstätten errichtete. Die Märchen habe ihre eigene Art, von diesen Orten zu erzählen. Sie schildern sie als belebte Orte, als Orte, wo Geheimnisse schlummern, wo etwas Neues möglich ist, wo Verwandlung und Erlösung geschehen kann. Dem möchte das Buch etwas nachgehen und nachspüren. Die alte Vorstellungswelt von einer Vielzahl zauberhafter Wesen und Naturgeister möge man als Brücke nehmen zu eigenen Erfahrungen, nicht als ein Land, in das wir zurückkehren sollten. Die Märchen öffnen immer einen Raum, der Wunder und Wunderbares zulässt – auch für den Menschen des 21. Jahrhunderts. Ein Berg kann einen immer noch entrücken von allem Alltäglichen, ein See kann ein kleines Paradies sein, ein Fels ein Gesang, ein Baum eine Herberge und Zuflucht, ein still dahinfließender Bach eine Anmut und ein Frieden, eine unberührte Mooslandschaft im Wald ein Tummelplatz von Waldgeistern.
Angesichts des großen Ausmasses der Ausbeutung und Zerstörung so vieler kraftvoller Orte auf der Erde mag es an der Zeit sein, diesen heute wieder mehr Beachtung zu schenken. Dazu können auch die Märchen einen kleinen und schönen Beitrag geben.1
Kraft und Magie eines Ortes werden in den Volksmärchen meist ausgedrückt durch die Wesen, denen Märchenheldin oder –held dort begegnen. Das können weise, zauberkräftige Menschen, hilfreiche Totenseelen, Naturgeister, sprechende Tiere, heilende Pflanzen oder schenkende Bäume sein. Sie schützen auf dem Wege und helfen mit bei anstehenden Aufgaben und Prüfungen. Sie stehen bei in Grenzsituationen der Not und sie helfen mit bei Verwandlung und Erlösung. Ihre Hilfe antwortet auf Wesen und Handeln des jeweiligen Märchenmenschen. Was Drewermann von den Engeln schreibt, gilt wohl auch für alle Märchenfiguren: Sie können eine uns vertraute Gestalt annehmen, damit wir ihnen leichter vertrauen können.
Dem Volksmärchen sind Wunder etwas Selbstverständliches und die Magie eines Ortes kann sich auch in dem zeigen, was dort geschieht. Die erste, kostbare Einsicht dabei ist, dass Wunder überall geschehen können. So ist der WEG des Märchenmenschen schlicht der häufigste Ort, wo Zauberhaftes erfahren wird. Doch nur wenn ein Mensch Gewohntes verlassen und sich auf seinen Weg gemacht hat, wird er ein Wunder erleben. - Daneben aber gibt es im Märchen auch Orte, an denen besonders oft numinosen Mächten begegnet wird und die von ihrer Beschaffenheit her Gemeintes symbolisch ausdrücken. Meist handelt es sich dabei um Plätze in der Natur. In europäischen Volksmärchen ist der WALD mit seinen vielfältigen Bedeutungen einer der häufigsten magischen Orte, dicht gefolgt von allen Wasserorten und Bergen. Aber auch in menschlichen Bauwerken kann Zauberhaftes erfahren werden. In einer armseligen Hütte kann eine weise Alte leben, die Rat und goldene Geräte zu verschenken hat. Tor und Brücke können für Übergänge stehen und im Schloss kann Verwunschenes wie Wunderbares gefunden werden.
Nun sind alle Orte im Märchen mehr als nur reine Bühnenbilder, sie sind meist eng mit dem Geschehen verknüpft. Sie können auch ein Symbol für die innere Befindlichkeit der handelnden Hauptfigur sein. Nicht zuletzt ist ein Ort manchmal nur ein profaner und manchmal ein magischer. So kann ein Hügel nur eine topografische Erhebung oder der Ort eines Feenpalastes sein. Eine Märchenhöhle kann willkommenen Schutz bieten, eine andere bedeutet Gefangenschaft und Bedrohung. Ein Brunnen kann nur ein profaner Wasserspender sein oder in die unterirdische Welt der Frau Holle führen. Auch unzählige andere Märchen drücken mit ihren Bildern und Handlungsfäden dasselbe tiefe Geheimnis aus: Alle magischen Märchenorte können Tor, Übergang und Brücke in andere Welten und Wirklichkeiten sein. (HCH)
„Bäche im Volksmärchen haben Trinkwasser. Sie stillen den Durst und halten Verdurstende am Leben. So können sie für bewegte Lebendigkeit stehen und ein Leben überhaupt wieder in Fluss bringen. Märchenbäche bergen Schätze: hier einen Fruchtbarkeit schenkenden Fisch, manchmal einen goldenen Fisch oder auch einen Lachs der Weisheit.
