Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Jason Waterstone ist ein virtuoser Tänzer und Choreograph, der bereits in jungen Jahren als Jahrhunderttalent gefeiert wird. Sein Weltruhm ist vorprogrammiert, sein Aufstieg bahnbrechend. Der Druck, unter den Jason durch seine frühen Erfolge gerät, und die Intrigen seines Kollegen und größten Kontrahenten Roger Stevenson überschatten seine Karriere. Aufhalten können sie sie jedoch nicht. Erst Jasons plötzlich ausbrechende Schizophrenie-Erkrankung leitet eine dramatische, zerstörende Lebenswende ein. Seine Wesensveränderungen wirken sich auf Beruf und Privateben gleichermaßen fatal aus.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 441
Veröffentlichungsjahr: 2021
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Petra Vetter
Meermädchen
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Das Buch
Die Autorin
Impressum
Dank
Ein Jahrhunderttalent – Prolog
London 09. April 2015, Teil I
Sommer 1990
Teenagerzeiten
Tänzerleben
Karriere
Der Seele Finsternis
Weltruhm
London 09. April 2015, Teil II
Der Herzschlag der Stille
Ein Jahrhunderttalent – Epilog
Anhang
Bisher von Petra Vetter erschienen
Impressum neobooks
Jason Waterstone ist ein virtuoser Tänzer und Choreograph, der bereits in jungen Jahren als Jahrhunderttalent gefeiert wird. Sein Weltruhm ist vorprogrammiert, sein Aufstieg bahnbrechend.
Der Druck, unter den Jason durch seine frühen Erfolge gerät, und die Intrigen seines Kollegen und größten Kontrahenten Roger Stevenson überschatten seine Karriere. Aufhalten können sie sie jedoch nicht.
Erst Jasons plötzlich ausbrechende Schizophrenie-Erkrankung leitet eine dramatische, zerstörende Lebenswende ein. Seine Wesensveränderungen wirken sich auf Beruf und Privateben gleichermaßen fatal aus.
Petra Vetterwurde in Hannover geboren, studierte an der dortigen Musikhochschule und tanzte in freien Kompanien an renommierten Bühnen. Später nahm sie ihre Tätigkeit als freiberufliche Choreographin und Regisseurin auf.
Die Erarbeitung ihrer Dramaturgien brachte sie zum Schreiben. Seitdem verknüpft Petra Vetter in Bühnenstücken ihre Choreographien mit eigener Prosa. Meermädchen ist Petra Vetters Debut-Roman, der einen Blick hinter die Kulissen des Theaters wirft.
Weiter Informationen zu Petra Vetters künstlerischer Arbeit und ihren Veranstaltungen finden Sie auf
www.petra-vetter-tanz.de
Texte: © 2021 Copyright by Petra Vetter
Umschlag: © 2021 Copyright by Petra Vetter
Gestaltung: by Alyssa Vetter, Janko Buve
Das Cover-Foto zeigt die Tänzer Isabella Heymann und Egid Mináč bei Proben zu Petra Vetters A Happy Ending
Verantwortlich für den Inhalt:
Petra Vetter
Büchnerstr. 4
51429 Bergisch Gladbach
Druck: neobooks – ein Service der Neopubli
GmbH, Berlin
An dieser Stelle möchte ich all denen danken, die mich während meiner Schreibphase ermutigten und an mich glaubten. Insbesondere meinen Lektorinnen Helgard Grosseschallau und Yamina Vetter, die mich mit ihren Kommentaren und Einwänden inspirierten. Und last but not least meiner Tochter Alyssa und ihrem Freund Janko für ihre tolle Covergestaltung.
Vaslav Nijinsky, einer der größten Solisten der Ballettgeschichte, kommt als Kind zweier Tänzer, Tomasz Nijinsky und Eleonora Bereda, mit polnisch-ukrainischen Wurzeln zur Welt. Über sein Geburtsdatum herrscht Uneinigkeit. Manchen Quellen zufolge wird er am 12. März 1888, 1889 oder 1890, anderen hingegen am 17. Dezember 1889 in Kiew geboren.
Ab 1900 besucht er, zusammen mit seiner Schwester Bronislava, die kaiserliche Tanzakademie in Sankt Petersburg.
1908 trifft Nijinsky den homosexuellen Impresario Sergei Djagilew, wird dessen Liebhaber und zum Star seines Ensembles Ballets Russes.
