Mauern des Schweigens - Catherine Barneron - E-Book

Mauern des Schweigens E-Book

Catherine Barneron

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Beschreibung

Erst als Erwachsene erfährt Catherine, dass der Mann, den sie bisher für ihren Vater hielt, nicht ihr leiblicher Vater war. Doch ihre Mutter weigert sich, die brennenden Fragen ihrer Tochter zu beantworten. In Catherine steigen plötzlich längst vergessen geglaubte Erinnerungsfetzen aus ihrer Kindheit auf: die ersten sechs Jahre, die sie bei Pflegeeltern aufwuchs, das überraschende Auftauchen ihrer Eltern, die Erniedrigungen, der Hass, die Gewalt und der Missbrauch, die sie sechs Jahre lang erdulden musste, bis sie endlich in ein Kinderheim kam. Als ihr Mann beginnt, ihre Spur in die Vergangenheit zu verfolgen, um das Rätsel ihrer Herkunft zu ergründen, wird ihr klar, dass sie sich Wahrheiten stellen muss, die bislang tief in ihr vergraben waren. Doch zunächst stößt sie bei allen, die sie befragt, auf eine Mauer des Schweigens.

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Seitenzahl: 214

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumHinweisVorwortKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9

Über dieses Buch

Erst als Erwachsene erfährt Catherine, dass der Mann, den sie bisher für ihren Vater hielt, nicht ihr leiblicher Vater war. Doch ihre Mutter weigert sich, die brennenden Fragen ihrer Tochter zu beantworten. In Catherine steigen plötzlich längst vergessen geglaubte Erinnerungsfetzen aus ihrer Kindheit auf: die ersten sechs Jahre, die sie bei Pflegeeltern aufwuchs, das überraschende Auftauchen ihrer Eltern, die Erniedrigungen, der Hass, die Gewalt und der Missbrauch, die sie sechs Jahre lang erdulden musste, bis sie endlich in ein Kinderheim kam. Als ihr Mann beginnt, ihre Spur in die Vergangenheit zu verfolgen, um das Rätsel ihrer Herkunft zu ergründen, wird ihr klar, dass sie sich Wahrheiten stellen muss, die bislang tief in ihr vergraben waren. Doch zunächst stößt sie bei allen, die sie befragt, auf eine Mauer des Schweigens.

Über die Autorin

Catherine Barneron ist verheiratet, Mutter von zwei Kindern und lebt heute im Südosten von Frankreich.

CATHERINE BARNERON

Mauern des Schweigens

Eine Kindheit voller Hass und Gewalt, eine lange und schmerzhafte Suche nach der Wahrheit

Aus dem Französischen von Cécile G. Lecaux

Digitale Neuausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 1998 by Edition de l’Archipel

Titel der französischen Originalausgabe: »Les oignons crus«

Originalverlag: Edition de l’Archipel, Paris

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2016/2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.deunter Verwendung von Motiven von © shutterstock: bikeriderlondon | thagoon

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-2521-7

luebbe.de

lesejury.de

Die in diesem Buch erzählte Geschichte ist wahr, sämtliche Personen sind authentisch, und die Ereignisse haben sich tatsächlich zugetragen, allerdings wurden die meisten Personen- und Ortsnamen geändert.

VORWORT

Im Süden meines Landes drängen sich die Menschen entlang der Hauptverkehrsstraßen, wenn die Stiere durch die Stadt getrieben werden. Den Leuten gefällt es zu spüren, wie der Boden unter ihren Füßen erzittert, wenn die Tiere sich donnernd vorbeiwälzen, sie jubeln den Manadiers (Rinder-, Stier- oder Pferdehirten in der Provence) zu, die hinter den Stieren herreiten, und atmen lachend den aufgewirbelten Staub ein. Ein solches Ereignis bezeichnet man bei uns als »abrivado«.