Bach und Fluss können auch ein Sehnsuchtsweg zur Geliebten sein. Der irische Baranor fischt ein goldenes Frauenhaar aus dem Wasser. „In dem Augenblick, als er es berührte, war er verliebt und das ist eine schlimme Krankheit, wie jeder weiß, der sie einmal hatte“ und er rastet und ruht nicht, bis er die Frau gefunden hat, von der dieses Haar stammt.
Manchmal zeigt der Bach auch den Weg zum Glück. Ein armer Mann folgt einer Weisung des Traumes, geht ihn zurück bis zur Quelle, kämmt dort eine betörend schöne Vila und reißt ihr ein rotes, magisches Haar aus, das ihm zu großem Reichtum verhilft.
Bäche können aber auch schädlich sein, wenn sie ungewollt etwas forttragen (wie das Amulett der Mutter in der Grimm‘schen Gänsemagd)“. (HCH)
Vor langer Zeit lebte einmal ein junger Zigeuner mit Namen Petru, der war so fleißig und sparsam wie kein anderer seines Stammes. Den ganzen Tag arbeitete er im Dorf und abends gönnte er sich nicht einmal einen Schluck Branntwein. Er sparte, weil er ein Mädchen liebte, die Stieftochter einer alten Frau am Ende des Dorfes. Die anderen Zigeuner warnten ihn: „Heirate doch ein Mädchen aus unserem Volke und lass dich nicht mit dem Dorfpack ein! Du bist ein Zigeuner und solltest eine Zigeunerin zur Frau nehmen!“ Aber Petru ging jeden Abend in die Hütte der alten Frau, wenn sie schlief und unterhielt sich mit seinem Mädchen. Die alte Frau wusste recht gut, dass ihre Stieftochter den Petru lieb hatte, doch sie ließ den beiden ihren Willen.
Da kam der Herbst ins Land und die Zigeuner wollen in ihr Winterquartier ziehen. Petru ging zur Stiefmutter seines Mädchens und bat, sie möge ihm ihre Tochter zur Frau geben. „Wo denkst du hin? Ich soll das Mädchen einem Zigeuner geben, damit du sie zu deinem Stamm hinführst und ich hier in der Hütte allein zurückbleibe? Geh zu deinen Leuten und heirate eine Zigeunerin! Ein weißes Mädchen ist nichts für einen braunen Mann! Pack dich fort!“ Traurig verließ Petru die Hütte.
Doch am Abend erzählte er seiner Liebsten, was die Stiefmutter gesagt hatte und beide beschlossen, zu seinem Stamm zu fliehen und dort zu heiraten. Die Alte jedoch kannte Hexenkünste und hatte einen Hahn, der ihr immer alles verriet. Kaum waren die beiden zum Dorf hinaus, da schrie schon dreimal der rote Hahn:
Kuriku!
Unsere Jungfrau geht mit dem Petru!
Sie geht am Dorfrand durch die Au,
bald wird sie Petrus Frau!
Da sprang die alte Frau von ihrem Lager, nahm aus dem Schrank ein Zaubergarn heraus, warf es auf den Weg und sprach:
Rolle, rolle, du mein Knäuel!
Rolle, rolle, eil du, eil!
Rolle meiner Tochter nach,
stürz sie in den nächsten Bach!
Als die Fliehenden über eine Brücke gingen, da rollte das Knäuel unter Füße des Mädchens und sie stürzte hinab ins kalte Wasser. Petru blickte verzweifelt zum Fluss hinunter und sah nur eine Wasserrose, von seiner Liebsten jedoch keine Spur. Er lief ins Dorf zurück und erzählte der alten Frau weinend, was geschehen war. „Ja, sie ist eine Wasserrose geworden. Wenn du bei ihr sein willst, so spring ihr nach!“ und jagte ihn davon.
