Märchen und Mythos - Jürgen Wagner - E-Book

Märchen und Mythos E-Book

Jürgen Wagner

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Beschreibung

"Menschen denken nicht in Fakten, sondern in Geschichten", sagt der israelische Historiker Yuval Harari. Anders gesagt: die Sprache unserer Seele ist zutiefst eine Bilder- und Symbolsprache. Deswegen lieben und brauchen wir Geschichten und erzählen sie immer wieder. Die alte Kunde der Märchen und Mythen entfaltet noch immer ihren stillen Zauber, wenn wir bereit sind, uns zu öffnen und hinzuhören. Damit wir nicht nur die alten Pfade austreten, sollten wir mit ihnen auch neue Wege für eine gute Zukunft auf der Erde wagen. Dieses Buch liest die uns bekannten Märchen neu, indem die alten mythischen Bilder und Symbole mitgehört werden, auf die die Märchen zurückgreifen. Immer wieder schauen wir dabei auch auf unsere Zeit, was für uns heute von Belang sein könnte. So könnten wir ein Stück Magie in unserem Leben wiedergewinnen, eine tiefere Verbundenheit mit der Natur und eine Ethik von Verantwortung, Hilfsbereitschaft und angemessenem Verhalten.

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Seitenzahl: 256

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Märchen und Mythos

Alte Kunde, stiller Zauber, neue Wege

Jürgen Wagner

Impressum

© 2025 Jürgen Wagner

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Titelbild: John Bauer, Die Prinzessin im Wald, 1915

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

I Sich zu keinem Unrecht hinreißen lassenDie zwei Brüder (Altes Ägypten)

Die zwei Fischersöhne (Österreich)

II Seine Sterblichkeit annehmen

Die drei Schlangenblätter (KHM 16)

Gilgamesch und das Kraut der Unsterblichkeit (Babylonien)

III Das Wilde in uns

Enkidu, Pan und Merlin

Der wilde Mann (Der Eisenhans KHM 136)

IV Ahnenbaum und SeelenvogelAschenputtel (KHM 21)

Das chinesische Aschenputtel: Ye Xian

V Unsichtbare Begleiter

Der Kamerad (Norwegen)

Tobias und der Engel (Das Buch Tobit)

VI Tiere verstehen

Die weiße Schlange (KHM 17)

Die redenden Tannen (Finnland)

VII Der Baum und seine Früchte

Der Königssohn, der sich vor nichts fürchtet (KHM 121)

Der Raub der Iduna

Der Garten der Hesperiden

VIII Schicksal und LiebeDornröschen (KHM 50)

Die Erweckung der Sigrdrifa

IX Winterschlaf und FrühlingserwachenDie Heldenreise Schneewittchens (KHM 53)

Freyja bei den Zwergen

Amor und Psyche

X Die Prüfung der MenschenFrau Holle (KHM 24), die Hüterin der Natur und der fraulicher Dinge

XI Ein Krieger in FriedenszeitenDer Bärenhäuter und die Berserker Odins

Der Bärenhäuter (KHM 101)

XII Sich mit Riesen und anderen Unheilstiftern anlegenVon einem tapferen Schneider (KHM 20)

Thor und Loki bei Utgard-Loki

XIII Die Auseinandersetzung mit dem BösenRotkäppchen (KHM 26) und derMythos vom bösen Wolf

XIV Der Brunnen, der Baum und der FährmannDer Teufel mit den drei goldenen Haaren (KHM 29)

Die großen Fragen des Lebens

XV Magische Worte, magische DingeTischlein deck dich (KHM 56)

Die Mühle, die auf dem Meeresgrund mahlt (Norwegen)

Das Mühlenlied

XVI Die böse HexeHänsel und Gretel (KHM 15)

Die alte Frick

XVII ‚Sag, wer mag das Männlein sein‘Rumpelstilzchen (KHM 55)

Tom Tit Tot

XVIII Der Tod als Pate und Lehrmeister

Der Königssohn und der Tod(Island, Schottland)

Die Geschichte von Norna-Gest

Anhang

VORWORT

Mythen und Märchen sind zwei Paar Schuhe. Es sind beides – zugegeben - alte Schuhe, an manchen Stellen ausgetreten, aber man kann gerade wegen des Alters gut in ihnen laufen. Sie sind gemacht aus der kollektiven Bilderwelt der Seele, aus archetypischen Motiven, aus typisch Menschlichem und aus spirituellen Elementen, die im Schamanismus wurzeln. Die Mythe ist das eher schwere, das Märchen das leichtere Schuhwerk. Zu beiden kann man je nach Bedarf und Witterung greifen, um ein Stück des eigenen Weges in ihnen zu wandern.

Den grundlegenden Unterschied könnte man so beschreiben: das Märchen ist profan und hat menschliche Helden, Tiere, Pflanzen, Natur- und Fabelwesen. Die Mythe ist sakral und ihre Akteure sind Götter, Menschen und andere Wesen.

