Marion, für immer 13 - Nora Fraisse - E-Book
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Marion, für immer 13 E-Book

Nora Fraisse

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Beschreibung

Marion ist eine engagierte Schülerin mit guten Noten und dem Berufswunsch Architektin. Doch mit dreizehn Jahren nimmt sie sich völlig unerwartet das Leben. In ihrem Abschiedsbrief erklärt sie, sie habe die Beleidigungen in der Schule nicht mehr ausgehalten. Marions Mutter Nora will verstehen, warum sich ihre Tochter umgebracht hat. Sie durchforstet Facebook-Nachrichten und SMS, die Marion von ihren Klassenkameraden erhalten hat, und kommt nach und nach dem wahren Ausmaß des Mobbings auf die Spur.

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EPUB

Seitenzahl: 227

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumAn Marion1: Mittwoch, 13. Februar 20132: Fragen über Fragen3: Dein Brief an die Täter4: Das Schweigen der Schule5: Wir waren allein6: Ein Strauß roter Rosen7: Klasse 8c8: Drei unheilvolle Tage9: Architektenträume10: Widersprüchliche Gefühle11: Mea culpa12: Die »Verleumderin«13: Man muss darüber sprechen14: Handeln, schnell handelnFür Clarisse und BaptisteEpilogDanksagung

Über dieses Buch

Marion ist eine engagierte Schülerin mit guten Noten und dem Berufswunsch Architektin. Doch mit dreizehn Jahren nimmt sie sich völlig unerwartet das Leben. In ihrem Abschiedsbrief erklärt sie, sie habe die Beleidigungen in der Schule nicht mehr ausgehalten. Marions Mutter Nora will verstehen, warum sich ihre Tochter umgebracht hat. Sie durchforstet Facebook-Nachrichten und SMS, die Marion von ihren Klassenkameraden erhalten hat, und kommt nach und nach dem wahren Ausmaß des Mobbings auf die Spur.

Über die Autorin

Nora Fraisse ist 43 Jahre alt. Ihre Tochter Marion hat sich im Jahr 2013 mit nur 13 Jahren selbst umgebracht, weil sie in der Schule gemobbt wurde. Nach dieser Tragödie, entschloss sich Nora Fraisse für die Opfer von Mobbing an Schulen zu kämpfen. Neben der Veröffentlichung ihres Buchs hat sie den Verein »Marion La Main Tendue« gegründet. Sie hat zwei andere Kinder, eine Tochter studiert seit 2015 an der Universität.

NORA FRAISSE

MARION,

für immer 13

Der Tag, an dem meine Tochter nicht mehr leben wollte

Aus dem Französischen von Monika Buchgeister

BASTEI ENTERTAINMENT

Deutsche Erstausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2015 by Calmann-Lévy

Titel der französischen Originalausgabe: »Marion. 13 ans pour toujours«

Originalverlag: Calmann-Lévy

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titelillustration: Foto: collection personnelle de l’author

Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-6056-1

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

An Marion

Marion, meine Tochter, am 13. Februar 2013 hast du dir im Alter von dreizehn Jahren das Leben genommen. Mit einem Schal hast du dich in deinem Zimmer erhängt.

Auf deinem Hochbett haben wir dein Handy gefunden, das du ebenfalls mit einem Kabel stranguliert hattest – eine symbolische Geste, mit der du vermutlich all jenen in der Schule das Wort abschneiden wolltest, die dich mit Beleidigungen und Drohungen gequält haben.

Ich schreibe dieses Buch, um deiner zu gedenken, um dir zu sagen, wie sehr mich eine Zukunft schmerzt, die du nicht mit mir, mit uns teilen wirst.

Ich schreibe dieses Buch, damit ein jeder seine Lehre aus deinem Tod ziehen kann. Damit Eltern ihre Kinder davor bewahren, Opfer zu werden, wie du eines geworden bist, oder aber Peiniger zu werden, wie diejenigen, die dir den Boden unter den Füßen weggezogen haben. Damit die Schulverwaltungen größere Sorgfalt darauf verwenden, achtsam zu sein und Anteil zu nehmen, wenn Kinder leiden.

Ich schreibe dieses Buch, damit das Phänomen des Mobbings in der Schule ernst genommen wird.

