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Max Frisch ist der meistgelesene Schriftsteller der Schweiz, in Deutschland verkaufen sich seine Bücher in Millionenauflage. Die bisher gründlichste und fundierteste Darstellung seines Lebens erzählt anschaulich von den entscheidenden Stationen auf dem Weg zum Weltautor: von seiner Geburt 1911 bis zum ersten großen Erfolg mit »Stiller« 1954. Beide Weltkriege suchen ihn heim, auch wenn seine Heimat verschont bleibt. Der erste Krieg trübt seine Kindheit, der zweite zertrümmert sein schriftstellerisches Selbstverständnis. Er sucht die Realitäten, solange sie noch »glühende Objekte« sind, die Ruinen des Weltkrieges ebenso wie die Liebe. Julian Schütt zeigt Max Frisch als einen Schriftsteller und Menschen, der immer wieder neu anfängt, sein altes Leben abstreift, Glück empfindet, wenn er sich fremd ist.
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Seitenzahl: 850
Veröffentlichungsjahr: 2025
Julian Schütt
Max Frisch Biographie eines Aufstiegs
1911-1954
Suhrkamp Verlag
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4397.
© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2011
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Umschlaggestaltung: Göllner, Michels, Zegarzewski
Umschlagfoto: Max Frisch-Archiv, Zürich
eISBN 978-3-518-78333-7
www.suhrkamp.de
Für Johanna und Jossi
Man sagt, was nicht das Leben ist. Man sagt es um des Lebens willen.
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Prolog
I Die Jahre bis zum Anfang
Der Vaterbezirk
Auf der Mutterseite
Das dunkle Kinderzimmer
Schule und erstes Theater
Schattenrösten
II Die Jahre 1932-1935
Man will werden
Wachsein, Fremdsein
Die Politik holte ihn ein
Erneuerungen
Reinheit
Die Gewalt der Liebe und der Untreue
Weder für noch gegen Deutschland
III Die Jahre 1935-1939
An die Dinge heran
Ein weltgerechter Beruf
Bleibt in der Liebe nur die Flucht?
Das Taubenhaus
IV Die Jahre 1939-1945
Der Brotsack-Frisch
Das feldgraue Jahr
Kriegsfriedenzeit
Verliebt in die Ehe
Die Schwierigen
Gefesselter Betrachter
Die andere Welt
Ein Wust von Selbsttäuschungen
V Die Jahre 1945-1949
Unser Leben mit den andern (1)
In den Ruinen blüht er auf
Unser Leben mit den andern (2)
Lautlos webt sich der Vorhang
Wieder ganz von vorne anfangen
VI Die Jahre 1950-1954
Man ist sehr rasch ein Emigrant
Investment in a Man
In Amerika
Warum muss alles intim sein?
Stiller oder Frischs Wege der Freiheit
Abbildungen
Epilog
Dank
Zitierweise und Abkürzungen
Anmerkungen
Prolog
I. Die Jahre bis zum Anfang
II. Die Jahre 1932-1935
III. Die Jahre 1935-1939
IV. Die Jahre 1939-1945
V. Die Jahre 1945-1949
VI. Die Jahre 1950-1954
Literaturverzeichnis
Veröffentlichungen Max Frischs
Weitere Primärtexte (nicht in den Gesammelten Werken enthalten)
Briefe
Artikel, Essays, Vorträge, Verse (1931-1954)
Gesendete Hörspiele/Rundfunkarbeiten (bis 1954)
Gespräche/Interviews mit Max Frisch (Auswahl)
Veröffentlichungen über Max Frisch
Weitere Literatur
Bildnachweise
Namenverzeichnis
Werkverzeichnis
Informationen zum Buch
Noch in den liebevollsten Erinnerungen seiner Freunde hat er plötzlich ein Messer in der Hand. Sie berichten, im Leben wie in der Literatur sei Max Frisch ein Meister des scharfen Schnitts gewesen. Und Peter Bichsel schildert im Gespräch, wie Frisch eine vertraute Tischrunde unterhalten konnte mit den allerbösesten Bemerkungen auch über sich selbst; einer, der sich »geistige Messer« in die Brust stieß. Bichsel fährt fort, man habe gewusst: Jetzt Distanz wahren. Nichts sagen. Nur nicht lachen. Denn es sei der Punkt erreicht gewesen, wo Frisch die Schmerzen verspürte, die er sich zugefügt hatte. Er meinte, die andern hätten gestochen. Und ging auf sie los.
Niemand kann sich bei Frisch zu wohl fühlen, nicht die Freunde, erst recht nicht die Feinde. Er spaltet weiterhin. Erst wenn ihm seine treu ergebene Feindesgemeinde abhandenkäme, wäre dies ein Signal, dass die Messer stumpf sind und er nun zu einem Klassiker der »durchschlagenden Wirkungslosigkeit« geworden ist, wie er das einst bei Brecht befürchtete. Er hat alles unternommen, damit man Unliebsames in seinen Texten nicht übergehen kann. Was er in den Romanen, Tagebüchern, Erzählungen, Stücken, Essays, Reden verarbeitet, ist von den Lebenden genommen, zuallererst von sich selbst, und so geschrieben, dass man es wiederum persönlich nehmen muss. Diese Nähe ist nicht jedes Lesers Sache. Seine Literatur wirft die Leser auf sich zurück, so dass die unbequemen Inhalte die ihren werden. Deshalb wird es einem bei Frisch nie zu wohl. Er fordert einen in einer Weise heraus, die Literatur erst zu etwas Lebendigem macht. Andererseits setzt die Selbstpreisgabe Leser voraus, die erkennen, dass da einer exemplarisch ausdrückt, was sie selber angeht. Kritikern, die dazu nicht bereit, nicht in der Lage waren, spielte er mit seinen Selbstbezichtigungen gleich die Argumente in die Hand – und das ist wohl die rationalste Erklärung, warum sich bis heute das Klischee hält, Frisch sei verbissen, humorlos, ungnädig, ein Autor des Leidens eben.
Frisch, reduced to the max, war weniger Erfinder als Entdecker. »Es gibt Visionäre, aber wenige«, sagte er (nicht zuletzt in respektvoller Anspielung auf Dürrenmatt), »die meisten von uns müssen arbeiten, müssen sich von der Anschauung belehren lassen, reizen lassen.« Er wollte das Zeitgeschehen nicht geschehen lassen, sich vielmehr wichtigen Schauplätzen und allen erdenklichen gesellschaftlichen Biotopen aussetzen. Bis zuletzt trieb ihn die Frage: Wie bleibt man lebendig? Er flieht alles Tote und Versteinerte wie ein Allergiker Staub und Pollen. Durch seine Biographie und sein Werk zieht sich der Wunsch, immer wieder neu anzufangen, altes Leben abzustreifen, sich zu häuten, ein unbekanntes Ich zu sein. Als lebendiges Wesen erfährt er sich in der Fremde, ebenso wie er seine Landsleute erst mit der notwendigen Klarheit und Unerbittlichkeit beschreiben kann, nachdem die Hitlerzeit und damit verbunden die Verbunkerung der Schweiz vorbei sind und er wieder reisen kann. Zum Lebendigen gehört unausweichlich das Fremde.
Wie bleibt man lebendig? Die Frage stellt sich erst recht in einer Welt, in der viele Leute acht Stunden am Computer und bis zu vier Stunden täglich vor dem Fernseher verbringen. In dieser Welt, in der unser Erleben vorgefertigt und konditioniert ist und wir von fremden Bildern und Daten zugeschüttet werden, ist Frischs Frage und sind Frischs Texte aktueller denn je. Sie bringen Erfahrenes und Virtuelles, Grundlegendes und Alltägliches, Politisches und Privates (ohne jedes »Das Politische ist das Private«-Pathos) zusammen, und zwar dermaßen überzeugend, dass er in der gleichen Zeitspanne völlig kontroversen literarischen Lagern zugeordnet wurde: Den einen galt er als Repräsentant einer neuen Subjektivität, den anderen als Vertreter der sogenannten engagierten Literatur. Von allen Klassikern der Moderne wird Frisch am widersprüchlichsten gelesen: Besonders in Deutschland ist er für viele der Autor des Identitätsproblems, der Angst, der Selbstentfremdung, der Liebe und Eifersucht, jedenfalls ein ziemlich unpolitischer Autor, während er in der Schweiz gerne auf den kritischen Zeitgenossen, den Citoyen und Intellektuellen beschränkt wird. Beides gehört bei Frisch aber, wie diese Biographie zeigen will, von Anfang an zusammen. Er hat seine Position im zweiten Tagebuch auf eine nach wie vor gültige Formel gebracht. Die Domäne der Literatur sei alles, was Menschen erleben, auch Politik, aber immer bezogen auf das Wesen, das erlebt.
Wer sich einmal auf Frischs Texte eingelassen hat, für den sind seine Bücher viel mehr als nur eine ansprechende Lektüre. Sie gehören fortan zur eigenen Biographie wie nahestehende Menschen oder prägende Ereignisse. Denn Frischs beste Figuren und Geschichten sind von geradezu erschreckender Vitalität, obwohl oder weil sie etwas Unnahbares haben, was sie im Übrigen mit ihrem Autor teilen. Inbegriff des Unlebendigen wiederum – das soll hier nicht verschwiegen werden – ist für Frisch eine Biographie. Sie konstruiert Linearitäten, die er in Zweifel zog. Das heißt, sie heiligt die Chronologie, die ihm unergiebig schien. Sie klammert sich an die Fakten, der Schriftsteller hielt aber die Fiktionen für viel entscheidender. Sie ist auf Entwicklungen aus, während es ihm um die Verödungen, Wüstenbildungen im Menschen ging. Sie destilliert die Originalität und Unverwechselbarkeit aus dem Leben eines Großen heraus, Frisch jedoch bewies spätestens im Stiller exakt das Gegenteil: wie man in lauter Plagiaten lebt, wie alles abgeschaut, angelesen, aufgesetzt ist, das Ich als Dutzendware. Die Biographie hält sich an rekonstruierbare, vordergründige Ereignisse, Frisch hingegen suchte das Ereignislose, das Durchschnittliche, das Unspektakuläre – das war schon in den Kriegsjahren so, als man erwartete, von den deutschen Truppen angegriffen zu werden, doch nichts geschah, trotzdem war die Angst da. Zum Teil monatelang erlebte Frisch im Grenzdienst nur banalste Alltäglichkeiten und war der Meinung, einzig diese Nebensächlichkeiten seien erzählbar und erzählenswert. Vermeintliche Nebensächlichkeiten gilt es demnach auch in einer Biographie zu berücksichtigen. Selbst aus unauffälligen Ansichtskarten oder frühen Feuilletons lässt sich manches herauslesen.