Mythen und Märchen bestehen aus grundmenschlichen Motiven in Gestalt von Bildern und Episoden. Sie halten typisch menschliche Erlebnisse und Erfahrungen fest und geben sie durch die Generationen weiter. Manche Erzählungen sind sehr alt und weltweit verbreitet wie die Sintflut oder ‚Die Schöne und das Biest‘‘. Das Aschenputtel finden wir schon im alten Ägypten, im China des 9. Jahrhunderts und im mittelalterlichen Europa. Von einem, der mutig aufbricht und ins Ungewisse los zieht, wird im babylonischen Gilgamesch-Epos ebenso stark erzählt wie in der biblischen Abrahams-Geschichte und in den Volksmärchen rund um den Globus. Auch die biblische, kinderlose Hanna, die Gott um ein Kind anfleht und erhört wird1, ist eine Schwester der vielen Mütter, die in den Märchen ihren Kinderwunsch äußern und nicht von einem Priester, sondern, wie bei Dornröschen, von einem Frosch die frohe Verheißung bekommen.

Mythen wie Märchen haben nicht nur tiefe Wurzeln im kollektiven Bewusstsein der Menschheit, sie reichen auch weit in die Geschichte zurück. Ihre Anfangsmotive sind im animistischen Schamanismus zu suchen, der eine wichtige Entwicklungsstufe der Menschheit in der Steinzeit war. Dieses magische Zeitalter durchlaufen wir auch als Kinder noch einmal zwischen 3 und 5 Jahren, was auch die erste Zeit ist, in der wir in der Lage sind, Märchen zu hören und aufzunehmen.

Mythen und Märchen haben vieles gemeinsam, was aus dem Schamanismus stammt2: eine Notlage als Ausgangssituation, die Reise, die man unternehmen muss, um Hilfe zu bekommen, die helfenden Tier-, Pflanzen- und Ahnengeister, die göttlichen und die natürlichen Geister, den Ausgleich von Geben und Nehmen, Magie und Ethos, die Erfahrung der Geist-, oder Anderswelt, den Initiationsweg, den Gestaltwandel, der auf der Geistebene problemlos funktioniert, das Wunder der Hilfe oder Heilung,

Man muss aber kein Schamane sein, um Geisterfahrungen zu machen. So ist z.B. der Apfel, der in der alten Erzählungen so oft Gesundheit und ewiges Leben schenkt, nicht der, den ich im Supermarkt kaufe und unterwegs beim Autofahren esse, aber vielleicht der, für den ich in den Baum geklettert und fast abgestürzt bin, um ihn noch aus dem Wipfel zu holen. Wenn ich in den beiße, ist es ein Stück Ewigkeit und Glückseligkeit.

So erzählen Mythen wie Märchen vom Alltag und seiner Magie, von der Natur und ihren Gesetzen, von den Versuchungen und Aufgaben des Menschen, vom Sinn und Glück – und von der Liebe. Mythische Hintergründe scheinen in vielen Märchen durch, die ihnen noch eine andere Tiefe geben. Märchenhaftes gibt es in so mancher Mythe, das uns sie leichter nehmen und verstehen lässt. Mythe und Mär sind nicht nur von der Wortbedeutung fast identisch, sie sind auch als Gattung Geschwister, die miteinander und nebeneinander bestehen können. Sinn und Zweck dieses Buches ist es, eine Erfahrung zu machen, wie bereichernd es sein kann, wenn man beide nebeneinander und miteinander liest und versteht.

‚Mär-chen‘ bedeutet in unserer Sprache: die kleine ‚Mär‘, die kleine Kunde. Im Kontrast dazu steht die große Mär, die Mythe, die als Götter-, Helden- oder Retter-Geschichte himmlischen Anspruch erhebt3. Das griechische Wort ‚Mythos‘ bedeutet übersetzt ebenso ‚Rede, Erzählung‘. Der Unterschied merken wir daran, dass das Märchen weltlich, unterhaltsam, heiter auftritt, die Mythe ernst, sinnstiftend, religiös. Vielsagend drückt es die griechische Sprache aus: Märchen sind ‚para-mythi‘, Geschichten, die im Umkreis der Mythen zuhause sind: neben ihnen, unter ihnen und manchmal auch im Gegensatz zu ihnen4.