Ich schreibe dieses Buch, damit nie wieder ein Kind auf den Gedanken kommt, sein Leben unwiederbringlich fortzuwerfen, wie du es getan hast.

1

Mittwoch, 13. Februar 2013

»Lebenslänglich.«

Du lagst oben auf deinem Hochbett. Ich legte meine Hand auf deine Stirn, und es schien mir, als sei das Fieber gesunken. »Sieht so aus, als würde es besser werden«, seufzte ich erleichtert. Aber nein, es wurde überhaupt nicht besser.

Am Tag zuvor warst du früher als sonst von der Schule nach Hause gegangen. Deine Großmutter hatte dich gegen 13.15 Uhr dort abgeholt. Du hattest dich schwach gefühlt, es sah ganz nach einer Grippe aus. Du klagtest über Halsschmerzen und ich riet dir, dich in unserem Zimmer, im Zimmer deiner Eltern, richtig auszuruhen und zwei Schmerztabletten zu nehmen. Am Abend waren deine Wangen heiß, und ich gab dir eine weitere Tablette. Nichts Außergewöhnliches, wenn man sich krank fühlt.

Am nächsten Morgen bist du nicht rechtzeitig aufgestanden, um in die Schule zu gehen. Ich rief dort an, um mitzuteilen, dass es dir nicht gutgehe. Gegen elf Uhr kamst du zum Frühstück herunter, als sei nichts gewesen. Du warst nicht gerade gesprächig an diesem Tag, wie so oft kurz nach dem Aufstehen. Niemals werde ich deinen Blick vergessen und das knappe schwarze Top, das du an jenem Tag getragen hast, und dein Gesicht, das nichts von all dem verriet, was in dir vorging. Eltern sind arglos, wenn sie ihre Kinder lieben. Sie können sich nicht vorstellen, was es alles gibt.

Mittwochs arbeite ich nicht. Ich kümmere mich um euch drei. Du kommst allerdings mit deinen dreizehn Jahren schon gut allein zurecht. Jedenfalls glaubtest du das. Und ich genauso. Aber deine Schwester Clarisse ist erst neun Jahre alt, und dein Bruder Baptiste gerade einmal achtzehn Monate. Der Müll musste wieder einmal zur Sortierstelle gebracht werden. Außerdem wollte ich einige Kleidungsstücke, die euch zu klein waren, bei Zahia vorbeibringen. Wenn man, wie sie, vier Kinder hat, kann man so etwas immer gut gebrauchen. Ich sagte dir rasch Bescheid, dass ich mich auf den Weg machen würde, um alles zu erledigen, aber auch, dass ich bald wieder zurück sein würde.

Du hattest dich im abgedunkelten Zimmer wieder auf dein Bett gelegt. Ich zog seufzend das Rollo hoch und empfahl dir, Licht ins Zimmer zu lassen. Du wirktest müde, hattest kleine Augen. Ich brachte dir noch das Festnetztelefon ans Bett und bat dich, mich anzurufen, falls es dir nicht gutgehe. Die Haustür schloss ich hinter mir zu. Idiotischerweise ängstigte mich der Gedanke an einen möglichen Einbrecher. Mütter haben oft die seltsame Angewohnheit, sich das Schlimmste auszumalen, als könnten sie damit die Wirklichkeit in den Griff bekommen. Sie haben Angst vor einem Unfall im Straßenverkehr, vor einer schlimmen Krankheit, vor einem Einbrecher, dem sie unvermutet Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Nur, das ist nicht das Schlimmste. Aber wie soll man als Mutter etwas so Unfassbares erahnen, jenen der Absurdität der Welt entsprungenen Schmerz, der dich dazu trieb, sie zu verlassen?

An jenem Tag, Mittwoch, den 13. Februar 2013, geschah dieses Unfassbare. Ich fuhr wie geplant zur Mülltrennungsstelle und dann zu Zahia, die nur zehn Minuten von uns entfernt wohnt. Da sie gerade mit ihren Kindern zu Mittag aß, deckte sie zwei weitere Teller für deinen Bruder und deine Schwester. Wir beide hielten derweil ein Schwätzchen. Ich lamentierte ein wenig über den schädlichen Einfluss von Facebook und die Allgegenwart des Handys. Allein im Monat Januar wies dein Konto 3000 SMS auf! Meine Verblüffung darüber hatte sich noch nicht gelegt.

