Marterlmord - Ein Geheimnis. Eine Mordserie. Ein schweigendes Dorf. - Heidi Troi - E-Book
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Marterlmord - Ein Geheimnis. Eine Mordserie. Ein schweigendes Dorf. E-Book

Heidi Troi

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Beschreibung

„Wie unsichtbare Masken tragen sie ihre Gleichgültigkeit vor sich her, mustern mich beinahe feindselig, als hätte ich ihr Unglück zu verantworten. Da ist sie wieder, diese Mauer.“ Maresciallo Pietro Carminati wird in ein kleines Dorf in einem engen Tal versetzt. Vierzig Jahre lang war dort Ruhe, aber bereits am Tag seiner Ankunft liegt der Dorfsäufer Sepp tot im Bach. Alles sieht nach einem Unfall aus. Doch als tags drauf ein Bauer an ein Marterl geflochten tot aufgefunden wird, ist klar: Ein Mörder treibt sein Unwesen im Tal. Mithilfe des Pfarrers der kleinen Gemeinde versucht Carminati Licht in das Dunkel zu bringen, doch mit wem er auch redet, er stößt auf eine Mauer des Schweigens. Und dann passiert der nächste Mord. Handelt es sich um religiös motivierte Bluttaten? Was hat es mit dem plötzlichen Verschwinden des Bauern vom Moarhof auf sich? Und wieso liegt bei allen Toten dieses Sträußchen Vergissmeinnicht? Carminati versucht, den Fall zu lösen, doch auch sein Leben gerät aus den Fugen.

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Tag 1 – Montag
Bald ist es dein Reich
Der Tote im Bach
Tag 2 – Dienstag
Steiger dich nicht zu sehr rein
Die Wirtin vom Bergblick
Verstockt
Wir haben einen Verdächtigen
Der Moar höchstselbst
Kein einziges Wort
Man hält mehr aus, als man denkt
Tag 3 – Mittwoch
Nix zu sagen
Keine Frau
Das Böse hat Einzug gehalten
Wir geben unser Bestes
Tag 4 – Donnerstag
Okay
Das nächste Mal nimmer
Davon halten wir nichts
Das weiß jeder
Da steckt was anderes dahinter
Das ist ein Befehl
Weidmannsheil
Tag 5 – Freitag
Moar, was hast du getan?
Siebte Station
Und Blutschwitzer
Wer ist das nächste Opfer?
Sie wird Ihnen kein Glück bringen
Lass mich nur machen, Pierino
Ich bin dir gar nichts schuldig
Verschwinde aus meinem Leben
Der Sack ist zu
Tag 6 – Samstag
Ein Versager
Sie sind nicht eingeladen, Herr Pfarrer
Tag 7 – Sonntag
Du schon wieder
Wir halten die Stellung
Bringe ich Sie aus dem Konzept?
Ich war’s nicht. Merk dir das.
Tag 8 – Montag
Endlich hast du es verstanden
Das bestätigt unsere Theorie
Mit Ihrer Theorie liegen Sie wohl richtig
Er hat Angst
Nur noch einer
Es ist ganz schön frustrierend, nicht wahr?
Beschütze mich
Herr, lässt du mich wandeln im dunklen Tal
Tag 9 – Dienstag
Hier ist niemand irgendwo sicher
Atme
Halten Sie die Ohren steif, Maresciallo
Wir werden sehen
Glücklich der, dem Übertretung vergeben ist
Warum?
Einer muss bleiben
Alle
Tag 10 – Mittwoch
Vergiss Tal
Nachwort
Anhang

Heidi Troi

Marterlmord

Über die Autorin:

 

 

 

Heidi Troi lebt und schreibt in Südtirol. Wenn sie nicht gerade mit Kindern und Jugendlichen Theater macht, schreibt sie – und zwar am liebsten Krimis und Kinderbücher, wobei sie sich da nicht gern in Schubladen stecken lässt. Wenn Heidi Troi ihre ganzen Leidenschaften genügend Zeit dazu lassen, ist sie gern in den Südtiroler Bergen unterwegs – nicht selten auch in dem Tal, welches das Vorbild für den Schauplatz des Krimis »Marterlmord« war.

