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Geheimnis Meer – die besondere Urlaubslektüre
»Nach dem Sternenhimmel ist das Größte und Schönste, was Gott erschaffen hat, das Meer.«
Adalbert Stifter
»Das Meer ist keine Landschaft, es ist das Erlebnis der Ewigkeit.«
Thomas Mann
Kaum ein anderer Ort auf der Welt zieht die Menschen mehr an als das Meer. Es spricht all unsere Sinne unmittelbar und intensiv an – die glitzernde Oberfläche über blauen oder grünen Tiefen, der sanfte Rhythmus des Wellenschlags, die tosende Brandung am Strand, die salzig-würzige Brise … Beim Anblick seiner Erhabenheit, der tödlichen Gefahr, die es in sich birgt, wird uns unsere eigene Begrenztheit umso deutlicher bewusst; fasziniert und ängstigt uns gleichermaßen das Übermächtige, das Energische, das Numinose des Meeres.
Richard Reschika nähert sich dem Geheimnis »Meer« von verschiedenen Seiten und präsentiert seine mythologische, philosophische, psychologische und poetische Dimension. Ergänzt wird das Buch durch spezielle Meditationen, die direkt am Meer oder auf dem Meer durchgeführt werden können.
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Seitenzahl: 191
Veröffentlichungsjahr: 2012
Meiner Mutter,
Elena Cornelia Reschika, geb. Huniade † 2011, die so gern im Schwarzen Meer schwamm, in Liebe und Dankbarkeit gewidmet.
»Und immer ins Ungebundenegehet eine Sehnsucht ...«
Friedrich Hölderlin
Das Beste ist das Wasser.
Pindar
Als meine Leidenschaft für das Meer erwachte, hatte ich das fünfunddreißigste Lebensjahr bereits überschritten. Am Rande der rumänischen Karpaten geboren, galt meine Liebe bis dahin ausschließlich der Welt der Berge und Täler. Doch damit stehe ich keineswegs alleine da. Auf diesen erstaunlichen inneren Wandel hin angesprochen, berichten mir seitdem viele Menschen von ganz ähnlichen Erfahrungen. Bei einigen von ihnen setzte die große Passion für das Meer, für alles Maritime, Nautische interessanterweise desgleichen erst in der zweiten Lebenshälfte ein: nel mezzo del cammin di nostra vita, um mit Dante Alighieris (1265 - 1321) Divina Commedia zu sprechen. Über die Gründe und Ursachen dafür lässt sich freilich nur spekulieren, gibt es keine gesicherten psychologischen Erkenntnisse. Nur von der späten Liebe weiß man, dass sie in der Regel beständiger ist ...
Vielleicht hat diese große Sehnsucht nach dem Meer ja mit einem stärker werdenden Wunsch nach Entgrenzung, nach einer »Einkehr aus der Vereinzelung der Individuation in das Bewusstsein der Einheit mit allem, was ist«1 zu tun, wie Malvida von Meysenbug (1816 - 1903), die Nietzsche-Freundin, die Überwindung des philosophischen principium individuationis umschrieben hat. Möglicherweise drückt sich in dieser Haltung aber auch – wie der Tiefenpsychologe Sándor Ferenczi (1873 - 1933), ein Schüler Sigmund Freuds, mutmaßt – der regressive Wunsch nach einer Rückkehr in das »Meer« im Leib der Mutter aus oder gar zu unserer in der Urzeit der Evolution verlassenen »Meer-Existenz«. Böse Zungen behaupten indes, dass die Menschen lediglich aus Gründen der Bequemlichkeit das Meer wählen würden, wo man sich das grandiose Panorama eben nicht erst wie in den Bergen mühsam erwandern muss, man sich der Muße und Beschaulichkeit, dem Dolce far niente, der glücklichen Apathie – oder vornehmer ausgedrückt der Kultur des Otium – ohne Umschweife hingeben kann. Doch wie dem auch sei.