Mit einem Mal sah ich dich vor mir, zu Hause, allein in deinem Bett, und ich dachte an all die schrecklichen Nachrichten, die wir neun Tage zuvor auf deinem Handy fanden, als wir darauf bestanden hatten, dass du uns deine PIN nennst, während du aufgewühlt dein Handy umklammert hieltest. Mit einem Mal drängte es mich, mit dir zu sprechen; ich musste wissen, ob es dir gutging. Vielleicht warst du ja von deinem Hochbett gefallen? Oder in der Dusche ausgerutscht? Ich rief dich auf dem Handy an, dann auf unserem Festnetzapparat, erreichte dich aber nicht.

Panik erfüllte mich. Es war noch nicht einmal 13 Uhr, als ich mit den beiden Kleinen wieder ins Auto sprang. Eine böse Vorahnung ergriff mich. Während der Fahrt versuchte ich immer wieder, dich anzurufen. Vor dem Haus ließ ich die Kinder bei laufendem Motor im Wagen und rannte zur Tür, die noch genauso abgeschlossen war, wie ich sie hinterlassen hatte. Das beruhigte mich zunächst. Drinnen rief ich nach dir. Aber es blieb still. Mit Riesensätzen stürmte ich die Treppe nach oben. Im Badezimmer warst du nicht. Die Tür deines Zimmers war geschlossen und ließ sich nicht ohne Weiteres öffnen. Ich glaubte, du hättest dich hinter sie gekauert, um mich am Eindringen in dein Reich zu hindern. Jetzt drückte ich stärker und stellte fest, dass dein Schreibtischstuhl gegen die Tür geschoben war. Diese Sekunden dauerten eine Ewigkeit für mich. Ich schob mit aller Kraft, um ins Zimmer zu gelangen … Und dann habe ich dich gesehen.

Schreiend umfasste ich dich und versuchte dich anzuheben, um deinen Hals zu entlasten. Es ging nicht, es ging einfach nicht. Ich konnte dich nicht losmachen. Im Badezimmer fand ich eine Schere, durchtrennte den Schal, der dir die Luftröhre abschnitt, und du fielst zu Boden. Ich ohrfeigte dich, um dich aufzuwecken, du schienst bei Bewusstsein zu sein. Mund-zu-Mund-Beatmung, dann eilig der Notruf: Die Sanitäter sagten, dass sie in Richtung Massy unterwegs seien. Aber nein, sie mussten doch nach Vaugrigneuse. Ich schrie, weinte, schnappte nach Luft. Wie mir am Telefon gesagt worden war, führte ich eine Herzmassage durch. Du hast dich erbrochen. Ich sollte dich ein paar Augenblicke in Seitenlage bringen, um dich dann erneut zu massieren. Ich massierte weiter und weiter. Wach doch auf, Marion, wach auf, ich flehe dich an!

Dein Bruder und deine Schwester saßen unterdessen allein draußen im Auto, dessen Motor noch lief. Die Rettungskräfte fanden anscheinend den Weg nicht. Ich massierte und massierte. In aller Eile rief ich deinen Vater an, der bei der Arbeit war. Ich sagte ihm, dass etwas Schlimmes vorgefallen sei, dass er sofort kommen müsse.

Endlich tauchte ein Sanitäter auf. Er forderte mich auf, das Zimmer zu verlassen und unseren Hund Vanille fortzubringen. Ich rief meine Familie und Freunde an. Zahia, die sich bereits Sorgen gemacht hatte, war bereits gekommen, um zu sehen, was los sei. Sie kümmerte sich um Baptiste, meine Freundin Myriam nahm Clarisse mit zu sich. »Marion geht es sehr schlecht«, erklärte ich deiner kleinen Schwester. Inzwischen waren die Polizeibeamten und sogar der Bürgermeister eingetroffen.

Ich machte mir solche Vorwürfe, dass ich beinahe außer mir war. Niemals hätte ich dich allein lassen dürfen. Niemals hätte ich noch bei Zahia vorbeischauen sollen. Niemals hätte ich zulassen dürfen, dass sie noch für Clarisse und Baptiste den Tisch deckt. Niemals hätte ich mich noch mit ihr unterhalten dürfen. Ich hätte dich in meine Arme nehmen und dich wiegen sollen, bis deine düsteren Gedanken verflogen wären.