Auf einer Tournee durch Südamerika 1913 verliebt sich der bisexuelle Nijinsky in die ungarische Tänzerin Romola de Pulszky und heiratet sie noch im gleichen Jahr. Djagilew entlässt Nijinsky und Romola in einem Anfall von Eifersucht fristlos.
Im Ersten Weltkrieg gerät Nijinsky in ungarische Kriegsgefangenschaft. Die erlebten Gräuel werfen ihn aus der Bahn, werden zu albtraumhaften Visionen.
Erst 1916 bietet ihm Djagilew wieder eine Rolle in den Ballets Russe an. Während einer Nordamerika Tournee 1916 werden die Anzeichen einer psychischen Erkrankung immer deutlicher. Nijinsky leidet zuweilen unter Wahnvorstellungen und verfällt in religiös bedingte Konflikte. In Djagilew sieht er nun seinen ärgsten Feind.
1919 bricht Nijinsky bei einer privaten Vorstellung in St. Moritz, die er Hochzeit mit Gott nennt, mit einer schweren Nervenkrise zusammen. Die Diagnose ‚Schizophrenie‘ beendet seine Karriere. Er lebt von jetzt an in Kliniken und Pflegeeinrichtungen, umgeben von seelischer Finsternis; in innerer Qual, dämmert er 30 Jahre dahin. Erst eine Begegnung mit russischen Soldaten im Jahr 1945 befreit ihn von seinen Blockaden. Er zieht mit seiner Frau nach London und kann dort ein fast normales Leben führen.
Nijinsky stirbt am 8. April 1950 in London, wo er auch beerdigt wird. Drei Jahre später findet die Umbettung auf den Cimetière de Montmartre in Paris statt.
Als Tänzer aber bleibt Nijinsky ein unvergessenes Genie. Er beeindruckt durch seine außerordentliche Virtuosität, seine darstellerische Wandlungsfähigkeit, sein lyrisches Spiel, seine Grazie und seine Sprungtechnik. Sein Ballon - die Fähigkeit, einen Sprung scheinbar in der Luft zu halten- gekoppelt mit der Gabe zu lautlosen, sanften Landungen, gilt zu seiner Zeit als einmalig. Sein Name steht für perfekte Tanzkunst. Erst Rudolf Nurejews Talent (1938 -1993) wird mit dem Nijinskys verglichen.
Nijinsky identifiziert sich mit seinen getanzten Rollen, verschmilzt mit den Charakteren seiner Darstellung. So gewaltig seine Sprünge auch sind, so zart werden seine Bewegungen in lyrischen Passagen. Sie kommen aus dem Inneren, sein Gesicht zeigt Verzückung, absolute Glückseligkeit; der Tanz entrückt ihn, ist seine Bestimmung.
Von kleiner Statur und eher gedrungen gebaut, unterscheidet sich Nijinsky vom herkömmlichen Ideal eines Tänzers, kann die klassischen Prinzenrollen nicht gut füllen. Doch mit Mikhail Fokine engagiert sein Mentor Djagilew einen Choreographen, der das Androgyne und Katzenhafte Nijinskys erkennt und in Szene setzt.
Fokine kreiert als erster Choreograph ein Ballett ohne tragende Handlung, also ein ‚Ballet pour le Ballet‘ und gilt als Neuerer des Genres. Zum ersten Mal steht ein Tänzer gleichberechtigt mit einer Tänzerin auf der Bühne, befreit sich der männliche Part von seiner bisherigen Rolle, die ihn auf das Tragen und Stützen der Partnerin beschränkt.
Fokine hebt die klassische Geschlechterrolle auf, indem er dem männlichen Part eine androgyne Rolle zuweist, und Nijinsky wird zum Mittelpunkt von Handlungs- und Ausdrucksballetten. Als Goldener Sklave zeigt er in Scheherezade Verführung und Erotik, in Le Spectre de la Rose erscheint er einem jungen Mädchen, das mit einer Rose vom ersten Ball zurückkommt, als Geist ebendieser Rose. Die Grazie und Eleganz von Nijinskys Sprung durch das Fenster, mit dem er nach dem Pass de Deux das Mädchen wieder verlässt, wird in den Kritiken und beim Publikum als unerreichbar gefeiert.