Die einen Autoren arbeiten ihren Biographen vor, die anderen sichern sich gegen sie ab. Frisch arbeitete den Biographen vor, um sich gegen sie abzusichern. Er hat scheinbar alles über sich gesagt, was es zu sagen gibt, und doch keinen Schlüssel zu seinem Privatleben geliefert. Vielmehr händigt er den Lesern einen Schlüssel zu ihrer eigenen Innenarchitektur aus. Sosehr er sich in den Werken preisgibt, ist er doch ein Meister der Diskretion. Was seine Lebenszeugnisse betrifft, blieb nichts dem Zufall überlassen. Er sichtete sie, ließ sperren oder verschwinden, was bloß intim war statt exemplarisch. Den immer noch imposanten Rest der Papiere übergab er dem eigens gegründeten Archiv. Als Biograph wird man immer wieder gefragt, ob sich noch ein ganz neuer, unbekannter Frisch entdecken lasse. Man kann darauf nur antworten: Es wäre seltsam, wenn sich bei einem Autor, der sich so erbarmungslos selbst befragt hat, noch richtige Leichen im Keller fänden. Manchmal geht er sogar zu streng mit sich um, so dass man ihn vor sich schützen muss. Nicht alles, was er verachtete (zum Beispiel seine frühe Publizistik) oder verdrängte (zum Beispiel den Vater), verdient es, unerwähnt zu bleiben.
Zu Biographen hatte er wie die meisten großen Autoren schon deshalb ein gespanntes Verhältnis, weil er, der so viel Autobiographisches über sich geschrieben hat, sie als Konkurrenz empfinden musste. Bereits während des Krieges, als er sich im isolierten schweizerischen Literaturbetrieb durchsetzte und die eigene Situation reflektierte, begann er biographische Reduktionen aller Art zu verdammen. Ungefähr das »Übelriechendste, was es unter Menschen gibt«, sei jenes »köterhafte Geschnüffel nach der Privatesse, womit man die Dinge, die einer aus dem Persönlichen aufhebt, wieder dahin zurückdrückt, diese ewige Rache der rettungslos Unbegabten!«.1 Die biographische Reduktion, gegen die sich Frisch am meisten wehrte, war der retrospektive Determinismus, die Vorstellung, dass sich alles, was sich in einem Leben ereignet hat, notwendig so und nicht anders ereignen musste, der Ausschluss der Lebensmöglichkeiten, der Fiktion, die doch bei einem Schriftsteller zentral ist. Als etablierter Autor hat Frisch in Biografie: Ein Spiel erprobt, was geschieht, wenn man nochmals die Wahl hat, neu anzufangen. Die vorliegende Biographie zeichnet die Anfänge Max Frischs nach; immer wieder hat er einen Anfang gesucht, um lebendig zu bleiben.
Es gibt Biographien, die Endspiele sind. Sie erzählen von einem rätselhaft kurzen Leben. Der plötzliche Tod einer Berühmtheit ist immer wieder erklärungsbedürftig und legitimiert jeden neuen biographischen Ansatz. Diese Biographie ist dagegen ein Eröffnungsspiel: Zum Werden Frischs, das sie schildert, gehört auch das Hervorgebrachtwerden, the Making of Max Frisch. Es gab ein literarisches Kräftefeld, auf dem er sich behaupten musste – für ihn, der seinen Werdegang selber bestimmen wollte, eine ungeheuerliche Vorstellung, ungeheuerlich schon deshalb, weil er das eigene Ich nie als gefestigt, sondern als flüchtig und immer als gefährdet empfand. Daher die Angst- und Minderwertigkeitsgefühle, daher die Versuche, sich gegen die bedrohlichen Bilder und Prägungen der anderen zu wappnen, daher das unablässige Schreiben in Ich-Form, das Erfinden des Ichs in der Literatur und die Erfindung des Lesers, von der er in Öffentlichkeit als Partner (1958) spricht. Um dieses Werden zu rekonstruieren und zu zeigen, wie Zeitgeschichtliches und Literarisches verbunden sind, scheint mir ein chronologisches Vorgehen trotz Frischs Vorbehalten gerechtfertigt, mehr noch: Seine Biographie besonders in den dreißiger und vierziger Jahren lässt sich nur so ohne falsche Kausalitäten darstellen. Und vergessen wir nicht, dass Frisch selber in seiner autorisierten Werkausgabe ein chronologisches Vorgehen bevorzugte. Ihm war wichtig, bestimmte Entwicklungen nachvollziehbar zu machen. Doch nicht selten reduzierten frühere Biographen und Forscher (durch entsprechende Selbstäußerungen Frischs freilich animiert) diese Entwicklungen dann auf eine simple ideologische Rechnung, und das bei einem Autor, der wie kaum ein Zweiter vor Abstraktion und Ideologie warnte: Der junge Frisch konnte nicht als epigonal, naiv und konservativ genug hingestellt werden, damit der spätere Frisch in umso makelloserem Licht erstrahlte.
Das ist die erste Biographie, die seinen Werdegang umfassend recherchiert, alle zugänglichen Quellen auswertet, darunter zahlreiche unbekannte Briefe, Notate, Dokumente, und auch Gespräche mit Zeitgenossen und Weggefährten einbezieht. Sie arbeitet nicht gegen Frischs Werke, das heißt vereinnahmt sie nicht, um sie zu biographischen Aussagen gerinnen zu lassen, sondern arbeitet mit den Texten. Die Biographie entsteht im Kopf des Lesers, sofern er bereit ist, neben der Lebensdarstellung auch Frischs Bücher zu lesen. Warum aber keine Gesamtbiographie? Erstens: Die Quellenlage ist beim späteren Max Frisch schlicht zu uneinheitlich, wesentliche Konvolute wie der Briefwechsel mit Ingeborg Bachmann oder das Berlin-Journal aus den Jahren 1973-1980 sind noch unter Verschluss, die Biographie würde gerade dort zur Spekulation, wo es wie bei der Beziehung zwischen Bachmann und Frisch darauf ankäme, einem von Spekulationen und Gerüchten kontaminierten Terrain zu mehr Faktennähe zu verhelfen, es damit zu entgiften.2 Zweitens: Diese Biographie eines Aufstiegs hat nicht zum Ziel, Werke und Lebensphasen abschließend zu würdigen; vielmehr folgt sie dem Autor, solange alles noch im Fluss und ungesichert ist, immer wieder am Anfang, wie sich Frisch das wünschte. Drittens: Am Beispiel des jüngeren Max Frisch lässt sich veranschaulichen, wie Widerstand entsteht, zunächst gegen das Ich, das von den allerersten Texten an präsent ist. Angetreten mit dem Anspruch, sein Leben selber zu bestimmen, beginnt Frisch die Einzigartigkeit des Ichs – nicht nur seines Ichs – in Frage zu stellen und in Stiller schließlich radikal zu bezweifeln. Dann auch politischer Widerstand mit literarischen Mitteln: Ganz am Anfang rebelliert Frisch noch gegen alle äußeren Zumutungen, die das Ich »veruneinigen«. Er profitiert vom konservativen, sich aber apolitisch gebenden Kulturbürgertum, ohne jemals ganz dazuzugehören, und wird nach 1945 dessen schärfster Kritiker.
Nein, ich habe Max Frisch nicht mehr persönlich gekannt, und ich bin froh darüber. Ich fürchte, er hätte mir mein Vorhaben ausgeredet, ihm schienen seine Ursprünge, seine Anfangskrämpfe zu unwichtig, als dass man sich damit länger beschäftigen muss. So richtig interessierte ihn seine Biographie erst, als er ernstzunehmende Texte vorzulegen hatte. Aber ich wäre Frisch schon gerne begegnet, dem jüngeren Frisch, der sich nach dem Ende der kriegsbedingten Isolation der Zeit ganz und gar aussetzte, ohne sich ihr als Beobachter und Autor auszuliefern. Es ist spannend zu sehen, wie er damals offen und rückhaltlos lebte und schrieb, Einfall um Einfall hervorbrachte, mit dem Tagebuch 1946-1949 und dem Stiller zwei der faszinierendsten Werke des 20. Jahrhunderts schuf. Später, als er ein erfolgreicher Schriftsteller war, hatte er immer die geistigen Messer in Griffnähe, damit die Distanz gewahrt blieb, Distanz auch zu Teilen seiner Biographie.
auf die welt kommen. Das eigentliche Geburtsdatum lässt sich genau angeben: Es ist der 29. März 1932, gegen halb drei Uhr nachmittags. Vermerkt im amtlichen Todesregister der Stadt Zürich. Um diese Stunde starb der Vater. Franz Bruno Frisch. Er starb dort, wo in den letzten Lebensjahren sein bevorzugtes Zuhause war: auswärts. Der Tod des Vaters und die Geburt des Autors Max Frisch – das gehört zusammen. Zuvor war der Sohn ein Student mit literarischen Ambitionen. Mit einer Schreiblust, die in der Mittelschulzeit begann. Mit einer gemieteten Schreibmaschine auf dem Dachboden, um niemand zu stören. So fing es an, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, wie er in Öffentlichkeit als Partner sagt. Verschiedene Theaterstücke entstanden, alle verschollen. Die Öffentlichkeit erschien ihm vorerst als ein Vater, der ihn zu Hausaufgaben mahnte.1 Darum musste wohl der wirkliche Vater tot sein, ehe Frisch in Erscheinung trat. Von einer Ausstellungsbesprechung abgesehen, publizierte der Zwanzigjährige jedenfalls nichts. Kaum aber war der Vater tot, setzte sich der Sohn, der nun Geld verdienen musste, entschlossen dieser Öffentlichkeit aus.
