Maria Theresia - Barbara Stollberg-Rilinger - E-Book

Maria Theresia E-Book

Barbara Stollberg-Rilinger

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Beschreibung

Eine "Weiberherrschaft" war im 18. Jahrhundert an sich nicht ungewöhnlich - ungewöhnlich aber war, dass Kaiserin Maria Theresia das Geschäft des Regierens als ihre persönliche Aufgabe derart ernst nahm und mit äußerster Akribie betrieb. Damit unterschied sie sich von vielen europäischen Monarchen, die lieber ihren Neigungen nachgingen und die Amtsgeschäfte gern anderen überließen. Dass Maria Theresia nicht nur in dieser Hinsicht eine außergewöhnliche Frau war, zeigt diese eindrucksvolle Biographie. Barbara Stollberg-Rilinger lässt in ihrer meisterhaften Darstellung die Verhältnisse am Habsburger Hof, in der Stadt Wien, im Heiligen Römischen Reich und in den vielen Ländern lebendig werden, aus denen sich die Monarchie zusammensetzte. Ihre Haupt- und Staatsaktionen wie der Erbfolgekrieg (1740 - 1748) oder der Siebenjährige Krieg (1756 - 1763) gegen ihren Erzfeind Friedrich den Großen von Preußen werden ebenso anschaulich beschrieben wie das Verhältnis zu Ehe, Sexualität und Schwangerschaft, die Erziehung ihrer vielen Kinder, die Divertissements bei Hofe, die erbitterten Konflikte mit dem Sohn und Mitregenten Joseph II. und nicht zuletzt die unbarmherzige Religionspolitik der kompromisslos katholischen Kaiserin, die am Ende wie aus der Zeit gefallen schien. Gestützt auf zahllose, mitunter kaum bekannte Quellen, entsteht ein ganz einzigartiges Portrait Maria Theresias. Es ist frei von hagiographischen Zügen und zeigt eine Matriarchin von äußerstem Pflichtbewusstsein, die sich selbst ebenso wie ihre Familie und ihre Untertanen einem strengen Regiment unterwarf.

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Seitenzahl: 1951

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BARBARA STOLLBERG-RILINGER

MARIA THERESIA

~

Die Kaiserin in ihrer Zeit

Eine Biographie

C.H.BECK

ZUM BUCH

Eine «Weiberherrschaft» war im 18. Jahrhundert an sich nicht ungewöhnlich – ungewöhnlich aber war sehr wohl, dass Kaiserin Maria Theresia das Geschäft des Regierens als ihre persönliche Aufgabe derart ernst nahm und es mit äußerster Akribie betrieb. Damit unterschied sie sich von vielen europäischen Monarchen, die lieber ihren Neigungen frönten – der Kunst, der Liebe oder der Jagd – und ihre Amtsgeschäfte gern anderen überließen. Dass Maria Theresia nicht nur in dieser Hinsicht eine außergewöhnliche Frau war, zeigt Barbara Stollberg-Rilinger in ihrer eindrucksvollen, aus den Quellen erarbeiteten Biographie der großen Habsburgerin.

Maria Theresia verstand und praktizierte das Regieren als gleichermaßen strenges Regiment über ihre Familie, ihren Hof und ihre Länder – doch sie nahm sich selbst von dieser Strenge nicht aus. Gottesfurcht, Arbeit und konsequente körperliche und geistige Disziplin waren Maximen einer Lebensführung, deren strikte Einhaltung sie sich selbst, ihrer unmittelbaren Umgebung, aber auch ihren Untertanen abverlangte. All dies stand im Dienste der Erhaltung und Mehrung von Größe, Ruhm und Ehre der habsburgischen Dynastie.

Der Mythos Maria Theresia wird in dieser grandiosen Lebensbeschreibung gegen den Strich gebürstet. Die Kaiserin-Königin ist nicht die liebende Landesmutter, als die sie gemeinhin dargestellt wird, ihr Appartement in Schönbrunn war kein bürgerliches Wohnzimmer, und mit ihren Reformen schuf sie auch nicht den modernen Staat. Sie war vielmehr eine spätbarocke Herrscherin, die sich nur widerwillig und notgedrungen auf die neuen Tendenzen des aufklärerischen Jahrhunderts einließ. Der Alltag am Kaiserhof – von Sexualität, Schwangerschaft und Kindererziehung über Regierungsarbeit, Patronage und Diplomatie bis hin zur gnadenlos exerzierten Religionspolitik und zur Kriegführung aus der Ferne – wird in Barbara Stollberg-Rilingers faszinierendem Werk wieder lebendig.

ÜBER DIE AUTORIN

Barbara Stollberg-Rilinger lehrt als Professorin Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Münster. Für ihre wissenschaftlichen Verdienste wurde sie vielfach mit Preisen und Auszeichnungen geehrt, darunter der Leibniz-Preis (2005), der Historikerpreis (2013) und ein Fellowship am Wissenschaftskolleg zu Berlin (2015/16). Von derselben Autorin sind im Verlag C.H.Beck lieferbar: Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches (22013); Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1806 (52013).

Inhalt

I: PROLOG

Monumentale Geschichte

Männerphantasien

Ein außergewöhnlicher Normalfall

II: DIE ERBTOCHTER

Rituale und Reliquien

Theatrum Europaeum

Hinterbühne und Vorderbühne

Höfisches Curriculum

Dynastische Schachzüge

Die Hochzeit

Der höfische Kosmos

Die Logik der Gunst

Maklerin kaiserlicher Gnade

Der glücklose Ehemann

III: DER ERBFOLGEKRIEG

Herrscherwechsel

Treue und untreue Ungarn

Die Königin ist nackt

Krieg führen aus der Ferne

Krieg führen vor Ort

Pandurentheresl

IV: KAISERIN, KAISER UND REICH

Kaiserkrönung

Franz I. Stephan

Reichspolitik

Treue Klienten

V: REFORMEN

Der Staat als Maschine

Alte Gewohnheiten

Ein neues System

Ich bin nicht mehr dieselbe

Favoritenwechsel

Noch ein neues System

Reformbilanz

VI: KÖRPERPOLITIK

Schönheit

Liebe und Libertinage

Keuschheitsfeldzug

Gerüchte

Disziplinierung der Untertanen

Geburten

VII: DISTINKTIONEN UND FINESSEN

Audienzen

Untertanen am Hof

Distinktionen und Finessen

Der Herr der Zeichen

Höfischer Stundenplan

Arbeit am Charisma

Solennitäten und Divertissements

Ritter der Tafelrunde

VIII: SIEBEN JAHRE KRIEG

Revanche

Sieben Jahre Krieg

Reichskrieg – Religionskrieg

Medienkrieg – Informationskrieg

Desaströse Bilanz

IX: DAS KAPITAL DER DYNASTIE

Kleine Herrschaften

Erziehungsregeln

Opfer der Politik

Isabella von Parma

Noch ein Opfer

Gott und van Swieten

X: MUTTER UND SOHN

Der Tod in Innsbruck

Ein Kaiser ohne Land

Wie die Aufklärung an den Hof kam

Machtproben

Das Regentschafts-Dilemma

Die Aufteilung des «polnischen Kuchens»

XI: DIE RELIGION DER HERRSCHAFT

Verehren und verehrt werden

Vernünftige Religion

Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Staatskirchenpolitik

Vampire, Wunderheiler und Kalendermacher

Freigeister und Modephilosophen

XII: DAS FREMDE IM EIGENEN

Einheit und Vielfalt

«Angst und Abscheu» – die Juden

«Unheilbar räudige Schafe» – die Geheimprotestanten

Unsere guten Türken

XIII: DIE UNTERTANEN

Unsere getreuen Unterthanen

Informationsflut

Fleiß und Disziplin

Neue Schulen

Iustitia et clementia

Widersetzlichkeit in Böhmen

Der letzte Krieg

XIV: DER HERBST DER MATRIARCHIN

Lebensüberdruss

Alter Ego Marie Christine

Mustersöhne, Musterstaaten

Widerspenstige Töchter

Carolina von Neapel

Amalia von Parma

Marie Antoinette

Maximilian

Daheimgebliebene

Schlechtes Wetter für eine weite Reise

XV: EPILOG

Herrschertugenden

Kontrollphantasien

Aus der Zeit gefallen

ANHANG

ANMERKUNGEN

I: Prolog

II: Die Erbtochter

III: Der Erbfolgekrieg

IV: Kaiserin, Kaiser und Reich

V: Reformen

VI: Körperpolitik

VII: Distinktionen und Finessen

VIII: Sieben Jahre Krieg

IX: Das Kapital der Dynastie

X: Mutter und Sohn

XI: Die Religion der Herrschaft

XII: Das Fremde im Eigenen

XIII: Die Untertanen

XIV: Der Herbst der Matriarchin

XV: Epilog

DANK

ABKÜRZUNGEN

QUELLEN UND LITERATUR

Ungedruckte Quellen

Österreichisches Staatsarchiv, Abt. Haus-, Hof- und Staatsarchiv

Österreichische Nationalbibliothek

Fürstlich Liechtensteinsches Domänenarchiv: VA 5-2-2

Gedruckte Quellen

Literatur (nach 1800)

GLOSSAR

GENEALOGISCHE TABELLEN

KARTE DER HABSBURGISCHEN LÄNDER

BILDNACHWEIS

Tafelteil

Textteil

PERSONENREGISTER*

Abb. 1: Reliquiar mit einem Nagel vom Kreuz Christi, um 1650, aus der Kaiserlichen Schatzkammer Wien

Abb. 2: Maria Theresia als kleines Kind mit Puppe. Unbekannter Künstler, Klagenfurt, Elisabethinenkonvent

Abb. 3: Öffentliche Tafel anlässlich der Hochzeit Maria Theresias mit Franz Stephan von Lothringen 1736. Werkstatt Martin van Meytens zugeschrieben. An der Tafel (von links): Erzherzoginnen Maria Anna und Maria Magdalena (die Schwester Karls VI.), Kaiser Karl VI., Kaiserin Elisabeth Christine, Maria Theresia und Franz Stephan

Abb. 4: Krönung Maria Theresias zum König von Ungarn in Pressburg 1741. Aus der Serie von Zeremonialgemälden, die Maria Theresia 1769–70 von Franz Moessmer und Wenzel Pohl für die Ungarische Hofkanzlei malen ließ

Abb. 5: Damencaroussel in der Winterreitschule am 2. Januar 1743. Werkstatt Martin van Meytens, 1769/70

Abb. 6: Kaiser Franz I. Stephan im Krönungsornat. Wenzel Pohl, 1755

Abb. 7: Joseph im Alter von drei Jahren als Thronfolger in ungarischer Tracht. Werkstatt Martin van Meytens, 1744

