Maurice und Maralyn - Sophie Elmhirst - E-Book

Maurice und Maralyn E-Book

Sophie Elmhirst

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Beschreibung

118 Tage schiffbrüchig: ein spektakuläres Abenteuer neu entdeckt

Hübsches Reihenhaus, sicheres Einkommen, ideale Voraussetzungen für die Gründung einer Familie: Maurice und Maralyn Bailey führen ein gewöhnliches Vorstadtleben im England der 1960er-Jahre, als sie beschließen sich von gesellschaftlichen Erwartungen zu befreien, all ihr Hab und Gut zu verkaufen und mit einem Segelboot um die Welt zu reisen – von Südengland bis nach Neuseeland. Als sie im Frühsommer 1972 in See stechen, finden sie schnell Gefallen an ihrem Aussteigerleben, schließen neue Freundschaften, verbringen Weihnachten in der Karibik. Dann die Katastrophe: Am 4. März 1973 – mitten im Pazifik, auf dem Weg zu den Galapagos-Inseln – wird ihr Boot von einem Wal gerammt und schlägt irreparabel leck. Mit einem Vorrat an Verpflegung, der ihren Berechnungen zufolge für 20 Tage auf See reichen wird, flüchten sie sich auf ihr Rettungsschlauchboot. Am Ende werden 118 Tage bis zu ihrer Rettung vergehen; vier Monate, in denen sie Hunger, Durst, Hitze, Kälte, Krankheit und Sturm trotzen – und dabei doch Momente vollkommenen Glücks im Einklang mit der Natur erleben.

Die britische Journalistin Sophie Elmhirst hat das lange vergessene Abenteuer des Ehepaars Bailey neu entdeckt und schreibt mit Maurice und Maralyn eine zeitlose Geschichte von Freiheit und Individualität, Liebe und Abhängigkeit, Verzweiflung und Überlebenswillen.

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Seitenzahl: 280

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Buch

Maurice und Maralyn Bailey führen ein gewöhnliches Vorstadtleben im England der 1960er-Jahre, als sie beschließen, sich von gesellschaftlichen Erwartungen zu befreien, all ihr Hab und Gut zu verkaufen und mit einem Segelboot um die Welt zu reisen – von Südengland bis nach Neuseeland. Als sie im Frühsommer 1972 in See stechen, finden sie schnell Gefallen an ihrem Aussteigerleben, schließen neue Freundschaften, verbringen Weihnachten in der Karibik. Dann die Katastrophe: Am 4. März 1973 – mitten im Pazifik, auf dem Weg zu den Galapagosinseln – wird ihr Boot von einem Wal gerammt und schlägt irreparabel leck. Mit einem Vorrat an Verpflegung, der ihren Berechnungen zufolge für 20 Tage auf See reichen wird, flüchten sie sich auf ihr Rettungsschlauchboot. Am Ende werden 118 Tage bis zu ihrer Rettung vergehen; vier Monate, in denen sie Hunger, Durst, Hitze, Kälte, Krankheit und Sturm trotzen – und dabei doch Momente vollkommenen Glücks im Einklang mit der Natur erleben.

Autorin

Sophie Elmhirst ist eine britische Journalistin. Sie schreibt regelmäßig für The Guardian und das von The Economist herausgegebene Digitalmagazin 1843. 2020 wurde sie bei den britischen Press Awards mit dem Foreign Press Award ausgezeichnet. Maurice und Maralyn ist ihr erstes Buch.

Sophie Elmhirst

MAURICE UND MARALYN

Die unglaubliche Geschichte eines Schiffbruchs und einer unkonventionellen Liebe

Aus dem Englischen von Annika Klapper

Die englische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »Maurice and Maralyn« bei Chatto & Windus, London. Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall aufgrund der schlechten Quellenlage bedauerlicherweise einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe Mai 2024

Copyright © 2024 der Originalausgabe: Sophie Elmhirst

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Eckard Schuster

Umschlag: Uno Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © Bryan Angus

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

EB ∙ CF

ISBN 978-3-641-29617-9V001

www.goldmann-verlag.de

Inhalt

Teil eins

Teil zwei

Teil drei

Teil vier

Teil fünf

Epilog

Anmerkung der Autorin

Dank

Für meine Mutter und in Erinnerung an meinen Vater

TEIL EINS

1

4. März 1973

Maralyn blickte in die weite Leere. Es gab nichts zu sehen, nur schwarzes Wasser, das eine bläuliche Färbung annahm, sobald die Sonne aufging. Klarer Himmel, das Meer und sie beide auf einem kleinen Boot, das Richtung Westen segelte.

Um sieben Uhr verließ Maralyn ihren Wachtposten an Deck und stieg hinunter in die Kabine. Maurice schlief noch in seiner Koje, rührte sich allerdings bereits ein wenig. Dieser Morgen würde dem festen Rhythmus aller anderen Morgen folgen: Kaffee und Frühstück, anschließend die anstehenden Kontrollen und Aufgaben an Bord. Nach Monaten auf See vollzogen sich diese Abläufe wie automatisch.

Doch an diesem Morgen, als Maralyn Maurice gerade eine Hand auf die Schulter legte, um ihn zu wecken, spürten beide einen Ruck, ein Krachen, gleich dem Knall einer Pistole, die abgefeuert wird, und es war so, als hätte Maralyns Berührung diese heftige Reaktion ausgelöst. Der Lärm war ohrenbetäubend. Bücher stürzten aus den Regalen. Besteck flog durch die Gegend.