 

 

Buchbeschreibung:

 

»Wie unsichtbare Masken tragen sie ihre Gleichgültigkeit vor sich her, mustern mich beinahe feindselig, als hätte ich ihr Unglück zu verantworten. Da ist sie wieder, diese Mauer.«

 

Maresciallo Pietro Carminati wird in ein kleines Dorf in einem engen Tal versetzt. Vierzig Jahre lang war dort Ruhe, aber bereits am Tag seiner Ankunft liegt der Dorfsäufer Sepp tot im Bach. Alles sieht nach einem Unfall aus. Doch als tags drauf ein Bauer an ein Marterl geflochten tot aufgefunden wird, ist klar: Ein Mörder treibt sein Unwesen im Tal. Mithilfe des Pfarrers der kleinen Gemeinde versucht Carminati Licht in das Dunkel zu bringen, doch mit wem er auch redet, er stößt auf eine Mauer des Schweigens. Und dann passiert der nächste Mord.

 

Handelt es sich um religiös motivierte Bluttaten? Was hat es mit dem plötzlichen Verschwinden des Bauern vom Moarhof auf sich? Und wieso liegt bei allen Toten dieses Sträußchen Vergissmeinnicht?

 

Carminati versucht, den Fall zu lösen, doch auch sein Leben gerät aus den Fugen.

 

Heidi Troi

Materlmord

Ein Geheimnis. Eine Mordserie. Ein schweigendes Dorf

 

 

 

 

 

Krimi aus Südtirol

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© August 2022 Empire-Verlag

Empire-Verlag OG, Lofer 416, 5090 Lofer

 

Lektorat: Antje Backwinkel https://buchwinkelei.de/lektorat/

Korrektorat: Heidemarie Rabe

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –

nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

Cover: Chris Gilcher

http://buchcoverdesign.de/

Illustrationen: Adobe Stock ID 207333234, Adobe Stock ID 214158908,

Adobe Stock ID 172840500, Adobe Stock ID 120415824,

Adobe Stock ID 265193489 und freepik.com und freepik.com

 

Tag 1 – Montag

 

Bald ist es dein Reich

 

›Militärgebiet. Unpassierbare Grenze – Zona militare. Limite invalicabile‹ steht auf dem Schild am Maschendraht. Ich lasse den Blick am Zaun entlangwandern bis zum nächsten Schild, auf dem derselbe Hinweis steht. Hinter der ›unpassierbaren Grenze‹: Ein Meter Unkraut und dann die Carabinieristation Tal-Valle, die für die nächste Zeit mein Arbeits- und Wohnort sein wird. Das schäbigste Haus in einem Dorf, in dem alles schäbig ist.

»Unpassierbare Grenze«, wiederhole ich leise für mich.

Salvatore, mein Vorgänger als Dorfcarabiniere, hört es trotzdem. »Im wahrsten Sinne des Wortes«, sagt er.

Beinahe vierzig Jahre hat er hier in der Fremde ausgeharrt unter diesen Deutschen, die ihn nie bei sich aufgenommen haben. Den Karpf nennen sie ihn hinter seinem Rücken oder den Walschen.

Er seufzt. »In vierzig Jahren hat keiner von denen einen Fuß in dieses Haus gesetzt.«

Ich wende mich ihm zu. »Weil kein Verbrechen passiert ist?«

»Die brauchen keine Ordnungshüter. Was denen passiert, machen sie untereinander aus.« Ihm ist anzusehen, dass er froh ist, diesem Nest den Rücken kehren zu können. Für ihn geht’s heim nach Sardinien. Ich bin jetzt schon neidisch.

Ich lasse den Blick umherschweifen. Ein verschlafenes Dörfchen also. Ein paar graue Häuser scharen sich hinter einer Haarnadelkurve um eine ebenso graue Kirche. Steile Hänge, bis zur Baumgrenze von Wald überzogen, und ein Wildbach, der sich rauschend seinen Weg durch das Tal gräbt. Schiefergraue Wolken hängen drückend über dem Tal, verhindern, dass die schwüle Hitze des Julitags entweichen kann. Dreihundert Seelen hat das Dorf, habe ich bei meiner Recherche ermittelt. Wo all die Leute leben, werde ich wohl noch herausfinden. Schließlich gebe ich mir einen Ruck.

»Dann los, zeig mir dein Reich.« Ich deute auf die grüne Resopaltür, von der schon die Farbe abblättert.

»Bald ist es dein Reich.« Er sperrt auf. Die Angeln geben ein deutliches Quietschen von sich, als die Tür zurückschwingt.

Er lässt mir den Vortritt. Der erste Eindruck ist niederschmetternd. Das Haus wirkt, als sei es seit Langem unbewohnt. Die nackte Glühbirne, die von der Decke baumelt, bringt kaum Licht in den dunklen Flur. Es riecht nach Schimmel.

»Das Büro ist gleich hier.« Er öffnet eine weitere Resopaltür, bei der die Dekorplatte am unteren Rand ausgefranst ist, und deutet der Reihe nach auf ein paar Geräte. »PC, Kopiermaschine, Fax, Modem …«

Ich sehe ihn ungläubig an, als ich ein 56K-Modem erkenne.