Abb. 8: Porträts Maria Theresias und Franz Stephans auf Hollitscher Fayencen, Mitte 18. Jahrhundert

Abb. 9: Porträt Maria Theresias von Jean-Étienne Liotard, 1762

Abb. 10: Wenzel Anton Graf Kaunitz-Rietberg im spanischen Mantelkleid. Werkstatt Martin van Meytens, 1749/50

Abb. 11: Maria Theresia nimmt Karl Friedrich Graf Hatzfeld in den Sankt-Stephans-Orden auf, 1764. Werkstatt Martin van Meytens

Abb. 12: Die Schlacht bei Hochkirch 1758. Johann Christian Brand, nach 1769 (Ausschnitt)

Abb. 13: Schützenscheibe mit Allegorie der Victoria, wahrscheinlich zur Erinnerung an den österreichischen Sieg über die Preußen in der Schlacht von Hochkirch 1758, Freistadt/Oberösterreich. Mühlviertler Schlossmuseum

Abb. 14: Die Kaiserliche Familie. Werkstatt Martin van Meytens, nach 1754

Abb. 15: Marie Antoinette, Ferdinand und Maximilian tanzen das Schäferballett ‹Il trionfo d’amore› anlässlich der zweiten Hochzeit Josephs II. 1765. Werkstatt Martin van Meytens

Abb. 16: Einzug Isabellas von Parma in Wien, 1760. Aus dem Zyklus der Zeremonialbilder zur ersten Hochzeit Josephs II. Werkstatt Martin van Meytens

Abb. 17: Franz I. Stephan auf dem Totenbett, 1765. Anonyme Zeichnung, angefertigt für Maria Theresias ‹Totenkabinett›. Dem Bild liegt eine Skizze zugrunde, die Maria Theresia unmittelbar nach dem Tod hatte anfertigen lassen.

Abb. 18: Ketzersturz. Kanzel-Himmel im Dom zu Gurk/Kärnten nach einem Entwurf der Wiener Theaterarchitekten Giuseppe und Antonio Bibiena (1740/41). Über der Kanzel der Heilige Geist in einem goldenen Strahlenkranz, darunter die Allegorie der Kirche, flankiert von einem Putto links mit der päpstlichen Tiara und einem Putto rechts mit Kreuzlanze, der die Schlange der Ketzerei ersticht. Im Vordergrund links sitzt die Allegorie des Glaubens mit Kreuz, Kelch und verschleiertem Gesicht. Ein schwarz gekleideter protestantischer Prediger stürzt dramatisch kopfüber in die Tiefe, sein ketzerisches Buch mit ihm.

Abb. 19: Altarbild in der Theresienkirche der Nadelburg, unbekannter Künstler. Links die heilige Theresa von Avila, rechts Joseph II. und zwei Manufakturarbeiter

Abb. 20: Schloss Schönbrunn, Ehrenhof. Bernardo Bellotto, gen. Canaletto, 1759/60

Abb. 21: Exercitia corporis. Aus: Philipp von Rottenberg/Carl von Roettiers, Institutio archiducalis. Lehrtafel aus dem Unterrichtswerk für Erzherzog Ferdinand, 1769

Abb. 22: Porträt Maria Theresias im türkischen Kostüm. Kopie, vermutlich nach Jean-Étienne Liotard, Martin van Meytens zugeschrieben, undatiert

Abb. 23: Maria Theresia in ungarischer Krönungstracht als Herrin der Feldlager. Aus dem Gedenkalbum der eucharistischen Bruderschaft der Domkirche von Eger (1757). Aquarell auf Pergament

Abb. 24: Maria Theresia als Witwe im Kreis ihrer erwachsenen Kinder. Von links: Marie Christine, Albert von Sachsen-Teschen, Maximilian, Marianne, Elisabeth, Joseph. Tempera von Heinrich Friedrich Füger, 1776

Abb. 25: Straßenszene in Wien. Freyung von Südosten. Bernardo Bellotto, gen. Canaletto, 1759/60

Abb. 26: Joseph II. und Leopold in Rom, 1769. Doppelporträt von Pompeo Batoni

Abb. 27: Schönbrunn, Gartenseite, Bergl-Zimmer

Abb. 28: Selbstporträt der Erzherzogin Marie Christine am Spinnrad, Mitte 18. Jahrhundert

Abb. 29: Marie Antoinette. Elisabeth-Louise Vigée-Lebrun, 1779

Abb. 30: Maria Theresia und ihre Kinder in Laxenburg. Unbekannter Künstler, 18. Jahrhundert

I

PROLOG

~

Abb. 1: Maria-Theresia-Monument an der Wiener Ringstraße. Skulpturen von Caspar Zumbusch nach dem Programm von Alfred von Arneth, 1888

Monumentale Geschichte

Die Geschichte Maria Theresias, so wie sie üblicherweise erzählt wird, klingt wie ein Märchen: Es war einmal eine wunderschöne Prinzessin und junge Mutter, die erbte ein heruntergekommenes Riesenreich und wurde von unzähligen Feinden überfallen. Sie überzeugte eine Horde wilder, aber edler Krieger, für sie zu kämpfen, und verteidigte mit deren Hilfe ihren angestammten Thron, «ungebeugten Muthes ankämpfend gegen die zahlreiche Schaar sie umringender beutegieriger Feinde, und aus diesem Streite zwar nicht ohne Verlust, jedoch […] immerhin glücklich hervorgehend».[1] Dreimal trat sie gegen den ruchlosesten aller Gegner an und verlor ihre reichste Provinz. Aber das Schicksal wendete diese Niederlagen für sie zum Guten, denn nur dank dieser schweren Prüfung gelang es ihr, die missgünstigen alten Ratgeber ihres Vaters zu entmachten und so ihr marodes Reich mit Hilfe kluger Männer in einen modernen Staat zu verwandeln. «Der Staat, welcher früher fast als unrettbar verloren galt, ging zuletzt als Sieger hervor aus dem Kampfe, der ihn mit Verderben bedroht hatte.»[2] Diese märchenhafte Geschichte drang vor bis in die letzten Winkel historischen Bildungsguts – in die populären Bildersammelalben der Werbeindustrie des 20. Jahrhunderts: «Die 23jährige zeigte sich vom ersten Tage ihrer Regierung an als die geborene Herrscherin. Aus dem Trümmerhaufen von Ländern, den sie übernahm, erwuchs unter ihren Händen ein wirklicher Staat.»[3]

Der Suggestionskraft dieser Heldenerzählung kann man sich schwer entziehen. Sie machte Maria Theresia im Laufe des 19. Jahrhunderts zu der Symbolgestalt österreichischer Staatlichkeit schlechthin.[4] Es fällt schwer sich vorzustellen, dass das nicht immer so war. Kurz nach 1800 schrieb ein Zeitgenosse: «Ich habe mich oft gewundert, wie es zuging, daß Maria Theresia, eine wirklich große Frau, so leicht vergessen werden konnte.»[5] In der Revolutionsepoche von 1789 bis 1848 hatte man mit ihr nicht mehr viel anzufangen gewusst. Ihr Sohn Joseph II. hatte sie als der Held der Stunde in der Publikumsgunst abgelöst – der nüchterne Rationalist, Verächter höfischer Pracht und vermeintliche Revolutionär, der selbst allerdings von der Revolution nicht mehr viel miterlebt hatte. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts wendete sich erneut das Blatt, und zwar vollständig. Maria Theresia wurde zur nationalstaatlichen Ikone, zur «ideale[n] Verkörperung der Größe und Schönheit Österreichs».[6] Je mehr die Habsburgermonarchie an territorialer Ausdehnung verlor, desto großartiger und glanzvoller wurde das Bild Maria Theresias ausgemalt.

Dieses Bild ist – und zwar bis heute – geprägt von zwei ehrfurchtgebietenden Monumenten. Das eine ist das gigantische Denkmal am Wiener Burgring mit den Skulpturen von Caspar von Zumbusch, das 1888 von Kaiser Franz Joseph enthüllt wurde und alles bisher Dagewesene an Aufwand und Ausmaßen in den Schatten stellte.[7] Geschichtspolitisch flankiert wurde es von einem Gedenkbuch, das «für den Lesetisch jeder Familie der österreichisch-ungarischen Monarchie und deren Freunde und Verbündete», für Militär und Schule gedacht war.[8] Der Plan zu dem Monument war seit der Niederlage bei Königgrätz 1866 gereift. Ein klassisches Reiterstandbild, wie man es Joseph II. 1807 oder dem Prinzen Eugen 1865 gewidmet hatte, schien für Maria Theresia als Frau nicht schicklich; für sie musste man eine andere Bildformel finden, die von nicht geringerer imperialer Anmutung war. Die Lösung, die sich am Ende durchsetzte, erinnert an weibliche Allegorien der guten Regierung: Maria Theresia thront weit überlebensgroß majestätisch über ihren großen Männern, die in Gestalt von Reiterstandbildern, Statuen und Halbreliefs den massiven Sockel umgeben. In der linken Hand hält sie die Pragmatische Sanktion als eine Art Verfassungsurkunde der österreichischen Monarchie; mit der Rechten weist sie hinunter auf die Betrachter, das Volk. So, wie sie dort thront, flankiert von Tugendallegorien, erscheint sie weniger wie eine individuelle historische Person als vielmehr wie die majestätische Patronin und Mutter des Staates schlechthin, eine zweite Magna Mater Austriae, der historischen Realität weit entrückt. Für ihren Gatten Franz I. Stephan, den Kaiser des Römisch-deutschen Reiches, war in dem riesenhaften Ensemble kein Platz; an dieses längst untergegangene Reich wollte man nicht erinnert werden. Stattdessen ist Maria Theresia umgeben von lauter anderen «großen Männern, die Geschichte machten»: Feldherren, Ministern, Gelehrten und Künstlern.[9]