Zweifelsfrei fest steht, dass die jeweilige Landschaft, in die man hineingeboren wird, in der man aufwächst, einen zwar prägen mag, aber nicht zwangsläufig ein ganzes Leben lang zum dezidierten Berg- oder Tiefland- beziehungsweise Meerliebhaber macht, man seine Vorlieben und Abneigungen einmal mehr, zum Glück sogar in radikaler Art und Weise, zu ändern vermag. Selbstredend gibt es Mischtypen, Naturliebhaber, die sich für das Meer, das Tiefland wie das Gebirge gleichermaßen zu begeistern vermögen und keinem Landschaftstypus den eindeutigen Vorzug geben würden.
Denn während die Seele, so der Philosoph Georg Simmel (1858 - 1918), »ihr eigenes Lebensgefühl in das Meer transportiert«, in diese »überwältigende Dynamik« und das »ziellose Spiel seines Rhythmus’«, sei das Leben im Hochgebirge »von etwas umfangen und in etwas hineingewebt, das stiller und starrer ist, reiner und höher als das Leben je sein kann«.2 Dem Hochgebirge, im Falle Simmels, den Alpen, eine größere transzendente Wirkung auf die menschliche Seele zuschreiben zu wollen als dem Meer, bleibt selbstredend ein subjektives Unterfangen. Ein Meerliebhaber könnte mit guten Argumenten das Gleiche vom Meer behaupten.
Der alten Frage, warum Menschen sich zu einer bestimmten Landschaft hingezogen fühlen, geht seit den 1980er-Jahren ein neuer Wissenschaftszweig, die so genannte Landschaftspsychologie nach, der wir uns noch widmen werden. Ein Forschungsergebnis sei jedoch schon vorweggenommen: Mit zunehmendem Alter wächst auch die Empfänglichkeit für die (unberührte) Natur.
In meinem Fall lagen die Dinge jedoch anders. Ich hatte die Fronten ein für alle Mal gewechselt. Fortan wurde das Meer – und nicht mehr das Gebirge – zur bevorzugten Projektionsfläche meiner Sehnsüchte. Den Ausschlag dafür gaben vor allem diverse Reisen ans und auf dem Ägäische/n Meer: zum Peloponnes sowie zu den Inseln Samos und Santorini. Besonders Thera, wie die Griechen die südlichste Kykladeninsel Santorini nennen, hatte es mir angetan. Ja, noch viel mehr: Seit ich Santorini kenne, das nicht nur die meisten Sonnenstunden in ganz Griechenland aufweist, sondern auch mit trockenen Weiß- und Süßweinen von höchster Qualitätsstufe aufwartet – der Vinsanto wurde früher sogar von der orthodoxen Kirche als Messwein verwendet –, hat mein persönliches, nur in meiner Imagination angesiedeltes Elysium konkrete geographische Koordinaten bekommen: 36° 25’ N-Breite, 25° 26’ O-Länge. »Hierher ihr Zecher! / Hier reift der Gott des Feuers Feuertrauben / Und hat das Eiland selbst geformt zum Becher.« 3, dichtete schon Emanuel Geibel (1815 - 1884) in seinem Ritornelle von den griechischen Inseln über Santorin.