Er zuckt gleichgültig die Schultern. »Ist so. Glasfaser hat’s noch nicht ins Tal geschafft und ich sag’s dir gleich: Für Handyempfang musst du aus dem Tal raus oder auf den Berg.«

Ein Blick auf das Display meines Mobiltelefons bestätigt Salvatores Behauptung. Wo bin ich hier nur gelandet?

Als hätte Salvatore meine Gedanken verstanden, nickt er. »Jemand da oben muss dich ganz fest lieb haben«, sagt er, bevor er die Tür wieder schließt und mir Küche und Wohnraum zeigt.

Ich denke kurz an Generale Ravasio, Beatrices Vater, und seine Reaktion auf die Bekanntgabe unserer Verlobung auf einer Familienfeier. Ja, ich habe eine Ahnung, wem ich diese Versetzung zu verdanken habe. Aber unsere Liebe wird auch diesem Sturm standhalten. Ich gestatte mir ein paar wehmütige Gedanken an meine Verlobte, während ich meinem Vorgänger ins obere Stockwerk zu den Schlafräumen folge. Salvatores Schlafzimmer schaut noch am besten aus. Bett, Einbauschrank und Schreibtisch passen zusammen, ein bequem aussehender Ohrensessel mit Blick auf einen ordentlichen Fernseher lässt beinahe so was wie Gemütlichkeit entstehen.

Doch Salvatore zerstört mein kleines bisschen Hoffnung sofort. »Die Möbel nehm ich mit. Übermorgen kommt die Umzugsfirma und bringt alles weg.« Er grinst. »Mein letzter Arbeitstag.«

Dann zeigt er mir das Gästezimmer und ich schlucke. Ein Metallbett, drauf eine dünne Seegrasmatratze. Ich beschließe, möglichst schnell ein Möbelhaus aufzusuchen.

»Sei froh, dass ich im Schlafzimmer neue Fenster habe machen lassen«, sagt Salvatore ungerührt. »Im Winter hat‘s vorher eisig kalt hereingezogen. Dagegen ist keine Heizung angekommen.«

Ich schlucke noch einmal. Während wir zurück ins Büro gehen, straffe ich mich. Das ist mein Job und ich werde ihn erledigen, so gut es geht. Dann werde ich irgendwann wieder versetzt. In die Hauptstadt oder in meine Heimatstadt Bergamo. Ich werde in Ehren heimkehren, meine Beatrice heiraten und mein Schwiegervater, der Generale Ravasio, kann mich kreuzweise.

Ich ignoriere Salvatores mitleidigen Blick, atme durch. »Was sind meine Aufgaben?«

»Die Mails aus der Zentrale archivieren, bei Prozessionen den Verkehr aufhalten und der Colonello erwartet wöchentlich einen Bericht. Unter ›Papierkram‹ hab ich eine Vorlage abgespeichert, die ich immer ein bisschen umwandle. Und täglich um neun kommt die Repubblica.«

Der Computer gibt ein »Bling« von sich und Salvatore grinst mich an. »Das ist die Erinnerung an die gesetzlich vorgeschriebene Kaffeepause um zehn.«

Wieder schlucke ich. So hatte ich mir meinen Traumjob nicht vorgestellt.

»Caffè?« Salvatore wartet meine Antwort gar nicht ab, sondern schiebt sich an mir vorbei in die Küche. Wenig später stellt er mir einen Espresso hin. Zumindest der Kaffee schmeckt, wie es sich gehört. Mit dem ersten Schluck breitet sich Ruhe in meinem Körper aus.

Salvatore setzt zum Sprechen an, doch ich unterbreche ihn. »Lass mich raten: Die Mokkamaschine nimmst du auch mit?«

Bevor er antworten kann, läutet das Telefon.

Einmal. Zweimal. Dreimal.

»Willst du nicht rangehen?«, frage ich.

»Wenn’s wichtig ist, versucht er’s noch mal.«

Wir nippen an unseren Espressi. Das Telefon verstummt. Dann hebt das Läuten wieder an.

»Scheint wichtig zu sein«, sage ich.

»Tja.«

»Willst du nicht rangehen?«

»Dein Job.« Salvatore grinst, nippt an seinem Kaffee. Dann lehnt er sich zurück und atmet entspannt durch.

Genervt stemme ich mich hoch, finde das Büro und dort das Telefon, Marke SIP vor der Jahrtausendwende. »Pronto?«

»Oh.« Der Anrufer klingt beinahe erschrocken.