Petru ging zurück zur Brücke und versuchte, die Wasserrose zu pflücken, doch sie verschwand immer unter dem Wasser. Dem armen Petru verging die Zeit sehr langsam. Traurig saß er auf der Brücke und blickte hinab ins Wasser, wo die schöne Wasserrose blühte.
Einmal saß er spät in der Nacht auf der Brücke und weinte. Da hörte er auf einmal einen schönen Gesang und sah drei Nivaschi-Mädchen, die auf dem Wasser tanzten. Lange sah er ihrem Tanz zu und als sie sich einmal ausruhten, hörte er eine von ihnen sagen: „Wenn dieser arme Junge uns Äpfel und Eier ins Wasser werfen würde, dann wollten wir die Wasserrose in seine Liebste zurück verwandeln!“
Petru hörte diese Worte und stand in der nächsten Nacht mit einem Korb voll Äpfeln und Eiern auf der Brücke. Als die Wasserjungfrauen wiederkamen, schüttete er seinen Korb über das Wasser aus. Voller Freude fischten die Mädchen alles aus dem Wasser und aßen es. Als sie alles verzehrt hatten, traten sie zu der Wasserrose und küssten sie. Da tauchte aus dem Wasser Petrus Liebste hervor und die Nivaschi-Mädchen trugen sie zur Brücke, wo sie Petru in die Arme fiel. Die alte Hexe aber wurde am anderen Tag von den Nivaschi-Mädchen in den Fluss gelockt, wo sie ertrank.
Petru zog nun mit seiner schönen Frau in die Stadt, wo er als großer Herr mit ihr in Glück und Freude lebte, denn die Nivaschi-Mädchen hatten ihnen auch noch viel Silber und Gold geschenkt.2
Es waren einmal ein Herzog und eine Herzogin. Die waren lange miteinander verheiratet und liebten sich wohl, aber sie bekamen kein Kind, so gern sie auch eines haben wollten. Darüber waren sie sehr bekümmert.
Einmal ging die Herzogin in einem schönen Nusswalde spazieren. Da überkam sie eine große Müdigkeit und sie schlief ein und im Traum begegnete sie drei hochgewachsenen Frauen in schwarzer Kleidung. Sie redete sie an und fragte sei, wie sie hießen. „Wir sind die drei Schwarzröcke und wir brauchen dich nicht zu fragen, wer du bist und wie du heißt. Wir wissen auch, was dir fehlt und sind bereit, dir zu helfen. Geh an den Bach in der Nachbarschaft und iss die Forelle, die du darin finden wirst. Davon wirst du ein Kind bekommen. Zu dessen Taufe aber wollen wir alle drei uns im Voraus eingeladen haben.“ Damit verschwanden die drei Frauen und die Herzogin erwachte.
Sei folgte dieser Weisung, ging an den Bach, fand die Forelle, aß sie und fühlte sich auch bald guter Hoffnung. Zur rechten Zeit wurde dann auch das Kind geboren und es war ein wunderschönes Mädchen. Sogleich wurde die Schaffnerin beauftragt, alles zum Empfange der drei Schwestern herzurichten. Aber die war so unachtsam, dass sie nur zwei Gedecke auflegte und als die Schwarzröcke kamen, musste die Jüngste leer ausgehen. Die beiden älteren Schwestern gaben dem Kind den Namen ihrer Mutter Märdöll und hießen sie so schön werden wie die Sonne und nur pures Gold weinen, wenn ihr die Tränen kämen und sie sollte einen Königssohn zum Mann gewinnen. Die dritte konnte zwar von dem allen nichts wieder zurücknehmen, aber weil sie erzürnt war, fügte sie den Fluch hinzu, dass Märdöll in der Brautnacht ein Sperling werden solle. In den ersten drei Nächten könne sie je eine Stunde ihre Sperlingshaut ablegen. Wenn aber in der dritten Nacht nicht jemand die Zauberhaut abnehme und verbrenne, solle sie auf immer und ewig ein Sperling bleiben. Damit gingen die drei Schwestern von dannen.