An einem Morgen im Mai 1993 wurden acht Camargue-Stiere von mit Piken bewaffneten Reitern auf diese Art durch die Straßen von Nîmes getrieben. Als die Tiere im Galopp den Boulevard erreicht hatten, der zur Arena führte, löste sich eine Frau aus der Menge und versperrte, alle Warnrufe ignorierend, Reitern und Stieren den Weg. Dem ersten Reiter gelang es noch, ihr auszuweichen, aber der nachfolgende erwies sich als weniger geschickt: Die Unglückliche wurde zu Boden geschleudert und geriet unter die Hufe zweier Pferde. Sie bäumten sich wiehernd vor der Menschenmenge auf, die vor Schreck erstarrte. Dann stürzte ein Mann vor, um der Leichtsinnigen aufzuhelfen, und während die Herde sich entfernte, trug er sie zu einer Ambulanz, die sie ins Krankenhaus brachte. Die Sanitäter stellten vier Gramm Alkohol im Blut der Verletzten fest, obgleich diese behauptete, nur ein Bier getrunken zu haben. Vier Gramm … Eine Säuferin. Der Unfall machte in der Stadt Schlagzeilen und überschattete den Beginn der Feria. Zufällig war ich selbst unmittelbar betroffen von dem Zwischenfall, denn es handelte sich bei der Säuferin um meine Mutter.

An Beinen und Rückgrat verletzt, musste Suzanne fast einen Monat im Krankenhaus bleiben. Wie ich schon sagte, war sie meine Mutter, und doch nenne ich sie wie eine Fremde beim Vornamen. Suzanne. Jahrelang hat diese Frau mich gequält, seelisch und körperlich. Ich komme später noch auf die Misshandlungen zu sprechen, die ich durch sie in meiner Kindheit erdulden musste; es genügt hier zu wissen, dass es sie gegeben hat, um die ganze Ironie der Situation zu begreifen: Als sie nämlich nach dem Unfall in Nîmes im Rollstuhl saß, war ich das einzige ihrer Kinder, das ihr Hilfe anbot. Sie nahm an, was mich nicht wunderte: Trotz ihres Hasses auf mich hat sie sich in schweren Zeiten immer an mich gewandt.

Und so half mein Mann Claude mir, die Rekonvaleszente zu uns nach Hause zu bringen. Er hatte für ihre Aufnahme zur Bedingung gemacht, dass sie sich nicht in unserem Haus betrank. Die paar Wochen im Krankenhaus hatten sie bereits auf Alkoholverzicht eingestimmt. Und so bezog Suzanne bei uns Quartier. Sie fügte sich in unseren Alltag ein, war lieb zu den Kindern und legte keinerlei Ungeduld wegen ihrer Behinderung an den Tag. Andererseits ging jedoch auch keinerlei Wärme von ihr aus. Ihre Zurückhaltung war vielmehr irritierend, und ihr Schweigen wurde mit jedem Tag erdrückender. Beinahe hätte man meinen können, wir würden eine in sich gekehrte Fremde beherbergen, die rein zufällig bei uns gelandet war.

Diese Kälte mochte Claude oder meinen Sohn belasten; mich berührte sie nicht. Ich hatte es schon vor viel zu langer Zeit aufgegeben, Suzannes Zuneigung erlangen zu wollen. Und doch behielt ich ihre Stimmung im Auge, da mein Angebot, sie vorübergehend bei uns aufzunehmen, nicht ganz uneigennützig gewesen war. Tatsächlich wartete ich seit Jahren auf einen geeigneten Moment, um mit ihr ein Gespräch unter Erwachsenen zu führen, ohne Ausflüchte. Und nun bot sich diese Gelegenheit! Endlich war meine Mutter bei mir, nüchtern und zur Unbeweglichkeit verdammt – sie war mir stundenlang hilflos ausgeliefert. Endlich würden wir uns aussprechen können.

Viele Tage lang wusste ich nicht recht, wie ich es anfangen sollte. Ich ließ schüchterne Andeutungen auf die Vergangenheit fallen, womit ich jedoch kläglich scheiterte. Ich stellte Suzanne ungeschickte Fragen, die sie mühelos mit einer Geste abtat … Und so fand ich erst am vorletzten Tag den Mut, den entscheidenden Schritt zu tun. An jenem Nachmittag hatte ich auf ihren Wunsch hin ihren Rollstuhl ins Wohnzimmer geschoben, in die dunkelste Ecke des Raumes. Die Dunkelheit schien sie nicht bei ihrer Häkelarbeit zu stören (»Ein Zierdeckchen für dich«, hatte sie mir erklärt). Ich setzte mich in einen Sessel ganz in ihrer Nähe und fragte rundheraus:

»Ich möchte, dass du mir sagst, wer mein Vater ist.«

Sie verbarg ihre Überraschung meisterhaft und begnügte sich damit, zu antworten:

»Was spielt das schon für eine Rolle?«

Das Gespräch versprach schwierig zu werden. Ich atmete langsam ein und wappnete mich für einen weiteren Vorstoß, aber ihre belegte Stimme kam mir zuvor.