Das andere, mindestens ebenso wirkmächtige Monument Maria Theresias ist die zehnbändige Biographie des Staatsarchivdirektors und Akademiepräsidenten Alfred Ritter von Arneth, der auch das Programm des Ringstraßendenkmals entworfen hat. Ohne Arneths Riesenwerk, erschienen zwischen 1863 und 1879 und flankiert von einer großen Zahl grundlegender Quelleneditionen, ist die Renaissance Maria Theresias im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht denkbar. Bis heute ist sein Werk an Genauigkeit und Materialreichtum unübertroffen. Der Ritter von Arneth (1819–1897) ist der Inbegriff eines staatstragenden Gelehrten, wie sie die national-heroischen Geschichtsbilder des 19. und frühen 20. Jahrhunderts prägten. Er hatte 1848/49 als Vertreter des gesamtdeutschen Konstitutionalismus in der Frankfurter Paulskirche gesessen. Später wurde er Mitglied des niederösterreichischen Landtags, verlegte aber seine Aktivitäten in der zweiten Jahrhunderthälfte ganz weg vom Parlament und hin zu Archiv und Akademie, auf Geschichtsforschung und Geschichtspolitik, was ihm ein nahezu unangefochtenes Deutungsmonopol über die theresianische Zeit eingetragen hat.[10] Eine ähnlich tiefgreifende politische Wirkmacht hätte Arneth in keinem Parlament dieser Zeit erzielen können. Seine Biographie Maria Theresias ist zwar durchaus nicht frei von leisen kritischen Untertönen gegenüber der Protagonistin, aber insgesamt von dem gleichen Gestus der Heldenverehrung geprägt wie das Denkmal an der Ringstraße. «Das innerste Wesen der hohen Frau, ihre Anschauungsweise, ihre Meinungen und Ansichten recht zu ergründen, das ist wohl eine der schönsten Aufgaben, welche österreichische Geschichtsschreiber sich stellen können.» Antrieb seiner Quellenforschung war der «lebhafte Wunsch», so schrieb er, die «wahrhaften Schätze zum Ruhme der Kaiserinn selbst und ihres erlauchten Hauses, zur Ehre unseres Vaterlandes von vertrauenswerther Hand aus den Archiven erhoben und sie in einer des grossen Gegenstandes würdigen Weise zum Gemeingute gemacht zu sehen».[11]

Während die beiden Monumente entstanden, büßte die Habsburgermonarchie Schritt für Schritt ihre einstige Größe ein. 1859 verlor sie die Lombardei und 1866 Venetien an den neuen italienischen Nationalstaat; 1866 unterlag sie Preußen und verließ den Deutschen Bund, 1867 musste sie die faktische Unabhängigkeit Ungarns hinnehmen, und 1871 beendete die Gründung des deutschen Kaiserreiches alle großdeutschen Hoffnungen – von den nationalen Segregationsbewegungen auf dem Balkan und den tiefen wirtschaftlichen Umbrüchen des ausgehenden Jahrhunderts ganz zu schweigen. In diesen Veränderungsstürmen ging es darum, aus der Betrachtung heroisch überstandener Krisen der Vergangenheit Hoffnung und Orientierung für die Zukunft zu schöpfen. Die Majestät eines Denkmals erhebt ja nicht nur diejenigen, denen es gewidmet ist, sondern vor allem auch diejenigen, die es errichten. Beide Denkmäler Maria Theresias, das aus Papier und das aus Bronze, sind Prachtexemplare monumentalischer Geschichte im Sinne von Friedrich Nietzsches berühmter zweiter Unzeitgemäßer Betrachtung ‹Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben› (1874). Monumentalisch nennt Nietzsche eine Geschichtsschreibung, die die Vergangenheit in den Dienst von Hoffnungen und Erwartungen der Gegenwart stellt: «Geschichte als Mittel gegen die Resignation». Sie lehrt, «daß das Große, das einmal da war, jedenfalls einmal möglich war und deshalb auch wohl wieder einmal möglich sein wird». Allerdings muss eine solche Geschichtsschreibung die Unterschiede zwischen Vergangenheit und Gegenwart einebnen; «die Individualität des Vergangenen [muss] in eine allgemeine Form hineingezwängt und an allen scharfen Ecken und Linien zugunsten der Übereinstimmung zerbrochen werden.»[12]

Die monumentalische Geschichte des 19. Jahrhunderts steht zwischen uns und der historischen Gestalt Maria Theresias und versperrt uns die nüchterne Sicht auf sie. Denn zwischen ihrer Lebenszeit, dem Ancien Régime des 18. Jahrhunderts, und unserer Gegenwart haben sich so viele und so revolutionäre Veränderungen ereignet, dass es schwerfällt, hinter diese Veränderungen zurückzublicken. Es ist verführerisch, die eigenen politischen Identitätswünsche auf die majestätische Figur Maria Theresias zurückzuspiegeln und dort die eigene Gegenwart im Kern angelegt zu sehen. Was dabei leicht in Vergessenheit gerät, ist: Die politischen Gebilde, deren Oberhaupt Maria Theresia war, gibt es schon seit langem nicht mehr: weder das Heilige Römische Reich deutscher Nation mitsamt seiner alten Kaiserwürde noch das Länderkonglomerat des Allerhöchsten Erzhauses, dieser sonderbaren Monarchie ohne Namen, die allein durch die habsburgische Dynastie zusammengehalten wurde. Und auch die Nachfolgestaaten – das Kaisertum Österreich von 1804, die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn von 1867 ebenso wie das preußisch-deutsche Kaiserreich – sind dem Ersten Weltkrieg zum Opfer gefallen. Bei all diesen Umbrüchen handelte es sich nicht nur um ein Verschieben und Neu-Zuschneiden der Ländergrenzen, vielmehr veränderten die politischen Gebilde im Laufe des 19. und erst recht des 20. Jahrhunderts ihren Charakter von Grund auf. Diese mehrfachen tiefen Umbrüche wurden aber von vornherein begleitet und abgefedert durch Erzählungen und Symbole der Kontinuität, die es erleichterten, die trennenden Gräben zu übersehen. Denn ist nicht Wien noch immer die Hauptstadt Österreichs? Residiert das Staatsoberhaupt nicht noch immer in der Hofburg? Liegt es daher nicht nahe zu glauben, Maria Theresia und ihre Minister seien die Schöpfer des modernen Österreich gewesen?[13] Doch das ist eine optische Täuschung. So viele Nachfolgestaaten aus der alten Habsburgermonarchie im Laufe der Zeit hervorgingen, so viele unterschiedliche Erzählungen von Kontinuität – bzw. Diskontinuität – entstanden auch. Man kann außer einer österreichischen auch eine deutsche, eine ungarische, tschechische, slowakische, slowenische, serbische, rumänische, belgische oder italienische Geschichte Maria Theresias erzählen, und diese wiederum in monarchistischen, sozialistischen oder parlamentarisch-demokratischen Varianten, und in jeder dieser Erzählungen würde Maria Theresia eine je andere Rolle spielen.[14] Es ist nicht leicht, sich von solchen Kontinuitätskonstruktionen zu distanzieren, wie es die Absicht dieses Buches ist. Und selbst wenn man das tut, muss man sich bewusst bleiben, dass auch eine post-moderne, post-nationalistische Perspektive auf Maria Theresia, 300 Jahre nach ihrer Geburt, selbstverständlich eine unter vielen möglichen Perspektiven ist und keinen Anspruch auf objektive Gültigkeit erheben kann. Der Unterschied besteht nur darin, dass hier bewusst eine Perspektive der Fremdheit eingenommen wird. Anders als in Nietzsches monumentalischer Historie sollen die Gräben, die die Gegenwart vom 18. Jahrhundert trennen, gerade nicht eingeebnet und die scharfen Kanten der Figur gerade nicht abgeschliffen werden. Kurzum: Es soll keine falsche Vertrautheit mit Maria Theresia aufkommen: Man muss sich die Heldin vom Leibe halten.[15]

Männerphantasien

Was die hergebrachte Geschichte von Maria Theresia so märchenhaft erscheinen lässt, ist vor allem der Umstand, dass das gänzlich Unerwartete eintrat, und unerwartet erschien die wundersame Rettung der Monarchie nicht zuletzt deshalb, weil sie einer Frau zu verdanken war. So sahen es schon die zeitgenössischen Lobredner: Was konnten wir so vielen, so dringenden Gefahren entgegen setzen? Eine Frau, von der wir so viele Gegenwart des Geistes, so viele Unerschrockenheit, Muth, Standhaftigkeit […] nicht erwarteten, weil eine so schwere Bürde auch männlichen Schultern unerträglich schien.[16] Das vor allem machte die Faszinationskraft Maria Theresias aus: die erstaunliche Verbindung von männlichem Heldentum und weiblicher Tugend, ihre ‹mütterliche Majestät›.[17] Sie war bekanntlich nicht nur eine Herrscherin, sondern auch eine treue Gattin und sechzehnfache Mutter. Sensationelle Fruchtbarkeit, verbunden mit tatkräftiger Herrschaft, also gleichsam weibliche und männliche Vollkommenheit in einer Person, das ließ Maria Theresia als Ausnahmefigur erscheinen. Selbst unter den berühmten weiblichen Herrscherinnen der Weltgeschichte – Kleopatra, Elisabeth I. oder Katharina II. – erschien sie exzeptionell. Während bei den anderen die Herrschaft zu Lasten der Rolle als Gattin und Mutter ging – sie waren entweder unverheiratet oder unfruchtbar oder sexuell ausschweifend oder alles zusammen –, vereinte allein Maria Theresia weise Regentschaft, treue Gattenliebe, untadelige Sitten und blühende Fruchtbarkeit in einer Person. Sie erschien, mit anderen Worten, als Ausnahme selbst unter den Ausnahmen.[18]

Für das nach wie vor dynastisch geprägte 18. Jahrhundert war weibliche Regentschaft als solche allerdings noch keineswegs besonders ungewöhnlich. Weiberherrschaft galt zwar auch damals als etwas wenig Wünschenswertes, aber nicht als Widerspruch in sich; die Sphären des Öffentlichen und des Privaten, der Politik und der Familie waren noch nicht kategorial getrennt. So fanden zwar auch die Zeitgenossen Maria Theresias Herrschaft bereits bemerkenswert, weil sie als Angehörige des schwachen Geschlechts eine derartige Tatkraft an den Tag legte. Doch vollkommen abwegig erschien den Zeitgenossen ihre Regentschaft nicht: Sie sei eine Frau, und eine Mutter ihres Landes, wie ein Fürst ein Herr, und Vater seines Landes seyn kann, hieß es, und ihre Regierung beweise, dass die größte Kunst aller Künste, die Kunst Länder zu beherrschen, nicht über die Seele eines Frauenzimmers sey.[19] Außergewöhnlich war im 18. Jahrhundert weniger, dass eine Frau Herrschaft ausübte, außergewöhnlich war vielmehr, dass ein Monarch, ob Mann oder Frau, das Geschäft des Regierens als persönliche Aufgabe derart ernst nahm. Es gab viele Arten von Fürsten: Kunstmäzene, Frauenliebhaber, Kriegshelden, Jäger, Hausväter, Gelehrte, Philosophen; jeder Fürst konnte in der Gestaltung seines persönlichen Lebensalltags die jeweilige Vorliebe ausgiebig kultivieren. Nur die wenigsten machten das persönliche Regieren so zu ihrer Sache, wie Maria Theresia es tat. Sie entsprach in vieler Hinsicht den Kriterien eines pflichtbewussten Herrschers in bemerkenswert hohem Maße, mehr als die meisten anderen Fürsten ihrer Epoche.