»Sì?«

»Carabinieri?«

»Sì.«

Dann ein Seufzer, der Anrufer setzt zum Sprechen an, stockt wieder, setzt wieder an. Ich ahne, was das Problem ist, und baue ihm eine Brücke. »Sie können auch Deutsch sprechen. Nur bitte langsam.«

Ich weiß um die Barriere in diesem mehrsprachigen Land. Um die Ängste der drei hier lebenden Sprachgruppen, die jeweils anderen Sprachen zu benutzen. Nicht dass sie es nicht könnten. Sie können ihre Zweit- und Drittsprache gut genug, um sich darin verständlich auszudrücken. Aber sie haben einen Perfektionsanspruch, verlangen von sich selbst, dass sie akzentfrei sprechen. Ich nicht. Ich bin aus Bergamo. Mein Deutsch habe ich im Abendkurs einer Volkshochschule gelernt, als klar war, wohin ich versetzt werde.

Der Anrufer atmet erleichtert aus. »Wir haben einen Toten gefunden. Im Bach.«

Der Tote im Bach

 

Von der Straße sind es etwa hundert Meter steil bergab zum Wildbach, der sich tosend und schäumend seinen Weg vom Gebirge ins Tal bahnt. Dessen Rauschen im ganzen Tal allgegenwärtig ist. Hundert moosüberwachsene steinig-glitschige Meter bis zum Bachbett. In dem eine Leiche liegt. Ich schaue Salvatore an, der gleichgültig die Schultern zuckt.

»Ich warte hier auf die Jungs von der Scientifica.«

War ja klar. Wir haben die Spurensicherung noch von der Station aus angerufen und irgendwie müssen die tatsächlich hierherfinden. Ich seufze, schwinge meine Beine über die Leitplanke, mache die ersten vorsichtigen Schritte, rutsche auf dem nassen Moos aus, knalle mit dem Steißbein auf einen Stein. Fluche.

Die Waldarbeiter, die in ihrer orangen Arbeitskleidung auf dem Talgrund von Stein zu Stein balancieren, schauen hoch.

»Herr Carabiniere!«, ruft einer, dessen Gesicht zur Hälfte von einem Bart verdeckt ist, und winkt mich hinunter.

Ich winke zurück, schiebe mich vorsichtig den Waldboden entlang nach unten, wobei ich mir wohl dessen bewusst bin, dass ich ein Bild des Jammers biete. Ein Carabiniere wie aus dem Buch, eine Karikatur eben jenes Berufs, über den ganz Italien seine Witze reißt. Warum wir die Streifen an der Hose haben? Damit wir sie nicht über den Kopf ziehen. Warum bei uns ›Carabinieri‹ auf der Autotür steht? Damit wir nicht über die Motorhaube ins Auto einsteigen. Ich kenne sie alle. Und liefere ihnen mit meinem ersten Auftritt hier im Dorf einen Nährboden.

Als ich endlich unten angelangt bin, ist mein Hosenboden durchnässt, mein Steißbein pocht. »Rutschig habt ihr‘s hier.«

Die beiden wechseln einen Blick. »Es hätte auch einen Weg gegeben«, sagt der Bärtige langsam. Deutet hinter sich, wo sich ein schmaler Pfad am Bach entlang windet.

Na toll. »Na ja, ihr wisst schon, wir Carabinieri …« Sie lachen nicht, was für mich Beweis genug dafür ist, dass genau das ihre Gedanken waren. »Wo ist der Tote?«

»Kommen Sie«, sagt der Jüngere der beiden und geht voraus. Den schmalen Weg entlang, um eine Kurve. Dann bleibt er stehen. »Da vorn.«

»Der Sepp«, sagt der Bärtige und ich überlege, ob er mit dem Gestrüpp in seinem Gesicht diesem Freiheitskämpfer Andreas Hofer nacheifern will, der von einigen Rechtsgerichteten zum Helden und zur Symbolfigur im Kampf gegen die Italiener auserkoren wurde. Hoffentlich ist sein Nacheiferer nicht ein Vertreter dieser Gruppierung und ich lande gleich neben dem Mann im Bach.

Der Bärtige schüttelt bedächtig den Kopf. »Hat sich wohl endlich zu Tode gesoffen.«

»Sie kennen den Toten?«

»Das ist keine Großstadt. Hier kennt jeder jeden. Und den Sepp schon gar.«

»Unseren Dorfbsuff«, ergänzt der Junge. Dann schweigen sie und warten ab, was ich mache.

»Und er ist sicher tot?«

»Hab ihm die Schnapsflasche vor die Nase gehalten und er hat nicht danach gegriffen. Also ja.« Die beiden wechseln wieder einen Blick.