»Du stellst zu viele Fragen …«

»Ich weiß, dass Parodeau nicht mein Vater ist.«

»Natürlich ist Parodeau nicht dein Vater! Parodeau hat dir seinen Namen gegeben und sonst nichts …«

Diese Bestätigung ermutigte mich einerseits, ließ mich gleichzeitig jedoch kalt: Ich hatte schon immer gewusst, dass der Mann, der mich als seine Tochter anerkannt hatte, nicht mein leiblicher Vater war. Dany Parodeau hatte nur das Pech, zum Zeitpunkt meiner Geburt mit Suzanne verheiratet zu sein … Ohne dass ich weiter hätte nachhaken müssen, fuhr sie fort:

»Dein Vater heißt Olivier Magre. Er ist einer der Söhne von Caro, deiner Patentante.«

Überraschung: Der Informationshappen war ohne Zwang offenbart worden. Ich schwieg und ließ die Eröffnung auf mich wirken.

»Du meinst den Olivier, der den Unfall hatte?«

»Was für einen Unfall?«

Ich konnte mich noch erinnern, dass ich als kleines Mädchen im Krankenhaus gewesen war, um einen gewissen »Onkel Olivier« zu besuchen, der einen Autounfall gehabt hatte. Sein Zustand war äußerst kritisch, und die Nonnen in der Klinik mussten eine Ausnahme bewilligen, damit ich in meinem zarten Alter an sein Krankenbett durfte. Meine Patentante hatte mich nur mitgenommen, weil mir wirklich daran gelegen war, denn ich hatte diesen Onkel sehr gern.

Ganz leise wiederholte ich:

»Olivier, Caros Sohn …«

»Erinnerst du dich an ihn?«

»Ich kann mich nicht mehr an sein Gesicht erinnern …«

»Er hat sehr gut ausgesehen.«

»Wie ist es dazu gekommen?«

»Du fragst zu viel, Catherine.«

Suzanne hatte ihre Häkelarbeit wiederaufgenommen und schien unser Gespräch als beendet zu betrachten. Da ich spürte, dass ein Frontalangriff mich nicht weiterbringen würde, versuchte ich es mit einer weniger direkten Annäherung.

»Hast du Olivier Magre geliebt?«

»Ich? … O ja, und wie ich ihn geliebt habe!«

Schweigen, dann hob sie wieder den Kopf:

»Ich glaube sogar, er ist der einzige Mann, den ich je wirklich geliebt habe. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ich liebte ihn bereits, da kannte ich ihn nur von Fotos!«

Ihr Arm fuhr schwungvoll seitwärts durch die Luft.

»Seine Mutter hat mich ihm in die Arme getrieben. Natürlich … Sie wollte unbedingt, dass ich mit ihrem Jungen schlafe … Dieses Biest von Caro!«

Schlagartig hatten Suzannes Augen wieder diesen fiebrigen Glanz angenommen, an den ich mich von früher her erinnerte. Ich fühlte mich berufen, meine Patentante zu verteidigen.

»Ich hatte Caro sehr gern …«

»Ein Miststück war sie, jawohl.«

»Und … wie ist das gelaufen mit Olivier? Du hast ihn also kennen gelernt …«

»Klar! Ich sagte doch gerade, dass seine Mutter alles getan hat, um mich ihm in die Arme zu treiben … Damals waren Caro und ihr Mann meine Nachbarn, sie wohnten im selben Stock, gleich nebenan … Wie auch immer. Reden wir von etwas anderem.«

Ich war so begierig, mehr zu erfahren! Ich versuchte, ihren Redefluss noch einmal in Gang zu bringen.