Das pflegten schon die Zeitgenossen als Maria Theresias Männlichkeit der Seele zu preisen, ihre virilità d’anima.[20] Man nannte sie einen Grand-Homme,[21] im reizenden Körper einer Königinn ganz ein König, nach der herrlichsten, allumfassendsten Bedeutung dieses Wortes.[22] Spätere Historiker nahmen das auf und bezeichneten sie als einen «Mann voll Einsicht und Tatkraft».[23] Dass in einem weiblichen Körper eine männliche Seele wohnen könne, war ein alter Topos, der allerdings weniger dazu diente, die Frauen zu erhöhen, als die Männer zu beschämen. Männliche Tapferkeit oder Entschlossenheit, männlichen Mut oder Geist an einer Frau zu loben dient vor allem als indirekte Kritik an den Männern – übrigens bis zur Gegenwart, etwa wenn man Margaret Thatcher oder Angela Merkel als «einzigen Mann im Kabinett» bezeichnet.[24] In diesem Sinne hatte Friedrich II. über die Kaiserin geschrieben: Einmal haben die Habsburger einen Mann, und dann ist es eine Frau.[25] Umgekehrt spottete eine habsburgfreundliche Flugschrift im Erbfolgekrieg, Friedrich habe an einer Frau seinen Mann gefunden.[26] Wenn eine Frau der bessere Mann ist, dann stellt das den Männern ein vernichtendes Zeugnis aus. Der springende Punkt ist: Indem man eine heroische Ausnahmefrau wie Maria Theresia als «echten Mann» bezeichnet, tastet man die Geschlechterhierarchie nicht an, sondern bestärkt sie noch. Denn vorausgesetzt wird ja dabei, dass Männlichkeit ein Kompliment und das männliche Geschlecht das überlegene sei.

Im Laufe der Zeit wurde die Verbindung von Weiblichkeit und Herrschaft als solche zunehmend zu einer Provokation, zu einem Paradox, was sie im 17. und 18. Jahrhundert noch nicht gewesen war. Im Zeitalter des Rationalismus hatte man zwischen physischer Existenz und politischer Rolle durchaus unterscheiden können, im Sinne des Satzes «Die Vernunft hat kein Geschlecht».[27] Wenn man schrieb, Regentinnen […] hören auf, Frauen zu seyn, sobald sie den Thron besteigen,[28] so hieß das nicht, dass sie sich als Herrscher in Männer verwandelten, sondern dass ihr körperliches Geschlecht für die Regentschaft keine Rolle spielte. Auf diese Weise zwischen physischer und politischer Existenz zu unterscheiden kam im 19. Jahrhundert nicht mehr in Frage: Die Frauen erschienen vielmehr durch und durch von ihrer Körperlichkeit beherrscht. Für die Revolutionäre um 1800 war weibliche Herrschaft ein Verfallssymptom des dekadenten Ancien Régime, das Herrschaft an Geburt und nicht an Wahl und Leistung knüpfte. Die neue bürgerliche Geschlechterordnung schloss die Frauen in viel rigoroserer Weise von der Sphäre des Politischen und der Öffentlichkeit aus, als es in der Adelsgesellschaft des Ancien Régime je der Fall gewesen war. Die Historiker, deren Fach nun zur nationalen Legitimationswissenschaft aufstieg, betrachteten Frauen daher grundsätzlich nicht als ihr Thema. Für sie war der vornehmste Gegenstand der Geschichte die Politik – das Reich der Freiheit, des Fortschritts und zugleich das exklusive Reich des Mannes. Die Frau hingegen gehörte für sie dem Reich der Natur an: dem Reich der Notwendigkeit, des Kreatürlichen, des ewig gleichen Kreislaufs der Reproduktion. Der Mediävist Heinrich Finke brachte es 1913 mit unübertroffener Deutlichkeit auf den Punkt: «Weltgeschichte ist Menschheitsgeschichte, das heißt Geschichte des Mannes und seiner Entwicklung. Nur als Akzidens tritt die Frau und die Geschichte ihrer Entwicklung hinzu. Aufgezeichnet sind deshalb auch nur, oder vorzugsweise, die Taten des Mannes.»[29]

In dieses Weltbild ließ sich eine weibliche Herrscherin wie Maria Theresia am besten dadurch integrieren, dass man sie als die große Ausnahme behandelte, die die Regel bestätigt. Denn erst die Verletzung einer Regel sorgt ja dafür, dass die Regel als solche Kontur erhält; die Überschreitung einer Grenze macht die Grenze erst richtig sichtbar – vorausgesetzt, dass die Ausnahme eben eine Ausnahme bleibt. Normative Ordnungen leben von solchen Ausnahmen. Auch für weibliche Herrscherinnen wie Maria Theresia gilt, was über die Ausnahmefrauen in der Kunst gesagt worden ist, nämlich dass sie «nur unter der Bedingung institutionell anerkannt wurden, dass sie als Ausnahme beschreibbar waren oder die Ausnahme blieben».[30] Als Ausnahmefrau gefährdete Maria Theresia die hergebrachten Geschlechterrollen nicht, ganz im Gegenteil, sie erlaubte es den Historikern, in der Bewunderung ihrer Weiblichkeit, Schönheit, Fruchtbarkeit, Natürlichkeit, Anmut, Wärme und Hingabe geradezu zu schwelgen. «Der Zusammenklang von Frau und Regentin ist es, der Maria Theresia […] einen unvergleichlichen Reiz verleiht: daß sie ihr Lebenswerk vollbrachte, ohne das Geringste von ihrem weiblichen Wesen einzubüßen.»[31] «Alles an ihr ist naturtriebhaft, einem klugen, gar nicht reflektierenden und abstrahierenden Kopf und einem reichen Gemüt entsprungen und voll des Reizes für den Betrachter auch im Unlogischen und Unsystematischen.»[32] Maria Theresia, so befanden die Herren, regierte nicht nach abstraktem Räsonnement; Begriff und Reflexion waren ihr fremd; sie handelte naiv und intuitiv, besaß «mehr Bildung des Herzens als des Verstandes».[33] Ihr weibliches Wesen manifestierte sich in ihrem «praktischen, ganz auf das Konkrete ausgerichteten», «natürlichen Hausverstand», ihrem «Herzenstakt» und «weiblichen Charme», ihrer «gewinnende[n] Güte und ein[em] gewisse[n] Anlehnungsbedürfnis».[34] Immer war sie «die liebende, sorgende Mutter»; wie es sich für «ein Vorbild tiefster und echtester Weiblichkeit» gehört, ließ sie «ihren Verstand stets dem Herzen folgen», und was der weiblichen Geschlechterstereotype mehr sind. Die Zitate ließen sich endlos fortsetzen.[35] In einem panegyrischen Essay anlässlich ihres 200. Geburtstages 1917, der in dem offiziösen Gedächtnisband von 1980 wieder abgedruckt wurde, erhob Hugo von Hofmannsthal die Ausnahmegestalt Maria Theresia vollends in die Sphäre des Übernatürlichen, Einzigartigen und Unvergleichlichen und schwärmte von ihrer magischen Wirkung, ihrem Mysterium. Ihre Einzigartigkeit sah er darin, dass Mütterlichkeit und Herrschaft, die sich eigentlich ausschlössen, hier in eins fielen. Hofmannsthal nahm den Titel Magna Mater Austria wörtlich und schrieb Maria Theresia eine Art politischer Gebärfähigkeit zu: «Das dämonisch Mütterliche in ihr war das Entscheidende. Sie übertrug auf ein Stück Welt, das ihr anvertraut war, ohne Reflexion ihre Fähigkeit, einen Körper zu beseelen, ein Wesen in die Welt zu setzen, durch dessen Adern die Empfindung des Lebens und der Einheit fließt.»[36] Staatsbildung erschien als natürlicher Geburtsvorgang, der habsburgische Territorienkomplex als beseeltes Wesen, dem die mütterliche Herrscherin ebenso das Leben schenkt wie ihren sechzehn Kindern. Maria Theresias außergewöhnliche Verbindung von Weiblichkeit und Herrschaft machte sie aber auch für diejenigen attraktiv, die dazu neigten, die Geschlechterhierarchie in sexueller Hinsicht auf den Kopf zu stellen und der Frau den dominanten Part zuzuweisen. Es ist daher kaum überraschend, dass auch Leopold von Sacher-Masoch die Kaiserin zu seinem Idol erkor. Höchst angeregt von dem Porträt «Maria Theresia als Sultanin» (Farbtafel 22), imaginierte er sie sich als Heldin einer «erotischen Legende», als die «Schönste ihres Geschlechts», in der schon früh «die Herrschsucht mit wahrhaft dämonischer Energie» erwacht sei und die nicht nur den «von seinem Glück berauschte[n] Bräutigam», sondern auch den Staatskanzler Kaunitz dazu veranlasste, ihr «zu gehorchen wie ihre Sklaven».[37]

Maria Theresias pointierte Weiblichkeit verlangte nach einem männlichen Pendant. Was lag da näher, als den lebenslangen Konflikt zwischen ihr und dem ungefähr gleichaltrigen König von Preußen in Begriffen des Geschlechterverhältnisses zu beschreiben und auf diese Weise zum überzeitlich-allgemeinen, naturgegebenen Gegensatz zwischen Mann und Frau zu überhöhen. Dazu neigte vor allem die preußisch-kleindeutsche Geschichtsschreibung eines Ranke, Droysen oder Treitschke.[38] Das Begriffspaar männlich/weiblich diente als griffiger Code zur Ordnung der Welt und des Geschichtsverlaufs: männliches Preußen gegen weibliches Österreich, kühner Angriff gegen schwerfällige Verteidigung, Kräfte des Fortschritts gegen Kräfte der Beharrung, Protestantismus gegen Katholizismus, Norden gegen Süden, Zukunft gegen Vergangenheit, entschlossenes Handeln gegen unentschlossenes Schwanken, Homogenität gegen Heterogenität und so fort. Friedrich II. und Maria Theresia verhielten sich nach diesem Muster zueinander wie Verstand und Gefühl, Geist und Herz, Sterilität und Fruchtbarkeit, rationalistische Kälte und mütterliche Wärme, tragische Zerrissenheit und in sich ruhende Ganzheit. Die österreichische Kultur war so weiblich wie die preußische männlich. Kurzum: Alles fügte sich harmonisch zum ewigen Antagonismus von Mann und Frau.