Um das Jahr 1645 v. Chr. hatte sich dort ein gewaltiger Vulkanausbruch ereignet, der die Insel, diese »Perle der Ägäis«, förmlich auseinanderriss und die daher von einigen Forschern mit dem legendären, erstmals bei Platon (428/427 - 348/347) erwähnten Untergang von Atlantis in Zusammenhang gebracht wird: »Indem aber in späterer Zeit gewaltige Erdbeben und Überschwemmungen eintraten ..., indem nur ein schlimmer Tag und eine schlimme Nacht hereinbrach, (wurde) in gleicher Weise auch die Insel Atlantis durch Versinken in das Meer den Augen entzogen.«4, heißt es in Platons Dialog Timaios. Dieses versunkene Reich sollte in den kommenden Jahrhunderten zum Symbol für das verlorene Paradies beziehungsweise das Goldene Zeitalter avancieren. Wer sich für die Vulkanausbrüche, aber auch die sensationellen archäologischen Funde auf Santorin interessiert, kommt, nebenbei bemerkt, um ein Buch nicht umhin: Ferdinand André Fouqués Santorin et ses éruptions aus dem Jahre 1879, das es mittlerweile auch auf Englisch zu lesen gibt5 – ein Klassiker der geologisch-vulkanologischen Literatur und ein Muss für alle Fans dieser Trauminsel.
Bei der Niederschrift dieser Zeilen erreicht mich die freudige Nachricht, dass die Leserinnen und Leser der auflagenstarken US-Reisezeitschrift Travel + Leisure das griechische Santorin-Archipel zur schönsten Insel der Welt 2011 gekürt haben: Heiland, was für ein Eiland!
Zu meinen unvergessenen Meer-Erlebnissen zählt folgendes: Eines Nachtmittags machten wir bei schönstem Sommerwetter einen Bootsausflug in die Caldera, wie der Meer-Kessel vulkanischen Ursprungs nicht nur auf Spanisch, sondern auch bei den Griechen heißt. Nach Zwischenstopps und kurzen Landgängen auf den kleinen Vulkaninseln Palea und Nea Kameni, der Alten und Neuen Verbrannten, sowie auf der etwas größeren Insel Thirassia fuhren wir in Richtung des Seefahrer- und späteren Künstlerstädtchens Oia mit seinen leuchtend weißen Häuserkuben und seinen blauen Kirchenkuppeln, die beide einen markanten Kontrast zum dunklen Lavagestein der dreihundert Meter hohen, steil abfallenden Felswände an der Westküste Santorinis bilden.
Ausnahmslos alle Passagiere blickten nun erwartungsvoll gen Sonnenuntergang. Um diesen noch intensiver, noch konzentrierter erleben zu können, ließ der Kapitän den Motor abstellen. Man hörte nur noch das sanfte rhythmische Plätschern der Wellen gegen die schaukelnde Bootswand. Es herrschte eine andächtige, fast religiöse Stimmung. Der Sonnenuntergang hüllte das Meer in ein mild leuchtendes Abendlicht. Wohl kaum einer an Bord konnte sich einem Gefühl der Erhabenheit, aber auch einer gewissen Nachdenklichkeit und Melancholie des Abschiednehmens entziehen – selbst jene eifrigen »Sammler von Sonnenuntergängen« nicht, die geschäftig ihre Kameras in Position brachten, um dieses majestätische, die Vergänglichkeit allen Seins (schließlich war sogar die sagenumwobene Hochkultur Atlantis einmal untergegangen!) so sinnfällig vor Augen führende Schauspiel doch noch festzuhalten, es zumindest auf analoge oder digitale Art und Weise zu bannen.
Bemerkenswerterweise vermochte das Moment des Flüchtigen, Vorübergehenden letzten Endes aber nicht die Oberhand zu gewinnen. Selbst dann nicht, als die fingernagelgroße rötliche Sonne hinter dem Horizont, jener feinen Naht zwischen Meer und Himmel, verschwunden war und die mystische blaue Stunde einsetzte. Denn angesichts des dunkler werdenden Meers und des heraufziehenden Nachthimmels mit seinen ersten, noch blass funkelnden Sternen hatte man zugleich den untrüglichen Eindruck von etwas Zeitlosem, Überzeitlichen. Und vielleicht sind es ja gerade diese beiden einander eigentlich ausschließenden, einen schroffen Gegensatz darstellenden Momente, die – jenseits aller offensichtlichen ästhetischen Qualitäten des grandiosen Naturschauspiels – den eigentlichen Reiz und Zauber von Sonnenuntergängen ausmachen: die Erfahrung des Transitorischen in paradoxem Verbund mit dem Unwandelbarem, Ewigen: coincidentia oppositorum, der Zusammenfall der Gegensätze.