»Und die Schwangerschaft? Wie ist die verlaufen?«

Suzanne musterte mich eine Sekunde, und ich spürte, dass in ihr wieder dieser grenzenlose Hass brodelte, der sie wiederholt zu Versuchen getrieben hatte, mich zu töten.

»Es ist alles … normal verlaufen. Was willst du denn hören?«

»Ich weiß nicht. Was mein Vater davon gehalten hat, zum Beispiel …«

»Anfangs war dein Vater gar nicht da. Er war damals beim Militär … Der Algerienkrieg! Er kam nur auf Urlaub nach Hause. Und später hat er dann geheiratet …«

Stille senkte sich herab. Ich spürte unser beider Anspannung. Ich entdeckte meine Katze auf dem Fenstersims und stand auf, um sie hereinzulassen. Ein naives Ablenkungsmanöver, das das Schweigen nicht zu brechen vermochte. Suzannes Verhalten verriet höchste Nervosität: Sie hatte ihre Handarbeit beiseitegelegt, die Handflächen nach oben gekehrt und rieb die Finger aneinander wie eine alte Irre.

Die Flut der Gefühle, die dieser Wortwechsel in mir hervorgerufen hatte, hinderte mich daran, wieder das Wort zu ergreifen. Ich brauchte mehrere Minuten, ehe ich wieder fähig war, auch nur ein Wort zu formulieren.

»Warum?«, fragte ich.

»Warum was?«

»Warum hasst du mich so?«

Ich hatte erwartet, dass sie den Vorwurf auf die eine oder andere Weise leugnen würde. Aber nichts dergleichen geschah.

»Das ist körperlich«, entgegnete sie. »Ich habe schon immer das Bedürfnis verspürt, dir weh zu tun. Das ist einfach so, ich kann es auch nicht erklären. Wenn ich dich sehe, steigt Mordlust in mir auf.«

Ich war zu betroffen, um etwas darauf zu erwidern. Sie fuhr fort.

»Ich kann dir nicht sagen, warum ich diese unüberwindbare Abneigung gegen dich habe … Du erinnerst mich so sehr an deinen Vater! Du siehst ihm so was von ähnlich! Es tut mir leid, Catherine, aber es stimmt, ich habe dich von Anfang an nicht ertragen können. Nicht, dass ich es nicht versucht hätte. Oft habe ich mich gezwungen, dich zu lieben … Aber es war unmöglich. Allein deine Anwesenheit hat mich immer krank gemacht vor Wut.«

»Krank vor Hass.«

»Vor Hass, ja.«

Eine Frage brannte mir auf der Zunge.

»Und … heute? Hasst du mich immer noch so wie früher?«

»Ja, daran hat sich nichts geändert.«

Langes Schweigen. Dann:

»Es tut mir leid, aber so ist es nun mal.«

Ihre Aufrichtigkeit nahm mir den Wind aus den Segeln. Ich hatte auf verschiedene Einzelheiten aus der Vergangenheit zurückkommen wollen, aber ich brauchte einige Zeit, um mich wieder zu fassen. Schließlich startete ich meine Offensive auf einer anderen Front:

»Ich wollte mit dir über Maupin sprechen …«

»Wie, Maupin?«

»Erinnerst du dich nicht an das, was er mit mir gemacht hat?«

»Doch.«

»Und? Wie willst du das rechtfertigen?«

»Was willst du eigentlich? Du hast ihn doch ständig angemacht …«

Dieser letzte Satz nagelte mich förmlich in meinem Sessel fest. »Ich war doch erst sechs Jahre alt! Ich war ein kleines Mädchen von sechs Jahren!«

»O Catherine, du steigerst dich da in etwas hinein.«

»Ich steigere mich in etwas hinein? Ich steigere mich in etwas hinein?«

Suzanne senkte den Blick und stammelte etwas von Respekt gegenüber den Toten und davon, dass man Vergangenes ruhen lassen solle. Ich konterte, dass diese Zeit für mich noch sehr gegenwärtig sei. Aber sie wollte nichts davon hören. Ich beschuldigte sie, ich beschuldigte Maupin – sie stritt alles kategorisch ab, in ihrer Unaufrichtigkeit ebenso brutal wie in ihrer vorangegangenen schonungslosen Offenheit. Ich setzte die Konfrontation mit der Vergangenheit endlos fort, aber es war vergebliche Liebesmüh. In dem dunklen Zimmer befanden sich nur noch zwei geschundene Frauen, die eine jung und rachsüchtig, die andere alt und sich Vorwürfen verschließend.