Für Maurice und Maralyn war ihr Boot sozusagen ihr Kind. Das Geräusch zerberstenden und zersplitternden Holzes klang in ihren Ohren wie die Schmerzensschreie eines Kleinkinds.

Oben an Deck erblickten sie einen riesigen Wal, der direkt neben ihnen im Meer schwamm. Wasser floss an seinen dunklen Flanken hinab, während er sich hektisch drehte und wendete. Es wirkte so, als wollte der Wal aus den Wellen emporklettern; er bäumte sich auf und krachte dann wieder zusammen, einem Meteoriten gleich, der ins Meer einschlug. Die drei Meter breite Schwanzflosse schlug wie von einer Furie getrieben auf die Wasserfläche. Blut floss aus seinem Körper ins Meer.

Maralyn verstand nicht, wo der Wal auf einmal hergekommen war. Sie war eben noch an Deck gewesen, hatte auf die Morgendämmerung gewartet und, seit sie Maurice um drei Uhr abgelöst hatte, lediglich ein Fischerboot gesichtet. Man übersieht doch keinen Wal.

Vielleicht ja doch. Er muss, nachdem sie die Leiter hinabgestiegen war, aus der Tiefe nach oben aufgestiegen und genau dort aufgetaucht sein, wo ihr Boot sich befand. Sie konnte den Gedanken, dass sie das Tier in irgendeiner Weise verletzt hatten, nicht ertragen. Es war fast unheimlich, dass der Wal sich in der Unermesslichkeit des Pazifiks gerade diese Stelle ausgesucht hatte, um aufzutauchen.

Doch das war nun unwichtig. Der Wal war hier. Ein Pottwal, wie Maurice an dem riesigen, rechteckigen Schädel festmachen konnte. Mit Walen kannte er sich aus. Er schätzte den Pottwal auf gute zwölf Meter, drei Meter länger als ihr Boot.

Aus derartiger Nähe war das alles schwer zu greifen. Wale beobachtete man am besten aus der Ferne, wie bestimmte Gemälde. Maurice konnte die verschiedenen Teile des Wals erkennen – das Blasloch, den Unterkiefer, die Brustflosse –, aber sie ergaben kein zusammenhängendes Ganzes. Die Kreatur schien unverhältnismäßig, ja geradezu unnatürlich groß. Ein kräftiger Schlag mit der Schwanzflosse – und ihr Boot würde in zwei Teile gespalten werden. Ein wahres Monstrum, dachte er, zumindest im Vergleich zu ihnen.

Der Wal wand sich noch immer an der Wasseroberfläche, so als wollte er etwas abschütteln oder seinem eigenen Körper entkommen. Er lag im Sterben, wurde Maurice auf einmal klar. Er befand sich im Todeskampf.

Plötzlich war der Wal verschwunden, von den dunklen Tiefen des Ozeans verschluckt. Wahrscheinlich würde er dort unten sterben, Blut würde ins Wasser fließen und die anderen Meeresbewohner auf ihn aufmerksam machen. Weiße Haie und Blauhaie würden kommen, seinen Körper zerreißen und den Blubber verzehren. Maurice und Maralyn starrten auf die Stelle, wo der Wal verschwunden war, während die Blutspuren im Wasser verblassten.

Auf das tosende Spektakel folgte absolute Stille.

Moment mal. Das Krachen. Da war ja nicht nur der Wal gewesen. Unten in der Kabine strömte bereits Wasser durch die Bodendielen. Wie viel Zeit hatten sie verschwendet, als sie oben an Deck den Wal angestarrt hatten? Maralyn nahm die Lenzpumpe in Betrieb, während Maurice im Wasser planschend nach dem Leck suchte. Da war es: ein Loch unterhalb der Wasserlinie nahe der Kombüse, fast einen halben Meter lang und 30 Zentimeter breit, so groß wie eine Aktentasche.

Maurice schrie. »Schnapp das zusätzliche Vorschot und befestige es an der Ecke des Focksegels. Lass es runter zum Bug, zieh es über das Loch und mach beide Enden fest, um es zu sichern.« Der Wasserdruck sollte das Segel in das Loch drücken und es schließen. Maurice richtete die Segel so aus, dass die Yacht mit zwei oder drei Knoten weiterfuhr, und eilte dann unter Deck. Maralyn pumpte weiter, in der Hoffnung, der Wasserspiegel würde nun sinken. Aber das Segel dichtete das Loch nicht ab, und der Pegel stieg weiter an. Sie mussten das Leck irgendwie von innen stopfen. Maralyn suchte Kleidungsstücke, Kissen und Decken zusammen und drückte sie in die Öffnung. Auch das funktionierte nicht. Vielleicht hatten sie ja ein zweites Loch übersehen? Ein versteckter Schaden, sodass weiterhin Wasser ins Bootsinnere strömte? Nun war es zu spät, um dem nachzugehen. Das Wasser stand ihnen bis zu den Knien, die Schränke sprangen auf und die Vorräte fielen heraus. Eier und Konservendosen dümpelten um sie herum.

Sie sahen einander an.

Maurice holte die Rettungsinsel und das Beiboot, dann schnappte er sich so viele Frischwasserkanister, wie er noch finden konnte. Maralyn watete durch die Kombüse und stopfte ihre Habseligkeiten in zwei Segelsäcke. Zwei Plastikbecher, einen Eimer, ihren Erste-Hilfe-Koffer, Pässe, eine Kamera, eine Fackel, ihre Öljacken, ihr Tagebuch, zwei Bücher, zwei Wörterbücher und Maurices Navigationshilfen: den Nautical Almanac und die Sight Reduction Tables for Marine Navigation*, seine Karte, seinen Sextanten, seinen Kompass sowie sein Logbuch.