Die unterhaltsamen Volksmärchen scheinen neben den ernsten Mythen nur leichte Kost zu bieten. Die kleinen, weltlichen Erzählungen bleiben dem Anschein nach weit hinter den großen, heiligen Geschichten zurück. Wenn es um Deutung und Orientierung, Sinn und Erlösung, Entwicklung und Reifung, geht, kann man da zu den Märchen greifen? Ist ihr Glück nicht allzu sicher und allzu naiv? Umgekehrt kann man die religiösen Erzählungen anfragen, ob sie das menschliche Dasein nicht allzu sehr befrachten und beschweren. Kann man vieles im Leben nicht leichter lösen und bewältigen, wenn man nicht einen Katalog von Pflichten und Gesetzen, von Glaubenssätzen und –vorstellungen mit-schleppt? Im Nebeneinander von ‚kleinen‘ und ‚großen‘ Geschichten sehen wir am besten, was an ihnen klein und was groß genannt werden darf. Märchen transportieren schlimme Verzerrungen der Wirklichkeit wie die böse Hexe oder den bösen Wolf, ebenso bieten sie reiche Symbole und ethische Orientierung. Mythen rechtfertigen Krieg und Gewalttat, Missbrauch und Rachsucht, aber sie bieten auch einen Rahmen, in dem wir uns finden und verstehen können. Geben Sie auch für unsere Gegenwart noch den Rahmen, den wir brauchen, um die Zukunft zu bestehen? Wenn es darum geht, dass wir in unserer heutigen Zeit auf bestimmte Dinge verzichten, um etwas zurückzugewinnen an Natürlichkeit und Naturverbundenheit, an intakten Wäldern und Tierwohl, an Qualität und Vereinfachung des Lebens, dann werden wir auch in den alten Geschichten etwas für uns finden. Wir werden aber auch manches an den Märchen und Mythen zu erklären und neu zu interpretieren oder wegzulassen haben. Die böse Hexe z.B. ist eine Verdammung der weiblichen Magie, der böse Wolf eine Projektion unserer Ängste, der Teufel eine Erfindung des Monotheismus, der einen Gegenspieler braucht, um die dunklen Aspekte der Welt verstehen zu können.

In diesem Buch werden einige der bekanntesten Märchen mit mythischen Bezügen und Hintergründen dargestellt. Manches rückt dadurch in ein neues Licht, wenn man die Motive zurückverfolgt und ihren ursprünglichen Kontext und Sinn mit einbezieht. So muss man ‚Schneewittchen‘ und ‚Dornröschen‘ nicht immer als Liebesdrama lesen, man kann sie auch mal als Weih- und Rauhnachtsgeschichte5 hören. ‚Frau Holle‘ muss man nicht nur als Moralgeschichte für Mädchen interpretieren: warum sollte man in ‚Frau Holle‘ nicht auch ‚Mutter Natur‘ sehen dürfen, in deren Haushalt wir unsere Aufgaben mit zu erledigen haben? Nie war es dringlicher, dass die Menschheit ihre ‚Haus-aufgaben‘ macht, die ihr die klimatischen Veränderungen nahelegen. Das tapfere Schneiderlein‘ kämpft mit Riesen, so wie wir heute menschheitlich vor scheinbar unlösbaren Aufgaben stehen oder auch mal persönlich vor ‚riesigen‘ Herausforderungen. In den Mythen wird noch etwas deutlicher als im Märchen, dass wir es bei den Riesen nicht nur mit tumben Hünen und wilden Kräften zu tun haben, sondern mit Gegebenheiten, die man respektieren muss, wenn man von ihnen etwas will. Im ‚Bärenhäuter‘ und im ‚Eisenhans‘ scheint etwas von unserer Vorvergangenheit durch, was gesehen und gewürdigt werden will. So begibt sich dieses Buch auf eine Reise zu den alten Botschaften, um sie für unsere Zeit neu zu hören.

Die bekanntesten, leicht zugänglichen Märchentexte der Brüder Grimm sind hier nicht mit abgedruckt, um den Buchumfang nicht unnötig zu vergrößern.

I DIE ZWEI BRÜDER

Bata und Anubis waren Brüder. Bata war der sehr viel Jüngere und wurde von seinem Bruder mit dessen Frau aufgezogen. Eines Tages, als Anubis und Bata bei der Feldarbeit waren, schickte Anubis seinen Bruder ins Haus zurück, neues Saatgut zu holen. Dort traf er dessen Frau, die gerade frisiert wurde. Sie sprach zu ihm “Wieviel Gewicht trägst du auf deinen Schultern?” Und er sagte zu ihr: “Drei Sack Emmer und zwei Sack Gerste”. Sie schaute ihn an: “Du hast große Kraft in dir, ich sehe deine Stärke jeden Tag.” Ihre Bewunderung war so groß, dass sie mit ihm schlafen wollte. So stand sie auf und fasste ihn an den Schultern: “Komm, wir machen uns eine Stunde des Schlafes! Ich werde dir dafür auch schöne Kleider machen!”

Doch der junge Mann geriet in Wut wie ein Leopard, dass sie so etwas zu ihm sagte. Der Frau wurde angst und bange. Da sagte er ihr: „Du bist zu mir wie eine Mutter und dein Mann zu mir wie ein Vater. Das wäre doch eine Schande und Sünde, wenn wir das täten! Ich werde es niemandem verraten, aber sag so etwas nicht noch mal zu mir!” Er hob das Getreide wieder auf die Schultern und ging in sich gekehrt auf‘s Feld.