Eine Todesursache ist in den amtlichen Unterlagen nicht eingetragen. Nach Angaben noch lebender Familienangehöriger ging ein Fehltritt in einem Treppenhaus voraus. Es hält sich außerdem das Gerücht, der mit Geldschulden belastete sechzigjährige Franz Bruno Frisch habe Selbstmord begangen. Aber hätte sein Sohn dann nicht darüber geschrieben? Zudem geht aus dem Todesregister hervor, dass der Vater nicht nur mitten am Nachmittag, sondern auch in einem Haus mitten in der Stadt starb. Der Tod scheint sich angekündigt zu haben. In einem Brief sagt Frischs Mutter, dass »Papa seine Kräfte und seine Gesundheit zu hoch einschätzte«.2 Frisch seinerseits spricht einmal von einem »Hinweis auf das Vorwissen bei meinem Vater«, offen bleibt, ob er oder der Vater dieses Vorwissen hatte.3 Jedenfalls reagierte er auf diesen Tod, als habe er darauf gewartet. Nur Tage später erschienen seine ersten Artikel, und gleich über das Ich, gleich über sein Lebensthema.
Was bin ich? heißt der erste größere Text, ein Schlüsselwerk des jungen Max Frisch. Nicht »Wer bin ich?«. Das mundartliche Was fragt nach der beruflichen Stellung, nach dem Wert auf dem sozialen »Kampffeld« (Frisch). Mittellos, wie die Familie nun war, hatte er von einem Tag auf den andern für sich und seine Mutter zu sorgen, während der acht Jahre ältere Bruder als Chemiker die Schulden abtrug. Frisch schloss mit seinem Leben als Sohn ab, stellte auf Ernährer um. Nicht dass er aufatmete und der Verlust ihn kaltließ, aber ihm setzte besonders die gefährdete Mutter zu, die weder ein noch aus wusste, um ihren Mann trauerte, sich in der Verzweiflung fragte, wovon sie künftig leben und die Miete zahlen sollte, ja, sie fürchtete bereits die Pfändung, obwohl man nichts besaß. Dann das Organisatorische: der Gang auf die Ämter, die Bestattungsbürokratie, das Suchen nach Einnahmequellen. Vor allem das schmerzende Echo des Verlustes: Es starb nicht nur der Vater, es verabschiedete sich fast gleichentags Frischs erster Jugendschwarm, eine siebzehnjährige österreichische Schauspielerin namens Elsa Schebesta. Vom Deutschen Volkstheater Wien gekommen, hatte sie in der Saison 1931/32 am Zürcher Schauspielhaus gespielt. Man unternahm Gebirgswanderungen, flanierte durch Zürich. Viel mehr war da nicht. Doch nach dem Tod des Vaters kondolierte das »Mädelchen« nicht einmal. Stattdessen machte es sich davon.4 Frisch verarbeitete die Bekanntschaft in etlichen Anfangstexten; im Debütroman Jürg Reinhart taucht Else unter ihrem Namen auf.5
Es gibt das aufschlussreiche Feuilleton Ein Mensch geht weg. Darin verlässt ein Du namens Else den Ich-Erzähler. Der hat zwei Stühle vor sich, setzt sich auf den einen, während der andere wie ein Sarg auf ihn wirkt. Das Ich versucht das Du abzuhaken: »Jetzt ist sie weg. Und mit ihr auch ihre Stimme. Und mit ihrer Stimme auch ihr Schweigen. Das habe ich nie gewusst und ich hätte es mir gar nicht vorstellen können, dass sogar ein Schweigen aufhören kann, einfach aufhören kann […].« Ein Schweigen, das stirbt.6
Der Vater war so ein Schweigen. Der Erzähler Frisch hält ihn aber aus der Geschichte heraus, beteuert, vor Else noch keinen Menschen verloren zu haben. Was deutlich macht, wie Autor und Ich-Erzähler einander stets nahe sind und doch nie identisch. Die zeitgleich sich ereignenden Verlustgeschichten kamen wieder hoch, als sich der Todestag des Vaters ein erstes Mal jährte. Da äußert Frisch in einem Briefentwurf an die Mutter (wie immer damals in Kleinschreibung):
denn weißt du, es wird eine der schwersten wochen meines lebens gewesen sein, in der ich meinen papa verlor, meinen bildungsgang und meine erste freundin. dieser samstag nach der grablegung war schwer, mama, denn in der not jener todeswoche habe ich diese else gebraucht, die ich inniger liebte als je einen mitmenschen und an die ich mich klammerte wie an das leben selber; und als sie ein kind war und mich nicht verstand, sah ich erst ganz hinab in den tod.7
Die Erinnerung an den gestorbenen Vater stellt jene an den lebenden, der »in manchem gefehlt hat« und den Nachkommen Schulden in unbekannter Höhe vererbte, in den Schatten. Der Sohn beschwor an diesem ersten Todestag ein »unverlierbares« Bild herauf, das der Vater
uns fürs Leben zurückließ: mit den zusammengelegten händen und mit den drei dunklen rosen, welche du ihm in liebe mitgegeben hast, und mit diesem schönen gesicht, das einen frieden verriet, den wir nicht hören können, und immer etwas zu sagen schien an dich und an uns, was wir aber nicht begreifen können. dann weine ich ins kissen hinein, mama, habe diesen toten Vater vor mir und weine ins dunkle hinein. ich weiß nichts erhabeneres in dieser welt, als dieses erinnerungsbild, das er uns schenkte, da er tot war, und das ich mir nur selten ins gedächtnis rufe, um es nicht zu verbrauchen.8
Wenigstens im Sarg machte Franz Bruno Frisch eine gute Figur. Der Sohn sah sich zwar als »Geschädigter«, aber er trug dem Vater »das viele hässliche« nicht nach, »denn geld ist kleinlich, wenn man an einen toten denkt«. Je vollendeter der verstorbene Franz Bruno Frisch war, desto weniger stand er der Mutter und Max vor der gemeinsamen Zukunft. Als Frisch dann so alt war, wie der Vater gewesen war, als er starb, begann dieser wieder in seinen Träumen zu rumoren. In Montauk (1974) heißt es unter PRO MEMORIA: »Ein andrer Traum: / sie munkeln. Wer? Der Sarg meines Vaters sei geplatzt, das habe ich nicht gewusst, verstehe es aber. Man wird verrückt werden vor Enge.«9
Zu Lebzeiten scheint Franz Bruno Frisch die literarische Produktion seines Sohnes eher gehemmt als gefördert zu haben. In der kurzen Autobiographie im ersten Tagebuch schildert Frisch, wie der Vater am Esstisch eine an ihn, den damals Sechzehnjährigen, adressierte Briefkarte vorlas, worin das Theater des berühmten Max Reinhardt ihn höflich um Einsendung seines ersten Stücks ersuchte. Erstmals wurde er als Herr angesprochen. Der Vater aber behandelte das Ganze »wie einen Lausbubenstreich«. Zwar bemüht sich der bereits arrivierte Autor in dieser autobiographischen Skizze um einen versöhnlich-selbstironischen Ton, ohne jedoch auf den Zusatz zu verzichten, nach dieser Kränkung habe er das Zimmer verlassen, »vielleicht, das wusste ich noch nicht, für immer.« Für immer ging an seiner Statt der Vater.
War Schreiben das, was schon der junge Max Frisch am besten konnte, so war Sterben das Beste, was der Vater für den Sohn tun konnte: Der gestandene Autor wird im Tagebuch 1966-1971 diverse »Dankbarkeiten« auflisten, an dritter Stelle den frühen Tod des Vaters.10 Frisch beerdigte ihn gründlich, ließ kaum etwas von ihm gelten. Es ist das Los der Väter in seinen Büchern, dass ihre Kinder sie mutwillig aus den Augen verlieren, sie verdrängen oder versuchsweise gar liquidieren: In den Schwierigen will Reinhart den Vater erschießen, und Stiller vergisst den Stiefvater im Altersasyl.
ohne nachleben. Ein Bündel Ansichtskarten aus glücklicheren Tagen vor Max' Geburt, die Bürgerrechtsurkunde, ein paar architektonische Zeichnungen und Pläne, vereinzelte Aufnahmen in Fotoalben nebst spärlichen und meist wenig schmeichelhaften Erinnerungen der Nachkommen, das war es, was die Familie und besonders seine Frau Lina, die ihn um vierunddreißig Jahre überlebte, von Frischs Vater aufbewahrte. Als sollten die Überbleibsel – von Lebenszeugnissen zu sprechen, ginge zu weit – in ihrer strengen Auswahl daran erinnern, dass er vor allem Schulden hinterlassen hatte.