Alte Erinnerungen stiegen schubweise in mir auf. Sie stammten aus meiner frühesten Vergangenheit – aus einer Zeit, da ich Suzanne nur hin und wieder zu Gesicht bekommen hatte und man mir nicht einmal gesagt hatte, dass sie meine Mutter war. Ich sehe noch vor mir, wie sie mich zwingt, mit ihrem Sohn Didier auf einem Brett hinunterzurutschen, aus dem ein Nagel hervorschaut, der mich am Knie verletzt. Ich sehe noch vor mir, wie sie sich an einem schwarzen und kalten Abend mit einem Mann prügelt, der Parodeau sein muss. Ich bin draußen, beiße gerade in ein Stück Würfelzucker und ein Butterbrot, als der Fernseher aus dem Fenster segelt und zwei Stockwerke tiefer zerschellt … An einem anderen Tag schleiche ich mich mit einem quadratischen Hammer, der einem Fäustel gleicht, lautlos an Didier heran, um ihm einen Schlag auf den Hinterkopf zu versetzen. Das Blut spritzt in hohem Bogen aus der Wunde, und er muss ins Krankenhaus. Wenn ich mich recht erinnere, musste er mit acht Stichen genäht werden …

Irgendwann setzte sich eine Idee in meinem Kopf fest: Die furchtbare Zeit musste ihren Ursprung in meiner frühesten Vergangenheit haben – gewissermaßen in meiner Vorgeschichte. Und ich hatte genug Erinnerungen gespeichert, um zu versuchen, ganz allein das komplexe Gerüst meiner Herkunft zu entwirren. Man müsste mir nur ein ganz kleines bisschen behilflich sein, mir nicht allzu schlecht gesinnte Zeitzeugen müssten mir nur auf den rechten Weg helfen … Der Faden meiner Geschichte würde sehr dünn sein, das wusste ich – aber ich würde ihn nicht wieder loslassen.

Schließlich gönnte ich Suzanne an jenem Spätnachmittag eine Erholungspause. Die Konfrontation musste für sie umso ermüdender sein, als ihr der Alkohol fehlte. Sie blickte mir nicht nach, als ich das Zimmer verließ. Am Abend kam keine von uns beiden noch einmal auf unser eigentümliches Duell zu sprechen.

Das Häkeldeckchen sollte ich nie bekommen.

KAPITEL 1

Wie soll ich die Atmosphäre meiner frühen Kindheit vermitteln? Hierzu wäre das Talent meines Patenonkels Gabriel erforderlich. Niemand konnte so treffend wie er einen Hintergrund lebendig werden lassen und diesen mit Personen bevölkern. Ich höre noch seine ausdruckslose Teddybärenstimme, die mir Märchen von Feen, Clowns oder kleinen braunen Hühnern ins Ohr flüstert …

Als kleines Mädchen stehe ich oft schon bei Tagesanbruch auf und trabe durch das stille Haus zu dem Zimmer am Ende des Flurs, um mir seine Geschichten anzuhören. Die Tür ist angelehnt, so dass ich sie nur anzustoßen brauche, um ins Halbdunkel zu schlüpfen, wo Gabriel und Caro noch selig schnarchen.

»Wen haben wir denn da?«, murmelt mein Patenonkel, als er aufwacht. »Was höre ich da?«

Für mich ist das das Signal: Ich springe mit einem großen Satz auf das Polsterbett und klettere lachend über Hügel und Täler des Plumeaus hinweg. Meine Patentante schimpft der Form halber.

»Es ist erst fünf Uhr, Gabriel. Die Kleine hat noch nicht genug geschlafen.«

Er bedeutet mir, näher zu kommen, und hebt die Bettdecke hoch, damit ich drunterkriechen kann. Dann nimmt er von dem Regal am Kopfende des Bettes eines jener Bücher, aus denen Märchenerzähler ihre Inspiration schöpfen. Das, das er an jenem Morgen wählt, kenne ich gut: ein dickes Buch mit goldenem Einband und mit Puzzles illustriert, die man zusammensetzen muss.