Die Frau bekam aber doch Angst, Bata könnte es ihrem Mann sagen. Da kam ihr eine Idee. Sie holte Fett und Bandagen und wickelte sich damit ein, damit es aussah, als wäre sie geschlagen worden.

Als ihr Mann am Abend nach Hause kam,

lag sie wie krank im Bett. Sie zündete kein Licht für ihn an, wie sie es sonst immer tat und tat auch kein Wasser über seine Hände. „Was ist los?“ fragte der Mann. „Als dein Bruder kam, für dich Saatgut mitzunehmen, fand er mich alleine dasitzend. Er sagte zu mir ‘Komm, wir machen uns ein Schäferstündchen. Löse dein geflochtenes Haar’, so sagte er zu mir. Ich gehorchte ihm aber nicht. ‘Bin ich nicht wie deine Mutter und dein älterer Bruder bei dir wie ein Vater?’, sagte ich zu ihm. Da fürchtete er sich und schlug mich und drohte mir, ich soll das dir ja nicht sagen.” Daraufhin wurde der ältere Bruder wütend wie ein Leopard, ließ seinen Speer schärfen und wartete auf seinen Bruder.

Als dieser nach Hause kam und den Stall betrat, sagte die vorderste Kuh zu ihm: „Hinten an der Tür wartet dein Bruder, dich zu töten.“ Und die zweite Kuh sagte es ihm noch einmal. Tatsächlich sah er die Füße von Anubis unter der Tür und den Speer. So legte er seine Ladung schnell ab und floh, Anubis rannte hinter ihm her. Bata betete in vollem Lauf zum Sonnengott, er möge Gerechtigkeit walten lassen. Der erhörte ihn und ließ ein großes Wasser zwischen ihm und seinem Bruder entstehen, in dem Krokodile schwammen. Über das Wasser rief er ihm zu, was wirklich passiert war. Er leistete einen Schwur, holte sich ein Schilfmesser und schnitt sich sein eigenes Geschlecht ab. Er warf es in den Fluss, wo es ein Wels verschluckte. Da fing sein Bruder vor Schmerz und Mitgefühl an zu weinen und glaubte ihm. Da sagte Bata zu ihm: „Ich hoffe, du wirst nicht nur dieses Schlechte in Erinnerung behalten, sondern auch etwas Gutes finden in der Zeit, in der ich bei dir war. Ich werde in den Libanon gehen ins Tal der Zedern und mein Herz auf die Spitze einer Zedernblüte legen. Sollte mir Unheil widerfahren, wird man dir ein Bier im Krug bringen, das schäumt und überläuft. Dann komm und such mein Herz. Und wenn du es gefunden hast, lege es in eine Schale mit kühlem Wasser, dann werde ich zum Leben zurückkehren. Daraufhin ging er weg. Sein Bruder aber ging heim und tötete seine Frau.6

Das Zweibrüdermärchen ist das älteste, schriftliche Märchen, das wir haben. Es wird auf das 13. Jh. v. Chr. datiert und ist über 3000 Jahre alt. Anubis, der Hunde-bzw. Schakalgott, war der Totenrichter über die Seelen. Bata war eine Stier- bzw. Widdergottheit, die wohl ebenfalls mit dem Totenkult in Verbindung stand. Der ursprüngliche Mythos dahinter ist der vom „sterbenden und wieder aufstehenden Gott der Fruchtbarkeit, der sich immer wieder neu inkarniert“7. Den Mythos haben wir nur in einer Fassung erhalten, die 1000 Jahre jünger ist als das Märchen: Bata/Seth stiehlt die Amulette des Anubis, flieht über den Fluss und wandert nach Westen. Anubis verfolgt ihn. Als Bata/Seth ihn sieht, verwandelt er sich in einen Stier, doch Anubis bindet ihn, schneidet ihm seine Zeugungsorgane ab und bringt die Amulette wieder zurück an ihren Platz.

Im Märchen sind noch andere Elemente, die deutlich machen, wie die Fruchtbarkeit des Landes bewahrt wird. A und O des Landes ist seine Überschwemmung durch den Nil. Sie nimmt aber erst mal alles mit und begräbt es unter sich. Dieses Desaster wird im Mythos und Märchen in verschiedenen Bildern beschrieben: Bata stiehlt die Amulette, wird kastriert bzw. kastriert sich selbst. Dadurch wird alle Fruchtbarkeit erst mal lahm gelegt. Auch dies ist ein Tod, den man stirbt. Es ist diese Lebenserfahrung, dass etwas gehen muss, damit etwas wachsen und gedeihen kann. „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“ – heißt es im Neuen Testament (Joh 12/24). Nichts Geringeres kündet auch das Zweibrüdermärchen.