Meine Schuldgefühle übermannten mich. Warum war ich losgefahren? Warum habe ich dich allein gelassen? Warum habe ich nichts gesehen? Warum hast du mir nichts gesagt? Warum du, warum ich, warum wir?

Dein Vater kam. Um 14.30 Uhr teilte man uns mit, dass dein Tod festgestellt worden sei. »Gibt es einen Abschiedsbrief?« Nein, nichts, antworteten die Polizeibeamten. Wir waren sprachlos, betäubt, als wäre unsere Verbindung zur Realität mit einem Mal durchtrennt. Es musste einfach ein Albtraum sein, wie in diesen schlechten Filmen, von denen man sich mitreißen lässt. Es kamen Freunde, die uns beistanden, die für uns kochten, die Wäsche wuschen und uns bei unseren ungelenken Bewegungen halfen in dieser Schockstarre – jenem erbärmlichen Puffer zwischen unserem Leben davor und jenem Leben, das mit diesem Tag begann. Ein ersticktes Leben. Ein Leben mit dem immerwährenden Kummer. Ein Leben ohne dich.

Ein Leben zu viert. Ein neu aufzubauendes Leben. Ein Leben, das wir angemessen und schön für Clarisse und Baptiste zu gestalten versuchen werden. Ja, gewiss. Aber ein Leben ohne dich, Marion. Ein Leben ohne dich. Und das lebenslänglich.

2

Fragen über Fragen

»Du bist mein eigen Fleisch und Blut, und ich habe doch nichts tun können.«

Das Rätsel deines Todes hat uns sprachlos zurückgelassen. Nie hattest du darüber geklagt, unglücklich, niedergeschlagen, am Boden zerstört zu sein. Niemals hattest du in irgendeiner Form den verrückten Gedanken verlauten lassen, allem ein Ende zu setzen. Wolltest du denn wirklich deinem Leben ein Ende setzen?

Du wolltest nur für einen Augenblick, für eine Weile von deinem Leben Abstand nehmen – das zumindest glaubten wir an diesem Nachmittag. Du wolltest alles anhalten und hast gehofft, dass ich rechtzeitig käme, um dich zu befreien. Du hast den Schal verknotet und doch gehofft, dass er reißen würde. Es war ein Unfall. Ein Augenblick der Verwirrung. Du hast nicht beschlossen, so von uns zu gehen, ohne die Möglichkeit umzukehren, ohne ein Abschiedswort.

Es ging dir gut, Marion, erinnere dich doch, es ging dir gut. Du warst so liebenswürdig, so einfühlsam, eine so gute Schülerin, so »leicht« zu erziehen. Noch zehn Tage zuvor hatten wir uns beglückwünscht, dein Vater und ich, eine Tochter wie dich zu haben!

Es war der 13. Februar, der Tag vor dem Valentinstag. Hier musste ein Zusammenhang bestehen, das war doch offensichtlich, und das zerriss uns das Herz: Liebeskummer war der Grund für deinen Tod, das war der Grund, Marion, das war doch der Grund, oder? Romain hat dich verlassen, und du dachtest, dass es dann besser sei zu sterben … Mit dreizehn Jahren mag es durchaus sein, dass man in den Augen eines Jungen ewige Liebe zu finden glaubt.

Aber doch nicht du, Marion, nicht du. So dumm warst du nicht. Keine Frage, Romain hat sich mies benommen. Er muss dich mit üblen Schmähungen bedacht haben. Sonst hättest du nicht allem ein Ende setzen wollen. Wäre er zartfühlender vorgegangen, so wärst du darüber hinweggekommen. Klar, du warst über alle Maßen in ihn verliebt, das stimmt schon. Und dafür haben wir ihn an jenem Tag gehasst.

Noch am Montag, dem 11. Februar hast du mir von ihm erzählt. Du wolltest, dass er vor seinen Kumpels deutlicher zu seinen Gefühlen stand, er war dir zu wenig zärtlich. Ich hatte versucht, dich zu beruhigen. »Er liebt dich, Mayon, mein Schatz. Aber so sind die Jungs nun mal, ganz schöne Großmäuler, wenn sie mit ihrer Clique unterwegs sind.« Wie in dem Lied Ich bin ein Mann von Zazie, das mir nun in den Sinn kommt und das wir gemeinsam trällerten. Wir mussten alle beide lachen. »Mach dir nichts draus. Es wird sich alles finden. Sag ihm, was du empfindest. Aber Vorsicht, wenn du mit deinen Freundinnen zusammen bist, macht ihr ja schließlich auch eure Mädchenwitze, und du denkst auch nicht immer an ihn. Bei seinen Kumpels plustert er sich eben schon mal auf. Aber wenn ihr nur zu zweit seid, verhaltet ihr euch anders. So ist das nun einmal. So war es immer schon, und so wird es auch weiterhin sein.« Das glaubte ich zumindest am 11. Februar.