Das Schema männlich/weiblich ließ sich flexibel an wechselnde politische Konjunkturen anpassen. Die beiden Geschlechter konnten je nach politischem Bedarf entweder als unvereinbare Gegensätze erscheinen – das war die preußisch-kleindeutsche Lesart. Oder sie konnten als zwei einander korrespondierende Pole dargestellt werden, die erst gemeinsam das Ganze des wahren Deutschtums ausmachen – das war die großdeutsche Lesart. In ihrer «monumentalen Größe» je andersartig, aber einander ebenbürtig, verwandelten sich Maria Theresia und Friedrich II. geradezu in das Traumpaar der großdeutschen Geschichte, dessen Romanze leider von einem widrigen Schicksal vereitelt worden war. Heinrich Kretschmayr leistete sich schon 1925 in der Reihe ‹Die deutschen Führer› das Gedankenspiel, was aus Deutschland Großartiges hätte werden können, wenn ihre Eltern sie miteinander verheiratet hätten, und nannte es tragisch, dass «Preußen nur gegen Deutschlands Einheit zum Staate werden konnte» und Deutschland, «indem Österreich und Preußen einander zu Höchstleistungen emportrieben und so in Ehren bestanden, diesen ihren Wettkampf mit der kaum heilbaren Zerreißung seiner Einheit hat bezahlen müssen».[39] Maria Theresia erschien nicht nur als die größte, sondern auch als «die deutscheste Frau der Zeit, vielleicht aller Zeit: offen, wahr, gemütvoll, tugendsam, eine vorbildliche Gattin und Mutter», so schwärmte der böhmisch-österreichische Schriftsteller Richard von Kralik 1916.[40] Und der deutsche Historiker Willy Andreas beschwor 1930 anlässlich der Gedächtnisausstellung in Schloss Schönbrunn die höhere Einheit des deutschen Volkes im Gegenüber von Maria Theresia und Friedrich II., Süden und Norden, Katholizismus und Protestantismus. Wie sich der Gegensatz zwischen Mann und Frau in der Ehe in höherer Harmonie auflöst, so machten sie beide gemeinsam die Vollkommenheit der Epoche aus: «Ihr historisches Dasein aber, als Ganzes genommen, macht einen Teil der allgemeinsten, vorwaltenden Epocheninhalte aus. Nicht zu Unrecht empfängt das Zeitalter von Friedrich dem Zweiten und Maria Theresia seinen Namen.»[41]

Nach dem Anschluss Österreichs 1938 hatte diese Geschichtsdeutung naheliegenderweise Hochkonjunktur. Als Heinrich Ritter von Srbik vier Jahre später das heiß ersehnte «großdeutsche Volksreich, geboren aus dem Willen der Nation und geschaffen durch die Tat eines genialen Deutschen» bejubelte, fand er, nun sei die Zeit endlich reif, Maria Theresia und Friedrich den Großen «in der stolzen Symphonie unseres Volksganzen zu vereinen». Ihre «entgegengesetzten Lebensprinzipien» und die widerstreitenden Bedürfnisse ihrer Staaten hätten zwar zu ihren Lebzeiten verhindert, dass sie «die innere Brücke zueinander» fanden. Das könne aber die Nachgeborenen nicht daran hindern, in den beiden «das stolze Besitztum des Gesamtvolks zu erblicken».[42] Für Srbik war Maria Theresia nun die ideale «Verkörperung des deutschen Frauentums»: «Deutsch war ihr Denken und Fühlen, deutsch ihr Humor, […] deutsch die Treue und Liebe zu ihrem leichtlebigen Gatten und zur Schar ihrer Kinder». Nach preußischem Vorbild hatte sie «einen wahren Staat geschaffen mit fester Obrigkeitsordnung und gediegener Verwaltung», der «dem Wesen nach ein deutscher» Staat war. Die von ihr erneuerte deutsche Kultur habe sich «über das Kulturgefälle der Monarchie nach dem ferneren Osten Mitteleuropas ergossen» und «den deutschen Volksboden» um Siebenbürgen und das Banat erweitert. Und, nicht zu vergessen: «Sie war eine instinktive Feindin des Judentums.» Kurzum: «Das Schaffen dieser völlig deutsch fühlenden, ihres Deutschtums bewußten Frau», in der auch «der alte deutsche Kaisergedanke […] noch immer ein stilles Leben» lebte, war nicht genug zu preisen.[43]

Nach dem Zweiten Weltkrieg verzichtete man auf österreichischer Seite lieber auf die Betonung der höheren Einheit der Gegensätze und zog es vor, sich wieder allein mit dem einen der beiden Pole, dem weiblich-theresianischen, zu identifizieren. So beschrieb der Schriftsteller Friedrich Heer in seinem Essay ‹Humanitas austriaca› 1958 die Kaiserin als Verkörperung eines spezifisch österreichischen Menschentums, das, «bedingt durch ein starkes Mitwirken des weiblichen Elements», gekennzeichnet sei durch Feindschaft gegen das ‹Abstrakte›, durch Leichtigkeit und Mitmenschlichkeit. Der österreichische Mensch an sich sei tolerant, die jahrhundertelange gewaltsame Rekatholisierungspolitik der Habsburger hingegen unösterreichisch. «Maria Theresia kämpft gegen den sehr einseitig willentlich orientierten Mann Friedrich II. und gegen eine Aufklärung, in der sie ein männisches willentliches, ideologisches, gewalttätiges Element wittert.»[44] Nun, da es galt, sich gegen das nationalsozialistische Deutschland abzusetzen, bewährte sich der alte Antagonismus zwischen Maria Theresia und Friedrich II.: Vertrauen, Liebe und Fürsorge hier, Misstrauen, Gewalttätigkeit und ideologische Verblendung dort. Die sexuelle Codierung des österreichisch-preußischen Gegensatzes trieb noch einmal farbige Blüten. Ein besonders schönes Beispiel dafür ist die Beschreibung Wiens durch den Publizisten Wilhelm Hausenstein, der die «These vom matriarchalischen Charakter des österreichischen Barockkaisertums» vertrat.[45] Der mütterlichen Fruchtbarkeit und Üppigkeit Maria Theresias entsprechen die Unfruchtbarkeit und Kargheit Friedrichs II. An der Topographie Wiens entfaltet er den Gedanken buchstäblich Schritt für Schritt, indem er sie von außen nach innen abschreitet. Wien ist das Zentrum der Habsburgermonarchie, das Zentrum der Stadt ist barock, und dieser Wiener Barock ist weiblich: «Metaphorisch würde sich sagen lassen, das Wiener Barock scheine einigermaßen auf jenen Mittelpunkt österreichischer Kultur hinzustreben, der Maria Theresia heißt. […] Gewiß, das Wiener Barock ist älter als Maria Theresia […], aber dennoch mutet die Geschichte Wiens wie eine Strömung an, die den Sinn, die Bestimmung hat, diesem mütterlichen Delta zuzumünden.» Im Gegensatz zu «männlich-barocken» Städten wie Rom oder Berlin habe Wien keine «mächtig einstoßende und ganz klar orientierende Via triumphalis», hier regiere «vielmehr ein tief eingewurzeltes Gesetz weicher, achsenloser Agglomeration». Im weiblich-barocken Wien verschwimmen gar die Geschlechterunterschiede, so dass «die Büsten von Männern und Frauen auf den ersten Anblick nicht immer zu unterscheiden sind»: Franz I. ist effeminiert, Maria Theresia hingegen tritt in gebieterisch-männlicher Haltung auf. «In diesem seltsamen Widerspiel spricht ein Stück der innersten Verfassung Wiens sich aus: das axiale Element (der Mann) scheint von der weiblichen Fülle und Gewalt überblendet, und alles sammelt sich um eine mütterliche Kernfigur in konzentrischen Kreisen». Der topographische Mittelpunkt des tief-weiblichen Wien ist die Hofburg, deren Mittelpunkt ist das weiß-goldene Paradeschlafzimmer, und dessen Mittelpunkt wiederum, auf den die ganze Schilderung zuläuft, ist das kaiserliche Ehebett (das bereits unter Kaiser Franz Joseph als museales Erinnerungsstück zum Gedenken an Maria Theresia präsentiert wurde). Die Phantasie des Autors überschlägt sich beim Anblick «des schweren und üppigen Prachtbettes der Kaiserin, des Ehebetts einer majestätischen Liebe»; es ist «das Ungewöhnlichste, das Besonderste der Wiener Hofburg», «die Wurzel des Wesens dieses ganzen Schlosses», «die Mitte des Lebens der Hofburg». Das Bett und sein Gegenstück, der eheliche Sarkophag in der Gruft, bilden gemeinsam das «Zentrum der Dynastie, Vollendung der österreichischen Geschichte»: «Haupt und Herz Wiens – in der Gestalt einer Frau!»

1945 war für die Maria-Theresia-Historiographie wie auch sonst für die deutsche und österreichische Geschichtswissenschaft kein tiefer Bruch. Die Historiker fanden aus der Untertanenperspektive nicht heraus und schrieben über Maria Theresia noch lange im hochgestimmten Ton der panegyrischen Festrede.[46] Noch in den Jubiläumsschriften zur 200. Wiederkehr des Todesjahres 1980, als der Essay von Hofmannsthal bezeichnenderweise noch einmal nachgedruckt wurde, klingt dieser Ton wieder an. Die unangefochtene Dominanz des nationalstaatlich-konservativen Mythos machte Maria Theresia offenbar für andere Herangehensweisen uninteressant. Noch in einem aktuellen Forschungsüberblick wird sie als «perhaps the least controversial figure in Habsburg history» bezeichnet; ihr Bild tendiere immer noch dazu, «to be overly kitschy».[47] Die Frauenbewegung der 1970er Jahre, die zuerst die Frauen- und dann die Geschlechtergeschichte erfand, interessierte sich auffallend wenig für Maria Theresia und versuchte gar nicht erst, sie ihrerseits für ihre Zwecke zu vereinnahmen. Es klang fast ironisch, als Barbara Sichtermann in der Zeitschrift ‹Emma› 2010 die Kaiserin als Bild einer emanzipierten Frau und Mutter in Anspruch nahm, die eine selbstbestimmte Partnerschaft lebte und die Balance zwischen Beruf und Familie spielend meisterte.[48] Den feministischen Historikerinnen der ersten Generation ging es vor allem darum, den unsichtbaren und benachteiligten Frauen in der Geschichte zu einer Stimme zu verhelfen. Die von Generationen männlicher Historiker zur Ausnahmefigur verklärte ‹Reichshausfrau› eignete sich kaum zum Gegenstand einer neuen, emanzipatorischen Frauengeschichte, ganz im Unterschied etwa zu ihrer Tochter Marie Antoinette. Auf die Ikone der national-konservativen Politikgeschichte konnte frau verzichten. Eine Gestalt wie Maria Theresia passte in die Kategorien der feministischen Geschichtswissenschaft, die sich vor allem für die Befreiung der Frau aus der Opferrolle interessierte, ebenso wenig, wie sie zuvor in die Kategorien der traditionellen «Männer machen Politik»-Geschichte gepasst hatte.