Ich werfe ihnen einen scharfen Blick zu. Ein Mensch ist gestorben, und ihr macht geschmacklose Witze über ihn.

Die beiden Waldarbeiter merken, dass ich hier keinen Spaß verstehe. »Er ist schon ganz steif«, erklärt der Freiheitskämpfer-Verschnitt schnell.

Also mindestens sechs Stunden tot, höchstens zwei Tage. Da er im kalten Wasser gelegen hat, wohl eher weniger, rekapituliere ich mein forensisches Wissen. Ist aber müßig, weil das alles nicht in meinen Kompetenzbereich fällt.

»Haben Sie was angefasst?«, frage ich.

»Ich hab versucht, ihn wachzurütteln«, sagt Andreas Hofer.

»Obwohl er ganz steif ist?« Ich ziehe skeptisch die Augenbrauen hoch.

»Das konnt ich ja nicht sehen.«

»Was glauben Sie, was passiert ist?«

Die beiden wechseln erneut einen Blick. Dann überwindet sich der Junge. »Sternhagelvoll über die Leitplanken gekippt. Die Rübe hat ganz schön was abgekriegt.«

Es ist Zeit, sich den Leichnam anzusehen, finde ich und schiebe mich auf dem schmalen Pfad an den massiven Männern vorbei, wobei ich beinahe selbst riskiere, in das schäumende Gebirgswasser zu fallen. Dann bleibe ich stehen. Der Anblick lässt keinen Zweifel zu. Der Mann ist tot. Mit dem Gesicht nach unten liegt er im Wasser. Am Kopf klafft eine große Wunde. Ein Bein ist zwischen zwei aus dem Wasser ragenden Felsblöcken eingeklemmt, was verhindert hat, dass der Körper vom Gebirgsbach weiter ins Tal gerissen wurde.

»Und?«, fragt der Junge.

»Tot.«

Die beiden grinsen sich frech an. Ich kann ihre Gedanken beinahe greifen. Der Carabiniere …

 

»Du hast Glück«, sagt Salvatore zwei Stunden später bei einer Tiefkühlpizza, die wir in der kleinen dunklen Küche der Carabinieristation essen. Um den Abtransport der Leiche kümmert sich die Scientifica. Wir beide haben Feierabend. »War ja richtig was los heute.«

»Ist das sonst nicht so?«, frage ich.

Er schüttelt den Kopf. »Das größte Verbrechen im letzten Jahr war ein Hühnerdiebstahl. Ein bisschen Aufregung hat’s noch bei einem Selbstmord vor zwei Wochen gegeben. Davor vierzig Jahre lang nichts.«

»Hm«, mache ich. »Und jetzt?«

»Jetzt übernehmen die Experten. Der Leichnam wird obduziert. Aber was soll schon groß rauskommen? Der Sepp war dorfbekannt. Ist mit der Schnapsflasche von Haus zu Haus gezogen und hat den Leuten mit seinem Gesang den Tag verschönt. Er hat eben die Leitplanke mit einem Zaun verwechselt und die Steine dahinter mit einer Bank, und das war’s. Ende. Die nächsten vierzig Jahre ist sicher wieder Ruhe.«

Die Härchen auf meinen Armen stellen sich auf. Vierzig Jahre darf das hier nicht dauern. Ich denke an Beatrice. Würde sie mit mir in so einem Kaff wohnen wollen? Als einzige Italienerin? Frau des Dorfcarabiniere?

Salvatore nickt wissend. »Das hab ich auch gedacht. Aber schau mich an …«

Tag 2 – Dienstag

 

Steiger dich nicht zu sehr rein

 

Gleich am nächsten Morgen mache ich mich mit Salvatore auf den Weg zum Pfarrhaus.

»Der Pfarrer ist derjenige, der im Dorf den zweitgrößten Durchblick hat«, erklärt Salvatore, während wir die Straße hoch zum Dorfkern laufen. »Gleich nach seiner Häuserin.« Er lacht, als er meinen fragenden Blick sieht.

»›Häuserin‹ gehört halt nicht zum Wortschatz, der im Abendkurs an der Volkshochschule vermittelt wird.«

»Eine Häuserin ist der gute Geist im Widum. Sie führt dem Pfarrer den Haushalt. Böse Zungen behaupten, dass sie auch gern ein bisschen mehr tut, aber über diesen Zweifel ist Anna erhaben, denke ich.«

Ich verkneife mir die Feststellung, dass das Wort ›Widum‹ auch nicht zu meinem Wortschatz gehört, kombiniere aber blitzschnell, dass damit wohl das Pfarrhaus gemeint ist, vor dem wir gerade ankommen. Salvatore läutet. Wenige Augenblicke später geht die Tür auf und uns steht der Seelsorger des Dorfes gegenüber.