Mit Tränen in den Augen hast du dich in meine Arme geworfen, meine liebe, große Tochter. »Danke, Mama, das tut so gut!« Und hast sogar noch hinzugefügt: »Es tut gut zu weinen.« Ich hatte an jenem Abend keine Ahnung, wie abgrundtief dein Leid war.

Diese Unterhaltung kam mir in den Stunden nach deinem Tod mit aller Macht wieder in den Sinn und machte mir das Herz unendlich schwer. Es war der Tag vor dem 14. Februar, vor dem Fest der Verliebten, an dem du dir unbedingt gewünscht hast, dass deine Mädchenträume wahr werden. Die Vorstellung, nicht länger die Prinzessin in den Augen eines gleichaltrigen Mitschülers zu sein, war dir so unerträglich, dass du diesen Tag nicht mehr erleben wolltest. Wie grauenhaft absurd!

Immer wieder haben wir die Polizeibeamten gefragt, ob du einen Brief hinterlassen habest. Sie beteuerten, dass wir die Ersten seien, die davon erführen, wenn sich etwas fände. Sie haben elektronische Geräte aus deinem Zimmer und dein Handy mitgenommen. Uns wurde psychologische Hilfe angeboten. Hilfe wofür?

Es ging doch darum zu verstehen. Darin bestand unsere Not. Es ging darum, Worte der Wahrheit zu finden; es ging darum, herauszufinden, welches Leid dich mit dreizehn Jahren von uns fortgerissen hat, dich, meine liebe Tochter. Am Abend haben wir wie von Sinnen dein aufgeräumtes Zimmer durchwühlt – wie Einbrecher, die nach Beute lechzen, suchten wir in fieberhafter Ungeduld nach Indizien.

In deiner alten Handtasche fanden wir einen Schlüssel und das Schloss, mit dem du eigentlich dein Fach in der Schule verschließen solltest. Es sah ganz so aus, als hättest du es nicht mehr benutzt, seit ich dir im Dezember eine neue Tasche geschenkt hatte. In dieser neuen Tasche befanden sich, wohlgeordnet wie immer bei dir, deine Schulutensilien: dein Federmäppchen, deine Hefte – alles war an seinem Platz. Dann fielen uns deine Mitteilungshefte in die Hände. Nicht nur eines, sondern zwei.

Dein Vater und ich sahen uns erstaunt an. Wie konntest du zwei dieser Mitteilungshefte haben? Hastig schlugen wir das erste auf. Es war dasjenige, das wir kannten, das du uns immer vorgelegt hast, wenn etwas von uns unterzeichnet werden musste, seit du das vorige verloren hattest. Es war dasjenige einer Musterschülerin, oder zumindest einer Schülerin ohne Probleme.

Dann griffen wir mit Bangen nach dem anderen Mitteilungsheft, als könnten wir uns daran verbrennen. Es war dasjenige, von dem du behauptet hattest, du habest es im Januar verloren. Du hast uns also angelogen.

Atemlos überflogen wir die Beurteilungen der Lehrer, die du vor uns hattest verbergen wollen. Seit Dezember hatten sie auf Veränderungen in deinem Verhalten hingewiesen, auf Störungen im Unterricht und wiederholtes unentschuldigtes Zuspätkommen, auch nach den Fünf-Minuten-Pausen. An der Stelle, an der die Eltern ihre Kenntnisnahme bestätigen sollten, hattest du die Unterschrift deines Vaters gefälscht. Normalerweise unterzeichne ich solche Mitteilungen.