Nach Fokines Entlassung aus der Djagilew Truppe übernimmt Nijinsky dessen Aufgaben, wird zum Choreographen der Ballet Russe, doch ist er der Aufgabe noch nicht gewachsen. Seine Unerfahrenheit, dem Ensemble neue Ideen zu vermitteln, werden zur Herausforderung. So stoßen die abgehackten, eindimensionalen, im Profil verlaufenden Bewegungen in L’Après-midi d’un faune auf erheblichen Widerstand bei den Tänzern. Bei der Uraufführung dieses Werkes kommt es durch die erotischen, sexuell motivierten Bewegungen zum Skandal.
Von ‚Fetisch und angedeuteter Onanie‘ ist in der Presse die Rede. Auch sein Werk Le Sacre du Printemps überfordert das Publikum; Nijinsky ist mit seinen Visionen seiner Zeit weit voraus. Beim Sacre verstärkt Strawinskis Musik die Ablehnung der Zuschauer. Noch während der Aufführung kommt es zu einem heftigen, gewalttätigen Tumult, und das Stück kann nur nach massivem Polizeieinsatz weitergeführt werden. Nijinsky steht die ganze Zeit auf einem Stuhl und schreit 'Sechzehn, Siebzehn, Achtzehn', um seinen Tänzern die Takte vorzuzählen, die wegen des Getöses der anwesenden Besucher die Musik nicht mehr hören. Nijinsky, der sich selbst als fühlenden Philosophen bezeichnet, ist durch die Reaktion schwer getroffen und wirkt während der Aufführung wie benommen. Später kommt es zum Krach zwischen ihm und Strawinski, weil dieser seine Musik durch die Choreographie herabgewürdigt sieht.
Nijinskys eigene, tief verwurzelte Selbstzweifel und seine emotional gefühlte Minderwertigkeit, die er als Tänzer in Rollen wie Petruschka zum Ausdruck bringt, werden bestärkt.
Sein Stern beginnt zu fallen. Seine Wahnvorstellung halten ihn immer stärker gefangen. Seine letzte Vorstellung Hochzeit mit Gott kann er nur mit Unterstützung seiner Frau Romola künstlerisch füllen. Er improvisiert in weiten Teilen, macht, scheinbar in Visionen, Impressionen und inneren Eindrücken gefangen, immer wieder viel zu lange Pausen, entfernt sich geistig von seinem Aufritt; dennoch applaudiert das Publikum, geht mit dem Künstler mit.
Die Vorstellung ist das Ende von Nijinskys Karriere, denn an ergebnisorientierte Trainings- und Probenarbeit ist nicht mehr zu denken.
Seine Liebe zum Tanz, die ihn eine Zeit lang getragen hat, ist seiner Psychose unterlegen; sein verzweifelter Kampf, sich durch die künstlerische Auseinandersetzung seine geistige Gesundheit zu erhalten, gescheitert. Nachdem er aus der Dunkelheit seiner Seele nach 26 Jahren wiederauftaucht, malt und zeichnet Nijinsky und wird Gastlehrer für junge Talente wie Serge Lifar. Sein eigener Weg als Künstler aber ist beendet.
Ich habe das Theater aus dem Leben heraus begriffen. Ich bin keine Erfindung. Ich bin das Leben. Theater ist Leben. Ich bin das Leben.
Vaslav Nijinsky
Ungläubig starrte Jason Waterstone auf die Bühne, während es ihm vor Zorn und innerem Aufruhr die Sprache verschlug. Die Vorhänge waren nach seinen Wünschen angebracht, desgleichen die Projektionsfolie für die Übertragungen seiner Video-Künstlerin Emily. Das Bühnenbild, bestehend aus dem großen Tauchtank mit den gläsernen Wänden und dem hohen Felsen dahinter, war ebenfalls aufgebaut, doch enthielt der Behälter trotz Probenbeginns kein Wasser. Er war leer, einfach leer.
Von den Mitgliedern seiner Company war er, wie immer der Erste am Probenort. Er brauchte Zeit mit dem ruhigen, unbelebten Raum, bevor er mit Menschen, Bewegungen, Musik und Geräuschen gefüllt wurde. Er wollte dessen Stille in sich aufnehmen, um sich auf ihn einlassen, mit ihm eins werden zu können. Als Tänzer und Choreograph arbeitete er nicht nur mit Schrittmaterial und Musik, sondern auch mit der Beschaffenheit seiner Spielstätte, die er in sein Werk integrieren musste, um eine harmonische Einheit aus Tanz, Zeit, und der räumlichen Begrenzung zu gestalten.