Sie gingen zügig vor und sagten kein Wort, blieben erstaunlich ruhig, während das Wasser immer weiter anstieg. Es war kein Leichtes, seine Habseligkeiten zusammenzusuchen in einem Boot, das im Begriff war, vom Meer verschlungen zu werden. In zehn Minuten hatten sie beisammen, was sie noch erreichen konnten. Dann kletterten sie von ihrer Yacht ins Schlauchboot.

Um sie herum bewegte sich der Pazifik sanft. Maralyn sah, wie die Kissen, die sie in stundenlanger Arbeit bestickt hatte, davontrieben. Ihr Segelboot lag tief im Wasser und sank immer tiefer.

Maralyn griff nach ihrer Kamera und machte ein Bild von Maurice, der mit nacktem Oberkörper vor ihr saß. Er drehte sich zu ihr um, auf seinem Rücken zeichneten sich die Muskeln im grellen Sonnenlicht ab, und er strahlte keine Angst aus, noch nicht, sondern Fassungslosigkeit, so als hätte er noch nicht vollkommen verstanden, was gerade geschah, den Anblick ihres kenternden und anschließend sinkenden Bootes inmitten des Ozeans noch nicht verarbeitet.

Ihre Yacht sank elegant hinab. Der breite Rumpf, das Deck, die Plicht, die Segel und Leinen – alles wurde lautlos vom Meer verschluckt. Maralyn drückte auf den Auslöser, als das letzte Dreieck des Segels und die Mastspitze in den Wellen verschwanden. Derart auf Fotopapier gebannt, sah es so aus, als würde der Mast aus dem Wasser auftauchen, wie ein dünner Arm, der auf Rettung hofft.

* Nautische Tafeln für die Positionsbestimmung bei der astronomischen Navigation.

2

1962 arbeitete Maurice Bailey als Setzer für Bemrose Printers in Derby, eine angesehene, alte Druckerei, die in ihrer Glanzzeit die großen Zugfahrpläne druckte, die an den Bahnhöfen in ganz England hingen. Maurice setzte Textblöcke gespiegelt auf die Tafel, ein Beruf, der viel Übung verlangte, einen genauen Blick und die Fähigkeit, Spiegelschrift zu lesen.

Abends kehrte er in seine vollgestopfte Wohnung in der Rose Hill Street zurück, einer schmalen Gasse mit niedrigen Backsteinhäusern nahe dem Stadtzentrum. Auf halber Höhe der Straße erinnerte ein großes Herrenhaus mit erbsengrünen Toren und rechteckigen Schornsteinen, welches das Derby Arboretum überragte, daran, wie eine andere Klasse der Einwohner Derbys einst gelebt hatte. Es handelte sich um eine Schenkung von Joseph Strutt an die Stadt, einem Fabrikbesitzer des 19. Jahrhunderts, der damit den Arbeitern aus der Gegend, die ihm zu einem beträchtlichen Vermögen verholfen hatten, danken wollte.

Wie in weiten Teilen Englands herrschte damals auch in Derby ein regelrechtes Baufieber. Siedlungen mit Sozialwohnungen und Vororte dehnten die Stadtränder aus. Zahlreiche Ringstraßen und Kreisverkehre entstanden rund um das alte Stadtzentrum aus den Tudor-Zeiten.

Maurice mochte Derby nicht wirklich. Er bezeichnete es als Kaff, einen Ort, wo nichts los war. In seinen Augen waren die Leute dort weltfremd, verurteilten alles, was ihre eigene Existenz zu bedrohen schien. In einem Brief schilderte er einem Freund, wie Familien, die aus der Karibik in sein Viertel gezogen waren, sich mit »brutalem Rassismus« konfrontiert sahen. Sooft es ging, flüchtete Maurice und fuhr hinauf in den Peak District, wo er klettern ging oder Leichtflugzeuge flog. Zudem spielte er Tennis und besuchte regelmäßig ein Fitnessstudio in der Gegend, wo er Gewichte stemmte, um sein Tennisspiel zu optimieren. Und er segelte.

Maurices Hobbys waren nicht nur ein Zeitvertreib. Vielmehr gaben sie ihm das Gefühl von Freiheit, das Gefühl, ein Leben jenseits der Grenzen seiner eigenen Existenz zu haben. Neben der Arbeit hatte er eigentlich nichts. Jahrelang war er allein gewesen, er gehörte zu jenem Schlag Menschen, die stur darauf beharren, sie könnten sich nicht vorstellen, ihr Leben mit jemandem zu teilen. »Eine Art abgewandtes Junggesellendasein«, wie er es nannte. Seine Familie, die nur wenige Kilometer entfernt in einem Reihenendhaus in Spondon, einem ruhigen Dorf östlich von Derby, wohnte, besuchte er nie.

Maurices Vater hieß Charles, aber alle nannten ihn Jack. Wenn er nicht in dem nahe gelegenen Rolls-Royce-Werk arbeitete, gärtnerte er, pflanzte Gemüse an und ging am Wochenende Kirchenglocken läuten. Maurices Mutter, Annie, hatte früher in einem Herrenhaus in Spondon gedient und ihre Tätigkeit aufgegeben, um die vier Kinder großzuziehen, die sie innerhalb von anderthalb Jahrzehnten bekommen hatte: Reg, der Älteste, dann Maurice, Joan und zum Schluss Bob. Die Geburtsjahre der Kinder rahmten den Zweiten Weltkrieg ein: Maurice wurde 1933 geboren, Bob 1947, in einer vollkommen anderen Welt.