Ich habe mich an den Tag erinnert, an dem du mir gestanden hast, du habest dein Mitteilungsheft verloren. Es war im November, vielleicht sogar Anfang Dezember 2012. Wir haben überall gesucht. Ich weiß noch, wie ich mehrmals wiederholte: »Wir finden es schon noch, das gibt es doch gar nicht.« Du hast dich besorgt gezeigt: »Ich werde mir eine Rüge einfangen, wenn ich mein Mitteilungsheft nicht habe.«

»Was kostet ein solches Heft?

»Ungefähr zwei Euro.«

»Wenn es tatsächlich weg ist, kaufst du von deinem Geld ein neues.«

Ich musste eine Erklärung unterzeichnen, dass es unauffindbar ist.

»Wäre schön, wenn du mir bald ein neues vorlegst.«

Ein wenig Unmut legte ich an den Tag, aber Misstrauen regte sich nicht bei mir. Es kommt schließlich auch bei mir vor, dass ich etwas nicht wiederfinde.

In diesem neuen Heft, dem falschen also, haben wir noch zwei Tage vor deinem Tod, am 11. Februar, eine Mitteilung des Klassenlehrers unterzeichnet, die er allen Eltern zukommen ließ und die folgenden Wortlaut hatte: »Die Kinder treiben sich während der Unterrichtsstunden auf den Fluren herum.« Ich fragte dich, ob auch du dich auf den Fluren herumgetrieben habest. Du hast gestöhnt: »Nein, ich treibe mich nicht herum.« Du hast unsere Kenntnisnahme vermutlich in das andere Heft geschoben, das du vor uns versteckt hast und das dein Vater und ich jetzt mit bangem Herzen durchsahen. Dort hast du mit deiner noch kindlichen Schrift vermerkt: »Marion wird dafür eine Strafarbeit erhalten.«

Dort finden sich mehrere Anmerkungen und Hinweise der Lehrer, die zumeist recht direkte und harsche Kritik an deinem Verhalten üben. Es beginnt am 17. Januar 2013, einen Monat vor deinem Tod: »Das Handy von Marion klingelt im Unterricht.« Am 22. Januar: »Marion ist in diesem Monat dreimal zu spät zum Unterricht erschienen. Sie wird als Zusatzaufgabe einen Aufsatz über die Einhaltung von Regeln schreiben, den sie am Freitag, den 25. Januar im Lehrerzimmer abgibt.« Am 1. Februar, zwölf Tage vor deinem Tod, ist vermerkt: »Marions Verhalten lässt immer mehr zu wünschen übrig: Sie redet häufig im Unterricht und äußert dabei sogar des Öfteren Schimpfworte. Vielen Dank für Ihr elterliches Einwirken auf ein angemessenes Verhalten im Unterricht.«

Verspätungen, Unterrichtsstörungen, nicht gemachte Hausarbeiten … Wie konntest du in ein paar Wochen so viele tadelnde Mitteilungen anhäufen, ohne dass wir darüber informiert wurden? Man hätte uns per Telefon, SMS oder E-Mail benachrichtigen können, man hätte uns darauf hinweisen müssen. Und du, unser liebes, mustergültiges Kind, warum diese Spielchen, diese Heimlichtuerei? Hast du uns für Trottel gehalten, für Idioten, die nichts verstehen, oder gar für Feinde? Hattest du Angst, dass wir uns aufregen, dass wir schimpfen und dich bestrafen würden, oder am Ende vielleicht gar, dass wir dich nicht mehr lieben würden? Wovor hattest du Angst, dass du dich hinter der Schwindelei mit dem Mitteilungsheft verschanzen musstest?

Mich packte tatsächlich so etwas wie Wut. Ich haderte mit dir und deinem Verhalten. Wie konntest du uns das antun – uns Lügengeschichten auftischen, lieber sterben als der Wahrheit ins Gesicht sehen? Denn darum ging es, Marion, du bist gestorben, um uns nicht enthüllen zu müssen, was gerade mit dir los war. Glaubst du denn, dass wir uns in unserer Kindheit und Jugend immer vorbildlich betragen haben? Glaubst du denn, wir hätten dir nicht verziehen? Wir sind nicht sonderlich streng, du weißt genau, dass ich dir letztlich alles nachsah. Du hast mir doch sonst immer alles bis ins kleinste Detail erzählt. Warum also?

Solche Fragen jagten mir in wilder Fahrt durch den Kopf, während dein Vater und ich nichts tun konnten und uns ohnmächtig eingestehen mussten, dass du ein Doppelleben geführt hast. Oder genauer, dass es eine vierte Dimension gab, die uns entgangen war, die du uns verborgen hattest.