Obwohl er die Bühne seines Theaters kannte, veränderte sie sich bei jedem neuen Stück durch unterschiedliche Kulissenaufbauten, strahlte eine andere Atmosphäre aus, brachte neue Synergien. Doch mit seiner meditativen Sammlung vor Probenbeginn war es nun vorbei.
Wie sollte er arbeiten, wenn seine Solistin nicht im Tank schwimmen konnte? Sein Groll wuchs. Zwei lange Jahre hatte er für sein Projekt gekämpft, sich über alle Widrigkeiten und Bedenken seitens seines Intendanten Arthur Miles hinweggesetzt und mit seinem Sponsor Harris Sinclair verhandelt, um allen Unkenrufen zum Trotz sein größtes Werk, das Meisterwerk seiner bisherigen Laufbahn, zu verwirklichen. Und nun wurde er sabotiert. Doch von wem?
Ein Verdacht keimte in ihm auf, aber das würde er ihnen nicht durchgehen lassen. Er war nicht so weit gekommen, um jetzt aufzugeben. Sie würden ihn kennenlernen und spüren, mit wem sie es zu tun hatten.
Im Sturmschritt erreichte er das Büro seines Intendanten, versicherte sich hastig, dass Sonnenbrille und Wollmütze, die ihn vor dem Ideendiebstahl seiner Kollegen schützten, richtig saßen, dann stand er, ohne anzuklopfen im Zimmer.
Arthur Miles, ein mittelgroßer, drahtiger Mann in den Vierzigern, zuckte zusammen, als seine Tür aufflog. Konsterniert blickte er von seinem Computer auf und erblickte seinen Ballettdirektor. Wer sonst sollte auch einen derart vehementen Auftritt hinlegen, dachte Miles resigniert.
Und wie Jason wieder aussah. Eigentlich war er ein gutaussehender, hochgewachsener, schlanker Mann mit hellbraunem, welligem, dichtem Haar und ausdrucksstarken, intensiven braunen Augen, aber in letzter Zeit wirkte er ausgebrannt und irgendwie verwildert. Und wieso, um alles in der Welt, trug er an einem trüben, schon recht warmen Frühlingstag Sonnenbrille und Wollmütze?
Sein Ballettchef war der beste Mann, den er seit dessen Beginn als junger Tänzer jemals unter Vertrag hatte, doch seine Marotten wurden immer schlimmer, waren kaum noch tragbar. Seit er sein Stück Meermädchen inszenierte, häuften sich die Klagen über ihn. Er war launisch und unberechenbar geworden, und das Ensemble verweigerte nur deshalb die Zusammenarbeit nicht, weil es sich an die guten Zeiten mit ihm erinnerte, ihn deshalb nicht im Stich lassen wollte. Und weil er unbestritten der größte Tänzer und Choreograph seiner Zeit war. Miles Sorgen wurden gerade durch Jasons Erscheinen in seinem Büro nicht zerstreut, sondern eher verstärkt.
Es fiel in Miles Verantwortungsbereich, dass die Stücke im Programmheft bis zur Premiere ‚standen‘, wie es so schön im Theaterjargon hieß; doch das Ballett seines Chefchoreographen bereitete ihm Kopfzerbrechen. Und nun lief Jason in besorgniserregend desolatem Zustand vor ihm auf und ab, machte einen wirren Eindruck. Zerstörte ihn sein Ehrgeiz oder nahm er etwa wieder Drogen? Fragen, die Miles in Unruhe versetzten, seine beklemmenden Vorahnungen nicht besänftigten. Wahrte Jason überhaupt noch eine professionelle Distanz zu seiner Arbeit? Eigensinnig hatte er sich geweigert, seinem Stück einen Namen zu geben, hatte darauf bestanden, es mit dem Arbeitstitel Mermaid–Meermädchen im Programmheft aufzunehmen.
Sollte er ihn nach Hause schicken, ihm eine kurze Auszeit verordnen? In vier Tagen war Premiere. Er, Arthur Miles, war Intendant des berühmten Londoner Two Pieces Theatre; eine erneute geplatzte Premiere wie im Jahr 2012 konnte und wollte er sich nicht leisten. „Was kann ich für dich tun, Jason?“, fragte er besorgt und fuhr sich mit der Hand durch sein blondes, welliges Haar.