Nun erfüllte sich an Märdöll zunächst der Segen der beiden älteren Schwestern. Sie wurde wunderschön, alle ihre Tränen wurden pures Gold, der Herzog wurde sehr reich, die Sache sprach sich herum und endlich kam ein Königssohn, um sie zu freien. Damit aber war die Zeit gekommen, wo der Fluch der dritten Schwester in Erfüllung gehen sollte. Nun lebten in der Nähe des Königshofes ein alter Mann und eine alte Frau in einer schlechten Hütte, die hatten eine Tochter mit Namen Helga. Die Alte war die Amme der Märdöll gewesen und Helga hatte ihre Milchschwester sehr lieb. Als nun Märdöll mit dem Königssohn wegziehen sollte, da nahm sie ihre Milchschwester mit. Um nun dem bösen Fluch zu entrinnen, versuchte sie es zunächst unterwegs, dem Königssohn ihre Milchschwester unterzuschieben. Der aber schöpfte Verdacht und um ins Klare zu kommen, gab er beiden ein paar tüchtige Ohrfeigen. Beide weinten, aber nur die Tränen der rechten Braut waren von Gold. Aber in der Nacht gelang es den beiden, sich miteinander zu vertauschen. Helga ruhte im Arm des Königssohnes, Märdöll aber wurde zu einem Sperling und flog davon.
Nun sollte Helga dem Königssohn über Nacht ein Tuch voll Gold weinen und das konnte sie doch nicht. Da stach sie ihm einen Schlafdorn ein, ging hinaus zum Hügel und sprach:
Komme, komme, Märdöll,
komme meine Schwester
komm geliebte Freundin
auf den Heideweg.
Gold soll ich ihm geben,
doch ich kann’s nicht weinen.
Da kam nun der Sperling angeflogen, nahm seine menschliche Gestalt wieder an und weinte eine Stunde lang pures Gold. Dann verwandelte er sich wieder und flog als Sperling davon. Helga aber legte sich ins Bett zu dem Königssohn, übergab ihm am Morgen das Gold und damit war alles gut.
Wie in der ersten Nacht so ging es nun auch in der zweiten und dritten. In dieser aber hatte Helga den Schlafdorn nicht fest genug eingestochen, der Königssohn war unruhig im Schlafe und der Dorn fiel ihm aus den Kleidern. Davon erwachte er und als er seine vermeintliche Frau von sich wegschleichen sah, ging er ihr unbemerkt nach und sah und hörte alles, was sich bei der Begegnung mit dem Sperling begab. Da erkannte er den Zusammenhang der ganzen Geschichte, sprang eilends hinzu, packte das abgeworfene Sperlingskleid und verbrannte es. Damit war der Zauber gelöst. Die Hochzeit wurde aufs Neue gefeiert und fortan lebte Märdöll mit dem Königssohn zusammen, sie bekamen Kinder und waren sehr glücklich miteinander.3
***
Alle Märchen legen eine klare Situation zugrunde. In unserer isländischen Geschichte ist es ein Paar, das sich liebt, aber keine Kinder bekommen kann. In einem Wald mit Nussbäumen schläft die Herzogin ein und hat einen bedeutungsvollen Traum.
Ihr begegnen drei Frauen in schwarzen Röcken, die ‚wissend‘ sind. Sie mögen ein Widerhall sein jener drei Frauen, die in der nordischen Mythologie am Weltenbaum wohnen, täglich den uralten Brunnen gießen und das Schicksal weben: die Nornen. Sie wissen - und sie vermögen auch etwas zu tun.
Nur: die drei Frauen stellen der Herzogin eine Bedingung. Die Erfüllung eines Wunsches hat – nicht nur in den Märchen - oft einen Preis. Dieser scheint hier nicht hoch zu sein: eine Einladung zur Taufe sollte wahrlich nicht das Problem sein.