Dieser Sonnenuntergang sollte noch lange in meinem Inneren nachschwingen, tut es immer noch, und wurde im Nachhinein sogar zu einem wesentlichen Impulsgeber, das vorliegende Buch über die Faszination des Meeres zu schreiben und dadurch herauszufinden, warum und wie es unsere Seele berührt. Auch glaube ich seither ein besseres Verständnis jenes berühmten Satzes gewonnen zu haben, den Vincent van Gogh aus Arles im September 1888, zwei Jahr vor seinem Tod, in einem Brief an seinen Bruder Theo schrieb: »Die Hoffnung durch einen Stern ausdrücken. Die Leidenschaft eines Menschen durch einen strahlenden Sonnenuntergang.«6
Freiburg an der Dreisam, im September 2011
Richard Reschika
Ich bin, du weißt es, Meer, dein Schüler und mög ich nie verleugnen, dass du mein Meister bist.
Rafael Alberti
»Das Meer bedeutet mir alles! Es bedeckt sieben Zehntel unseres Erdballs. Sein Hauch ist rein und wohltuend. Es ist eine unermessliche Wüste, wo der Mensch niemals einsam ist, denn er fühlt, wie das Leben um ihn herum pulsiert. Das Meer ist das Medium des Übernatürlichen, Phantastischen, es ist einzig Bewegung, Hingabe, die lebendige Unendlichkeit ...«7 Wer kennt sie nicht, Kapitän Nemos pathetische Liebeserklärung an das Meer aus Jules Vernes 1869/70 veröffentlichtem Roman Vingt mille lieues sous les mers (20.000 Meilen unter den Meeren), in dem der französische Science-Fiction-Autor mit seiner Nautilus die technische Entwicklung des Unterseebootes hellsichtig vorwegnimmt?! Ist es doch gerade das Meer, das für den Protagonisten des Romans zur zweiten, zur besseren Heimat wird, nachdem dieser, von schweren Schicksalsschlägen getroffen, der Welt den Rücken zu kehren beschließt, um in den geheimnisvollen Tiefen der Weltmeere allerlei fantastische Abenteuer zu erleben, vom Kampf mit einem Riesenkraken bis hin zur Entdeckung des sagenhaften Atlantis.
»Nach dem Sternenhimmel ist das Größte und Schönste, was Gott erschaffen hat, das Meer«8, behauptete etwa um die gleiche Zeit der österreichische Dichter Adalbert Stifter (1805 - 1868). Sein deutscher Kollege Thomas Mann (1975 - 1955), der in Lübeck an der Ostsee Geborene und Jahre lang in Santa Monica an der nordamerikanischen Pazifikküste im Exil Lebende, ging noch einen Schritt weiter, als er schrieb, dass das Meer gar »keine Landschaft«, sondern das »Erlebnis der Ewigkeit« sei, ein »metaphysischer Traum«.9 In der Tat, wie kaum ein anderer Ort auf der Welt zieht das Meer die Menschen bis heute geradezu magisch an. Für viele wurde es zur großen Leidenschaft ihres Lebens: nicht nur zur Urlaubszeit und keineswegs nur für Regatta-Segler, Apnoe-Taucher, Big-Wave- und Kite-Surfer ...
Das Meer spricht all unsere Sinne unmittelbar und intensiv an: ein Gesamtkunstwerk. Wir sehen seine, je nach Breitengrad, türkisfarbene bis tiefblaue, in der Sonne glitzernde Oberfläche sich bis zum Horizont erstrecken – diesen zuweilen unmerklich in den Himmel übergehen. Wir hören den sanften zweitaktigen (erotischen) Rhythmus des Wellenschlags, aber auch die tobende Brandung am Strand. Wir riechen die salzige, würzige Brise. Und wir spüren seine kühle, erquickende Nässe auf unserer Haut, vermögen ganz und gar darin einzutauchen, ahnen seine Tiefe. Kurzum, das Meer macht uns glücklich.