Im ganzen Märchen hat Bata ein Problem mit den Frauen. Auch im fremden Land findet er keine Ruhe. Er bekommt zwar eine schöne Frau, kann mit dieser als Eunuch auch nicht glücklich werden. Ihre Haarlocke wird vom Meer geraubt und dem Pharao zugetragen. Dieser ahnt etwas von der Schönheit der Frau, lässt sie suchen und bringen. Bata aber, ihren Ehemann, lässt er töten. Daraufhin bekommt sein Bruder das vereinbarte Zeichen: sein Bier schäumt über. Anubis sucht nach ihm, findet das Herz und erweckt ihn wieder zum Leben. Doch Bata kann seine Frau auch jetzt nicht wieder zurückgewinnen. Wieder muss er sterben. Aus zwei Blutstropfen wachsen zwei Bäume, die seine Frau wieder fällen lässt. Dabei fliegt ihr ein Splitter in dem Mund, von dem sie schwanger wird und ein Kind gebärt. Dieses Kind ist wieder Bata, der später der König des Reiches wird.

So zeigt sich das älteste uns erhaltene Märchen als ein profanisierter Göttermythos. Viele Elemente sind märchenhaft: die Brüder, die getrennt werden und doch zusammen bleiben, ein starker und gerechter Held, böse Frauen, sprechende Kühe, die magische Flucht, das Herz auf einer Zeder8, die Verwandlung von Mensch in Tier und Baum. Mythische Elemente sind der Raub der Haarlocke durch das Meer; der scheint ein Motiv der Göttin Hathor zu sein. Mythisch ist der Stier, er ist ein Bild der Zeugungskraft. Mythisch sind die Brüder, der Totengott Anubis und der Fruchtbarkeitsgott Bata, der später in Seth übergeht, ein Wüstengott, der die Rolle des Widersachers spielt und die chaotischen Kräfte verkörpert.

Wie der biblische Joseph bringt auch Bata seinem Herrn Wohlstand ein9 . Und wie Potifars Frau Joseph verführen will, so will dies auch die Schwägerin Batas. Beide Frauen rächen sich für die Absage mit einer infamen Lüge. Joseph muss ins Gefängnis, Bata flieht. Beide Männer durchlaufen daraufhin einen schicksalhaften Weg, doch am Ende wird Joseph Statthalter, Bata Pharao. Hier spürt man etwas, wozu diese alten Geschichten immer wieder erzählt werden: sie entzünden einen Funken der Hoffnung, den man manchmal braucht, wenn ‚Land unter‘ ist.

Liest man „Die zwei Brüder“ als Mythos, so ist sie die Geschichte eines Gottes, der aus der Kraft seines reinen Herzens zur Auferstehung gelangt. Er gibt damit auch jedem ein Beispiel, wie man leben kann: gerecht und ohne sich zu etwas Schändlichem hinreißen zu lassen. Würde man heute danach leben, hieße das, daran zu glauben, dass man sein Leben am besten dadurch bewahrt, wenn man Versuchungen widersteht, aufrecht und ehrlich lebt, selbst wenn man dabei den einen oder anderen Tod stirbt.

Liest man die Geschichte als Märchen, so wäre sie ein Beispiel dafür, was für ein Scherbenhaufen durch ein erotisches Abenteuer angerichtet werden kann, aber auch dafür, dass man Hilfe bekommt, wenn man standhaft und wahrhaftig bleibt. Ob man so weit gehen muss, sich selbst zu verstümmeln, um seine Aufrichtigkeit unter Beweis zu stellen, wäre für uns Heutige klar mit ‚nein‘ zu beantworten. Doch in der Erzählung erzeugt dieses archaische Element eben jene Klarheit, die die brutale Lüge endgültig außer Kraft setzt.

Dieses alte Motiv von den beiden Brüdern, die sich trennen und doch zusammengehören, hat sich bis zu den Brüdern Grimm fortgesetzt10. Statt dieses sehr langen Zaubermärchens sei hier eine kürze Variante aufgeführt. Ein österreichisches Märchen wandelt die alten Motive in eine Geschichte von zwei Söhnen, von denen der ältere eine heldenhafte Tat vollbringt, darauf aber eine Dummheit macht. Hier ist es –märchengerecht - der Jüngere, der nach ihm schaut und ihn wieder ins Leben zurückholt.

DIE ZWEI FISCHERSÖHNE

An einem See wohnte ein Fischer mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen. Als die Söhne volljährig geworden waren und Vater und Mutter und Kinder eben einmal beim Essen saßen, fing der Vater an: "Liebe Söhne, ihr seid jetzt in einem Alter, wo ihr die Welt kennenlernen und euer Glück erproben müsst. Seid ihr ein wenig in der Welt herumgekommen, so könnt ihr wieder heimkehren, denn meine alten Tage will ich an eurer Seite zubringen." Als die Söhne das hörten, rüsteten sie sich zur Abreise, und am andern Tag in aller Früh waren sie schon auf dem Weg. Es dauerte nicht lange, da teilte sich die Straße, und der ältere Bruder begann: "Wie wäre es, Bruder, wenn wir uns trennen würden; wir können ja mehr erfahren, wenn wir nicht beieinander sind."