„Wie du wissen solltest, Arthur, haben wir in vier Tagen Premiere, der Tank ist leer und das Füllen und Aufheizen des Wassers auf eine akzeptable Temperatur dauert seine Zeit“, platzte es aus Jason heraus. „Kann mir irgendjemand verraten, wie ich so proben soll? Wir hatten eine klare Planung, die für die Katz ist, wenn sich keiner in diesem Saftladen daran hält.“ Miles zog die Augenbrauen hoch. Nicht wegen des Ausdrucks ‚Saftladen‘, sondern aufgrund der Fakten. Wie konnte es zu dieser Panne kommen? Jason hatte recht; der Tank sollte längst mit Wasser gefüllt sein. Die Arbeiter hatten ihn deshalb am Tag zuvor schon früh aus dem Probenraum auf die Studiobühne umgezogen, um im Zeitplan zu bleiben. Diese Bühne im Nebengebäude war eigentlich nur ein sehr großer Raum, in dem eine Teleskoptribüne die Zuschauerplätze in Rängen nach oben führte. Je nach Platzbedarf des Stückes konnten mehr oder weniger Ränge aufgebaut werden, sich so den jeweiligen Ansprüchen flexibel anpassen. Es gab viele Möglichkeiten, die Bühne durch Trennvorhänge abzuteilen, was sie für experimentelle Projekte prädestinierte. Aus diesem Grund hatte sie Jason sicherlich auch bevorzugt. Aber warum, verflixt noch eins, war der Acryltank leer?
Doch noch ehe Miles zu einer Antwort ansetzen konnte, brüllte Jason: „Steckt Harris Sinclair dahinter? Hat er die Gelder gestrichen, damit ich vor einem leeren Tank stehe und die Premiere platzen lassen muss? Er will meinen künstlerischen Ruin, will mich fertig machen, weil ich nichts von ihm will, seinem Baggern nicht nachgebe!“ Jason schäumte. Alarmiert beobachtete Miles ihn. Was war nur in ihn gefahren?
Harris Sinclair war der Hauptsponsor von Meermädchen. Ein erfolgreicher Investmentbanker, der seit Jahren einen Teil seines Vermögens in die Kunst investierte. Er fühlte sich dem Theater eng verbunden, wäre selber gerne Schauspieler geworden, doch lagen seine Talente eindeutig im Finanzwesen. Um seiner Passion trotzdem nahe zu sein, ließ er ein großzügig bemessenes Quantum ‚seines Talents‘ dem Theater zukommen; aus seiner Sicht eine Win-win-Situation.
Harris Sinclair war ein Mann Anfang vierzig, gebildet und herzlich, ohne erkennbare Anzeichen von homoerotischen Neigungen. Selbst wenn sie vorhanden sein sollten, würde Sinclair niemals wegen unerwiderter Gelüste eine Aufführung sabotieren. Die Werke, die er unterstützte, waren auch seine Babys. Was für einen Blödsinn spann Jason sich da zusammen? Ohne die noble Unterstützung seines Mäzens wäre Meermädchen nie umgesetzt worden. Die Gelder des Theaters hätten für Jasons aufwendige Inszenierungs-Pläne niemals gereicht.
„Jason, ich weiß nicht, was da schiefgelaufen ist, aber ich werde mich sofort darum kümmern“, versuchte Miles zu deeskalieren. Auf die haltlosen Anschuldigungen seines Ballettchefs ging er erst gar nicht ein, das führte zu nichts; es galt, ein ernsthafteres Problem zu lösen. Er würde Jasons Hirngespinste bei ihm belassen; sie hatten nichts mit einer professionellen Theaterarbeit zu tun. „Weißt du, wie lange es dauert, bis der Tank vollgelaufen ist? Den heutigen Probentag können wir vergessen, das ist dir hoffentlich klar“, polterte Jason.
Arthur zuckte zusammen. Hatte Jason seine Nerven überhaupt nicht mehr unter Kontrolle? Am Theater geschah ständig Unvorhergesehenes, das gemeistert werden musste; aber das wussten alle Künstler. Natürlich war es ärgerlich, aber kein Grund zur Panik. Sie hatten, wie Jason richtig bemerkte, noch vier Tage, um alles auf die Reihe zu bringen. Das war großzügig bemessene Zeit, die genug Planungssicherheit für eventuelle Pannen enthielt.
Irritiert beobachtete Arthur, wie Jason seine Hände knetete, als wäre er in tiefster Verzweiflung. Diese Geste brachte die Entscheidung für Miles. Schon einmal hatte sein Ballettdirektor durch Überarbeitung einen ernsten Zusammenbruch erlitten, war aber während einer Rekonvaleszenzphase wieder vollständig auf die Beine gekommen. Viel Zeit zur Erholung gab es diesmal nicht, aber Premiere hin oder her, er würde Jason zumindest heute nach Hause schicken, damit er morgen oder übermorgen ein bisschen weniger überdreht zur Probe antreten konnte.