Die Fotos, meist von seinem Sohn mangels anderer Sujets gemacht, zeigen einen Mann von gravitätischem Umfang, aber auf Füßen, die ihn kaum trugen. Im Alter musste seine Frau ihm die Schuhe schnüren, und ohne Gehstock war er nie unterwegs. Oft wirkt der Vater auf den Bildern abwesend, oft war er es tatsächlich, lediglich ein Foto hält ihn in den eigenen vier Wänden fest, im Wohnzimmer, dessen vegetative Ausstattung auffällt: Eine Topfpflanze drängt ins Bild, und auf dem geblümten Sofa hat es sich der Vater im Anzug, wohl nach genossenem Mittagsmahl, gemütlich gemacht. Max, der Familienfotograf, hat ihn nicht nur von den Beinen geholt, sondern diese auch gleich abgeschnitten. Nicht recht ersichtlich ist, ob der Vater – in der einen Hand den Zwicker, eine Zeitung in der anderen – gerade eingenickt ist oder nur angestrengt die Frontseite liest. Eine gepflegte Erscheinung im Übrigen, mit einem Schnauz wie ein Giebeldach. Nur auf einem einzigen Ausflugsbild von 1920 sieht man ihn zusammen mit seinem Jüngsten: Der ungefähr neunjährige Max lehnt sich an ihn, allerdings mit ängstlich geducktem Kopf; so lassen sich Vater und Sohn gemeinsam vom Picknickfeuer hypnotisieren. Auf einer zweiten Aufnahme vom selben Rastplatz bettet sich Max dann wesentlich entspannter in den Schoß seiner Halbschwester Emmy. Auf den Ausflugsbildern schaut der Vater stets am Fotografen Max vorbei. Direkt in die Kamera blickt er dagegen auf einem frühen Atelierfoto, das ihn mit auffälligem Kopfputz zeigt. Als erfolgreicher Autor kommentierte Frisch die Aufnahme: »Die Posierlust meines Vaters ging mir später sehr auf die Nerven.«11
In Frischs raren Reminiszenzen darf der Vater fast nie den Mund aufmachen, eigentlich nur, um die Söhne auf Akademiker zu trimmen. Die Gefühle für den Sohn, die der Vater zu Lebzeiten nicht zeigte, soll er nach dem Tod in der verklärenden Erinnerung der Mutter plötzlich gehabt haben. Wollte sie den Sohn besonders loben, sagte sie: »Auch Papa dürfte stolz sein, dürfte er sehen, wie sein Jüngster […] schon so weit gekommen ist.«12 Unter Frischs gestörten Beziehungen hatte die zum Vater gewiss einen Sonderplatz. Einmal sprach er klipp und klar von einer »Nicht-Beziehung«.13 Er dachte über ihn schon fast mutwillig nicht nach. Sein Bruder Franz unternahm in den sechziger Jahren einen Erklärungsversuch und führte Frischs Depressionen darauf zurück, dass »Du viel zu früh durch das Schicksal, durch die Beziehungslosigkeit zu unsrem Vater und durch dessen Tod in die Welt hinaus und in einen einsamen Existenzkampf geworfen wurdest. Wenn auch dieser Umstand zu einer großartigen Frühreife und einem zähen Selbstbehauptungswillen beigetragen hat, so bist Du doch um etwas Schönes betrogen worden: um ein Familienleben im schönsten Sinn des Wortes.«14 Nonverbal die Antwort, die Frisch in Montauk gibt auf die Frage Lynns: »YOU DIDN'T LIKE YOUR FATHER?« – Achselzucken.15 Was vieles ausdrücken kann: Ratlosigkeit, Gleichgültigkeit, Verdrängung, gar Verachtung. Letzteres wohl am wenigsten. Aber gewiss Ratlosigkeit und Gleichgültigkeit.
ich kann doch meinen vater nicht schildern! Für Frisch ein unvergesslicher Satz. Keiner von ihm. Er schnappte ihn als Besucher eines Gerichtsprozesses auf. Dort musste ein Sohn über seinen angeklagten Vater aussagen. Frisch verwendet den Satz aber wörtlich in Blaubart.16 Von den »Bezirken«, die er nicht habe literarisieren können, verzeichnet er in Montauk an erster Stelle den Vater. »Etwas über meinen Vater zu schreiben, wäre eine für mich notwendige Arbeit. Es kann ja nicht einfach ein Vakuum sein. Warum mache ich ein Vakuum daraus? Das interessiert mich eigentlich.«17 So groß konnte das Interesse nicht sein. Er musste sich mal spielerisch, mal angestrengt erst einen Anlass schaffen, um über die »Gefühlslücke« namens Franz Bruno Frisch die eine oder andere Bemerkung zu verlieren. Nur mit Anreizen ließ sich der Vaterbezirk belichten. Und doch wäre es übertrieben, daraus eine Hassbeziehung abzuleiten. Sosehr Frisch den Vater gedanklich entsorgte, es galt nicht »irgendetwas Fürchterliches« zu überdecken.
Das Tagebuch 1966-1971 enthält noch eine zweite Auflistung: nicht der Dankbarkeiten, sondern der Verdrängungen. Hier nimmt Franz Bruno Frisch den ersten Rang ein. Er hätte 1971, als sein Sohn die Liste aufstellte, seinen 100. Geburtstag feiern können. In diesem Jahr überließ eine Kinderpsychiaterin dem Schriftsteller vorübergehend ihre New Yorker Wohnung, und Frisch konnte nicht widerstehen, sich zur Selbstanalyse auf ihren Psychiatersessel zu begeben. Das Resultat – »ich habe also verdrängt: a) meinen Vater.«18 Die im Weiteren pflichtschuldig aufgezählten Verdrängungsleistungen gehen dann alle auf jene Kindheitsphase zwischen vielleicht sechs und neun Jahren zurück, in der nach gängiger Lehrmeinung Söhne ihre Väter heftig zu kopieren pflegen und als Identifikationsvorlage benötigen. In diesem Stadium – gegen Ende des Ersten Weltkriegs, als einer von vielen Architekten ohne Arbeit – fiel Franz Bruno Frisch offenbar auch als Vater aus. Darauf wird zurückzukommen sein.
unbestattet blieb der name. Ein sprechender Name (auf den ebenfalls zurückzukommen sein wird), dem aber weder Frisch noch die Frisch-Forschung nachfragte, selbst die Ahnenforschung stellte lieber den Vorfahren mütterlicherseits mit ihren klingenden Namen Schulthess und Wildermuth nach, durchforstete deren Stammbäume, bis ein gründlicher Genealoge dem Schriftsteller zum 75. Geburtstag den Bescheid vorlegen konnte, er zähle zur Nachkommenschaft Karls des Großen, stehe zudem in »Ahnengemeinschaft« mit Lothar Späth, dem damaligen christdemokratischen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, während sich zu Friedrich Schiller, obwohl aus derselben Gegend stammend wie die Wildermuths, leider keine Linie ziehen lasse.19 Beim Namen Frisch erlahmte der Forschungseifer, man gab sich zufrieden damit, dass ein Sattler aus dem Österreichischen ihn eingeführt hatte; genauer wollte es keiner wissen, die Stammbaumspezialisten nicht, weil die ehemalige Donaumonarchie mit ihren schwer durchschaubaren Verwaltungsstrukturen als genealogisch hartes Pflaster gilt, Frisch nicht, weil für ihn der ganze Vaterbezirk das harte Pflaster war.20
Hauptsache, der Großvater hatte den Namen gespendet und war in die Schweiz eingewandert. Mehr musste auch Frisch nicht über ihn wissen. Franz Frisch, so hieß der Großvater, starb bereits 1892, also lange vor der Geburt des Enkels, an den Folgen eines Schädelbruchs – möglicherweise vermachte er Frischs Vater neben dem Namen auch ein Alkoholproblem. Die Angehörigen unternahmen jedenfalls wenig, ihm ein Andenken zu bewahren. Weder ein Bild noch ein anderes persönliches Dokument blieb erhalten.
das österreichische. Daran erinnert im Nachlass einzig eine »Correspondenz-Karte«, auf der ein Rudel uniformierter Schnauzträger hoch zu Ross zu sehen ist; auf der Rückseite der Bleistiftvermerk von unbekannter Hand: »Kaiser Franz Joseph mit seinem Stab«, sonst nichts. Der Kaiser sitzt schon arg gebeugt auf dem Pferd, zurückschauend statt nach vorn.
Damit aus den österreichischen Wurzeln politische Relevanz sprießen kann, versucht eine neuere Monographie, die Geschichte von Frischs Vorfahren mit den gewaltigen historischen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts kurzzuschließen. Als habe sich der Großvater väterlicherseits wegen der gescheiterten 1848er-Revolution in die liberal-fortschrittliche Schweiz abgesetzt.21 Sowieso will die Stilisierung des einfachen Sattlergesellen zum progressiven Emigranten nicht recht gelingen, denn 1848 war Franz Frisch gerade mal zehnjährig, ein Verdingbub aus der niederösterreichischen Provinz.