Vier Kinder von denselben Eltern erhalten nicht die gleiche Fürsorge. Maurice hatte Pech. Er stotterte, hatte einen krummen Rücken und erkrankte an Tuberkulose, bevor es ein wirksames Medikament dagegen gab. Annie pflegte zu sagen, dass ihr rotes Haar über Nacht weiß wurde. Maurice musste monatelang das Bett hüten, war allein in seinem Zimmer. So eine Erfahrung vergisst man nicht, die Einsamkeit brennt sich ein, und zwar tief.

Maurice wurde zu einem Problem, das es zu beheben galt. In der Schule hatte er so viel verpasst, dass er Wochen brauchte, um alles aufzuholen. Später erzählte er Freunden, dass Annie ihn zwang, das Wörterbuch abzuschreiben, wobei sie mit gezücktem Lineal über ihn gebeugt stand und ihm auf die Finger schlug, sobald er einen Fehler machte. Damals war es nicht ungewöhnlich, wenn Eltern ihre Kinder nicht küssten oder umarmten, doch das hieß nicht, dass dieser Mangel an Zuneigung leichter zu ertragen gewesen wäre.

Das stille Zimmer, das Stottern, das Lineal – all diese Erfahrungen hatten ihre Spuren hinterlassen. Als Jugendlicher war Maurice sich selbst zuwider. Er schämte sich für sein Aussehen und sein Wesen. In Gesellschaft fühlte er sich unwohl, war gehemmt und schüchtern. Auf dem Schulfoto von Spondon House überragt der vierzehnjährige Gymnasiast beinahe alle seine Mitschüler um einen Kopf. Mit müdem, ernstem Blick wirkt er im Vergleich zu den anderen dünnbeinigen, strahlenden Jungen und Mädchen wie ein erschöpfter Vierzigjähriger.

Er wollte einfach nur ausbrechen. Sein erster Versuch war die intellektuelle Flucht. Annie war in einem streng christlichen Haushalt aufgewachsen, hatte das alles runtergeschluckt, wie sie es ausdrückte. Obwohl sie selbst nicht mehr zur Kirche ging, zwang sie ihre Kinder dazu, nur für den Notfall, als eine Art Absicherung. Religion hatte mehr mit Benehmen als mit Glauben zu tun. Sonntagsschule und Bibellektüre – das gehörte sich so und machte einen guten Menschen aus.

Maurice rebellierte dagegen und entdeckte die Wissenschaft für sich. Er las über die Entstehung des Universums, über natürliche Selektion und entschied, dass die Evolutionstheorie mehr Sinn ergab als die christliche Glaubenslehre. Er äußerte seine Zweifel, seine Eltern wiesen sie zurück. In ihren Augen versuchte er lediglich, die moralischen Grundsätze auszuhebeln.

Deshalb ging Maurice fort. Zwei Jahre Wehrdienst in Ägypten, und er war Sergeant. Anschließend ging es zurück in die Heimat, dort stand die Abendschule an. Das Wohnzimmer betrat er nur zum Essen. Ansonsten hielt er sich von seiner Familie weitgehend fern. Er besaß einen Morris Minor, mit dem er gut wegfahren konnte, und häufig nahm er seinen kleinen Bruder Bob mit in den Peak District, um dort zu wandern. Sie kletterten auf den Kinder Scout. Maurice zog Bob immer wieder auf, was Bob hasste, doch das war nun einmal der natürliche Lauf der Dinge, Familien gaben ihren Schmerz weiter wie eine Erbschaft.

Als Maurice eine Arbeit und eine eigene Wohnung in Derby gefunden hatte, brach er endgültig mit seiner Familie. In Bobs Augen wollte er neu beginnen, so tun, als hätte es seine Kindheit niemals gegeben. Von da an sahen die Familienmitglieder Maurice kaum mehr. Er sprach nie von ihnen. Jahre später erschien er zur Einäscherung seines Vaters. Zu der Beerdigung seiner Mutter ging er gar nicht erst.

Einmal im Monat fand in Derby ein kleines Autorennen statt. Mike, ein Bekannter von Maurice aus dem Fitnessclub, fragte ihn, ob er an seiner Stelle teilnehmen würde. Mike fuhr das Rennen normalerweise mit einer Kollegin aus dem Finanzamt von Derby, aber er hatte diese Woche keine Zeit, und sie wollte einen Mitfahrer.

Maurice bekam Panik. Neue Bekanntschaften machten ihn nervös, und er kannte sich mit Autos überhaupt nicht aus. Im Allgemeinen machte er gern Dinge, die er vorher schon einmal ausprobiert hatte. Somit war das Ganze eine Situation, die er, weil er eben nun mal so war, wie er war, wohl schon von vornherein ruinieren würde.

Mike beruhigte ihn. Das wird schon klappen, sagte er, denn er kannte Maurice nicht besonders gut.

An einem Sonntagmorgen wartete Maurice also an dem vereinbarten Ort, auf dem Markplatz im Zentrum von Derby. Der alte Glockenturm ragte in den Himmel, und die Glocken läuteten zur vollen Stunde. Autos fuhren vorbei, manche wurden langsamer. Erleichtert atmete Maurice auf, wenn sie weiterfuhren. Vielleicht kam sie ja gar nicht. Auf einmal hielt ein Auto vor ihm an, ein großer Vauxhall Cresta mit einer dunkelhaarigen Frau am Steuer. Sie trug Jeans, einen blauen Pullover und lächelte ihn an. Maralyn.