"Ist mir auch recht", erwiderte der Jüngere. "Dann gehst du rechtsaus und ich links."

Der Ältere hatte nichts dagegen zu sagen, und die beiden nahmen Abschied voneinander. Bevor sie sich aber trennten, steckte jeder sein Messer in einen großen, alten Baum, der gerade an der Wegscheide stand. Sobald einer von ihnen zurückkehren würde, sollte er erfahren, ob es seinem Bruder gut oder schlimm ergehe, je nachdem, ob dessen Messer blank oder rostig wäre.

Der ältere Bruder wanderte rüstig vorwärts, hügelauf und hügelab, bis er endlich eine großmächtige Stadt vor sich sah. Als er sie betrat, sah er alle Häuser schwarz behangen, und alle Leute, die ihm begegneten, waren schwarz gekleidet. Da kam es ihm völlig unheimlich vor, und er fragte ein altes Männlein, was denn die allgemeine Trauer zu bedeuten habe. Das erzählte ihm, dass in der Nähe der Stadt ein See sei und darin wohne ein ungeheurer Drache, dem man jeden Monat zwei Lämmer und eine junge Frau zum Fraß geben müsse. Der Drache habe bereits alle Jungfrauen der Stadt gefressen und nur die Königstochter sei noch übrig. Morgen müsse sie eine Speise des Ungetüms werden. Der Fischersohn fragte weiter, ob denn da gar nicht zu helfen wäre.

"Wie denn zu helfen?" sagte das Männlein. "Der König hat wohl demjenigen, der den Drachen erlegt, den Thron und die Hand seiner Tochter versprochen, aber wer wird sich denn einen so kecken Versuch einfallen lassen?"

Der Fischersohn fragte nun genauer danach, an welchem Ort denn der Drache erscheine, und hörte, dass neben dem See eine Kapelle stehe, in der die Lämmer gebunden liegen und die Jungfrau knien müsse, bis das Ungetüm herankomme und seinen Fraß zu sich nehme. Der Fischersohn sagte nun "Lebe wohl!" zum Männlein und ging weiter.

"Da hast du nun Gelegenheit, dein bisschen Mut auf die Probe zu stellen", dachte er sich, und am andern Tag in aller Früh schnallte er sich sein Schwert um, nahm eine Lanze in die Hand und ging aus der Stadt hinaus zum See. Hinter der Kapelle verbarg er sich und blieb mäuschenstill. Die Königstochter kniete aber schon in der Kapelle und wartete zitternd auf die Ankunft des Ungetüms.

Auf einmal entstand ein Plätschern im See, dass das Wasser hoch aufspritzte, und das Plätschern und Platschen kam immer näher und näher. Der Fischersohn dachte sich wohl, was dahinter sei, schaute heimlich aus seinem Versteck auf den See, und da sah er einen Drachen heranschwimmen mit einem fürchterlichen Rachen und großen, großen Krallen. Da bebte ihm auch ein wenig das Herz, aber er nahm sich zusammen, und kaum war das Ungetier ans Ufer gekommen, so stürzte er hinter der Kapelle hervor und rannte ihm mit ganzer Gewalt seine Lanze in den Leib. Der Drache erhob ein fürchterliches Geheul und sperrte den scheußlichen Rachen gegen den Fischersohn auf, um ihn mit Haut und Haaren zu verschlingen. Der Fischersohn aber verlor das Herz nicht so geschwind, sondern zog schnell sein Schwert und stieß es dem Ungetüm in den aufgesperrten Rachen. Der Drache schlug noch eine Weile mit dem Schweif im Wasser herum, aber nach wenigen Minuten rührte er sich nimmer.

Der Jüngling trat nun in die Kapelle, brachte die Königstochter, die vor Schrecken die Besinnung verloren hatte, wieder zu sich, begrüßte sie als seine Braut und führte sie an seiner Hand nach Hause. Jetzt war überaus große Freude in der Stadt, die schwarzen Tücher und Kleider wurden weggelegt, und man erzählte sich nur von dem tapferen jungen Mann und seinem Kampf mit dem Drachen. In wenigen Tagen war dann eine große Festlichkeit in der Stadt, denn der König hielt getreulich sein Wort, und der Fischersohn hatte Hochzeit mit der geretteten Königstochter.

Eine gute Weile lebten sie fröhlich beisammen, wie es sich für rechte Eheleute gebührt, und der junge König regierte nach Recht und Gerechtigkeit über seine Untertanen. Eines Abends saß er wieder mit seinen Freunden bei Tisch und war heiter wie immer. Da schaute er zufällig zum Fenster hinaus und sah ein helles Licht aus dem nahen Wald hereinglänzen.