Dabei hatte dein Schuljahr doch gut begonnen. Du warst in der achten Klasse mit Schwerpunkt Spanisch. Dein Zeugnis nach dem ersten Trimester war hervorragend. Als du es im Dezember bekommen hast und ich erfuhr, dass du in Spanisch 20 von 20 möglichen Punkten bekamst, obwohl du gerade erst mit diesem Fach begonnen hattest, traten mir vor Freude Tränen in die Augen. Nach der Veranstaltung fragtest du mich per Telefon noch einmal: »Na, Mama, bist du stolz auf mich?« Ja, ich war stolz auf dich.

Dein Klassenlehrer hielt Lobreden auf dich, du warst eine gute, gewissenhafte Schülerin, die gut im Unterricht mitarbeitete: »Sie ist großartig, eine der besten Schülerinnen. Sie gestaltet den Unterricht mit – gäbe es doch noch mehr Schüler wie sie …« Deine Klassenkameraden nannten dich manchmal »Überflieger« – ein Schimpfwort in den wenig lernfreudigen Klassen. Dann hast du dich verliebt. Was ist in den letzten beiden Monaten geschehen? Ja, es stimmt, du wirktest manchmal traurig. Wie eine Jugendliche, die sich über ihre eigenen Gefühle und auch die der anderen nicht im Klaren ist, nichts Außergewöhnliches, nichts Schlimmes also.

Und nun haben wir diese erste Nacht ohne dich verbracht, gequält von einem unerträglichen Schmerz, von der bohrenden Frage: Warum hat sie sich nicht in unsere Arme geflüchtet, wenn sie so sehr gelitten hat?

Benommen vor Kummer versuchte ich dumpf, deine Gründe aufzulisten. Du fühltest dich zu sehr schuldig, glaubtest, unserem kritischen Blick nicht standhalten zu können. Du hattest Angst davor, uns zu enttäuschen. Oder wir waren so schlechte Eltern, dass wir nicht verständnisvoll oder vertrauenswürdig genug waren, um dir zuzuhören. Du kannst dir ja denken, dass sich bei all diesen Möglichkeiten immer der gleiche Schluss aufdrängte. Und wenn wir tatsächlich so schreckliche Eltern waren, die Schuldgefühle bei ihren Kindern wecken, die vom Ehrgeiz zerfressen sind, was ihre Sprösslinge angeht, die sich nicht für die Persönlichkeit ihrer Kinder interessieren, sondern nur für ein Bild ihrer Kinder, wie sie selbst es sich ausmalen?

Noch am selben Abend erhielten wir einen Anruf von der Polizei, die uns nach der PIN deines Handys fragte, um es einschalten und die Daten analysieren zu können. Noch einmal beteuerten sie, dass wir die Ersten seien, die man informiere, falls sich so etwas wie eine Erklärung für dein Handeln fände.

Am Nachmittag des darauffolgenden Tages begaben wir uns zu Myriam, um deiner Schwester die furchtbare Nachricht mitzuteilen. Wir gingen durch die Räume, fanden sie schließlich im Spielzimmer. Ich brachte kein Wort heraus. Dein Papa beugte sich mit einer innigen Geste zu Clarisse hinunter und flüsterte: »Wir müssen dir etwas sagen. Marion ging es sehr schlecht, und jetzt ist sie gestorben.« Deine Schwester begann zu schreien, fassungsloses Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben. Monatelang wich dieser Schrecken nicht aus ihren Augen.

Dein Vater drückte sie an sich. Sie weinten alle beide. Dann hauchte dein Vater: »Du bist aber noch da, du bist unsere kleine Tochter.« Von einem Augenblick auf den anderen war sie von der kleinen Schwester zur großen Schwester geworden. Sie wollte noch zum Spielen bei Myriam bleiben. So gingen wir zunächst zu Zahia, um Baptiste einzusammeln, und kehrten anschließend zu Myriam zurück, um Clarisse mitzunehmen. Es war uns wichtig, uns in unserem Schmerz zu viert körperlich nah zu sein.