Was war es? Die lässige Art, wie sie sich über den Sitz lehnte, um ihm die Beifahrertür zu öffnen. Ihr ungekünsteltes Lächeln. Ihr energischer Fahrstil zum Start des Rennens. Sie schien instinktiv zu wissen, wie man Dinge tat, eine Wesensart, die Maurices Auffassung darüber, wie Menschen – oder zumindest er selbst – sind, widersprach. Sie konnte reden, einfach reden, selbst wenn sie Auto fuhr. Und der Cresta hatte es in sich. Ein Wohnzimmer mit Teppichboden und vier Türen, Sitzbänken und serienmäßiger Heizung, im Design dem amerikanischen Buick nachempfunden, mit Heckflossen und Weißwandreifen. Eine unglaubliche Chuzpe! Der Morris Minor wirkte dagegen provinziell.

Maurice scheiterte auf ganzer Linie. Wenn man schon im Vorhinein glaubt, man sei eine Katastrophe, dann wird sich das auch bewahrheiten. Alles, was er sagte, war falsch. Er sollte Maralyn den Weg weisen, während sie steuerte, doch er verwechselte links und rechts. Als er versuchte, seine Fehler zu korrigieren, machte er alles nur noch schlimmer. Schließlich bot er nach dem Rennen an, das Benzin zu bezahlen, aber als er in seine Tasche griff, fand er lediglich zehn Schillinge und vier Pennys. Maralyn musste bezahlen.

Warum in aller Welt hatte er nicht genug Geld bei sich? Es schien absurd, aber gewissermaßen auch unausweichlich. Er stand sich selbst im Weg, und alles, was er tat, bestätigte sein jämmerliches Selbstbild. »Das war’s«, schrieb er später. »Meine erste Begegnung mit dieser wunderbaren jungen Frau wird auch meine letzte gewesen sein.«

Eine offizielle Entschuldigung war angebracht. Er schrieb Maralyn einen Brief und schickte ihr den größten Blumenstrauß, den er sich leisten konnte. Ein paar Tage später antwortete sie, zu seiner Überraschung, und bedankte sich. Mike erklärte auf subtiles Nachfragen, dass Maralyn nur eine Kollegin sei, mehr nicht. Maurice schrieb ihr erneut und bat sie, mit ihm auszugehen. Maralyn antwortete, allerdings nicht mit einem Brief, sondern mit einem Anruf auf seiner Arbeit. Wie dreist! Ihn einfach so in der Druckerei anzurufen, als wäre das vollkommen normal und in Ordnung. Maurice musste vorgeben, es handle sich um ein berufliches Gespräch.

An ihrem ersten gemeinsamen Abend lud Maurice Maralyn in ein chinesisches Restaurant ein. Sie tranken Wein und gingen anschließend ins Theater. Maralyn, erst 21 Jahre alt, lebte noch bei ihren Eltern Fred und Ada in deren Haus in Normanton im südlichen Derby und hatte weder das eine noch das andere je getan. Fred und Ada waren eigentlich Maralyns Onkel und Tante und hatten Maralyn adoptiert, nachdem sich Mary, Maralyns leibliche Mutter und Adas Schwester, hatte scheiden lassen. So wurde Maralyn Freds und Adas einziges Kind. Sie wollten sie beschützen, ihre Welt möglichst klein halten. Maurice mochte das Gefühl, ihr neue Dinge zu zeigen.

Später fuhren sie zu dem Haus ihrer Eltern, und sie lud ihn ein, mit hineinzukommen. Stundenlang unterhielten sie sich im Flüsterton, während ihre Eltern schliefen. Sie erzählte ihm die kurze Geschichte ihres Lebens: Parkfields-Cedars-Mädchengymnasium, dann die Ausbildung zur Lehrerin, ein kurzer Arbeitsaufenthalt an einer Privatschule in Shrewsbury, ihre Arbeit im Finanzamt von Derby. Außerhalb ihrer Arbeit drehte sich Maralyns Welt in erster Linie um ihre Eltern: Sie backte gemeinsam mit Ada, hörte zu, wenn Fred in einer Band aus dem Ort Trompete spielte. Maralyns leibliche Mutter Mary heiratete erneut und bekam zwei weitere Kinder, Pat und Brian. Pat und Maralyn standen sich nahe. Häufig besuchte Pat Maralyn am Wochenende: Als Kinder spielten sie im Garten, und als sie älter wurden, hörten sie gemeinsam Musik und Radio Luxemburg. Einige Jahre später versuchte Pat, Maralyn zu überreden, zu Tanzabenden in den Kasernen vor Ort zu gehen, doch Maralyn sagte stets Nein. Sie schien sich nicht für Dinge, die ihre Altersgenossinnen begeisterten, zu interessieren. Es ging dabei nicht um Schüchternheit oder dergleichen, sie hielt sich einfach lieber draußen auf, ging spazieren. Nie trug sie Make-up oder dachte über ihre Kleidung nach. Pat gab ihr Sachen von sich selbst, die sie nicht mehr trug – das waren die einzigen modischen Kleidungsstücke, die Maralyn je besaß.

In den frühen Morgenstunden, als der Himmel noch dunkel und die Straßen menschenleer und still waren, schlichen sie sich hinaus zum Cresta und schliefen auf der breiten Sitzbank miteinander. Eine Sitzbank, wie Maurice später anmerkte, die den Cresta zu einem »exzellenten Balz-Fahrzeug« machte. Als der Himmel sich hellgrau zu färben begann, fuhren sie aus der Stadt hinaus. Auf dem Land hielten sie am Straßenrand an und liefen durch hohes Gras, ihre Füße nass vom Tau.