»A clear horizon, no clouds, no shadows, nothing ...«10, antwortete der die menschlichen Seelenabgründe auslotende Filmemacher Alfred Hitchcock (1899 - 1980) auf die Frage nach seiner persönlichen Vorstellung vom Glück. Die unter schweren Depressionen leidende US-amerikanische Schriftstellerin Sylvia Plath (1932 - 1963) sah das Meer sogar als ein echtes Therapeutikum an. In ihren Briefe(n) nach Hause schrieb sie: »Ich möchte da sein, wo nichts mich an die Vergangenheit erinnert, am Meer, das für mich die große Heilende ist.«11 War es der von ihr immer wieder heraufbeschworene »Atem des Meeres«, der ihr half, ihr – allzu kurzes – Leben zu fristen?
Dabei wissen wir – und nicht erst seit der südostasiatischen Flutkatastrophe im Jahre 2004 und dem japanischen, einen nuklearen Gau bewirkenden Tsunami 2011 – zugleich um das Abgründige, die tödliche Gefahr, die von ihm ausgehen kann, um unsere eigene Kleinheit, unsere Kreatürlichkeit und um seine ganze Erhabenheit. »Morgen vergehst Du, doch ich vergehe nie. Deine Gebeine werden in der Erde ruhen, ja schon nach wenigen Jahrhunderten zu Staub zerfallen sein, doch ich werde majestätisch und unberührt mein großes, gleichmäßiges Leben weiterführen, das mich Stunde für Stunde im harmonischen Einklang mit den fernen Welten hält.«12, lässt der bedeutende französische Kulturhistoriker Jules Michelet (1798 - 1874) das Meer zum Menschen sagen. Ein Gedanke, den Michel Foucault aufgreifen wird, wenn er am Ende seines modernen philosophischen Klassikers über Die Ordnung der Dinge (Les mots et les choses) aus dem Jahre 1966 die Wette eingeht, dass eines Tages »der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand«13.
Was für das Erhabene, das Sublime des Meeres gilt – wir folgen hier dem Religionsphänomenologen Rudolf Otto (1869 - 1937) –, gilt in gleicher Weise für das Heilige: Das Übermächtige, das Energische, das Numinose – auch das »Ganz Andere« genannt – erstaunt, fasziniert und ängstigt gleichermaßen: »... das ›Ganz andere‹ (ist) das Fremde und Befremdende, das aus dem Bereich des Gewohnten, Verstandenen und Vertrauten und darum ›Heimlichen‹ überhaupt Herausfallende und zu ihm in Gegensatz sich Setzende und darum das Gemüt mit starrem Staunen Erfüllende.« 14 Himmel und Abgrund gehören zusammen.
Für diese doppel-, wenn nicht gegensinnige Erhabenheit des Meeres, seine Janusköpfigkeit haben die Japaner ein eigenes Wort: kashikoshi. Mit ihm verbinden sie einerseits eine schrecken- oder respekteinflößende Macht, das Gefühl des Respekts selbst, das man einer Autorität, einer »erhabenen« Erscheinung überhaupt entgegenbringt, und andererseits das Erstrebens- und Wünschenswerte, das Geschickte, die Gewandtheit, das Außerordentliche, Extreme. Das Meer ist für sie mithin bedrohlicher Angst- und Trostraum in einem. Letzteres sogar im Sinne des Todes, haben die Japaner seit alters her doch die Oberfläche des Meeres als Grenze zu einer anderen, einer jenseitigen Welt aufgefasst, welche die Anhänger des Amida-Buddhismus als »Reines Land« (jôdo) bezeichnen. 15 Auch Tsunami ist ein japanisches Wort, wobei Tsu »Hafen« und nami »Welle« bedeutet – wir es folglich mit einer Welle zu tun haben, die besonders in Häfen große Verwüstungen anrichtet.