Ihr Traum verweist die Frau auf einen fließenden und lebendigen Bach. Das ist in den alten (schamanischen und naturreligiösen) Traditionen nichts Fremdes: man empfängt einen ungewöhnlichen (intuitiven) Rat und vertraut diesem. Sie isst eine Forelle und: wird schwanger – auch wenn dies verstandesmäßig nicht nachzuvollziehen ist. Heutzutage würde man sagen: es muss etwas Ungewöhnliches geschehen - das aber passen muss - damit eine Blockade sich löst oder etwas Fehlendes beigesteuert wird. Darin zeigt sich die höchste Intuition, die man vom gewohnheits-mäßigen Aberglauben trennen muss (‚Forellen machen fruchtbar‘).
Der Bach ist ruhiges Fließen, sorgloses Dahinplätschern. Immer und überall findet er seinen Weg. Das ist eine Qualität, die das Leben (wieder) in Fluss bringt.
Voraussetzung ist natürlich, dass sie wirklich zum Bach hingeht und sich darauf einlässt.
Die Herzogin findet eine Forelle und isst sie. Sie muss das nicht verstehen, sie tut es einfach. Und ihr wird geholfen.
Das sehnlichst erwartete Kind wird tatsächlich geboren: Märdöll. Sie ist nicht nur hoch erwünscht, sondern ist auch hoch gesegnet – wäre da nicht diese eine Unachtsamkeit, die die jüngste der drei hohen Gäste leer ausgehen lässt. Das ist ein Frevel, der nicht zu entschuldigen ist. So wird der Segen zwar doppelt gesprochen, aber ein Fluch kommt hinterher. Er droht alles zunichte zu machen, was bis dahin gewonnen ward.
Das Märchen nimmt einen spannenden Verlauf. Die Tochter Märdöll ist bereit, ihr Schicksal anzunehmen, das ihr die Nachlässigkeit der Schaffnerin beschert hat. Sie hat etwas von der Qualität des Wassers, des Baches, der immer seinen Weg findet - durch alle Hindernisse hindurch oder an ihnen vorbei. Dem Bach und der Forelle verdankt sie ihre Existenz. Und sie hat auch etwas von deren Wesen.
Märdöll versucht alles, ihrem Fluch zu entrinnen und der Hochzeitsnacht zu entgehen. Ihre erste Täuschung ihres Bräutigams misslingt. Aber dann kann sie zwei Nächte lang dem goldhungrigen Königssohn ihre Helga ‚unterjubeln‘, mit der sie großgezogen worden war. Durch den Schlafdorn merkt dieser nichts. Dennoch erliegt sie dem Fluch und wird zum Sperling.
In der dritten Nacht spitzen sich die Ereignisse zu. Der Schlafdorn ist nicht wirksam genug und der Bräutigam folgt der Frau und sieht, was sich auf dem ‚Hügel am Heideweg‘ zuträgt. Seine Größe ist es, dass er nicht wie beim ersten Mal die Täuschung einfach aufdeckt, sondern die dramatische Situation erkennt, sofort handelt und die Sperlingshaut verbrennt. Seine Klarheit und sein entschlossenes Handeln bringen Märdöll die Erlösung und beenden den Fluch. Und er selbst scheint über seine Begehrlichkeit hinauszuwachsen, die immer nur forderte und wollte, aber nichts Adäquates dafür bot.
Das Märchen ist nicht nur ein Märchen über eine Frau (Märdöll), es ist ein Märchen der weiblichen Seele und ihrer Erlösung. Es lebt ganz von seinen weiblichen Hauptfiguren. Zunächst ist es die Herzogin, dann die Liebe der beiden ‚Schwestern‘ zueinander, die das ganze Geschehen tragen. Auch die Orte Nusswald, Bach und der Hügel mit dem Heideweg beinhalten eher weibliche Symbolik.
Doch braucht es zur Erlösung den Gegenpol. Zunächst ist es der Fisch, der hier das Männliche repräsentiert und die Frau fruchtbar werden lässt. Dann kommt der begehrliche Königssohn, der aber über sich hinauswächst und durch klare Erkenntnis und entschlossenes Handeln die Lösung herbeiführt. So ist es die männliche Kraft, die die Frau befreit - wie umgekehrt in Märchen mit männlichem Weg es immer die Frau ist, die ihn an sein Ziel kommen lässt.