Das Desinteresse an Maria Theresia ist jedenfalls auffällig. Viele aktuelle Forschungen zur Habsburgermonarchie im Allgemeinen und zum Wiener Hof im Besonderen enden signifikanterweise mit dem Jahr ihres Herrschaftsantritts, 1740.[49] Man interessiert sich zwar inzwischen für Franz I. Stephan, für einzelne ihrer Spitzenbeamten, Aristokraten und Minister,[50] auch für ausgewählte Sachthemen wie die Grenzraumpolitik, die Religionspolitik oder die transkulturellen Verflechtungen mit dem Osmanischen Reich[51] – aber kaum für die Person der Kaiserin-Königin. Nur ihre Inszenierung in der Kunst ist mittlerweile ein großes Thema, dessen sich die Kunsthistoriker intensiv angenommen haben.[52] Nach dem zweibändigen Werk von Eugen Guglia aus dem Jubiläumsjahr 1917 wurde lange keine deutschsprachige wissenschaftliche Biographie über Maria Theresia mehr veröffentlicht.[53] Das überließ man entweder französischen und britischen Historikern, die von dem nationalstaatlichen Mythos weniger infiziert waren,[54] oder Autorinnen und Autoren populärer Sachbücher, die mit Titeln wie ‹Kinder, Kirche und Korsett› einen Blick durchs Schlüsselloch der Hofburg versprachen.[55]

Dass die jüngere Generation der Historikerinnen und Historiker um Maria Theresia bisher einen Bogen macht, hat zur Folge, dass ihr Bild in der breiteren Öffentlichkeit nach wie vor in erstaunlichem Maße von der Sicht österreichischer Historiker des 19. und 20. Jahrhunderts geprägt ist. So, wie diese Männer sie sich vorgestellt haben, ist Maria Theresia wahlweise besonders weiblich oder besonders männlich; sie ist wahlweise echt österreichisch oder echt deutsch. Sie ist die Heldin, die die Übermacht der Feinde besiegt und das Recht gegen die Macht verteidigt. Sie ist die «Kaiserin von Österreich», die ihrem Mann, immerhin Kaiser des Römisch-deutschen Reiches, nur die Rolle eines Privatmanns übrig lässt. Sie ist die bieder-bürgerliche Reichshausfrau, die Schluss macht mit dem aristokratisch dominierten Hof und seinem steifen Zeremoniell. Sie ist die entschlossene Begründerin des modernen bürokratischen Verwaltungsstaats, die aufräumt mit Privilegien und Patronage. Und schließlich ist sie die Herrscherin der Herzen, die ihre Untertanen wie ihre Kinder liebt und von ihnen geliebt wird, zugänglich für jeden, auch den geringsten ihrer Untertanen.[56] Das sind – überspitzt gesagt – die Stereotypen, mit denen sich eine Biographie Maria Theresias auseinanderzusetzen hat.

Ein außergewöhnlicher Normalfall

Es ist also an der Zeit, die Figur Maria Theresia zu historisieren und in ihrer Fremdartigkeit zu betrachten. Es wäre allerdings naiv zu glauben, man könnte nun seinerseits einfach die richtige Geschichte erzählen. Die monumentale Biographie von Arneth ist ja keineswegs falsch, im Gegenteil, sie ist an Quellenreichtum und Detailgenauigkeit bis heute unübertroffen. Wer nach einer akribischen Beschreibung der diplomatischen Verhandlungen in Krieg und Frieden sucht, ist nach wie vor auf diese Darstellung angewiesen. Doch man kann heute nicht mehr auf die gleiche Art biographisch erzählen wie zu Arneths Zeiten, es sei denn, man versteht sich als Romanautor.[57] Zwar ist die biographische Gattung nicht mehr verpönt, wie sie es in den 1970er Jahren einmal war. Das historische Erzählen, auch das Erzählen einer Lebensgeschichte, ist längst wieder legitim, gerade weil man sich der Konstruktionsleistung des Erzählers und der Suggestionskraft des Erzählens bewusst ist. Wenn strenge Dekonstruktivisten von der «biographischen Illusion» sprechen, so ist das kein Einwand gegen die Gattung an sich. Selbstverständlich ist ein Leben als solches noch keine Geschichte, sondern wird erst vom historischen Erzähler dazu gemacht. Doch Historiker können das vieldeutige, kontingente historische Geschehen heute nicht mehr nachträglich in eine eindeutige, zielgerichtete Geschichte verwandeln. Sie können sich nicht mehr als allwissende Erzähler ausgeben und stillschweigend unterstellen, sie könnten überzeitlich gültige psychologische Introspektionen vornehmen und die Motive der Handelnden durch unmittelbare Einfühlung erkennen. Das führt notwendig zu anachronistischen Fehldeutungen – wie etwa der, einer Herrscherin wie Maria Theresia die Gefühle einer bürgerlichen Familienmutter des 19. Jahrhunderts zu unterstellen. Stattdessen tut man gut daran, zunächst einmal von der strukturellen Andersartigkeit der vergangenen Epoche auszugehen und zu fragen, was für die historischen Figuren, um die es geht, «nennenswert und auf bedeutungsvolle Weise anders war als für uns».[58] Denn wenn es um das historische Verstehen geht, dann ist Fremdheit kein Hindernis, sondern notwendiger Ausgangspunkt. Historisches Verstehen ist nicht umsonst zu haben, es bedarf hermeneutischer Anstrengung. Zum Beispiel: Was setzte man damals als selbstverständlich voraus, in welchen begrifflichen Kategorien bewegte man sich, welche sozialen Unterscheidungen traf man, welcher unausgesprochenen Logik folgte das Handeln, an welchen Erwartungen, Regeln und Konventionen orientierte man sich, auf welche Wissensbestände konnte man zurückgreifen, über welche habitualisierten Praktiken verfügte man, welches Repertoire an Gefühlsäußerungen stand einem zu Gebote, welche Grenzen waren dem Handeln gesetzt? All das war womöglich grundlegend anders, als wir es heute für selbstverständlich halten, und diesen Abstand gilt es so genau wie möglich auszumessen.

Dazu ist es keineswegs notwendig, dass die Gestalt, um die es geht, in einem soziologischen Sinne ‹repräsentativ› ist. Aus der Mikrohistorie stammt der paradoxe Begriff des ‹außergewöhnlichen Normalen›, der das auf den Punkt bringt.[59] Der Ausnahmefall ist meist historisch wesentlich besser dokumentiert als der Regelfall, der sich von selbst versteht. Doch gerade der seltene, ungewöhnliche, abweichende Fall ermöglicht Rückschlüsse auf das Selbstverständliche und Normale, das er als Hintergrund immer voraussetzt. Individuelle Person und allgemeine Struktur stehen ja nicht im Gegensatz zueinander, sondern in einem Wechselverhältnis. Mit diesem Argument rechtfertigen die Mikro-Historiker seit den 1980er Jahren den allgemeinen Erkenntniswert ihrer ungewöhnlichen Einzelfallgeschichten, die meistens von marginalisierten «kleinen Leuten» handeln. Warum sollte das, was für Figuren wie den völlig unbekannten Müller Menocchio gilt, nicht auch für hochberühmte historische Gestalten wie Maria Theresia gelten? Auch sie war eine ganz und gar ungewöhnliche Ausnahmegestalt, und doch verrät gerade sie viel über die Regeln und Normen, die sie erst zur Ausnahme machten. Die Herausforderung ist in diesem Fall allerdings genau entgegengesetzt wie die, mit der es die Mikrogeschichte zu tun hat: Die Figur Maria Theresias muss ja nicht überhaupt erst zu historischem Leben erweckt werden, sie muss vielmehr unter den Schichten der verschiedenen historiographischen Projektionen wieder freigelegt werden, die sie mit der Zeit überwuchert haben.

Auch in einer Biographie ergibt sich die Struktur der Darstellung nicht von selbst, sondern wird vom Autor gestiftet. Ich folge in diesem Buch drei Darstellungsprinzipien. Erstens versuche ich, die Illusion der Allwissenheit ebenso wie die ‹natürliche Komplizenschaft› der Biographin mit ihrer Figur zu vermeiden[60] und stattdessen mehrere Perspektiven und Wahrnehmungsweisen nebeneinanderzustellen. Denn die Unterschiedlichkeit, selbst die Widersprüchlichkeit verschiedener Quellenperspektiven ist kein Nachteil, der vom Erzähler zum Verschwinden gebracht werden müsste, sondern macht gerade den Reichtum der erzählten Geschichte aus.[61] Zweitens suche ich erzählerische und analytische Elemente zu verbinden und wechsele zwischen Nah- und Fernsicht, mikroskopischen und makroskopischen Einstellungen auf den Gegenstand. Drittens nehme ich einen verfremdenden, gleichsam ‹ethnologischen› Blick ein und hüte mich vor falscher Vertrautheit mit meiner Heldin.[62] Dazu gehört auch der Grundsatz, die fremdartige, sperrige Sprache der Quellen so oft wie möglich selbst zu Wort kommen zu lassen. Das Ziel ist, die Gestalt Maria Theresias in ihrer Zeit zu verstehen – und umgekehrt, die Zeit pars pro toto durch diese Gestalt zu erschließen.

Sie eignet sich dazu deshalb so gut, weil sie ein Kreuzungspunkt so vieler unterschiedlicher Blicke, Objekt wie Subjekt so vieler unterschiedlicher Quellenzeugnisse ist. Ihr Hof stellt sich völlig anders dar, wenn man ihn aus der Perspektive des Oberstkämmerers Khevenhüller oder des ‹Hoftirolers› Peter Prosch, im Spiegel eines Zeremonialprotokolls oder einer Satire betrachtet. Ihre Verwaltungsreformen waren für einen Aristokraten wie Friedrich August von Harrach etwas völlig anderes als für einen Spitzenbeamten wie Johann Christoph Bartenstein, und sie stellen sich in Ministervorträgen anders dar als in einem Tagebuch und wiederum anders im Rechenschaftsbericht der Kaiserin selbst. Eine Feldschlacht im Erbfolgekrieg ist etwas anderes in den Berichten des Oberkommandierenden als im Tagebuch eines Soldaten, die Ausweisung der Juden aus Prag oder der Protestanten aus der Steiermark erschließt sich aus den Beratungsprotokollen anders als aus den Briefen und Aussagen der Betroffenen. Unter ‹Aufklärung› verstand man je nach Perspektive etwas völlig anderes: den Salondiskurs gottloser Modephilosophen oder die Ausrottung von Vorurteil und Aberglauben durch die christliche Monarchin. Die Beziehungen innerhalb der Herrscherfamilie schließlich stellen sich je nach den Korrespondenzpartnern einmal als zärtlich-intimes Freundschaftsgeflecht und einmal als hasserfülltes Intrigenspiel dar. In allen diesen Fällen geht es weniger darum, die gemeinsamen Schnittmengen zu ermitteln, als vielmehr darum, die divergierenden Realitätswahrnehmungen als solche aus ihrer jeweiligen Blickrichtung verständlich zu machen und nebeneinander stehen zu lassen.