»Es waren einmal drei kleine Bären, die im Wald spazieren gingen …«

Im Verlauf der Erzählung dichtet Gabriel nach Lust und Laune Neues hinzu, schweift ab und lässt anderes aus. Mit einem Auge folgt er dem Text, und mit dem anderen beobachtet er seine Zuhörer. Beim ersten Gähnen macht er Schluss, legt das Buch zurück und flüstert, um Caro nicht zu stören, die gern noch etwas schlafen möchte:

»Wir machen den kleinen Zug.«

Einsteigen! Ich lege mich auf die Seite, und er imitiert das Geräusch einer Lokomotive, wohl um mich in den Schlaf zu wiegen … Aber ich schlafe nicht. Ich denke an das Märchen, an das Buch – vor allem an das Puzzle, mein Lieblingsspiel … Hinter mir kündigt das Tuten der Lokomotive die baldige Einfahrt in den Bahnhof an. Ich warte nicht einmal ab, bis der Zug gehalten hat, um aus dem Bett zu springen.

So ist er, mein Patenonkel: immer zu Spielen aufgelegt. Unter den Erwachsenen, die ich kenne, ist er der einzige, der es fertigbringt, sich hinzuknien, um mit mir auf einer Höhe zu sein, wenn er mit mir spricht. Alles belustigt ihn.

»Heute Morgen gehe ich auf die Jagd«, verkündet er, als er die Seitentür zur Straße hin öffnet. »Wer kommt mit? Du, Cacate?«

Ich heiße Catherine, aber er nennt mich nur »Cacate« … In der Garage erwartet uns ein nachtblauer Mercedes. Ein paar Manöver – eine willkommene Gelegenheit, den Motor aufheulen zu lassen –, und wir schießen der Sonne entgegen in Richtung Arles.

»Möchtest du die Baustelle sehen, Schätzchen?«

Mein Patenonkel ist Straßenbauunternehmer. Wann immer möglich, nimmt er mich bei seinen Kontrollrundfahrten mit. Ich lasse mich leicht vom Lärm der Betonmischmaschinen und Presslufthämmer beeindrucken. Gabriel gibt sich streng.

»Hey, Leute, ich habe den Eindruck, es geht hier nicht recht voran!«

»Wir schieben wahrhaftig keine ruhige Kugel!«

»Das wär’ ja noch schöner. Ich bezahle euch auch nicht fürs Däumchendrehen!«

Ich mag es, wenn mein Patenonkel ruppig mit den Männern umgeht. Das gibt mir das Gefühl, wichtig zu sein. Wenn ich groß bin, will ich auch Baustellen überwachen. »Ich habe den Eindruck, es geht nicht recht voran …« Gabriel Bontemps ist ein König … stellt er mich nicht allen als seine Prinzessin vor?

»Ist sie nicht niedlich, meine Catherinette?«

»So hübsch wie ihr Patenonkel, die Arme!«

»Mach dich nicht lustig, du da hinten!«

Aber der Arbeiter macht sich nicht lustig, auch wenn er meinen Patenonkel hinter seinem Rücken wegen seiner Leibesfülle – oder seines Appetits – »La Cèpe – der Steinpilz« nennt. Gabriel und ich setzen unseren Rundgang über die Baustellen, Firmengelände und Cafés fort. »Ein Diabolo-Grenadine für die Kleine und für mich einen Pastis, Patron!«

Hoch auf einem Barhocker thronend, spiele ich mit Strohhalmen. Mein Patenonkel nimmt mir einen weg, reißt an einem Ende die Papierhülle auf und bläst in den Strohhalm, so dass das Papierröhrchen weit in den Raum hineinfliegt. Ich mache es ihm nach, und mein Papierröhrchen fliegt noch weiter als seins.

»Patron, bring mir die Rechnung!«

Er holt ein dickes Geldbündel aus der Innentasche seiner Anzugjacke – »Niemals Schecks, Cacate, immer nur Bares« – und zwinkert mir zu.

»Wollen wir mal sehen, was wir an Wild auftun können?«

Der Heimweg kommt mir sehr lang vor. Bevor ich aussteige, drücke ich auf die Hupe mit dem dreizackigen Stern in der Mitte des Lenkrads: ein lautes Hupsignal ertönt. Wir gehen durch die Garage ins Haus und machen vor zwei großen Tiefkühltruhen halt.