Trotzdem: Die Offenheit, Tiefe, Weite und Ferne des Meeres wirkt seit jeher vor allem beruhigend, entspannend und wohltuend auf Körper, Seele und Geist: »Das freie Meer befreit den Geist«, stellte Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832) im zweiten Teil seines Faust fest. Ob vom Strand im Liegestuhl oder von einem Schiff aus, das Meer lädt desgleichen – und zwar auf eine ganz natürliche, unaufdringliche Art und Weise – zum Träumen, zum Fantasieren und nicht zuletzt zur Kontemplation ein, tief schürfende Gedanken inklusive. Kaum ein Naturschauspiel lässt sich mit einem Sonnenuntergang am Meer vergleichen, ist majestätischer. Den Blick endlos schweifen lassen, das niemals langweilig werdende Spiel der Wellen beobachten, frei durchatmen, alle Sorgen vergessen, nichts denken, einfach im Hier und Jetzt verweilen, sich für Augenblicke ganz mit der Natur verbunden fühlen, mit ihr verschmelzen.
Nicht wenige Menschen sprechen in diesem Zusammenhang sogar von einer Art Flow-Erlebnis, jenem Phänomen, das der 1934 geborene ungarisch-amerikanische Psychologe Prof. Dr. Mihaly Csikszentmihalyi ab Mitte der 1970er-Jahre in seinen Büchern ausführlich analysiert hat: Das angenehme, freudige, mitunter ekstatische Gefühl, im Fluss zu sein, über die Begrenzungen des Ich hinauszuwachsen und ganz in dem aufzugehen, was man gerade tut.
Mit den poetischen Worten des Beatniks Jack Kerouac (1922 - 1969) aus seiner frühen, erst 2010 publizierten Erzählung The sea is my brother (Mein Bruder, die See): »... das wohltuende Auf und Ab des Schiffes, das den Horizont umspannende Meer, das satte, klare Geräusch des die Wellen zerteilenden Buges ... und die langen Stunden, die er an Deck in der Sonne liegen würde, das Spiel der Wolken beobachtend und berauscht von der vollen, feuchten Brise. Ein einfaches Leben! Ein ernstes Leben! Sich die See zu Eigen machen, über sie zu wachen, ja, die Seele in sie zu versenken, sie zu akzeptieren und zu lieben, als zählte und existierte allein sie!«16
Zwischen Mensch und Meer scheint es eine besondere Resonanz zu geben. Doch was genau löst das Meer in unserem Gemüt aus, worin besteht eigentlich seine Faszination, sein Eros? »Ich selbst kann mir im Grunde nicht erklären, warum das Meer eine solche Faszination auf mich ausübt. Es spricht zu mir, mit leiser, ernster Stimme, und jeder neue Aspekt, den ich an ihm entdecke, versetzt meinen Geist in sympathetische Schwingungen, so wie die zarten Borstenhaare einer Krabbe noch die feinste Bewegung des Wassers registrieren«17, gesteht James Hamilton-Paterson in seiner Essaysammlung Vom Meer. Über die Romantik von Sonnenuntergängen, die Mystik des grünen Blitzes und die dunkle Seite von Delfinen aus dem Jahre 2010.
Freilich, die Biologen sagen uns, dass alles Leben auf der Erde vor Millionen Jahren aus dem Meer kam und dass auch unser Körper zu rund zwei Dritteln aus Wasser besteht, ja wir selbst neun Monate lang eine gleichsam ozeanische Erfahrung en miniature gemacht haben. Ein Gedanke, den wir bereits aus vielen Weltschöpfungsmythen her kennen, die den ersten Impuls der Schöpfung in den Wasser-Schoß des Chaos, oftmals dargestellt durch eine Muttergottheit, verlegen beziehungsweise in einer Urzeitflut die Quelle allen Lebens entdecken.