Was für die heroische Biographie Alfred von Arneths das Maria-Theresien-Denkmal an der Wiener Ringstraße war, das ist für eine ‹post-heroische› Biographie heute das Bildnis von der Hand des Genfer Porträtmalers Jean-Étienne Liotard auf dem Umschlag dieses Buches.[63] Liotard hielt sich 1743 und 1762/63 am Wiener Hof auf, wo die adelige Gesellschaft sich bevorzugt von ihm malen ließ. Von ihm stammt eines der meisterhaftesten Porträts Maria Theresias (Farbtafel 9) und eine berühmte Serie von Bildnissen der kaiserlichen Kinder (Abb. 38a–b). Er war nicht nur für seine Porträts à l’Orient berühmt (Abb. 47), sondern auch für seine Kunst des perfekten trompe-l’œil.[64] Um eine solche illusionistische Augentäuschung handelt es sich auch bei diesem weitgehend unbekannten, intimen Porträt Maria Theresias. Liotards Kunst lässt es so scheinen, als schöbe sich eine hölzerne Tafel über das Bildnis. Tatsächlich ist aber die Tafel der Untergrund, auf den das halbe Porträt gemalt ist; Hintergrund und Vordergrund sind also vertauscht. Nur beim genauen Hinsehen merkt der Betrachter: Die Dinge sind nicht so, wie sie scheinen. Was natürlich scheint, ist ein Erzeugnis der Kunst. Der Sinn eines jeden trompe-l’œil besteht darin, dass es vom Betrachter als solches entdeckt wird – allerdings erst auf den zweiten Blick. Indem die Augentäuschung sich beim genauen Hinsehen als solche zu erkennen gibt, lenkt sie die Aufmerksamkeit vom dargestellten Gegenstand auf die Form der Darstellung. Die Suggestion der Echtheit wird zugleich vorgeführt und als solche entlarvt. Genau das sollte eine post-moderne Biographie auch leisten: eine Lebensgeschichte erzählen und zugleich den Blick der aufmerksamen Leserinnen und Leser auf die Perspektivität und Konstruiertheit dieser Erzählung lenken.

II

DIE ERBTOCHTER

~

Abb. 2: Maria Theresia im Alter von etwa zehn Jahren als Erbprinzessin des Hauses Österreich. Der Erzherzogshut auf dem (roten) Samtpolster links, der (rote) Mantel mit Hermelinbesatz über dem rechten Arm und die geraffte Samtportiere entsprechen der Gattung des Staatsporträts. Gemälde von Andreas Möller, ca. 1727

Rituale und Reliquien

Am 13. Mai 1717 gegen halb acht Uhr morgens wurde dem Kaiser Karl VI. und seiner Frau Elisabeth Christine in der Hofburg zu Wien eine Tochter geboren und noch am Abend desselben Tages auf den Namen Maria Theresia Walburga Amalia Christine getauft.[1] Nach Auskunft des Hofkalenders ereignete sich dies im sechsten Jahr der kaiserlichen Regierung Karls VI. und im vierzehnten Jahr seiner Herrschaft in Spanien; mehr als 3000 Jahre waren vergangen seit Anfang und erster Erbauung der Stadt Wienn; es war das 505. Jahr seit erster Erbauung der Kayserlichen Burg und das 34. Jahr nach glücklichen Entsatz und Wegschlagung der Türckischen Armee von hiesiger starcken Belagerung.[2] Alles war seit langem sorgfältig für den Empfang des Kindes vorbereitet worden. Schon im Januar hatten die Untertanen in den habsburgischen Ländern von Mailand bis nach Schlesien in den Pfarrkirchen um eine glückliche Geburt und einen gesunden Thronfolger zu beten begonnen und Bittprozessionen zur Mutter Gottes unternommen.[3] Im April hatte man den Kinderhofstaat für das Neugeborene bestimmt und die Ammen ausgewählt, die es nähren sollten. Die Verantwortung für das Kind, das Amt der Aya, war einer hochrangigen alten Hofdame übertragen worden.[4]

Es war ein altes, strenges und ehrfurchtgebietendes Ordnungsgefüge, in das das Kind hineingeboren wurde: das glanzvolle Erzhaus Österreich, das Römisch-deutsche Kaisertum und nicht zuletzt die allein seligmachende katholische Kirche, die der protestantischen Ketzerei erfolgreich die Stirn geboten hatte. Alle diese Institutionen beanspruchten für sich – mit mehr oder weniger Plausibilität – einen uralt-ehrwürdigen Ursprung. Das Haus Habsburg, unter allen Ständen des Reiches das mächtigste, wie es hieß, führte seine Ahnenreihe zwar mittlerweile nicht mehr auf den biblischen Stammvater Noah oder auf Hektor, den Helden des antiken Troja, zurück, aber immerhin noch bis auf Eticho, einen elsässischen Getreuen des fränkischen Königs Childebert aus dem 7. Jahrhundert.[5] Die römisch-deutsche Kaiserwürde, die dieses Haus seit dem 15. Jahrhundert kontinuierlich innehatte, wurde über Karl den Großen bis auf Kaiser Augustus zurückgeführt. Die katholische Kirche schließlich, begründet von Christus selbst, setzte sich vom Apostel Petrus in lückenloser Sukzession bis zum gegenwärtigen Papst Clemens XI., dem Taufpaten, fort. In allen drei Fällen leitete sich die Autorität der Institution von ihrem Alter ab, vom Prinzip der jahrhundertelangen, scheinbar lückenlosen Weitergabe von einem Inhaber zum anderen. Diese eindrucksvollen Kontinuitätslinien hielten zwar den Augen kritischer Geschichtsschreiber schon damals nicht mehr in jeder Hinsicht stand. Aber darauf kam es nicht an, solange die unvordenkliche Dauer und Heiligkeit der Dynastie, des Kaisertums und der römischen Kirche in ritueller Form stets aufs Neue vergegenwärtigt und erfahren wurden. Das geschah durch das Ritual der Taufe, die alles in einem war: Familienfeier, Staatsaktion und Sakrament, eine Inszenierung sozialer Hierarchie, politischer Macht und sakraler Würde. Durch heilige Gegenstände, alte Formeln und rituelle Gesten, durch das ganze komplexe zeremonielle Arrangement und nicht zuletzt durch seine Namen wurde das Neugeborene in die bestehende Ordnung hineingestellt und symbolisch mit ihren ältesten Traditionen verbunden.

Damit alles seine Richtigkeit hatte, war über Ort und Zeremoniell der Taufe zuvor in einer Hofkonferenz von den höchsten Amtsträgern beraten und entschieden worden.[6] Die Taufe fand nicht in einer öffentlichen Kirche oder in der Hofkapelle statt, sondern im kaiserlichen Staatsappartement der Hofburg, in der Ritterstube, die man als Bühne für diesen Akt sorgfältig vorbereitet hatte: Sie war mit gold- und silberdurchwirkten Seidentapisserien ausgekleidet, mit zahlreichen kristallenen Kandelabern illuminiert und mit Baldachin, Altar und Taufbecken ausgestattet worden. Die Ritterstube lag im ersten Stock der Hofburg, im sogenannten Leopoldinischen Trakt, einem langgestreckten, streng geometrischen Baukörper, der in den 1660er Jahren an die alte Burg angebaut worden war, um den gestiegenen zeremoniellen Erfordernissen entsprechen zu können. Die Burg war im Kern ein verwinkeltes altes Gebäude aus dem 16. Jahrhundert inmitten des in seinen Befestigungsanlagen eingeschlossenen, engen und ebenso verwinkelten Wien.[7] Sie war tatsächlich eher eine Burg als ein Schloss. Schon zu Kaiser Leopolds I. Zeiten erschien sie Besuchern nicht sonders prächtig erbaut und für einen solchen mächtigen und höchsten Potentaten ziemlich eng.[8] Obwohl sie auch im 18. Jahrhundert immer wieder erweitert und modernisiert wurde – 1717 baute man gerade einen neuen Trakt für die Reichskanzlei –, konnte sie dem Zeitgeschmack nicht genügen, der streng symmetrische Bauformen, großzügige Sichtachsen, eine prunkvolle zentrale Ehrentreppe und vor allem weitläufige geometrische Gartenanlagen forderte.

Abb. 3:  Die Hofburg in Wien. Detail aus dem Vogelschauplan von Josef Daniel Huber, Scenographie oder Geometrisch Perspect. Abbildung der Kayl. Königl. Haubt- u. Residenz Stadt Wien in Oesterreich, 1773

Doch am Kaiserhof, der immer noch beanspruchte, der höchstrangige weltliche Hof der Christenheit zu sein, wurde der Wahrung der Tradition mehr Wert beigemessen als dem höfischen Modediktat aus dem feindlichen Frankreich. Das galt auch für das Zeremoniell, mit dem das Neugeborene in der Welt empfangen wurde. Es war im Wesentlichen noch immer das gleiche, das Ferdinand I. 1527 nach burgundisch-spanischem Muster am österreichischen Hof eingeführt hatte. Diese zeremonielle Ordnung schrieb vor, dass man sich dem Herrscherpaar stets nur unter dreimaliger Kniebeuge nähern durfte, sie bestimmte, wer Zugang zu welchen Räumen hatte und wer den Kaiser an seiner einsamen Tafel bedienen durfte. Das Zeremoniell war durch sein Alter geheiligt, es war unflexibel, gravitätisch und exklusiv und distanzierte die Herrscherfamilie von aller Welt – anders, als es zur selben Zeit am französischen Hof der Fall war, wo fast jeder Zugang hatte, wenn er nur saubere und manierliche Kleidung trug.[9]

Dieser strengen zeremoniellen Ordnung gehorchte auch die Taufe Maria Theresias. Der Akt spielte sich ausschließlich in den Mauern der Hofburg ab. Eine feierliche Prozession bewegte sich noch am Abend nach der Entbindung mit Pauken und Trompeten vom Schlafzimmer der Kaiserin zum Taufzimmer: Voran gingen Kavaliere und Mitglieder der niederösterreichischen Landstände, die kaiserlichen Kämmerer und Geheimen Räte, alle in kostbaren Campagne-Kleidern, dann der päpstliche Nuntius und der venezianische Botschafter nebeneinander – denn sie achteten sorgfältig darauf, dass nicht einer dem anderen vorgezogen wurde –, sodann der Kaiser im spanischen Mantelkleid aus Gold- und Silberbrokat und mit roten Federn am Hut, die beiden schwarzgekleideten Witwen der früheren Kaiser Leopold I. und Joseph I. und schließlich die Aya mit der neugeborenen durchleuchtigsten Ertz-Herzogin, die juwelengeschmückt auf einem Polster aus weißem Atlas lag. Dahinter folgten die Töchter der verstorbenen Kaiser, die Spitzen des weiblichen Hofstaats und zahllose Hofdamen, Ministerfrauen und adelige Damen aus der Stadt. An der Tür zur Ritterstube übernahm der Obersthofmeister Liechtenstein das Neugeborene, und unter Trompeten- und Paukenschall trug er es in die Ritterstube, wo der Bischof von Wien, assistiert von einer ganzen Reihe anderer geistlicher Würdenträger, ihm das Taufsakrament spendete. Nach dem Ambrosianischen Lobgesang, einem Schlussgebet und dem Segen des Bischofs zog sich die ganze Gesellschaft wieder in geordneter Prozession in ihre Appartements zurück.