„Jason“, sagte er deshalb unvermittelt, „mach dir einen freien Tag, während wir deinen Tank füllen. Und gib deinen Tänzern auch gleich eine Auszeit. Ihr könnt hier gerade sowieso nichts tun und habt das ganze letzte Jahr über sehr hart gearbeitet. Ruht euch ein wenig aus; wir wollen doch alle, dass die Premiere ein Riesenerfolg wird, und dafür brauchen wir ein stressfreies Ensemble. Machen wir das Beste aus dieser Panne.“
Misstrauisch sah Jason Miles an. Was war das für eine merkwürdige Idee? Tänzer brauchten vor einer Premiere Training und keinen freien Tag. Steckte Miles mit Sinclair untere einer Decke? Wollte auch er ihn sabotieren? Vorsicht war geboten. Miles war ohne jede Frage ein begnadeter Intendant und hatte das Two Pieces zu seinem heutigen Ruhm gebracht, aber Jason wusste, dass Miles liebend gerne ein eigenes Projekt inszenieren würde. Was, wenn er die Premiere verhindern wollte, um später Jasons Werk unter seinem eigenen Namen auf die Bühne zu bringen?
Jason rückte seine Kopfbedeckung zurecht. Das sollte er nur versuchen. Durch den Schutz von Sonnenbrille und Wollmütze würde Arthur nicht zu seinen Gedanken vordringen können. Er selbst sollte jetzt so schnell wie möglich das Büro verlassen, um sich nicht länger den negativen Schwingungen dieses Raumes auszusetzen. Arthur hatte recht, er konnte heute nichts tun. Wortlos verließ er das Zimmer. Miles seufzte schwer.
„Jason, bist du fertig? Wo steckst du nur wieder?“ Laut tönte Liam Waterstones fröhliche Stimme durchs Haus. Jason kniff in seinem Versteck die Augen fest zusammen und kicherte. Er liebte es, mit seinem Großvater Verstecken zu spielen. Wenn er die Augen schloss, dauerte es länger, bis er gefunden wurde, das glaubte er zumindest. „Jason!“, hörte er seinen Opa erneut rufen, „komm schon, wir wollen endlich mit dem Boot los und angeln! Wenn du nicht bald kommst, sind alle Fische weggeschwommen! Dann können wir deiner Oma nicht beweisen, dass wir einen Kabeljau fürs Abendbrot fangen können!“
Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Wie der Blitz schoss Jason aus seinem Versteck hervor. Er wollte nicht schuld an einem verspäteten Aufbruch zur heutigen Bootstour sein. Dafür freute er sich viel zu sehr darauf. Er war bereits seit dem Frühstück schrecklich aufgeregt.
Seine Großmutter, Sarah Waterstone, war heute Morgen schon in aller Frühe nach London aufgebrochen, so dass Jason alleine mit seinem Großvater gefrühstückt hatte. Sarah war die Mutter seines Vaters und 58 Jahre alt, doch wirkte sie, durch den frechen Fransenschnitt ihres mit silbernen Fäden durchzogenen blonden Haares und den blitzenden, hellblauen Augen, wesentlich jünger. Dieser Eindruck wurde durch ihre zierliche Figur noch betont. Als gefragte Illustratorin arbeitete sie freiberuflich für große Magazine und für die Werbebranche.
Trotz des aufkommenden Pixel- und Photoshop-Hypes schätzten sie immer noch die Vorzüge des handgezogenen Strichs, so dass Sarahs Beruf nicht vom Aussterben bedroht war.
Sie erledigte ihre Arbeit größtenteils im Home-Office und fuhr einmal im Monat in die Hauptstadt, zur Besprechung mit ihren Kunden.
Sein Großvater war sieben Jahre älter als seine Frau und seit zwei Jahren in Rente. Von großer, kräftiger Gestalt, mit dichtem, zerzaustem, graumeliertem Haar, wirkte er wie ein alter Seebär. Aus seinem gebräunten Gesicht blickten aufmerksame, graublaue Augen, die von Fältchen gerahmt waren. An den Londoner Terminen seiner Frau hatte er sturmfreie Bude. Jason wusste nicht, was Opa damit meinte, aber es war ihm auch egal. Erwachsene sagten manchmal komische Dinge. Vielleicht verstanden sie sie ja selber nicht richtig.