Maralyn zeigte Maurice, wo man frisch sprießende Pilze fand, und erklärte ihm deren Lebenszyklus, wie das fadenartige Myzel ein Netzwerk im Boden bildet und alles miteinander verbindet, was wächst. Maurice war beeindruckt, was sie alles wusste.

3

Liebe kann, wenn sie funktioniert, ein wahnsinniger Glücksfall sein. Zwei Menschen müssen sich füreinander entscheiden, und das – das ist der unwahrscheinliche Teil – möglichst zur selben Zeit. Warum Maurice sich für Maralyn entschied, lag auf der Hand. »Ich brauchte jemanden wie Maralyn in meinem Leben, der kompensierte, was mir an Zuversicht fehlte«, schrieb er. Sie füllte diese Lücken aus.

Warum Maralyn sich für Maurice entschied, schien zumindest auf den ersten Blick umso erstaunlicher zu sein. Pat war immer der Meinung, Maralyn könnte jeden Mann haben, den sie wollte. Sie war eine so selbstbewusste, attraktive Frau, so unbeschwert aus sich heraus. Maurice war sich sicher, dass sie andere Verehrer hatte. Die Welt stand ihr offen. Maurice hingegen war fast dreißig, und sein Leben war auf seine düstere Wohnung und sein negatives Selbstbild beschränkt. Die Einsamkeit hatte ihn wie einen Panzer eingeschlossen.

Doch auch Maralyn hing fest. Fred und Ada waren sehr traditionsbewusst, was sie taten, musste den Konventionen entsprechen. Fred arbeitete für die Eisenbahn, Ada, die im Dienstleistungsbereich tätig war, hatte bestimmte Ansprüche. Wenn Pat zu Besuch kam, dann verlangte Ada, dass sie und Maralyn im Haus arbeiteten: Erbsen pulen, den Türklopfer aus Messing an der Haustür polieren, die Eingangstreppe schrubben. Wenn es kühler wurde, tauschten sie die Sommervorhänge gegen Wintervorhänge aus. Maralyn würde erst ausziehen, wenn sie verheiratet war.

Und dann was? Kochen, Kinder, Haushalt: ein Leben als Hausfrau und Mutter. Doch Maralyn war nicht Ada, die immer wiederkehrenden häuslichen Pflichten reichten ihr nicht. Sie ging gern an ihre Grenzen, wie Pat es ausdrückte. Bevor sie Maurice traf, rauchte sie Stuyvesants, die langen mit Spitze. Ihr gefielen große, auffällige Autos, sie fuhr mit ihrem Cresta am Wochenende gern Autorennen und hatte kein Problem damit, einen Mann, der ihr gefiel, in seinem Büro anzurufen. Sie legte keinen Wert darauf, sich so zu benehmen, wie man es von ihr erwartete. Jenseits der Grenzen ihres Elternhauses und des Finanzamtes von Derby spürte sie die Möglichkeit eines anderen Lebens. Und nun gab es da jenen Mann, neun Jahre älter als sie, der dieses Leben anscheinend schon lebte, der segelte und auf Gipfel kletterte. Der sogar Flugzeuge flog.

Sobald er Zeit hatte, nahm Maurice Maralyn mit in die Berge. Er wollte, dass sie Klettern und Fliegen ausprobierte, dass sie das mochte, was er mochte, aber es handelte sich dabei auch um eine Art Prüfung. Würde sie den Aufstieg schaffen, würde es ihr so sehr gefallen wie ihm? Ihr Dinge zu zeigen, in denen er gut war, erfüllte ihn mit Zufriedenheit.

Maralyn traute sich nicht zu fliegen, aber sie entpuppte sich als robuste Wanderin, die schlechtes Wetter nicht scheute. Maurice nahm sie mit in den Lake District, wo sie mitten in einem Feld kampierten. Es war Ostern, aber noch so kalt, dass es schneite. Er machte sich Sorgen, sie würde einen Rückzieher machen, aber sie beschwerte sich kein einziges Mal und verlangte auch nicht, dass sie zusammenpackten und nach Hause fuhren. Nach einem Tag Wandern kehrten sie halb erfroren in ihr Zelt zurück. Maralyn erklärte, sie würden das Erstbeste nehmen, was ihre Vorräte zu bieten hatten, und wärmte einen Topf Pudding auf dem Primus-Campingkocher auf. Sie fragte Maurice nicht einmal, was er wollte – sie schien es schon zu wissen.

Jene Unbekümmertheit legte sie auch bei Gipfelbesteigungen an den Tag. An einem heißen Tag wählte Maurice absichtlich einen schweren Pfad hinauf auf den Yr Wyddfa (Snowdon), und Maralyn zog einfach ihr Oberteil aus und marschierte im Büstenhalter weiter, so als scherte sie sich nicht darum, ob jemand sie derart entblößt sah. Als sie den Ben Nevis bestiegen, weigerte sie sich aufzugeben, obwohl Nebel und Wind sie behinderten. Händchen haltend eilten sie zurück, flüchteten vor dem Sturm und mussten ohne eine Minute Schlaf die ganze Nacht lang die Stangen ihres Zeltes festhalten, damit es nicht wegwehte.