Die Suche nach Lebensspuren war schwierig. Sie verlief lange ergebnislos, bis dann gleich zwei Gemeinden sich beim Biographen meldeten mit je einer eigenen Version, wessen uneheliches Kind Frischs österreichischer Großvater gewesen sei. Im Taufbuch der römisch-katholischen Pfarrei von Amstetten findet sich eine achtzehnjährige Barbara Frisch, Tochter eines bürgerlichen Kammmachers, die 1838 einen Franz Frisch zur Welt brachte.22 Ein Vater ist nicht eingetragen, und auch über die Mutter fehlen weitere Angaben. In den »Matriken der Heimatsberechtigten« des benachbarten Ortes Blindenmarkt, an der Poststraße von Linz nach Wien gelegen (von den vierundfünfzig Häusern waren um 1838 elf Gasthäuser), ist Franz Frisch wiederum als »unehl. Kind« der »Sattlersgattin« Karolina Prinz vermerkt.23 Sie dürfte es gewesen sein, die den Knaben aufzog, um dem eigenen Betrieb eine billige Arbeitskraft zuzuführen. Manche Handwerkerfamilie sparte auf diese Weise Gesellen ein. Es war damals üblich, schon Sechsjährigen, besonders Waisen- und Findelkindern, eine Sechstagewoche zuzumuten, am Sonntag durften sie dann den Schulunterricht nachholen. Im Lauf der Jahre wuchs die Pflegefamilie zur elfköpfigen Großfamilie heran, Franz wurde nicht mehr gebraucht.24
Der Niederösterreicher sei im Allgemeinen »nicht grübelnd, nicht zersetzend, nicht kalt forschend«, heißt es in der 1877 vom Verein für Landeskunde herausgegebenen Topographie von Niederösterreich, aus diesem Stamme erzeugten sich weder Dialektiker noch Metaphysiker, noch Wortklauber und Haarspalter, die eine Sache bloß mit dem Verstand abmachten. »Immer spricht das Herz darein. […] Volkssprache, Volksgewohnheit, Volksgemüth nehmen die Dinge und ihre geistigen Merkmale mehr im Großen und Ganzen […].« Der Fremde, wenn er das spezifisch Niederösterreichische zu fassen suche, denke unwillkürlich an das eine: »Gemüthlichkeit«.25 Ich erwähne dieses nicht gerade modernistische Genrebild, weil es in Frischs Texten eigentümlich nachwirkt: Das Österreichische als Metapher für das, was ihn am Vater verzweifeln ließ. Damit verband er eine Denkkultur, anfällig auf den Kompromiss, militant behaglich, von Kopf bis Fuß auf das Althergebrachte eingestellt, von einigen Figuren aus seinen Werken, allen voran Gottfried Biedermann, idealtypisch repräsentiert.26 1942, als in der eingeschlossenen, auf Einigkeit getrimmten Schweiz zwar nicht die kompromisslerische Politik, wohl aber das Leiden am Kompromiss flächendeckend starb, äußerte Frisch in einem Brief an den Jugendfreund Werner Coninx: »[…] oft habe ich die Verzweiflung, es schwimme mir alles wie Kork obenauf! Eine gewisse österreichische Konzilianz versöhnt mir die Probleme in einer Weise, die sie aufhebt […].«27
Schon in frühen Zeitungstexten mokierte er sich über »wienerische Behaglichkeit«, die sich »in bittersüßen und mattlächelnden Schilling-Erinnerungen ergeht«.28 Beim Vater stieß ihn das Österreichische ab, während die Mutter, die vor der Jahrhundertwende als Kinderfrau in Wien gearbeitet hatte, Positives vermittelte. Als Frisch nach dem Zweiten Weltkrieg zum ersten Mal selber die Stadt besuchte, prallten die eigenen Beobachtungen auf das von den Eltern geprägte widersprüchliche Bild, und der Autor notierte sich, zuweilen sei es in der Tat, »als halten sich die Wiener durchaus an die Erinnerungen unserer Mütter«. Andererseits beschrieb er Wien als Mumie, allenthalben ein »Ausweichen in die Reminiszenz«. Eine Stadt, »die nicht wissen will, was geschehen ist«.29 Ein Wort wie Gemütlichkeit, auch in der Schweiz sehr gebräuchlich, versetzte Frisch zeitlebens in Alarmbereitschaft.30
Indem der Großvater Franz Frisch emigrierte, verhielt er sich nicht so, wie die erwähnte Vaterlandskunde den niederösterreichischen »Volks-Charakter« besingt. Diesen Menschenschlag, heißt es nämlich darin, fände man sonst »äußerst wenig in der fernen Welt, noch weniger als Auswanderer und Ansiedler in der entlegenen Fremde«. Denn der Niederösterreicher liebe seine Heimat.31
landesfremde niedergelassene. Möglicherweise nach einer Zwischenstation in Innsbruck32 verschlug es Franz Frisch um 1870 nach Zürich, nicht, weil er auf der Walz war und die frohe Burschenschaft genoss, auch nicht, weil ihn die demokratisch-föderalistische Verfassung unwiderstehlich anzog. Er kam, weit weniger romantisch, als sogenannter Wirtschaftsflüchtling in die Schweiz. Aus Not, nicht wegen abstrakter politischer Ideale oder handwerklicher Traditionen. In den Zürcher Melderegistern tauchte er im August 1871 erstmals auf, und zwar zunächst im Eheregister, das die Heirat mit der zweiundzwanzigjährigen Maria Luise Nägeli aus Kilchberg bei Zürich anzeigte, dicht gefolgt vom Eintrag im Taufregister, das einen Monat später die Geburt des ersten Sohnes Franz Bruno Frisch dokumentierte, dann im Register der Versendungen von Zivilstandsurkunden nach dem Ausland, schließlich im Kontrollregister für Landesfremde Niedergelassene.33 Den Status eines »Aufenthalters« behielt Frischs Großvater bis zu seinem Tod. Im Zürcher Adressbuch von 1875 ist er als Sattlermeister aufgeführt, in nachfolgenden Ausgaben nur noch als Sattler.34 Er dürfte über eine solide Ausbildung verfügt haben, ohne den Schritt in die Selbständigkeit je gewagt zu haben, zumal den Leder verarbeitenden Handwerkern (Schustern, Gürtlern, Sattlern etc.) die Industrialisierung das Leben schwermachte.35
Die Großmutter Maria Luise Nägeli (1850-1899) war in nicht minder bedrückenden Verhältnissen aufgewachsen. Für Max Frisch eine »Tochter aus dem Kleinbürgertum«.36 Fast grimmig reduzierte er die Herkunft der eigenen Familie immer wieder auf das Kleinbürgerliche, wohl hauptsächlich um das Brüchige und Illusionistische hervorzuheben. Er kam weder aus einem reinen Proletarier- oder Arbeitermilieu, noch konnte man die Familie angesichts der ungefestigten, oft ärmlichen Verhältnisse wirklich bürgerlich nennen. Da nicht erst die Mutter und der Vater sich gerne über diese wahren Verhältnisse hinwegtäuschten, bot sich das Etikett »kleinbürgerlich« an. Im Falle der Großmutter Maria Luise Nägeli belegt die Erwähnung des Kleinbürgerlichen freilich eher, wie wenig Frisch zu ihr einfiel. Die Ehe ihrer Eltern wurde geschieden, als sie fünf war. Dem Vater, einem Schneidermeister aus dem zürcherischen Adliswil, musste mitunter das Bezirksgericht nachhelfen, damit er auch seine außerehelich in die Welt gesetzten Kinder akzeptierte.37 Nach der Heirat mit Franz Frisch arbeitete seine Frau Maria Luise weiterhin als Lohnwäscherin und Glätterin, damit sich die fünfköpfige Familie durchbringen ließ (zwei weitere Kinder waren früh gestorben).
Über sein Herkommen, seine noch im alten Jahrhundert verstorbenen Eltern ließ Frischs Vater nichts verlauten, was sich dem Gedächtnis der eigenen Kinder eingeprägt hätte. Es gab nichts zu erzählen.38 Und wenn sein Vater Franz hieß, er selbst Franz Bruno und sein erster Sohn wiederum Franz, ist das wohl weniger auf innigen Familiensinn als auf traditionsverhaftetes Denken zurückzuführen.
der ignorierte aufstieg. Es gibt kaum einen Beleg, dass Frisch dem Vater so etwas wie eine Karriere zutraute. Als er sich 1936 um eine Fördergabe für Schriftsteller in Notlage bewarb, führte er aus, sein verstorbener Vater habe »sich als mittelloser Bursch zum selbständigen Architekten emporgearbeitet«.39 Doch in der Regel ließ er ihn nur mit Einschränkung als Architekt gelten. Ein »Selfmademan« sei er gewesen, ohne Studium, ohne Diplom, später immer wieder ohne Arbeit, einer, der als Immobilienmakler endete.40 Eine einzige Zeichnung des Vaters bewahrte Frisch bis zu seinem Tod bei sich auf, vielleicht weil sie dokumentiert, wie sich Franz Bruno Frisch nach potenten Bauherrschaften ausrichtete, denn zu sehen ist der Plan des Erweiterungsbaus einer Bank.41
Zur Verteidigung des Vaters ist zu sagen: Von ihm stehen noch deutlich mehr Bauten als von seinem Sohn. Es trifft zu, er konnte sich keine höhere Fachausbildung leisten. Sein Glück war aber, dass er in einem damals angesehenen Büro Unterschlupf fand, zuerst als Bauzeichner, später auch als Bauführer und Architekt. Sein Arbeitgeber und Förderer Albert Müller war ein Semper-Schüler der zweiten Generation, der dem Meister beim Stadthaus von Winterthur und eine Zeitlang in Wien sekundierte. »Architektur ist Politik, und sie soll Politik zugunsten des Volkes sein«, lautete eine Maxime Gottfried Sempers. Für den Epigonen Albert Müller war solcher Idealismus freilich nur bedingt Richtschnur. Er verkehrte im Großbürgertum und baute entsprechend: neben diversen Villen auch die 1877 eröffnete Zürcher Börse. Außerdem leitete er während achtzehn Jahren die städtische Kunstgewerbeschule sowie das Gewerbemuseum. Nach dem Rücktritt widmete sich der Ehrenbürger der Stadt Zürich bis zu seinem Tod dem eigenen Architekturbüro.
Franz Bruno Frisch trat in den 1890er Jahren bei Müller ein und 1897 dann erstmals aus der Anonymität eines Bauzeichners heraus, als er die Arbeitersiedlung für eine Textilfärberei am Zürichsee errichten durfte.42 Ein ideales Versuchsobjekt für den Neuling, das Müller umso lieber delegierte, als auf ihn ein Prestigebau von ganz anderem Kaliber wartete: ein richtiges Schloss im Dekor der französischen Frührenaissance für einen Zürcher Brauereibesitzer. Beim Entwerfen schöpfte Albert Müller dermaßen aus dem Vollen, dass ihn der Bauherr in seinen ambitiösen Plänen bremsen musste.43 Die Bauleitung für die Villa des Bierbarons überließ der Chef wiederum dem Angestellten Frisch, der ihn nicht enttäuschte: In nur anderthalb Jahren war der Palast bezugsfertig. Die Schweizerische Bauzeitung erwähnte in ihrer Würdigung ein erstes Mal den Namen des Herrn Archt. F. Frisch.44 Der hatte endgültig bewiesen, dass er mit Bauarbeitern umgehen und Termin- sowie Kostenpläne einhalten konnte.