Nach dem Frühstück musste Liam noch die Bootsausrüstung zusammentragen und das Picknick zubereiten, während Jason spielte, und in seiner Fantasie bereits auf dem Meer war. Als es dann schließlich losging, konnte er sich das kleine Versteckspiel mit seinem Opa jedoch nicht verkneifen; es machte einfach zu viel Spaß.
Doch nun ließ sich Jason folgsam in etwas zu große Segelschuhe, für die er lästigerweise ein zweites Paar Socken brauchte, stecken. Es war ein wunderschöner, aber nicht allzu warmer Sommertag, und er wollte die Jacke, die ihm sein Großvater hinhielt, nicht anziehen, doch Opa bestand darauf. Er meinte, auf dem Wasser würde es durch den Fahrtwind recht frisch werden. Als er ihm aber die Schwimmweste überziehen wollte, protestierte Jason vehement. „Opa, die brauche ich nicht, ich kann doch schwimmen. Hast du das schon wieder vergessen? Du hast es mir doch selber beigebracht!“ „Nein, junger Mann, das ist mir keineswegs entfallen, aber eine Schwimmweste ist auf dem Boot Pflicht, auch für kleine Wasserratten wie dich. Da gibt es keine Diskussion.“ Jason zog eine Schnute. Opa war wirklich ahnungslos. Erst neulich hatten ihm ein Freund und dessen Eltern, die er ins Freibad begleitete, bestätigt, was für ein toller Schwimmer er war. Und nun sollte er eine Schwimmweste tragen; das war einfach nur peinlich.
„Komm schon, Sportsfreund“, lenkte sein Opa ein und strich seinem Enkel durch das wellige, hellbraune Haar, „kein Grund, beleidigt zu sein. Schwimmwesten werden auf Booten aus Sicherheitsgründen getragen. Wir sind hier am Meer, da kann das Wetter schnell umschlagen. Wenn das Boot bei hohem Seegang von einer Welle überrollt und du von Bord geworfen wirst, kann dir die Schwimmweste das Leben retten. Schau, ich trage auch eine, obwohl ich ein super Schwimmer bin.“
Jasons braune, ausdrucksstarke Augen blitzten kurz rebellisch auf, doch er wusste, wann er verloren hatte. Deshalb ließ er sich die rote Auftriebsweste jetzt widerstandslos über den Kopf ziehen.
Ihm fiel ein, dass seine Oma gestern strickt gegen die Idee mit dem Bootsausflug gewesen war. Er hatte einen Teil ihrer Diskussion, die nicht für seine Ohren bestimmt war, zufällig mit angehört. „Mit vier ist Jason noch zu jung“, waren Sarahs Worte an ihren Mann. „Du bist mit dem Boot und der Angel beschäftigt und kannst den Kleinen nicht dauernd festhalten. Du weißt, wie quirlig er ist; wer weiß, auf was für dumme Ideen er kommt. Nachher springt er dir noch über Bord, weil er mit den Fischen um die Wette schwimmen will.“
„Sarah, beruhige dich doch“, erwiderte sein Großvater. „Erstens ist Jason in zwei Tagen schon fünf, er wird selbstverständlich eine Schwimmweste tragen, und die See wird morgen so ruhig wie heute sein; ich habe den Wetterbericht gehört. Jason ist ganz wild darauf, auf Fischfang zu gehen. Lass ihm doch die Freude.“
„Gut, dass ich morgen in London bei meinem Auftraggeber bin und nichts von eurem Törn mitbekomme, Liam; das erspart mir einen Herzkasper“, seufzte seine Großmutter. Damit war die Diskussion beendet.
Seine Großeltern hatten wirklich keinen Schimmer, dachte Jason. Er war nicht wild aufs Angeln, und Fische waren ihm im Wasser viel lieber, als auf dem Teller, obwohl sie ihm schmeckten. Er wollte unbedingt aufs Meer fahren, weil er hoffte, dort dem Meermädchen Aldiana aus Großvaters Geschichte zu begegnen. Opa veränderte ihre Abenteuer bei jeder neuen Erzählung, die dadurch immer länger und spannender wurde. Doch der Kern wandelte sich kaum:
Aldiana war in den Tiefen des Ozeans zu Hause, in denen das Licht des Himmels die Unterwasserwelt auf wundersame Weise in ihren schönsten Farben erstrahlen ließ. Sie lebte, unbeschwert und geliebt von ihren Eltern und Geschwistern, in einem großen, atemberaubenden Felsen-Palast. Das Meerwasser strömte sanft durch seine Räume, was die, in wunderschönen Muschelvasen arrangierten Unterwasserpflanzen zum Tanzen brachte.