Doch neben den positiven Archetypen der fruchtbaren, Schutz gewährenden Meergöttin gibt es von Beginn an auch den negativen Archetypus der verführerischen Wasserfrau, etwa in Gestalt der homerischen Vogelfrauen-Sirenen oder der Nymphen, Najaden, Nixen, Melusinen, Undinen und Meerjungfrauen, die – halb Frau, halb Fisch – den Mann mit ihrer Schönheit und ihrem Gesang in die Tiefe ziehen und in ihr unterirdisches Reich locken, aus dem er nie wieder auftaucht. Dem Meer der Mythen und Märchen ist unser Anfangskapitel Göttin, Mutter und Verführerin gewidmet.
Das Wasser stand aber auch am Beginn der Philosophie. War es doch der griechische Naturphilosoph und Vorsokratiker Thales von Milet, der um 600 v. Chr. an der Westküste Kleinasiens, in der heutigen Türkei, im Wasser das erste Prinzip und den Grundstoff alles Seienden erkannte. Spätestens seit Friedrich Nietzsche (1844 - 1900) dient das Meer – etwa in seinem Zarathustra – auch als Metapher für ein neues, ein dynamisches Denken – ein Philosophieren, das alles Fixe, Schematische zu überwinden trachtet und nicht müde wird, nach dem Glück Ausschau zu halten: »Es gibt noch eine andere Welt zu entdecken – und mehr als eine! Auf die Schiffe, ihr Philosophen!«18, ruft der Philosoph mit dem Hammer in seiner Fröhlichen Wissenschaft seinen Zunftgenossen zu. Desgleichen geht es dem Philosophieren heute weniger denn je darum, zu einem bestimmten Ziel zu gelangen – zu einem System, einer Kategorientafel. In seinen autobiographischen Schriften beschreibt Karl Jaspers (1883 - 1969), wie die frühe Begegnung mit dem Meer, in Norderney, ihn zur Philosophie brachte.
Psychologen gilt das Meer als Sinnbild unerschöpflicher Lebenskraft, aber auch des alles verschlingenden Abgrundes, insofern in der Psychoanalyse dem Doppelgesicht der gebenden und nehmenden, gewährenden und strafenden Großen Mutter verwandt. Als Reservoir zahlloser ungehobener Schätze und im Dunkel verborgener Gestalten ist das Meer vor allem Sinnbild des Unbewussten, der Tiefenschichten der Persönlichkeit. Darüber hinaus sahen Psychologen im Meer ein Symbol des Weiblichen überhaupt und versuchten dem von vielen Menschen erlebten, ans Religiöse grenzenden »ozeanischen Gefühl« im Sinne einer Allverbundenheit mit dem Ganzen auf den Grund zu gehen.
Auch die Dichter beschwören immer wieder eine enge Verwandtschaft zwischen Meer und Mensch. Viele Schriftsteller finden seit nunmehr zweitausend Jahren in der abenteuerlichen Lebensfahrt auf dem Meer der Welt eine unvergleichlich starke, anschauliche Daseinsmetapher, einen Topos, den sie stets aufs Neue variieren – das Meer, das Schiff, das Scheitern, der Hafen usw. –, von Seneca und Augustinus über Andreas Gryphius und Ludwig Tieck bis hin zu Friedrich Nietzsche, Franz Kafka und Hans Magnus Enzensberger, bei dem diese tradierten Sinnbilder allerdings vollends ihre Symbolkraft einbüßen sollten.