»Was schießen wir heute? Fasan oder Hase?«

»Einen Fasan! … Nein, einen Hasen!«

Lachend hebt Gabriel einen der Deckel hoch.

»Peng!«, ruft er.

Dann legt er mir das längliche, steif gefrorene Stück Wild in die Arme.

Als mein Mann den Vorschlag machte, mir bei der Lösung der Rätsel meiner Kindheit behilflich zu sein, war mir bewusst, dass dieser Tag für mich der Beginn einer völlig neuen Prüfung sein würde. Ich würde mich Wahrheiten stellen müssen, die bis dato tief vergraben geblieben waren. Claude stellte sich dieselben Fragen wie ich, formulierte sie jedoch in der richtigen Reihenfolge:

»Erstens: Wie erklärst du dir, dass du bei deinem Patenonkel und deiner Patentante aufgewachsen bist?«

»Suzanne behauptet, ich sei die Tochter von Olivier Magre und somit die Enkelin von Caro, der Nachbarin aus demselben Stock. Meine Patentante wäre somit auch meine Großmutter gewesen.«

Diese Erklärung schien ihn nicht vollends zu befriedigen. Ein so praktisch veranlagter Mensch wie Claude gibt sich nicht mit Halbheiten zufrieden. Er hakte also nach.

»Und ihr Mann Gabriel? Hat der keine Kinder mit ihr gehabt?«

»Nein … Ich war ihr Kind.«

Claude lächelte, und sein Lächeln schien auszudrücken: »Cathy, du kannst nicht Richter und Kläger in einem sein …« Er hätte gern noch andere Quellen aufgetan.

»Fällt dir niemand ein, der uns mehr von ihnen erzählen könnte?«

Die Antwort erschien mir ganz logisch:

»Statten wir Babette einen Besuch ab«, schlug ich vor. »Sie weiß am besten Bescheid.«

Zutreffender wäre die Aussage gewesen, dass von allen, die etwas wussten, Babette Maupin uns am ehesten empfangen würde. Ich hatte den Kontakt zu ihr aufrechterhalten, und wir konnten einander fast als Freundinnen betrachten. Wie erwartet reagierte sie am Telefon sehr zuvorkommend.

»Du willst mir also deinen Mann vorstellen? Das ist eine gute Idee. Es wäre ideal, wenn wir uns in Arles treffen könnten, bei Hervé …«

Hervé Maupin ist ein Bruder von Babette – der andere hieß José, und auf den komme ich noch früh genug zu sprechen … Ich hatte Hervé seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen, und das Wiedersehen verlief sehr herzlich. Ich begriff sofort, dass das Alter und das gewandte Auftreten meines späteren Mannes sie beruhigten. Vermutlich hatten sie erwartet, dass ich in Begleitung eines jungen, unreifen Kerls von dreißig Jahren erscheinen würde, während die vierzehn Jahre, die Claude mir altersmäßig voraushatte, seine Statur und sein bereits etwas lichtes Haar – ganz zu schweigen von seiner tiefen Stimme – ihm eine ganz natürliche Autorität verliehen. Eben ein Mann, dem man sich gern anvertraut.

Während des Mittagessens tauschten wir ungeduldige Blicke. Denn auch wenn die Unterhaltung recht angenehm verlief, beschränkte sie sich auf aktuelle Themen und vermied jedwede Bezugnahme auf die Vergangenheit. Ich begann bereits zu fürchten, dass unser Besuch sich als fruchtlos erweisen würde. Und so fragte ich kurz vor Ende der Mahlzeit:

»Ihr beide müsst doch Gabriel Bontemps gut gekannt haben.« Hervé zuckte zusammen, behielt jedoch sein Lächeln bei.