In ihrem ersten gemeinsamen Jahr stellte auch Maralyn Maurice auf die Probe: eine Woche Ferien mit ihren Eltern in Cumbria. Maralyn fuhr sie in dem Cresta von Derby aus hoch, und auf dem Heimweg schlug sie vor, dass Maurice das Steuer übernahm. Maurice düste mit 160 Stundenkilometern die A1 entlang. Fred und Ada saßen auf der Rückbank und schwiegen, was Maurice als Missbilligung auffasste. Wenn die Reise dazu hatte dienen sollen, dass er ihren Segen erhielt, dann hatte er dieses Ziel wohl verfehlt. Doch Maralyn machte das nichts aus: Schließlich verbrachte sie ihr Leben lieber an der Seite eines Mannes, der mit 160 Stundenkilometern durch die Landschaft bretterte, als auf der Rückbank mit ihren Eltern.

Von all den neuen Erfahrungen, die Maralyn mit ihm machte, war es Maurice wichtig, dass ihr erster Segeltörn ein Erfolg würde. In jenem Sommer mietete er in den Norfolk Broads für eine Woche eine acht Meter lange Yacht. Maralyn konnte nicht einmal schwimmen, aber das schreckte beide nicht ab. Maurice brachte ihr die Grundlagen des Segelns bei, und nach ein paar Tagen befand er sie für gut genug, um die Ruderpinne allein zu bedienen. Alles lief glatt, bis sie mit voller Geschwindigkeit das Flussufer rammten. Maurice gab sich die Schuld, weil er – so drückte er es aus – ihren »Anfängerstatus« vergessen hatte. Einen Nachmittag lang gruben sie mit Gabeln und Messern im Sand, um das Boot wieder freizubekommen, und wurden dabei von Seglern und Passanten verspottet.

Maurice wusste, er wollte sie heiraten. Keine Frage. Lange Zeit war er der Überzeugung, ein ewiger Junggeselle zu bleiben. Maralyn hatte ihm eine Tür geöffnet. Doch es gab ein Problem: Er würde sie fragen müssen. Maurice dachte, sie würde Nein sagen, da er annahm, er sei der Letzte in einer langen Schlange von Männern und mit Sicherheit nicht die beste Partie unter ihnen. »In meinem Leben gelang es mir nur äußerst selten, all meinen Mut zusammenzunehmen, um meine erdrückenden sozialen Hemmungen zu überwinden – und das auch nur zögerlich und zaghaft«, schrieb er. Maurice musste sich etwas immer erst mühevoll erarbeiten, bevor er es tatsächlich tun konnte. Doch schließlich fragte er Maralyn – und sie sagte Ja. Nicht bloß Ja, sondern ein klares Ja voller Überzeugung, so als hätte sie nie daran gezweifelt.

Maralyns Zusage war allerdings Anlass zu neuen Sorgen. Was bedeutete eine Heirat? Veränderung, ohne Zweifel. Womöglich unterschiedliche Erwartungen, sich an einen anderen Menschen und dessen Vorstellungen von Lebensführung anzupassen. Maurice hatte ein Jahrzehnt lang in seinem eigenen, speziellen Rhythmus gelebt. Ihm missfiel die Vorstellung, sich auf jemand anderen einzustellen.

Bestimmte Dinge würde er schlichtweg nicht tolerieren. Er wollte keine religiöse Trauung oder seine Hobbys aufgeben. Doch vor allem wollte er keine Kinder; seine genetische Linie sollte mit ihm enden, dessen war er sich sicher, so als wollte er einen Fehler nicht immer weiter fortschreiben.

1962 war das eine seltene und kontroverse Haltung. Großbritannien war noch stark vom Krieg geprägt. Erst acht Jahre zuvor war die Rationierung aufgehoben worden. Junge Paare strebten, so die allgemeine Annahme, nach Sicherheit und Wohlstand, wünschten sich eine Handvoll fröhliche Kinder und ein anständiges Zuhause.

»Es ist nicht so, dass ich Kinder nicht mag«, erklärte Maurice, wenn ihn Leute danach fragten. Doch in Wahrheit mochte er sie tatsächlich nicht besonders. In seinen Augen waren kleine Kinder laut und ichbezogen, Jugendliche überheblich und vermessen. In ihrer Gegenwart fühlte er sich unwohl. Sein Leben war schwer genug gewesen, als er selbst ein Kind war; deshalb hatte er sich so schnell wie möglich aus diesem Zustand befreit. Warum sollte er das jemand anderem zumuten? Maurice erklärte, er sei aus demselben Grund kein Vater, aus dem er kein Atomphysiker oder Astronaut war: »Ich versuche nicht, Dinge zu machen, in denen ich nicht gut bin.«

Zu Maurices Freude war Maralyn mit allem einverstanden. Auch ihr lag nichts an einer kirchlichen Trauung. Und was seine Hobbys anbelangte, wollte sie all diesen – bis auf das Fliegen – ebenfalls nachgehen. Die Ausflüge in die Berge oder aufs Wasser hatten in ihr etwas wachgerüttelt. Sie hatte Abenteuer gekostet und genossen, hatte gesehen, was die Welt ihr bieten konnte.

Und wie durch ein Wunder wollte auch Maralyn keine Kinder. Die beiden wussten, dass die Leute oft annahmen, es läge an körperlichen Problemen, und die scheinbar Betroffenen schämten sich womöglich zu sehr, um sich behandeln zu lassen, oder sie hielten sie für egoistisch. Doch Maurice, bestärkt durch Maralyn, kümmerte sich nicht länger darum, was andere von ihm dachten. Den Fragen von neuen Bekannten oder Menschen, die mit der Vorstellung, dass Kinderlosigkeit eine bewusste Entscheidung war, nicht umgehen konnten, begegnete Maralyn mit dem scherzhaften Spruch: »Maurice ist schon ohne Kinder anstrengend genug.«

Am 21. Dezember 1963 ließen sie sich trauen. Die Vermählung fand im Standesamt nahe dem Marktplatz von Derby statt, wo Maralyn in ihrem Cresta ihren ersten Auftritt hatte. Es war keine große Zeremonie, lediglich ein paar Gäste waren anwesend: Fred, Ada und Mary. Niemand aus Maurices Familie war eingeladen. Maralyn trug kein besonderes Kleid, sondern erschien in ihrer üblichen Garderobe.