Seit dem Goldenen Zeitalter der holländischen Malerei im 17. Jahrhundert etablierte sich die Marine- beziehungsweise Seemalerei als eine Sondergattung der Landschaftsmalerei. Doch erst Anfang des 19. Jahrhunderts entdeckte die Malerei die Darstellung der »leeren See«. Von den Romantikern Caspar David Friedrich und William Turner lässt sich dergestalt über Claude Monet und Emil Nolde bis hin zu den modernen Seestücken eines Gerhard Richter ein großer Bogen schlagen. Denn all den Genannten ist trotz unterschiedlichster Ausdrucksformen eines gemeinsam: Der bewusste Verzicht auf alles unnötige Beiwerk in der malerischen Darstellung des Meeres, die direkte Auseinandersetzung mit seinen elementaren, atmosphärischen, emotionalen und nicht zuletzt metaphysischen Aspekten.
Zur schier unerschöpflichen Inspirationsquelle sollte das Meer spätestens seit Claude Debussys »symphonischer Skizze« La Mer aus dem Jahre 1905 auch für die Komponisten der Klassik werden. Unser musikalischer Streifzug wird uns unter dem Titel Erotischer Zweitakt-Rhythmus – Das Meer der Musiker jedoch desgleichen durch die moderne Rock- und Popmusik führen: zu den Beatles-Songs Yellow Submarine und Octopus’s Garden, zu Pink Floyds Stück Echoes sowie zu Robert Wyatts sehnsüchtigmelancholischem Sea Song aus dem legendären Album Rock Bottom.
Als unermesslich große Fläche wurde das Meer vor allem in den großen Religionen und Mystiken der Welt, nicht nur der christlichen, zu einem der bildmächtigsten Symbole der Unendlichkeit, des Absoluten. Dabei werden die einzelnen Wassertropfen oftmals mit dem Menschen beziehungsweise mit seiner Seele gleichgesetzt. Viele Mystiker vergleichen ihre ekstatische Unio mystica mit dem Einswerden von Tropfen und Meer. Die letzte unserer sieben Meer-Dimensionen Erlebnis der Ewigkeit ist daher den religiösen Erkenntnissen und spirituellen Erfahrungen gewidmet, die vor allem christliche Mystikerinnen und Mystiker im Laufe der Jahrhunderte mit dem Meer gemacht haben: dem äußeren wie dem inneren, dem sichtbaren wie dem verborgenen Meer.
Dergestalt versuchen wir im vorliegenden Buch, uns dem faszinierenden Geheimnis »Meer« von verschiedenen Seiten her zu nähern: seine mythologische, seine (natur-)philosophische, aber auch seine tiefenpsychologische, poetische, malerische, musikalische und mystisch-religiöse Dimension auszuloten.
Den Abschluss des Buches bildet ein Kapitel, das den theoretischen, kulturhistorischen Part des Buches praktisch ergänzt, und zwar in Gestalt einer Fantasiereise ans Meer sowie einer Meer-Meditation mit offenen Augen.
Aus dem Meer stieg dort die Ehrfurcht gebietende, schöne Göttin, Blüten sprossen unter den Schritten ihrer Füße ...
Hesiod
Das Meer ist weiblich. Dafür spricht nicht nur die Tatsache, dass sein grammatisches Geschlecht in vielen Sprachen der Welt wie beispielsweise im Französischen weiblich ist: la mère – wie auch, sehr passend, der Mond: la lune. Und nicht zu vergessen: alle Schiffe, samt ihren holzgeschnitzten mystischen Galionsfiguren, die sie auf Kurs halten und vor Unglück bewahren sollen! Im Deutschen mag der Gebrauch des Neutrums im Allgemeinen durch das Vorhandensein lebloser Dinge veranlasst sein, wobei sich allerdings die Frage stellt, warum ausgerecht »das« Meer, also jene Quelle, jener Schoß allen Lebens, zu den toten Dingen gezählt werden soll ...?! Einmal mehr scheint die Logik der Sprache die Wirklichkeit nach ihren eigenen Regeln zu strukturieren und ihr dabei nicht gerecht zu werden.
Denn: Omnis vita ex mare