»La Cèpe? Klar haben wir den gekannt. Ich habe sogar zeitweise für ihn gearbeitet.«

»Wer hat das nicht?«, fiel Babette ein. »Er war die Seele der ganzen Bande. Sogar José hat dazugehört … Ebenso wie dein Vater, Catherine.«

Ich erstarrte einige Sekunden, ehe mir aufging, dass sie sich auf Dany Parodeau bezog, meinen Vater vor dem Gesetz … Claude wandte sich an Hervé und fragte:

»Gabriel hatte ein Bauunternehmen, oder?«

»Das wäre übertrieben. Zutreffender wäre, dass er ein paar Leute schwarzbeschäftigt hat … Schwarz, aber um sauberes Geld zu machen, wenn du verstehst …«

»Gabriel hat gedreht und getrickst, wo es nur ging«, bemerkte Babette.

Claude schien nicht wirklich überrascht.

»Und was ist aus ihm geworden, wisst ihr das?«

Hierauf entstand eine kurze Pause. Dann:

»Er ist tot«, antwortete Hervé.

»Ja, an Diabetes gestorben.«

»Ist das schon lange her?«

»Zwölf, fünfzehn Jahre, um den Dreh.«

Der Ton war merklich abgekühlt. Da erinnerte ich mich an meine letzte Begegnung mit Babette zu Anfang der achtziger Jahre. Sie hatte mir damals bereits erzählt, dass Gabriel tot sei, ebenso wohl Caro, die sie nie besonders gemocht hatte. Ihre Meinung über meine Patentante schien sich in der Zwischenzeit nicht merklich geändert zu haben.

»La Cèpe hat gut daran getan, sich vor seinem Tod noch scheiden zu lassen«, sagte sie und schaute Claude an. »So hat Caro ihn wenigstens nicht beerbt!«

Wohl aus einer Assoziation heraus kamen wir auf meine Mutter zu sprechen, die nach ihrem Aufenthalt in unserem Haus bereits wieder in ihre eigene Wohnung gezogen war.

»Man sagt, sie sei von einem Stier aufs Kreuz gelegt worden«, meinte Hervé und unterdrückte dabei ein Lächeln.

»Genau genommen war es ein Pferd«, berichtigte Claude.

»Ein Stier, ein Pferd … Das muss so ziemlich das Einzige gewesen sein, was sie noch nicht flachgelegt hatte«, bemerkte Babette abfällig. »Entschuldige, Catherine, aber du wirst mir kaum widersprechen …«

Ich ließ Babette sich in Horrorgeschichten über Suzanne ergehen und wusste im Voraus, womit sie schließen würde.

»Diese Nutte«, schnaubte sie, als ihr nichts mehr einfiel. »Die kann unmöglich deine Mutter sein.«

Das hatte sie schon früher behauptet. Als ich jedoch zusammen mit Claude versuchte nachzuhaken, machte sie einen Rückzieher.

»Das war nur so dahergeredet«, sagte sie.

Hervé kam hastig wieder auf ein weniger heikles Thema zu sprechen.

»Gabriel Bontemps«, sinnierte er in melancholischem Tonfall. »Das waren noch Zeiten!«

Eine blühende Zeit jedenfalls. Und für mich waren es goldene Zeiten …

Der Hof von Haus Angles ist zur Mittagszeit immer mit Pkws und Transportern zugeparkt. Die Arbeiter von den näher gelegenen Baustellen essen bei uns zu Hause. Ich versuche jedes Mal, möglichst bald vom Tisch wegzukommen, um mit meiner Deutschen Schäferhündin spielen zu können. Karim ist eine Hundedame. Ich liebe sie über alles.

»Du bist meine kleine Prinzessin.«

Ich benutze, wenn ich mit ihr rede, dieselben Worte wie mein Patenonkel mir gegenüber. Sie scheint meine Komplimente zu schätzen und antwortet mit einem japsenden Bellen, das mich zum Lachen bringt.

»Komm, Karim, wir holen ein Zuckerstückchen.«

Immer wenn ich das Esszimmer betrete, legt sich der Lärm. Mein Patenonkel hat nur Augen für mich.

»Alles in Ordnung, Cacate?«

Ich greife ein Stück Würfelzucker aus der Packung und tauche es in den Kaffee des Patron. Alle schmunzeln. Bevor ich die Süßigkeit in den Mund stecke, biete ich sie Karim an.

»Geh mit dem Hund nach draußen«, sagt Caro.

Mein Patenonkel legt mir die Hand unter das Kinn:

»Wirst du einen kleinen Mittagsschlaf halten, mein Schätzchen?«