»Der wichtigste Mann im Dorf, Hochwürden Egger. Hochwürden – mein Nachfolger Maresciallo Pietro Carminati«, sagt Salvatore und deutet erst auf ihn, dann auf mich.

Hochwürden Egger ist ein selten junger Vertreter seines Berufsstandes. Ich schätze ihn auf etwa fünfunddreißig Jahre. Mit seinem rosa Gesicht, das von blonden Locken umrahmt wird, wirkt er noch jünger. Der Pfarrer strahlt mich an wie einen lang vermissten Freund und streckt mir die Hand entgegen.

»Freut mich, Pietro.« Dann wendet er sich an Salvatore. »Ihr seid wegen dem Sepp da, vermute ich?«

Salvatore nickt. »Reine Routine. Aber ein paar Fragen stellen müssen wir trotzdem.«

»Kommt rein.« Pfarrer Egger führt uns in einen hellen Raum, der nach Bohnerwachs riecht. Die Möbel stammen wie in der Carabinieristation aus einem anderen Jahrhundert, wirken aber ungleich solider und freundlicher. Auf dem Fensterbrett blühen Usambaraveilchen und Orchideen. In der Ecke der Herrgottswinkel – ein Sims, das mit einer vermutlich handgeklöppelten Spitze verziert ist und auf dem neben einer holzgeschnitzten Herrgottsfigur eine Kerze, eine Pflanze mit roten Blüten und verschiedene Heiligenfiguren stehen. Daneben billige Drucke der Muttergottes und von Jesus, beide die rechte Hand segnend erhoben.

»Mögt ihr einen Kaffee?«

Wir nicken unisono und Pfarrer Egger verschwindet nach draußen, kommt aber kurz drauf zurück und setzt sich zu uns an den Tisch.

»Der Sepp war unser Dorfsäufer«, beginnt er, ohne dass ich eine einzige Frage stellen muss. »Man hat ihn eigentlich nie ohne seine Flasche angetroffen. Seine Devise war ›den Pegel halten‹ und den Nachschub hat er von seiner Schwester gekriegt – der gehört der Gasthof Bergblick im Dorf. Sie hat ihn mit Alkohol versorgt, damit er nicht im Gasthof herumrandaliert und womöglich die Gäste verschreckt.«

Ich zücke meinen Notizblock. »Wie heißt die Dame?«

»Oberrauch«, sagt der Pfarrer, »Rosa Oberrauch. Aber ich glaub nicht, dass die da irgendwie nachgeholfen hat.«

»Glauben wir ja auch nicht«, erklärt Salvatore. »Aber hier ist ein Mensch gestorben, und dem muss man nachgehen.«

Schade, dass Salvatore geht. Wir beide wären ein gutes Team. »Bis wir die Ergebnisse aus Bozen kriegen, müssen wir den Leuten ein paar Fragen stellen, Hochwürden«, ergänze ich.

»Hochwürden kannst du gleich vergessen. Ich bin der Valentin.« Der Pfarrer grinst mich lausbübisch an. »Oder schau ich wie ein Hochwürden aus?« Dann wird sein Gesicht wieder ernst. »Ihr habt ja recht. Alles ist möglich. Sprecht auf jeden Fall mit Rosa.«

Die Tür geht auf und eine Frau, die auf die Siebzig zugeht, schiebt sich herein, ein Tablett mit Mokkamaschine, Tassen und einem Schüsselchen voller Kekse vor sich her balancierend.

»Danke Anna«, sagt der Pfarrer und nimmt ihr das Tablett ab. »Meine Häuserin«, erklärt er und ich bin stolz darauf, das Wort wiederzuerkennen. Bei ihrem Anblick schießt mir Salvatores Bemerkung durch den Kopf, was einer Häuserin unterstellt wird und dass Anna diesbezüglich wohl über jeden Zweifel erhaben wäre. Ich kann ihm nur beipflichten. Abgesehen von ihrem Alter wirkt Anna alles andere als einnehmend. Mit mürrischem Gesicht setzt sie klappernd die Tassen vor uns ab, ohne uns eines Blickes oder eines Grußes zu würdigen.

»Hmpf«, macht die Häuserin, wendet sich ab und will zur Tür hinaus.