"Was soll nur das Licht da draußen bedeuten?" fragte er die Gäste und schaute immer aufmerksamer auf das seltsame Flimmern.

"Ja, wer das wüsste!" antwortete einer, der gerade neben ihm saß. "Aber das kann Euch kein Mensch sagen; denn gar viele hat der Vorwitz in den Wald getrieben, um zu sehen, was das etwa für ein Licht sei. Aber keiner von diesen ist jemals wieder herausgekommen."

"So will ich selbst hin und sehen, was das ist", sagte der König und stand vom Tisch auf. Alle Anwesenden baten, er möchte sich doch nicht selbst in die Gefahr stürzen, denn es könnte ihm ebenso ergehen wie den übrigen.

Er aber blieb fest bei seinem Vorhaben, ließ sich sein Pferd satteln und ritt davon. Sein Hund lief neben dem Pferd her und jaulte und bellte, dass es von den Felsen widerhallte. Es wurde immer dunkler und dunkler, und je mehr es nachtete, desto heller glänzte das Lichtlein zwischen den finstern Tannen hervor.

Bald hielt der König vor einem großen Schloss, das stand an der Stelle, wo früher das Lichtlein geleuchtet hatte. Das war aber, wie von einem Windhauch ausgeblasen, auf einmal erloschen. Der König klopfte nun ans Tor des Schlosses. Die Tür ging auf, und ein altes Mütterchen trat heraus mit runzligem Gesicht und wackelndem Kopf. "Bekomme ich hier Nachtherberge?" fragte der König, sobald er des Mütterchens ansichtig wurde.

"Müsst schon ein wenig gedulden", erwiderte freundlich die Alte, "muss erst meinen Herrn fragen. Setzt Euch ein wenig auf die Bank da, Ihr seid gewiss müde."

Der König ließ sich das nicht zweimal sagen, stieg vom Pferd, setzte sich auf die Bank neben der Tür und spielte zur Kurzweil mit seinem Hund.

Bald ging die Tür wieder auf, und das Mütterchen kam zum Vorschein. Es tat recht freundlich und sagte: "Könnt hier bleiben, solange Ihr wollt. An guter Bewirtung wird's Euch nicht fehlen." Während sie dies sagte, zog sie eine Rute unter der Schürze hervor, schlug damit dreimal auf den Stein, der neben dem König auf der Bank lag, und Hund und Ross und König waren in demselben Augenblick in Stein verwandelt. Im Königsschloss wartete und wartete man, und die Hoffnung wurde von Tag zu Tag kleiner, die Furcht aber von Tag zu Tag größer. Wer immer und immer nicht kam, das war der Herr König. Als endlich auch das letzte Fünkchen Hoffnung auf seine Wiederkehr erlosch, war großer Jammer in der Stadt, denn alle Leute hatten den König liebgehabt wie einen Vater.

Der jüngere von den zwei Fischersöhnen hatte auch in der Welt allerlei erfahren und sich nebenbei ein gutes Schwert erobert und bekam endlich Lust, wieder heimzugehen. Er machte sich also auf den Weg und ging und ging, bis er endlich zu dem Baum kam, in den die zwei Brüder ihre Messer gesteckt hatten. Sein erster Blick fiel auf das Messer seines Bruders, und er wurde ganz blass vor Schrecken, als er es von Rost ganz rot gefärbt sah.

"O weh", dachte er sich, "meinem Bruder ist etwas Schlimmes begegnet, ich muss ihn aufsuchen und ihm helfen."

Er dachte nun nicht mehr ans Nachhausegehen, sondern schlug die rechte Straße ein, auf der sein Bruder fortgegangen war. Er dachte nicht viel ans Essen und Schlafen, sondern wanderte rüstig vorwärts bei Tag und bei Nacht. Es wollte eben wieder dunkel werden, da sah er eine großmächtige Stadt vor sich, und als er in diese eintrat, sah er die Leute traurig herumstehen, mit langen Gesichtern und hängenden Köpfen.

"Was mag doch dahinter sein?" dachte er sich und fragte einen der Umstehenden, was denn der Stadt für ein Unglück begegnet sei.

"Wie soll es uns nicht zu Herzen gehen", antwortete dieser, "da wir unsern jungen König, den wir alle so lieb hatten, verloren haben! Da ließ er sich neulich nicht aufhalten, sondern ritt dort hinüber in den dunklen "Wald, aus dem ein kleines Licht herüberglitzert und aus dem noch keine Menschenseele, die sich hinwagte, zurückgekommen ist."