Am Rande sei erwähnt: Auch der Sohn des Bierbarons, Martin Hürlimann, und Max Frisch verkehrten später geschäftlich miteinander. Hürlimanns Atlantis-Verlag veröffentlichte Frischs Prosawerke der vierziger Jahre.45
ein palast zum schattenbaden. Die Prosperität im ausgehenden 19. Jahrhundert verführte Tycoons auf dem Lande wie in der Stadt zu einem übermütigen Exhibitionismus. Allem Zwingligeist des Bescheidenen und Schmucklosen zum Trotz wollte man nun zeigen, was man besaß. Ricarda Huch spricht in den Erinnerungen an ihre Zürcher Studienjahre ein schroffes Verdikt über diese Renommierarchitektur: »Kaum eins der neuen Gebäude befriedigte; die haben den etwas aufdringlichen, prahlerischen Charakter, womit man in jener Zeit Wucht und Größe auszudrücken, dem Aufschwung eines wohlhabenden Gemeinwesens zu entsprechen meinte.«46
Um die Jahrhundertwende baute Frischs Vater in der Zürichseegemeinde Horgen nach Plänen von Albert Müller den noch heute stehenden Badepavillon für einen Textilindustriellen und Gründervater im Banken- sowie Versicherungssektor, damit dessen Clan angenehm im Schatten baden und den Nachmittagstee direkt am See einnehmen konnte. Das Lustschlösschen, der Amalienburg und Bauten Ludwigs II. nachempfunden, schien wie geschaffen, um von Schiffsausflüglern bestaunt zu werden. Eine demonstrative Zelebration von Überfluss, als ob der Bauherr nie hätte verwinden können, dass Gottfried Keller im Grünen Heinrich einzig die Stadt Zürich »wie ein[en] Traum aus den blauen Wassern« steigen lässt, nicht aber die dank Seidenindustrie ebenso aufstrebenden Seegemeinden.47
Dieser Spleen im Neorokoko-Stil ist das früheste Werk Franz Bruno Frischs, von dem Lina Frisch ein Ansichtsfoto aufbewahrte. Es muss sie beeindruckt haben, wie ihr Gatte schon mit dreißig Jahren an derart exquisiten Bauten für die besten Kreise mitarbeiten durfte. Gab das nicht zu berechtigten Hoffnungen Anlass? Der putzige Badepalast dürfte ihr auch in späteren Jahren bewiesen haben, wie erfreulich Franz Bruno Frisch einst aufstrebte, wie gefragt er war, als sie ihm das Jawort gab. Er konnte rasch selbständig arbeiten, zumal der Maestro Müller nicht nachkam, alle in Neogotik, Neorenaissance, Neobarock, Neorokoko, Neoklassizismus, Jugend- oder Heimatstil getauchten Extravaganzen seiner Bauherren solo zu realisieren. Müller saß zudem in zahlreichen Kommissionen und Jurys, legte Wert darauf, sowohl als Mann des Gewerbes (Vorstandsmitglied des Schweizerischen Gewerbevereins) zu gelten als auch als Mann der Kultur (tatsächlich musste er nicht erst tot sein, ehe er einen ausführlichen Eintrag im Schweizerischen Künstler-Lexikon erhielt). Die favorisierten Stile und Ornamente der Belle Époque hatte Franz Bruno Frisch bald alle im Repertoire, mixte sie mit kunstgewerblerischer Professionalität wie sein Chef. Er war ein Allrounder, ein Praktiker, baute, was verlangt wurde. Eine eigene Formensprache konnte er nicht entwickeln, und theoretisches Fachsimpeln überließ er den Akademikern.
Frischs Vater imitierte besonders jenen aus der Lebensreformbewegung hervorgegangenen frühen »Heimatstil«, ohne deswegen aber protzigem Historismus oder mit Ornamenten blendendem Jugendstil kategorisch abzuschwören, wie dies die Heimatstil-Pioniere taten. Die waren Echtheitsfanatiker, versuchten ihre Bauten perfekt in die Landschaft oder Ortschaft zu integrieren. Ebenso achteten sie regionale Bautraditionen, Formen, Materialien und Handwerkskunst. Abgeschreckt von den Mietskasernen der Metropolen, in denen noch Ende des 19. Jahrhunderts Typhus und andere Epidemien wüteten, wollten sie den Städtern mit einer Art Naturheilarchitektur ein gesundes ländliches Leben ermöglichen. Jedes Gebäude, jedes Quartier sollte eine kinderfreundliche Oase sein.
mumifikation. Franz Bruno Frisch fühlte sich im Heimatstil bald zu Hause. Manche seiner Bauten wirken heute, als hätten sie immer schon da gestanden. Er feierte das gute Alte, versuchte mit seinen Werken eine ländliche Idylle zu erzeugen: Eine Projektskizze zeigt eine städtische Quartierüberbauung; mittelalterlich anmutende Mehrfamilienhäuser säumen einen überdimensionierten Dorfplatz. Man denkt unweigerlich an den Österreicher Adolf Loos, der nur Spott übrig hatte für solch »kindische versuche der architekten […], der natur mit steilen dächern, erkern und anderem rustikalem gejodel entgegen zu kommen«. Frisch lässt seinen Stiller ebenfalls schnöde urteilen über das Bauen im Heimatstil:
Es ist sehr geschmackvoll, sehr sauber, sehr seriös; aber Kulisse ringsherum. Und um nicht zu sagen, dass ich es zum Kotzen finde, frage ich sachlich, ob die Schweiz denn so unerschöpflich viel Land hat, um in diesem ›Stil‹ noch einige Jahrzehnte bauen zu können. Das scheint nicht der Fall zu sein. Was heißt Tradition? Ich dächte: sich an die Aufgaben seiner Zeit wagen mit dem gleichen Mut, wie die Vorfahren ihn gegenüber ihrer Zeit hatten. Alles andere ist Imitation, Mumifikation, und wenn sie ihre Heimat noch für etwas Lebendiges halten, warum wehren sie sich nicht, wenn die Mumifikation sich als Heimatschutz ausgibt?48
Zur Ironie des Buches gehört, dass Stiller am Ende selber in einem Schwyzerhüsli, umgeben von Gartenzwergen, dahinkümmert. Zum Heimatstilkritiker Frisch gehörte, dass just sein eigener Vater vor dem Ersten Weltkrieg zu einem geachteten Vertreter dieser Richtung aufstieg.
Sobald es sich Franz Bruno Frisch leisten konnte, bewarb er sich um das Schweizer und Zürcher Bürgerrecht. »Ich bin in Hier geboren + auferzogen worden habe in Folge dessen die hiesigen Schulen besucht«, schrieb er in seinem »ergebenen Ersuchen« an den Stadtrat: »Meinen Verpflichtungen als Niedergelassener bin ich gegenüber dem Staat + der Stadt immer prompt nachgekommen. Sie werden begreifen, dass unter diesen Umständen die Bürgerrechtserwerbung mir in jeder Beziehung zum Bedürfnis geworden ist.«49 Die Bürgerrechtsurkunde wurde Anfang 1902 ausgestellt, unmittelbar vor der Vermählung mit Lina Wildermuth, als ob dies die Bedingung war, dass sie in die Heirat einwilligte. Die Behörden sahen keinen Grund, warum sie Franz Bruno Frisch das Recht, sich Zürcher zu nennen, verweigern sollten, denn er ging einer geregelten Arbeit nach, zahlte die Steuern pünktlich, außerdem war ihm das Bürgerrecht eine Einkaufsgebühr von 420 Franken wert, was der halben Jahresmiete für eine durchschnittliche städtische Dreizimmerwohnung entsprach.50
das russische album. Obwohl sie sich als Nachfahrin der alteingesessenen Notarsfamilie Schulthess aus Basel fühlen durfte, war es Lina Wildermuth nicht schwergefallen, ihr Elternhaus zu verlassen. Die Glücksmomente waren rar: So erzählte sie ihren Kindern gerne, bei ihrer Konfirmation habe eine Kutsche auf sie gewartet. Ihr wurde aber früh klar, dass sie auf ihre Herkunft allein nicht bauen konnte. Sie war eine von sechs Töchtern, und daneben gab es zwei Söhne, von denen auch nur der ältere eine gute technische Ausbildung erhielt. Die Eltern waren jedes Mal froh, wenn wieder ein Kind auszog und die Töchter einen Mann fanden.
Lina wollte schon in jungen Jahren ins Ausland kommen; als Gouvernante arbeitete sie in Lundenburg (heute Břeclav in Tschechien), in Wien, Berlin und im russischen Charkow. Damals ein großer Schritt, den sie nie bereute. Im Gegenteil, in einem Brief gestand sie ihrem »lieben Max«, sie sei wie er keine Stubenhockerin gewesen, sondern habe »den Drang in die Welt« verspürt, als ahnte sie voraus, dass ihr das Reisen nach der Heirat nicht mehr »blühen« würde. Weiter schrieb sie: »Und hätte ich nicht diese Erinnerungen, die an ein Draußen-gewesen gemahnen würden, ich käme mir nach meiner dreißigjährigen, in der letzten Hälfte mich unbefriedigenden Ehe als Eingesperrte vor.« Mit den deutsch sprechenden Familien, deren Kinder sie betreute, reiste sie in der Urlaubszeit auf die Krim, residierte dort zuweilen in unmittelbarer Nähe zur Sommerresidenz der Zarenfamilie. Sie kam bis nach Teheran, hätte auch Konstantinopel noch gesehen, »wenn Papa damals mich nicht zu seiner Frau begehrt hätte«.51 Auf Fotos aus der Zeit begegnen wir einer unternehmungslustigen Frau, die mal eine kimonoähnliche Tracht, mal ein modisches Kleid mit beachtlichen Puffärmeln trägt und dazu ein passend elegantes Sonnenschirmchen hält. Angehörige, die sie noch gekannt haben, beschreiben sie als stille Genießerin, die wie schon ihre Mutter an Diabetes litt, aber Süßem heimlich zugetan war in der Meinung, es sei dann weniger schädlich; auch backte sie ausgezeichnete Kuchen. Und im Stricken machte ihr niemand etwas vor. Frisch schrieb 1946 in einem Essay mit dem programmatischen Titel Du sollst dir kein Bildnis machen: »Nie in deinem Leben wirst du stricken lernen! hat eine Lehrerin einmal zu meiner Mutter gesagt, und meine Mutter, die diese böse Weissagung nie vergessen und nie verziehen hat, sie ist eine leidenschaftliche und außerordentliche Strickerin geworden.«52 Lina liebte ihren Beruf, ihre früheren Arbeitgeber standen noch in Kontakt mit ihr, als sie längst eigene Kinder hatte und vor allem ihr Jüngster in den Genuss einer professionellen Hege und Pflege kam.