»Anna«, ruft Pfarrer Egger ihr nach. »Sag mal, wann hast du den Sepp das letzte Mal gesehen?«

Die Häuserin hält inne, dann brummt sie etwas, das nach »Gestern. Wie ich die Kirche aufgesperrt hab« klingt und verschwindet ohne ein weiteres Wort zur Tür hinaus. Ein richtiger Sonnenschein, die Frau.

»Also gegen sechs Uhr morgens«, erklärt Pfarrer Egger. »Um halb sieben ist nämlich die Frühmesse und sie sperrt etwa eine halbe Stunde vorher die Kirche auf, zündet die Kerzen an und bereitet alles für die Feier vor.«

Ich überlege. Wenn dieser Sepp kurz danach in den Bach gefallen ist, stimmt das mit dem überein, was ich selbst als Todeszeitpunkt veranschlagt habe. Allerdings ist es um sechs Uhr jetzt im Frühsommer bereits hell. Wie konnte der Mann da aus Versehen über die Leitplanken klettern und dann den Abhang hinunterfallen?

»Wie wahrscheinlich ist es, dass der Kerl bereits frühmorgens betrunken war? Irgendetwas stimmt da nicht.«

Ich wechsle einen Blick mit Salvatore, der abwinkt. »Steigere dich nicht zu sehr hinein, Kollege«, sagt er. »Der Sepp war besoffen und ist in den Bach gefallen. Hier in den Bergen passiert so was alle paar Wochen.«

Der Pfarrer nickt bestätigend.

Aber ich halte an meiner bergamaskischen Sturheit fest. »Irgendwas stimmt hier nicht. Und ich werde herausfinden, was.«

Die Wirtin vom Bergblick

 

Der Bergblick ist das einzige Gasthaus im Dorf. Salvatore hat sich mit der Entschuldigung, etwas für seinen Umzug organisieren zu müssen, verdrückt und jetzt liegt es an mir, mit der Schwester des Toten zu sprechen. Bevor ich eintrete, genieße ich für einen Moment den grandiosen Blick auf die Steilhänge, dem das Restaurant seinen Namen verdankt. Jetzt um zehn Uhr kriechen die Sonnenstrahlen langsam die Steilhänge herunter Richtung Dorf und geben ihm fast ein freundliches Aussehen.

Ein Kaffee wäre jetzt nicht schlecht, denke ich und stoße die schwere Holztür auf. Irgendwo vom Ende eines dunklen Flurs her kommt Volksmusik. Das Innere des Schankraums liegt verlassen da. Altbacken wirkt er, in Brauntönen gehalten. Fliesen aus den Fünfzigern zieren die Wand hinter dem Tresen, an den Fenstern hängen Gardinen mit Tiroler Muster, die vermutlich vor zehn Jahren das letzte Mal gewaschen wurden. Frisch sind nur die Blumen in dem Gurkenglas im Herrgottswinkel. Vergissmeinnicht.

Ich trete an die Theke. Ein Blick in die Speisekarte aus Lederimitat bestätigt meine Ahnung: Der Getränketeil ist länger als der mit den Speisen und neben Hirtennudeln und Wiener Schnitzel gibt es als Alternativmenü für Vegetarier Salat mit Mozzarella und Ei.

»Was darf’s sein?«

Ich zucke zusammen und sehe hoch. Eine grobschlächtige Frau, deren Aussehen zu ihrer barschen Stimme passt, mustert mich abschätzig, beinahe feindselig. Das muss die Wirtin sein, Rosa Oberrauch. Als hätte ich etwas Verbotenes gemacht, lasse ich die Karte fallen und strecke ihr verlegen die Hand hin.

»Carminati, der neue Carabiniere. Ihr Verlust tut mir sehr leid.« Sie nimmt meine Beileidsbekundung mit einem kaum merklichen Kopfnicken entgegen. Dann gehe ich zur Tagesordnung über. »Der Sepp war Ihr Bruder?«

Sie nickt stumm.

»Ist Ihnen in letzter Zeit etwas aufgefallen?«

Kopfschütteln.

»War er irgendwie seltsam? Anders als sonst?«

Erneutes Kopfschütteln.

Ich unterdrücke den Impuls, genervt mit den Augen zu rollen. »Hatte Sepp Feinde?«

Kopfschütteln. Was sonst? Es ist, als gäbe es eine unsichtbare Mauer zwischen der Wirtin und mir. Langsam spüre ich Ärger in mir hochsteigen. Ich habe keine Lust auf feinfühliges Vortasten. Mir ist egal, dass die Frau einen Angehörigen verloren hat.

»Wo waren Sie gestern Morgen zwischen sechs und acht Uhr?« Das ist das Zeitfenster, das die Scientifica inzwischen als Todeszeitpunkt ermittelt hat.