"So also ist's", erwiderte der Fischersohn und ging weiter. Aber was er gehört hatte, das schrieb er sich hinter die Ohren, und geraden Weges ging er hinaus in den Wald, aus dem der König nicht wiedergekehrt war. Er verlor das Lichtlein nicht aus den Augen und schritt tapfer drauflos. Bald kam er zu einem großen Schloss, das stand an der Stelle, wo früher das Licht geleuchtet hatte. Dieses aber war, wie von einem Windhauch ausgeblasen, auf einmal erloschen. Der Fischersohn klopfte nun an das Tor des Schlosses. Die Tür ging auf, und ein altes Mütterchen trat heraus mit runzligem Gesicht und wackelndem Kopf.

"Bekomme ich hier Nachtherberge?" fragte der Fischersohn. "Müsst Euch schon ein wenig gedulden", war wieder die Antwort, "muss erst meinen Herrn fragen, setzt Euch ein wenig auf die Bank da, Ihr seid gewiss müde."

"Was gedulden, was Herrn fragen?" schrie zornig der Fischersohn. "Lass mich durch alle Gänge und Säle des Schlosses, oder.. .!"

Bei diesen Worten zog er sein großes Schwert und schwang es um den Kopf der Alten. Diese fuhr vor Schrecken zusammen und schien wohl zu verstehen, wo das hinauswollte.

"Um's Himmels willen, lasst mich!" kreischte die Alte mit heiserer Stimme, "ich will den König schon wieder lebendig machen."

Und schnell lief sie in das Schloss und kam augenblicklich mit einer Rute wieder und schlug damit dreimal auf den Stein, der auf der Bank lag. Beim ersten Streich sprang des Königs Hund auf und lief aufgeregt herum und bellte, beim zweiten erhob sich des Königs Pferd und schaute verwundert um sich her und wieherte, beim dritten Streich aber stand der König selbst auf und schaute seinem Bruder in die Augen und erkannte und küsste ihn. Auch der jüngere Fischersohn erkannte, dass der König sein Bruder sei, und die zwei Brüder hatten eine Freude, wie sie nur die Engel im Himmel haben können. Sie gingen nun miteinander in die Stadt, und da erhob sich ein Jubel, der nimmer aufhören wollte.11

II SEINE STERBLICHKEIT ANNEHMEN

Die Auseinandersetzung mit dem Tod, sei es durch Alter, Krankheit oder Gewalt, hat die Menschen schon in der Bronzezeit so bewegt, dass sie es in Geschichten verarbeiteten und reflektieren. Das erste und älteste Epos der Weltliteratur, von dem wohl nicht nur Homer und die Bibel, sondern auch viele Volksmärchen zehren, ist die Erzählung von Gilgamesch.

Gilgamesch war nicht nur ein legendärer historischer König12, der Mythos hat ihn zum Ersten gemacht, der eine Antwort auf die Frage nach der Unsterblichkeit suchte. Er fand sie nicht in den Tiefen des Apsu13, der Anderswelt, er fand sie durch tiefe Trauer und große

Enttäuschungen hindurch. Er gelangte zu einem großen Ja zu seinem sterblichen Los. Er ergriff sein irdisches, begrenztes Leben in seiner ganzen Kraft und Schönheit und tat eine Menge für das Wohl und die Sicherheit seiner Stadt. Dem in seiner Jugend so ungestümen und abenteuerlustigen Helden schrieb man es zu, die durch die Flut zerstörten Tempel wieder aufgebaut und die monumentale Stadtmauer von Uruk auf ihren vorsintflutlichen Fundamenten wiedererrichtet zu haben. So schuf er den Menschen aufs Neue einen Raum, in dem Zivilisation gedeihen konnte14. Er konnte den Tod seines Freundes nicht verhindern, er konnte die Schlafprobe nicht bestehen, er verlor auch das Lebenskraut wieder, das ihm große Hoffnung machte. Als er alles loslassen musste, wurde er frei für das Leben und die Aufgaben, die ihm gestellt waren.

Die Jugend wiederzugewinnen ist ein Geheimnis, das bei der Schlange gut aufgehoben ist. Sie ist die, die sich häutet und durch Wandlung hindurch neues Leben gewinnt. Immer muss etwas Altes losgelassen werden, damit etwas Neues werden kann. Die Schlange bzw. der Drache15 sind also die legitimen Hüter des Lebenskrautes.

Was nun haben die Volksmärchen aus diesen alten Ansätzen gemacht? Gehen sie konform mit diesem Ja zur Diesseitigkeit?

Im chinesischen Märchen ‚Der Mond und das Lebenskraut‘16 findet der Märchenheld Ainai eine verwundete Schlange, die eine Pflanze streift, wodurch sich ihre Wunde wieder schließt. Ainai pflückt die silbrig glitzernde Pflanze und sieht, dass es das Lebenskraut ist. Er gräbt es aus und nimmt es mit. Er heilt damit vielerlei Krankheiten und gibt toten Tieren und Menschen das Leben zurück. Doch auch er fällt in eine Illusion:

“Jetzt, wo ich das Lebenskraut besitze, dachte Ainai, werden alle Leiden ein Ende nehmen”.