Menschen haben Berge schon immer als heilige Orte verehrt, aber auch gefürchtet. Beides wird mit den Figuren und Handlungsfäden der Märchen ausgedrückt. Schon der Aufstieg ist schwierig und gelingt oft nur mithilfe eines Zauberdinges. Zur wartenden Königstochter auf den Glasberg4 kommt man meist nur mit einem Wunderpferd.
Oben auf dem Berg können eine weise Alte oder ein Einsiedler raten und helfen. Ein Zwerg kann auf der Bergspitze mit seiner Feuermagie helfen, einen Werwolf zu erlösen. Aber dort oben können auch bedrohliche Trolle hausen, deren Schätze man nur unter Gefahren erringen kann. Auch eine Hexe kann oben mit ihren unlösbaren Aufgaben warten.
Innen im Märchenberg, manchmal auch oben, gibt es alle Kostbarkeiten der Welt, doch sind sie nur unter großen Gefahren zu erringen. Im Berg schlafen auch mythologische Könige wie Arthur, doch kann dort auch ein ganzes Trollpack leben. Innen im Berg leben Berggeister wie Rübezahl und Bergjungfrauen. Begegnet der Mensch ihnen in rechter Weise, können sie ihm hilfreich sein. (HCH)
Waren es im Mythos Götter, die auf dem heiligen Berg wohnten, werden im Märchen die Mysterien mit anderen Bildern umschrieben. Der Heilige Berg wird zum Glasberg oder, wie hier, zum „Berge weit über’m Meere“ und statt der Gottheit wartet eine unberührte Königstochter mit dem Wasser des Lebens.
Es war einmal ein König der hatte drei Söhne. Als er schon bei Jahren war, verfiel er in eine Krankheit und es wurde von Tag zu Tag schlimmer mit ihm, bis endlich die Ärzte erklärten, es sei ihm nicht mehr zu helfen. Vergebens bot er Geld und Gut im Überfluss aus, wenn einer ihn retten könne, es schien kein Kraut für ihn gewachsen.
Da träumte ihm eines Nachts, weit über‘m Meere liege der Berg Muntserrat, dahinein sei König Karl verwünscht. In dem Berge stehe ein stolzes Schloss und vor dem Schloss sprängen drei Brunnen, davon sei einer der Brunnen der Schönheit, der andere der Brunnen des Lebens und der dritte der Brunnen des Todes. Wenn nun einer hinginge und Wasser aus dem Brunnen des Lebens hole, das sei seine Rettung.
Am folgenden Morgen erzählte er seinen Söhnen den Traum und sprach: „Ach wüsste ich doch einen, der mir Wasser aus dem Brunnen des Lebens holte, ich gäbe ihm mein halbes Königreich.“ Als das der älteste von den Söhnen hörte, sprach er: „Ich will hingehen und von dem Wasser holen.“ Er sagte das aber nicht, weil er seinen Vater liebte und ihn vom Tode erretten wollte, sondern weil er fürchtete, die Hälfte des Königreiches könne in andere als seine Hände kommen. Der alte König aber glaubte nicht anders, als das spreche die Liebe aus ihm, und war darum doppelt glücklich darüber. Er ließ alsobald Kisten und Kasten voll Kleider und Geld packen und schenkte sie dem Ältesten, dazu viele Wagen und Pferde mit Kutschern und Bedienten; dann segnete er ihn und fort ging's in die weite Welt.
Jenseits des Meeres kam der Königssohn an ein Wirtshaus, das war schöner als er noch eins gesehen. Als er abstieg und in das Gastzimmer kam, saßen da viele vornehmen Herren, die tranken und spielten Karten. Er fragte, ob sie ihn mitspielen lassen wollten? Jawohl, sprachen die Herren, wenn er aber verlöre und könnte nicht bezahlen, dann müsste er sterben. Das war ihm recht, denn er meinte, sein Geld könne nicht alle werden, und so spielte er ins Blaue drauf los. Er hatte aber Unglück und verlor nicht nur alles, was er um und an hatte, sondern er machte noch Schulden dazu und als er dieselben nicht bezahlen konnte, wurde er festgenommen und ins Gefängnis geworfen.