Schrieb sie aus Russland nach Hause, so weniger den Eltern als einzelnen Geschwistern, die sie zu »lustigen« Briefen animierte. »Ich liebe so, wenn man mir fröhlich schreibt.«53 Die gesammelten Ansichtskarten aus ihren Auslandsjahren klebte sie ein – ins sogenannte »russische Album«. Die Mutter holte es hervor, wenn die eigenen Söhne krank waren, erzählte von Wölfen und rasanten Schlittenfahrten. »Russland war für mich«, heißt es in einer der seltenen Kindheitserinnerungen Frischs, »immer das Märchenland. […] Mütterchen Russland.«54 Peter Bichsel hat die Anekdote überliefert, wie Frisch vor einer Reise in die Sowjetunion die bereits hochbetagte Mutter im Spital besuchte und sie ihm umständlich den Weg zu einer Konditorei in Odessa erklärte, wo es das beste Eis gebe. Er habe ihr nicht zu sagen gewagt, dass sich in Russland einiges verändert hat.55
In einem Entwurf zur Selbstanzeige von 1948 würdigte Frisch die Mutter als mutige Frau, nicht weil sie Erzieherin in Russland war, sondern weil sie Franz Bruno Frisch heiratete, einen »Sattlersohn, der sich Architekt nannte«, nachdem doch schon ihre Mutter aus dem noblen, mit familieneigenem Wappen versehenen Geschlecht der Schulthess sich auf einen Bäckersohn, »der sich obendrein Maler nannte«, eingelassen habe.56
kolorierte ansicht. Die aussagekräftigste Karte von Franz Bruno Frisch an das Frl. Wildermuth ist zugleich die früheste, die sich von ihm erhalten hat – abgestempelt am 24. Juli 1902 in Zürich. Es lohnt sich, näher darauf einzugehen, obwohl es wenig zu lesen gibt, lediglich den Satz: »Herzliche Grüsse von Ihrem F.F.« Ferner die Sommeradresse der Familie, bei der Lina Wildermuth in Russland angestellt war. Auch das Bild erschließt auf den ersten Blick nicht viel: Zu sehen ist eine kolorierte Ansicht des Zürcher Landesmuseums, das auf Postkarten recht imposant wirkt, aber eben nur auf Postkarten. In natura gelingt dies dem vor Historie strotzenden, doch 1898 erst eingeweihten Wahrzeichen einer nationalen Kulturpolitik nicht so recht. Die Vielfalt der Kulturen und das föderalistische Prinzip der Schweiz sollte der Bau illustrieren, doch er erhebt sich vor allem trotzig gegen den benachbarten Hauptbahnhof als Inbegriff der Industrialisierung und gegen das frühere Arbeiterquartier. Das Repräsentationswerk ist darauf angelegt, den Besucher nostalgisch zu stimmen. Manchenorts entstanden um die Jahrhundertwende Residuen dieser Art, wo sich – in der Geborgenheit einer ansehnlichen, jedoch nachgeahmten Vergangenheit und abgeschottet von widrigen Einflüssen der modernen Zivilisation – promenieren ließ. Inzwischen sind die einst Schutz versprechenden Fassaden des Landesmuseums ihrerseits heimatschutzbedürftig. Warum wählte der junge Architekt Franz Bruno Frisch ein derart rückwärtsgewandtes Sujet aus, um eine kaum bestehende Bekanntschaft mit Lina Wildermuth voranzubringen? Wollte er Beschützerqualitäten andeuten, die noch gar nicht gefragt waren? Oder fiel er nur gleich mit dem Traumschloss in die Gouvernantenkammer ein?
Sein Sohn empörte sich später über das »Heimweh nach dem Vorgestern«. Da schwang eine Kritik an der Baukunst des eigenen Vaters mit: »Das museale Verhältnis zur Kunst; die Proklamation der Impotenz, das ist die Luft, die wir von der Wiege an atmen, wenn wir das Glück haben, in einem kulturellen Milieu aufzuwachsen.«57 Die siebenundzwanzigjährige Lina Wildermuth und der dreißigjährige Franz Bruno Frisch lasen aber aus der Ansichtskarte sehr wohl Gegenwärtiges heraus; nicht nur vaterländische Altertümer und Kulturschätze gaben sich im Landesmuseum ein Stelldichein, dort trafen eben auch ihre ganz privaten Lebensgeschichten zusammen. Das kam so: Zu den Wegbereitern eines Nationalmuseums in Zürich mit darin integrierter Kunstgewerbeschule gehörte, obschon er es schließlich nicht selbst errichtete, Franz Bruno Frischs Chef Albert Müller, der ja nebenher die Zürcher Kunstgewerbeschule leitete. Als Schuldirektor löste ihn Linas Vater Hans Wildermuth ab, der damit eine Laufbahn krönte, die er ursprünglich als Dekorationsmaler begonnen hatte. Wildermuths Berufung lag im Trend der Zeit, die buchstäblich eine Blütezeit des Ornamentalen und der »Verkunstgewerblichung« war. Der durchschnittliche Architekt jener Jahre bewährte sich als Fassadenschmücker, und Bewegungen wie der Jugendstil oder Heimatstil bekämpften weniger den historisierenden Zierrat in der Schweiz, als dass sie ihn um pflanzliche, apart-symbolistische und nationalisierende Formen erweiterten. An solche Ornamentkunst dürfte Max Frisch gedacht haben, als er im Tagebuch 1946-1949 seinen ihm lediglich vom Hörensagen bekannten Großvater Hans Wildermuth charakterisierte: »er nannte sich Maler, trug eine erhebliche Krawatte, weit kühner als seine Zeichnungen und Gemälde«.58 Nur wenige Jahre im Amt, musste Hans Wildermuth dann krankheitshalber den Rücktritt einreichen. Er starb im April 1902. Drei Anstandsmonate später meldete sich Franz Bruno Frisch bei Lina, der zweiten von Wildermuths sechs Töchtern, und knüpfte mit dem Sujet des Landesmuseums an die glücklichen Zeiten an, als Hans Wildermuth noch hinter jenen Palastmauern residiert hatte und etwas von dem Glanz auf die ganze Familie gefallen war. Per Ansichtskarte verneigte er sich gewissermaßen vor Linas Vater, außerdem vor dem eigenen architektonischen Ziehvater Albert Müller als einem der Initiatoren des Landesmuseums – und schließlich allgemein vor dem herrschaftlichen Historismus und frühen Heimatstil.
Doch war es allein die respektvolle Erinnerung an ihren Vater, was Lina Wildermuth an der Karte beeindruckte, die höfliche Art, wie ihr Zukünftiger sie in einer ehrwürdigen Vergangenheit abholte? War da nicht mehr herauszulesen? Auf den zweiten Blick bemerkt man eine Personengruppe wie zur Staffage, bestehend aus einer eleganten Dame, zwei Kindern sowie einem Kindermädchen. Der Knabe, als Einziger nicht eingefärbt, bleibt etwas schemenhaft. Dagegen wirkt die kleine Tochter in ihrem hellblau kolorierten Kleidchen überaus vital. So weckte die Grußkarte bei der Adressatin sicher nicht nur nostalgische Gefühle, sie enthielt eine ganz konkrete Identifikationsofferte, zumal der Absender Franz Bruno Frisch nicht nur ein offenkundig der Tradition verpflichteter Architekt, sondern auch ein Witwer war, Witwer und allein erziehender Vater einer dreijährigen Tochter. Seine erste Frau Emma Böni war im Oktober 1899 gestorben, zwei Tage nach der Geburt der Tochter, die auf den Namen der Mutter getauft wurde. Als Lina Wildermuth die Karte las, blieb ihr diese Symbolik bestimmt nicht verborgen.
Die Ansicht vom Landesmuseum ist im eingehend sortierten Nachlass von Frischs Eltern der einzige Beleg, dass es schon vor der Hochzeit eine gemeinsame Geschichte gab. Zwischen der wohl gegen Ende Juli 1902 auf der Krim angekommenen Karte und der amtlichen Eheverkündung in Zollikon bei Zürich lagen gerade mal anderthalb Monate.59 Lina Wildermuth musste die Grußbotschaft also postwendend beantwortet und Franz Bruno Frisch sich mit einem Heiratsantrag ebenso schnell bedankt haben, wenn er das nicht bei früherer, undokumentierter Gelegenheit bereits getan hatte. Im August 1903 wurde Franz geboren, der erste gemeinsame Sohn.