Als Paten fungierten die beiden Kaiserinnenwitwen und kein Geringerer als Papst Clemens XI., repräsentiert durch seinen Nuntius. Diese Patenwahl hatte einen doppelten Sinn: Mit dem Oberhaupt der Christenheit gewann man nicht nur den höchstrangigen Paten, den das katholische Europa überhaupt zu bieten hatte, sondern die Taufe bot auch eine günstige Gelegenheit, das keineswegs selbstverständliche politische Einvernehmen mit dem Heiligen Stuhl zu bekräftigen. Im Krieg um die spanische Erbfolge hatte dieser Papst noch auf der Gegenseite gestanden; nun aber brauchte man einander für den gemeinsamen Krieg gegen die Türken.[10] Vor der Geburt hatte die Hofkonferenz auch über die Patenschaft im Falle eines Sohnes und Thronfolgers beraten. Dafür wären nur hochrangige katholische Potentaten wie die Könige von Frankreich, Portugal oder Polen in Frage gekommen; als zweite Wahl diskutierte man allenfalls noch über den Kurfürsten von der Pfalz und den Herzog von Lothringen – fast alles Verwandte des Hauses. Am Ende legte man sich auf den König von Portugal fest, der mit einer Tochter Kaiser Leopolds verheiratet und also ein Onkel des Täuflings war. Doch dazu kam es nicht, weil zur großen Enttäuschung des Kaisers nur eine Tochter geboren worden war.

Rituale sorgen dafür, dass Anfänge keine Anfänge sind, sondern Wiederholungen von schon Bekanntem. Für das Neugeborene war die Taufe ein Übergangsritual von buchstäblich existenzieller Bedeutung, denn sie verlieh ihm überhaupt erst eine spirituelle und soziale Existenz. Spirituell bewirkte sie die Reinigung von der Erbsünde und damit die Rettung der Seele für das ewige Leben; sie hatte deshalb so bald wie möglich zu erfolgen, um das Kind dem ewigen Untergang zu entreißen. Sozial bewirkte die Taufe die Aufnahme in die menschliche Gemeinschaft im Allgemeinen und in die sozialen Gemeinschaften der Familie, des Landes und des Reiches im Besonderen. Seine soziale Identität erwarb das Neugeborene dabei nicht zuletzt durch seine verschiedenen Namen – Maria Theresia Walburga Amalia Christina –, die es sichtbar im Verwandtschafts- und Glaubenssystem verankerten: Maria, diesen Vornamen erhielten alle Habsburgertöchter, denn Maria war die Patronin der Dynastie und ihrer Länder, magna mater Austriae, die Spitze der Heiligenhierarchie und mächtigste himmlische Fürsprecherin schlechthin. Theresia verwies auf eine der zentralen Figuren des nachtridentinischen Heiligenhimmels, die spanische Mystikerin Theresa von Avila, die 1622 heiliggesprochene Patronin der spanischen Monarchie und Begründerin des Ordens der Unbeschuhten Karmelitinnen. Walburga war eine in Österreich volkstümlich besonders verehrte Heilige des 8. Jahrhunderts, die als Patronin der Wöchnerinnen galt. Den Namen Amalia bekam das Neugeborene nach einer der beiden Taufpatinnen, Amalia Wilhelmina, der Kaiserinwitwe Josephs I., den Namen Christine schließlich nach seiner Mutter Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel.

Während die Vornamen das Neugeborene dem Schutz einer Reihe diesseitiger und jenseitiger Patroninnen unterstellte, ordneten seine Titel es in die europäische Adelshierarchie ein: nämlich als Erzherzogin von Österreich, dem Stammland der Habsburger, und als Infantin von Spanien. In dem zweiten Titel manifestierte sich der immer noch hartnäckig aufrechterhaltene Anspruch des Vaters auf den spanischen Thron, den er tatsächlich fünf Jahre zuvor im Spanischen Erbfolgekrieg eingebüßt hatte. Karl VI. verstand sich immer noch als König von Spanien. Er nannte sich Rey cattólico, verlieh spanische Adelstitel, trug die schwarze spanische Hoftracht, ließ sich nach spanischer Etikette die Hand küssen und agierte als Oberhaupt des Ordens vom Goldenen Vlies. All das waren Zeichen des Phantomschmerzes über den Verlust der spanischen Krone, an dem Karl VI. bis an sein Lebensende litt. Schon das Neugeborene trug also die unerfüllten politischen Ansprüche des Hauses in seinem Titel mit sich herum, die in den kommenden Jahrzehnten noch für weitere kriegerische Auseinandersetzungen sorgen sollten. Das war durchaus charakteristisch für die vormoderne Adelswelt: Uneingelöste Prätentionen wurden dauerhaft in ritueller Form aufrechterhalten und immer aufs Neue in der Titulatur zur Sprache gebracht. Das verlieh nicht nur den barocken Anredeformen ihre berüchtigte Länge und Schwerfälligkeit, sondern bezeichnete auch vor aller Welt das latente Konfliktpotential, das bei jeder sich bietenden Gelegenheit akut werden konnte.

Ein Einsetzungsritual wie die Taufe hat immer zwei Seiten. Es verändert nicht nur den Status desjenigen, der es durchläuft, indem es ihn in die Ordnung der Welt hinein und an einen bestimmten Platz stellt. Ein solches Ritual bekräftigt zugleich die Ordnung des Ganzen und erzeugt eine Aura ewiger Unveränderlichkeit. Indem sich für den Täufling alles ändert, bleibt zugleich für die anderen alles, wie es ist und immer war (oder jedenfalls gewesen zu sein scheint).[11] Die Beständigkeit der Ordnung wurde nicht nur durch die Unveränderlichkeit der Gesten und Formeln verbürgt, die im Rituale Romanum seit dem Konzil von Trient für das Taufsakrament in der ganzen katholischen Kirche festgeschrieben waren, sondern auch durch eine Reihe von bedeutungsschweren Gegenständen, die jedes Mal bei den Taufzeremonien des Hauses Österreich aus der Schatzkammer hervorgeholt wurden und die Kontinuität der Dynastie handgreiflich verkörperten. So war das goldene Taufbecken dasselbe, aus dem die Mitglieder des österreichischen Hauses seit Generationen das Sakrament empfangen hatten. In das Taufwasser hatte man 5 Tropffen von dem Wasser aus dem Fluß Jordan hineingelassen, mit dem schon Jesus selbst von Johannes getauft worden war und von dem man in der Schatzkammer ein kostbares Fläschchen voll besaß.[12] Neben dem Taufbecken wurden eine Reihe wertvollster Reliquien ausgestellt, die feierlich aus dem Geburtszimmer herübergetragen worden waren, wo sie zuvor schon für eine glückliche Entbindung gesorgt hatten: das Heil. Blut/ein Dorn von der cron Christi/ein Nagel/damit der Heiland der Welt ans Creutz geheftet worden/und etwas von Unserer Lieben Frauen Milch (vgl. Farbabb. 1).[13] Die beiden Patinnen schenkten der kleinen Erzherzogin zur Taufe überdies einige Reliquien von der Heiligen Theresia und von dem H. Ignatzius/eben mit kostbarsten Diamanten besetzet.[14] Beide Heiligen waren Ordensgründer aus der nachreformatorischen Zeit und repräsentierten die über die protestantische Ketzerei triumphierende katholische Kirche. Deren Kennzeichen war es ja gerade, dass sie die Beziehung zum Jenseits – anders als die Protestanten – auf ganz handgreiflich-körperliche Weise herstellte, nämlich durch den Besitz materieller Überreste von Christi Passion und den Heiligen, die man, um den wahren spirituellen Wert der unscheinbaren Knochensplitter, Fasern oder Flüssigkeiten symbolisch sichtbar zu machen, in kostbarste Schaugefäße verpackte. Die Echtheit der Reliquien war teils durch päpstliches Attestat, teils auch durch nachgewiesene Wunderkraft verbürgt.[15]

Traditionell nicht beim Taufritual dabei war die Mutter, Kaiserin Elisabeth Christine aus dem Haus Braunschweig-Wolfenbüttel. Dass ein Habsburger eine Braut aus einer protestantischen Familie heiratete, war eine große Ausnahme und hatte selbstverständlich vorausgesetzt, dass die welfische Prinzessin vor der Hochzeit konvertierte. Es war zwar keine Seltenheit, sondern seit dem 17. Jahrhundert beinahe die Regel, dass Mitglieder des deutschen Adels wieder in den Schoß der römischen Kirche zurückkehrten, um in das Klientelnetz der Habsburger und das Pfründensystem der deutschen Kathedralstifte aufgenommen werden zu können. Doch Elisabeth Christine hatte man dazu nötigen müssen. Gottfried Wilhelm Leibniz, der hochberühmte Universalgelehrte und Vertraute ihrer Mutter, der die Unterschiede zwischen den Konfessionen für überwindbar hielt, sowie ein eigens aus Wien nach Wolfenbüttel entsandter Jesuitenpater hatten sie lange bearbeitet und ihr doch die Gewissensqualen nicht ausreden können.[16] Dennoch musste sie 1707 im Dom zu Bamberg öffentlich das tridentinische Glaubensbekenntnis ablegen und um 1708 vor dem wundertätigen Gnadenbild in der Marienkirche in Hietzing heiraten, um anschließend als Reyna cattólica in Barcelona residieren und den Anspruch Karls VI. auf den spanischen Thron vertreten zu können. Dass Elisabeth Christine bei der Taufe ihrer Tochter nicht anwesend war, hatte nichts mit konfessionellen Vorbehalten zu tun. Es war vielmehr nicht zulässig, dass eine Wöchnerin am Gottesdienst teilnahm, bis sie etwa sechs Wochen nach der Niederkunft eine rituelle Reinigung erfahren hatte, die am Kaiserhaus in der Form der feierlichen Hervorsegnung