Nach der Trauung aßen sie in ihrem neu erworbenen Zuhause, einem Bungalow in Allestree, einem Vorort von Derby, Sandwiches. Pat kam mit, blieb jedoch nicht lange. Maurice gab den Gästen eindeutig zu verstehen, dass sie woanders hingehen müssten, wenn sie einen Drink wünschten. So war er häufig in Maralyns Gegenwart: Er wehrte andere ab. Pat hatte immer das Gefühl, er wolle Maralyn für sich allein haben.

Sie hatten den Bungalow einige Monate vor seiner Fertigstellung mithilfe eines Kredits von der Derbyshire Building Society gekauft. Er stand in einer Reihe identischer kleiner Bungalows aus rotem Backstein mit zwei großen Fenstern links und rechts der Haustür – einem mundlosen Gesicht gleich.

Ein Musterhaus, perfekt für ein frisch vermähltes Paar. Allestree hatte alles zu bieten, was anständige, familienorientierte Menschen sich wünschten: eine Kirche, eine Schule und einen Cricketclub. Die vielen Sackgassen waren nach Bäumen benannt (Esche, Eiche, Dornbusch, Lärche), die Vorgärten mit niedrigen Mauern umrandet, und es gab für fast alle Bewohner eine eigene Garage.

Vier Wochen vor der Hochzeit hatte Maralyn angefangen, Dinge beiseitezulegen, Geschirr und Besteck, alles in einem großen Behältnis in ihrem Schlafzimmer, so wie Ada es vor ihrer eigenen Hochzeit getan hatte. Jetzt konnten sie alles auspacken, den Dingen ihren Platz zuweisen. Dinge, die sie nie zuvor besessen hatten, machten ihr Leben leichter: Zentralheizung, Telefon, Waschmaschine. Zudem hatten sie sich während mehrerer Ausflüge nach Nottingham neue Möbel und Teppiche ausgesucht. Sie pflegten ihren Garten und legten ein Sparkonto für ein eigenes Boot an, auf das sie jeden Monat einen Teil von Maurices Gehalt einzahlten. Zwar blieb wegen des Kredits, den sie für das Haus aufgenommen hatten, kaum etwas von ihren beiden Gehältern übrig, aber es war besser als nichts.

Vielleicht war es nur ein Gefühl, ein leises Summen. Oder es lag daran, dass in Allestree eine ganz bestimmte Art Ruhe die Luft stickig machte und sich das Leben dort hinter fest verschlossenen Türen abspielte, dort, wo Sicherheit nicht nur erwünscht war, sondern man ihr auch gar nicht entrinnen konnte. Der befreiende Aufbruch der späten 60er-Jahre stand ja erst noch bevor. Ganz gleich, was die Ursache war, als die Jahre vergingen – jedenfalls überkam Maurice und Maralyn eine gewisse Rastlosigkeit.

Maurice empfand Derby noch immer als lähmend. Ihr Zuhause mit all den neuen Geräten war ein Paradebeispiel für »vorstädtischen heimischen Stress«, schrieb er. Seine Arbeit, so sicher sie auch war, fühlte sich an wie die »mechanische Sklaverei einer Festanstellung«. Die Knappheit der Nachkriegszeit prägte ihre Gewohnheiten. Sie waren sparsam, bauten ihr eigenes Gemüse an, warfen nichts weg, was man noch irgendwie verwenden konnte. Ja, sie hatten eine Waschmaschine, aber das reichte nicht. »Wir wussten«, schrieb Maurice zu einem späteren Zeitpunkt, »mit derselben Sicherheit, mit der Newton seine Gravitationstheorie vertrat, dass unser komfortables, obschon mondänes Leben uns nicht ewig zufriedenstellen würde.«

An einem regnerischen Abend im November 1966 starrte Maralyn auf die dicken Tropfen, die an der Fensterscheibe hinunterflossen. Draußen war es nass und kalt und dunkel, die Nachbarn waren drinnen in ihren Häusern, die Vorhänge zugezogen.

»Angenommen«, wandte Maralyn sich an Maurice, »wir würden unser Haus verkaufen, eine Yacht kaufen und dort leben?«

Das klang absurd. Warum sollten sie das Haus verkaufen, was sie sich gerade so hatten leisten können? Zugegebenermaßen war das die einzige Möglichkeit für sie, jemals ein eigenes Boot zu besitzen. Die Preise für Yachten stiegen schneller als die Löhne, und sie hatten bis dahin nur sehr wenig sparen können. Doch sie gehörten nicht zu jenen überstürzt handelnden Menschen, die ihr Haus einfach so verkauften. Zumindest nicht Maurice. Zwar hatte er das Gefühl, alles Häusliche und die Arbeit würden ihn erdrücken, aber so war das Leben eben. Sie hatten erreicht, was sie erreichen wollten. Sie hatten Sicherheit und ein eigenes Stück Land. Sie hatten sich jene Stabilität hart erkämpft, und das setzte man nicht leichtfertig aufs Spiel. Schon gar nicht verkaufte man es.