Was ein glückliches Familienleben war, bekam Franz von allen drei Kindern am ehesten mit. Seine Kindheit fiel in jene Jahre, als die Beziehung der Eltern noch stimmte. Das Verhältnis zwischen Lina und der Stieftochter Emmy war dagegen gespannt wie später jenes des Vaters zu Max. Ob Lina Frisch Emmy schlecht behandelt hat, wie es unter den Nachfahren erzählt wird, muss dahingestellt bleiben.60 Tatsache ist, dass Lina nach dem Tod ihres Mannes trotz ihrer Notsituation nicht zu Emmy und ihrer Familie zog, »so gut u. lieb mir Emy ist, das könnte u. wollte ich nicht«, schreibt sie Max. Es könnte ihr bei Emmy nicht wohl sein, denn das »Milieu« sei ein anderes, »und wenn mir jetzt schon, wo ich doch noch zu rüstig bin um auf ein kl. Zimmer u. in einem solchen Tram Tram angewiesen zu sein, die Flügel gestutzt würden, so bedeutete das meinen Tod. Du musst mich ja nicht unrichtig verstehen, Emy hat eben, so sehr ich es schätze eine, wie du weißt andere Art; vielleicht für einen Menschen beglückendere als die meine.«61
Max Frischs Geburtshaus an der Heliosstraße in Zürich hat zwei Eingänge, den einen ziert ein Männer-, den anderen ein Frauenkopf. Und als Frisch einmal mit einer Filmequipe an diesen Ort der Kindheit zurückkehrte, betonte er, er gehöre »auf die Mutterseite«. Er war der Nachzügler, wurde acht Jahre nach Franz geboren, am 15. Mai 1911. Seinem Vater brachte er kein Glück. Die rohen Lebensdaten verführen zu einer Gegenüberstellung: Bevor Max auf der Welt war, stieg Franz Bruno Frisch vom Bauzeichner zum selbständigen Architekten auf, schaffte sich einen Namen, hatte attraktive Aufträge. Nachher ging es ebenso steil bergab, zuletzt stand er als kleiner Grundstücks- und Immobilienmakler mit Schulden da.
in einer sehr mondfahlen wirklichkeit. 1909, zwei Jahre vor der Geburt von Max, hatte Franz Bruno Frisch endlich sein eigenes Büro eröffnen können, zusammen mit einem Partner, der allerdings im Jahr darauf starb. Ein Fachblatt schrieb im Nachruf: »Der neuen Firma harrten zahlreiche Aufgaben.«62 Franz Bruno Frisch machte allein weiter, mit Erfolg. Die Schweizerische Baukunst, das in jener Zeit gegründete offizielle Organ des »Bundes Schweizerischer Architekten« widmete seinen Bauten einen überaus wohlwollenden Beitrag. Sein Gemeindehaus in Hausen am Albis, damals die reichste Gemeinde des Kantons Zürich, wurde über mehrere Bild- und Textseiten als »mustergültig« gewürdigt. Es sei dem Architekten gelungen, alle Bedürfnisse in einem »einheitlichen, geschlossenen Bau zu vereinigen«.63 Das war das entscheidende Ehrenprädikat: Franz Bruno Frisch verstand es, die unterschiedlichsten Formen, Funktionen, Interessen »vortrefflich« unter ein gemeinsames Dach zu bringen. Weniger schmeichelhaft ausgedrückt: Er war stets zu baulichen Konzessionen bereit.
Sein Sohn wird Jahrzehnte später, während des Zweiten Weltkriegs, eine Nachtwanderung durch die Gegend machen. Das vom Vater gebaute Gemeindehaus kam ihm »wie ein alter Bekannter« vor: »Wennschon ich mich nur an Bilder erinnere, an Zeichnungen, die irgendwo in der frühesten Jugend hängen. Mein Vater hat es gebaut. Längst vor dem letzten Krieg. Und in dieser Nacht, wo ich ganz zufällig nach dem Namen der schlafenden Dörfer frage, ist es das erste Mal, dass ich es in Wirklichkeit sehe, wenn auch in einer sehr mondfahlen Wirklichkeit.«64 In einer weiteren Gemeinde vereinigte sein Vater ein Schulhaus und ein Feuerwehrdepot. Der Kunstführer der Schweiz hob den Gebäudekomplex noch über dreißig Jahre später hervor. In Zürich wiederum gelang es Franz Bruno Frisch, ein städtisches Wohnhaus »mit den Anklängen des Landhauses« zu fusionieren.65 Er musste nie den Vorwurf fürchten, zur unheilvollen Verstädterung beigetragen zu haben.
Es war gewiss nicht die Geburt des Sohnes Max, die Franz Bruno Frischs Architektenkarriere beendete. Wie wir sehen werden, war vielmehr der Erste Weltkrieg ein Desaster für die Schweizer Wirtschaft, es wurde kaum noch gebaut. Zugleich lebten sich Frischs Vater und der Rest der Familie auseinander, worunter Max als Kind am meisten litt. So fremd ihm der Vater war, so nahe stand ihm die Mutter. Auf der »Liste der Dankbarkeiten« im zweiten Tagebuch steht sie zuoberst. Sohn und Mutter beteuerten einander immer von neuem emphatisch, sie gehörten zusammen, »wie Menschen wohl nicht inniger zusammengehören können« (so der Sohn); »zu diesem Zusammensein ist uns schon vor Papas Weggang der Weg gewiesen worden« (so die Mutter).66 Zu Bekenntnissen dieser Art kam es aber meist, wenn Frisch getrennt von der Mutter lebte und er sie über das Alleinsein hinwegtrösten wollte, sei es, weil er auf Reisen, sei es, weil er verliebt war und also verbal einen Wunsch-Zustand zelebrierte, um den realen Ist-Zustand zu mildern.
eine ödipus-situation? Die Beziehung zur Mutter war zweifellos ungewöhnlich eng. Aber ödipal eng? Immerhin so eng, dass Frisch sich genötigt sah, zu weit gehenden Deutungen vorzubeugen: Er glaube nicht, »dass es eine Ödipus-Situation war«67, keine Beseitigung des Vaters, um mit der Mutter zu leben. Obwohl er dann noch im Alter von dreißig Jahren, als es schon »nicht mehr natürlich« war, mit ihr zusammenwohnte, aber als Sohn, wie er betonte.68 Müßig zu sagen, dass ihn Mutterfiguren in seinem Werk selten herausforderten. Er hatte ja die eigene Mutter, die präsent genug war, um das Thema literarisch auf Sparflamme zu halten.
Ein Medaillon, für Frisch eine Art »Ikone«, die noch in seiner letzten Wohnung einen Ehrenplatz einnahm, zeigt die Mutter in jungen Jahren – vor ihrer Zeit mit Franz Bruno Frisch. Sie ist äußerst vorteilhaft im Halbprofil abgebildet, und da sie eine weiße Bluse trägt, verfließt ihr Körper auf Brusthöhe mit dem ebenso weißen Hintergrund. Den sichtbaren Teil verhüllt die bis oben geschlossene Bluse, während ein keckes, dunkles Band auch den Hals noch zum Verschwinden bringt. Eine züchtige Komposition und trotzdem nicht ohne Reiz. Man denkt unweigerlich an die Vermummungsästhetik, wie sie der junge Max Frisch 1933 im Feuilleton Wenn Frauen verhüllt sind ein erstes Mal vorstellt: »Denn nie«, liest man dort, »ist eine Mode weniger verführerisch und damit ihrem teuflischen [!] Zwecke zuwiderlaufend, als wenn sie heikle Halsausschnitte und schamlose Kurzröcke pflegt, so dass der Mann, der immer ein Träumer ist, dadurch bestohlen wird um alles Erahnen. Und Überschätzen.«69
Man muss ferner an das zweite Tagebuch denken, worin Frisch Verdrängtes aufzählt und eben auch erwähnt, als Kind habe er aus Gottesfurcht eine Badehose in der Badewanne tragen müssen.70 Die ausgeprägte Schamkultur erlaubte es Mutter und Sohn, ihre intensive Beziehung auszuleben. Frischs einzige Anstreichung in Klaus Theweleits Männerphantasien betraf den »Inzestwunsch« und Ödipus als Namen dieses Wunsches. Theweleit zitiert in dem Passus Deleuze/Guattari, die zu erklären versuchen, wie Schuld und Scham in das Individuum kämen: »Das Gesetz gebietet uns: Du wirst deine Mutter nicht heiraten und deinen Vater nicht töten. Und wir folgsamen Subjekte sagen uns: Das also wollte ich!«71 Das Schamgefühl hatte bei Frischs Mutter auch mit Standesbewusstsein zu tun. Sie fürchtete sich vor der Deklassierung, als ihr Mann beruflich doch nicht mehr gefragt war. Die Gewissheit, aus besserem Haus zu kommen und einen Mann zu haben, der solch bessere Häuser baute, konnte sie sich nicht mehr leisten.
ein geflügeltes wort: Die Welt sieht nicht aus, wie der kleine Max sie sich vorstellt. Im Fall des kleinen Max Frisch wüssten wir gerne, wie die Welt aussah, die er sich vorstellte. Nur hat der große Frisch fast nichts darüber geschrieben. Warum nicht? Weil das Leben schlicht nicht in der Kindheit beginnt, wenn sie glücklich war? Erinnerungen an die ersten Jahre sind wie eine Rückkehr in das eigene dunkle Kinderzimmer. Man tappt vorsichtig oder ungeduldig darin herum, ohne Ahnung, was an Unaufgeräumtem herumliegen, beim Drauftreten zerbrechen oder den Eindringling zu Fall bringen könnte. Warum hat Frisch diese Tür nie richtig aufgestoßen? War das, was sich dahinter verbarg, für ihn verstaubter Plunder? Oder gab es etwas zu verdrängen? Wenn er wenig über seine Kindheit mitteilte, habe das nichts mit erlittenen Traumatisierungen zu tun, sagte der Freund Peter Bichsel, »im Gegenteil, er hätte darüber geschrieben, wenn dem so wäre.« Auch wenn er erzählte, sich erinnerte, begann sein Leben frühestens mit seinem Studium an der ETH, der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. »Lag es daran«, so Bichsel weiter, »dass er Wert darauf legte, ganz selbst jemand zu sein, ganz selbst zu denken, ganz selbst sich das Leben – falsch und richtig – einzurichten?«72