Am nächsten Morgen wollte Clarisse wie gewöhnlich in die Schule gehen. Aber bevor wir uns auf den Weg zur Schule machten, kam Myriam bei uns vorbei, um uns zu warnen: »Lasst sie nicht gehen.«

Sie hatte die aktuelle Ausgabe der Zeitung Le Parisien in der Hand. Auf der Titelseite wurde von Marion berichtet. Ja, von dir, von unserer Tochter. Es wurde behauptet, du seist das Opfer von Mobbing in der Schule, so wie auch ein weiteres Kind an einem ganz anderen Ort. »Zwei Jugendliche im Alter von dreizehn Jahren setzten ihrem Leben ein Ende« – das stand dort. Unter dieser reißerischen Headline auf der ersten Seite wurde ausgeführt: »Vom Mobbing in der Schule zermürbt, flüchten sie in den Selbstmord.« Der Verfasser des Artikels erwähnte einen Brief, den du hinterlassen haben solltest, einen Brief, in dem du die erlittenen Quälereien und Demütigungen genau beschrieben und diejenigen genannt habest, die sie dir zugefügt hätten.

Die Neuigkeit war ein Schock für uns, ließ uns erstarren. Wen beschuldigtest du? Was hatten sie dir angetan? Wer hatte diesen Brief entdeckt? Wie war er in die Hände eines Journalisten von Le Parisien gelangt?

Vergeblich versuchten dein Vater und ich, die Redaktion der Tageszeitung zu erreichen. Am Ende konnten wir lediglich der Journalistin, die den Artikel gezeichnet hatte, eine Nachricht hinterlassen. Sie hat sich nie bei uns gemeldet. Weder an diesem noch an einem der darauffolgenden Tage.

Aber mit einem Mal stand eine Erklärung für dein Handeln im Raum. Mir kam jetzt wieder ein Bild in den Sinn, das meine verzweifelten Bemühungen, dich ins Leben zurückzuholen, vorübergehend ausgelöscht hatten. Du hattest dein Handy an dem Hochbett festgebunden und aufgehängt. Die Musik spielte noch, das immer selbe Lied in einer Endlosschleife. Ein quälendes Bild, aber ich habe die Musik erst wirklich vernommen, als die Feuerwehrleute mich von dir fortzogen. Erst da habe ich dieses verfluchte Handy erblickt. Es hing dort, am Ende des Kabels, und das Reggaestück lief immer noch. Du hast dir das Leben genommen, während die Musik spielte, aber vorher hattest du dein Handy zum Schweigen gebracht. Jenes Gerät, das alles ins Rollen gebracht hat, die Beleidigungen, das Mobbing. Eine echte Tatwaffe, die du auf symbolische Weise aus dem Weg geräumt hast.

Ja, mit einem Mal war so etwas wie eine Erklärung für dein Handeln greifbar. Und jetzt übermannte uns eine so schreckliche Wut, dass wir nach Luft ringen mussten. Man hatte dich so gequält, dass du dein Telefon aufgehängt und selbst den Tod gewählt hast. Es war eine abscheuliche, unerträgliche Vorstellung, genauso abscheulich wie die Vorstellung, dass die Erwachsenen der Jean-Monnet-Schule in Briis-sous-Forges, die für dich verantwortlich waren, nichts gesagt und nichts getan hatten, um dir diese qualvolle Zeit zu ersparen.

Dabei hatte ich ihnen doch anvertraut, dass du darüber geklagt hattest, in dieser schwierigen Klasse nicht gut arbeiten zu können. Dreimal hatte ich um einen Termin mit dem Schuldirektor gebeten. Er wurde mir nie gewährt. Ich habe ihn mehrmals angerufen, um ihm mitzuteilen, dass wir einen Klassenwechsel anstrebten. Seine Antwort auf meine Bitten bestand in Schweigen, in Missachtung.

Deshalb, ja, an jenem Tag, nachdem ich den Artikel im Parisien gelesen hatte mit seiner Behauptung, du seist Opfer von Mobbing in der Schule geworden, spürte ich Hass auf diesen Schuldirektor in mir aufsteigen, dem dein Wohlergehen so wenig am Herzen lag. Ich spürte Hass in mir aufsteigen auf all jene in der Schule, die nicht in der Lage gewesen waren, dir zu helfen, uns anzuhören, deine Angst zu erkennen oder unsere Sorgen ernst zu nehmen, Hass auf all jene, die es sich in einer Vogel-Strauß-Politik des Wegschauens bequem gemacht hatten.