Als die Bedeutung der Frage in ihr Denken durchsickert, reißt Rosa Oberrauch erschrocken die Augen auf und ich kann kurz hinter ihre Fassade blicken. Gleich darauf aber zieht sie die Mauer wieder hoch.

»Er ist nicht umgebracht worden.«

Stur sein kann ich auch. »Das war nicht die Frage.«

»Ich war zu Hause. Im Bett. Beim Frühstück.«

»Gibt es dafür Zeugen?«

»Meine Familie, die Angestellten im Gasthof.« Herausfordernd reckt sie mir das Kinn entgegen. »Aber der Sepp ist nicht umgebracht worden.«

»Das herauszufinden ist unsere Aufgabe.«

Sie verschränkt die Arme vor ihrer üppigen Brust. Wie du meinst, sagt mir diese Geste. Trauert sie gar nicht um ihren Bruder? Hat sie so unter dem Makel gelitten, den seine Trunksucht auf ihr Geschäft geworfen hat, dass sie jetzt froh ist, dass dieser Unfall – wenn es denn einer war – dem Ganzen ein Ende bereitet hat?

»Noch was?«

Ein paar Tränen, zumindest eine kummervolle Miene, ein kleines Anzeichen dafür, dass du um deinen Bruder trauerst, denke ich, doch es kommt keine weitere Reaktion. »Ich werde mit Ihren Angestellten sprechen müssen.«

Sie zuckt die Schultern. Tu was du nicht lassen kannst, heißt das dann wohl.

Da gibt das Walkie-Talkie, mit dem Salvatore mich – wegen des schlechten Handyempfangs im Tal – ausgestattet hat, ein Signal von sich und befreit mich aus der angespannten Situation. »Ja?«

»Du musst … knacks krach … kommen.« Mit Mühe erkenne ich Salvatores Stimme.

»Bitte?«

»Du … knacks krach rausch … Station …«

»Ich muss in die Carabinieristation kommen?«

»…nau …«

»Ich …« Ich schaue entschuldigend Richtung Rosa Oberrauch, die mich gleichgültig mustert. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt …«

Kein Nicken. Kein Zeichen des Verstehens. Meine Rede dringt wohl nicht durch die unsichtbare Mauer … Ich zucke die Schultern und mache, dass ich davonkomme. Ein mieses Gefühl bleibt.

 

»Endlich!« Salvatore empfängt mich auf der Straße vor der Carabinieristation. »Es ist schon wieder was passiert.«

Er knallt die Beifahrertür hinter sich zu. »Fahr los! Hinauf zum Oberplanitscherhof.«

Ich sehe ihn fragend an. »Oberpla-was?«

»Oberplanitscher. Los komm. Schon wieder ein Toter.«

»Ein Toter?«

»Ja, verdammt. Jetzt komm schon in die Gänge, Pietro.«

Die Erwähnung meines Namens wirkt wie eine kalte Dusche auf mich und ich springe ins Auto. »Vierzig Jahre Ruhe, wie?«, frage ich, während ich den Zündschlüssel herumdrehe.

»Ich schwöre! Da vorn musst du links abbiegen.«

Salvatore deutet auf eine schmale Straße, die von der Hauptstraße in den Wald abzweigt, und lotst mich über unzählige Kehren den Berg hoch. Eine Haarnadelkurve folgt auf die nächste und die Straße erfordert meine ganze Konzentration. Als ich sicher bin, dass entweder Salvatore mich auf den Arm nimmt oder wir kurz davor sind, bei Petrus an die Himmelspforte zu klopfen, nehmen wir einen Feldweg talwärts und der Carabinieriwagen wird – zusammen mit meinem Fahrkönnen – auf eine harte Probe gestellt.

»Das ist allerhöchstens ein Traktorweg«, beschwere ich mich, als die Ölwanne zum wiederholten Mal mit einem lauten »Klong« auf einem Stein aufstößt. »Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?« In dieser Höhe können doch unmöglich noch Menschen leben.

Salvatore nickt gleichmütig und tatsächlich: Hinter der nächsten Kurve kommt ein Bauernhof zum Vorschein, vor dem eine Menschengruppe steht und uns erwartet.

Verstockt

 

Ich lenke den Wagen vorsichtig durch die Menschen, die mit eisigen Mienen am Feldweg Spalier stehen, bis auf einen kleinen Vorhof, dann steigen wir aus. Im ersten Augenblick denke ich, dass mir Rosa Oberrauch zuvorgekommen ist und es irgendwie vor uns zu diesem Oberpla-irgendwas-Hof geschafft hat.

---ENDE DER LESEPROBE---