Dieses Glück hätte ewig dauern können, wäre Aldianas Vater Dorian der Zweite, der mächtige und gerechte Herrscher des gewaltigen Wasserimperiums, nicht eines Tages von den Drachenfischen entführt worden.
Drachenfische waren finstere Wesen, von grausigem Äußeren, mit furchterregenden Zahnreihen und einem Giftstachel auf dem Rücken. Vor ihnen hatten selbst die Haie Respekt. Da sie Unruhestifter waren, die die anderen Bewohner des Ozeans bedrohten und tyrannisierten, waren sie von den Meerkönigen in ein finsteres Reich in den abgelegenen Teilen der Tiefsee verbannt worden.
Trotzdem kam es immer wieder zu Aufständen, so dass die Meerkönige die Grenzen sichern mussten und deshalb eine Armee aus Haien rekrutierten, die in den Außenbereichen des Landes patrouillierten. Aber auch die Haie wurden mit der Zeit unzufrieden, denn ihre Aufgabe war anstrengend und gefährlich und trennte sie die längste Zeit des Jahres von ihren Familien. Und irgendwann hatte einer dieser Haie den Drachenfischen das streng gehütete Geheimnis der Meermenschen, das ihre Macht begründete, verraten. Wer diese Macht brechen wollte, musste den Meerkönig entführen.
Jason konnte die Geschichte nicht oft genug hören. Sie berührte ihn, nahm ihn mit in eine fremde Unterwasser-Welt, die alleine ihm und Aldiana gehörte, die er schon bald insgeheim nur noch ‚sein Meermädchen‘ nannte. Bestimmt wusste Aldiana, dass er heute aufs Meer fuhr, bestimmt würde sie sich ihm zeigen, bestimmt wollte sie den Jungen, der heimlich in sie verliebt war, kennenlernen. Wenn er sie also treffen wollte, musste er die Schwimmweste wohl oder übel in Kauf nehmen. „Nah siehst du, ist doch gar nicht so schlimm“, meinte sein Opa aufmunternd, als er Jason die Weste anlegte. Und den Fischen ist es sowieso egal, wie du aussiehst“, lachte er. Pah, dachte Jason, du hast ja schon Oma; du willst heute nicht das Mädchen aller Mädchen treffen. Er musste irgendeinen Weg finden, sich von dem blöden Gummiding zu befreien, wenn Aldiana neben dem Boot auftauchte, ohne dass Opa es bemerkte. Würde sein Großvater Aldiana wohl sehen können, fragte er sich oder zeigten sich die Wasserwesen nur Kindern?
Jason liebte die Sommerferien bei seinen Großeltern, denn er konnte hier selbstständiger unterwegs sein, als im großen London, wo er mit seinen Eltern wohnte. Seine Großeltern lebten außerhalb von Poole, in dem idyllischen Dorf St. Johns. Es lag direkt an der Küste und besaß einen eigenen Bootsanlegeplatz für die Dorfbewohner.
Jason und Liam machten sich auf den Weg. Sie ließen die Häuser des Örtchens hinter sich und gingen nun durch ein kleines Heidegebiet mit Blick auf die eindrucksvollen Felsformationen, die sich am Strand und im Meer ausdehnten. Man konnte weit über die flache Bucht mit ihren vielen kleinen Inseln blicken. Ein Großteil der Küste war wegen seiner außer gewöhnlichen geologischen Formationen zum Weltnaturerbe der UNESCO erklärt worden, doch das interessierte Jason nicht besonders. Er fragte sich vielmehr, auf welchem dieser Felsen sich Aldiana wohl sonnte, wenn sie an Land kam. Während er noch darüber grübelte, hatten sie bereits das Boot erreicht. Selbst Jasons kleine Beine konnten den kurzen Weg zwischen Haus und Anlegeplatz in wenigen Minuten zurücklegen.
„Bereit, Matrose?“, fragte sein Großvater. „Dann ab mit dir an Bord.“ Das ließ sich Jason nicht zweimal sagen. Geschickt balancierte er über den schmalen, geländefreien Bootssteg an Deck. „Ein echter Seemann“, hörte er seinen Opa hinter sich. Aus seiner Stimme klang Anerkennung. Jason strahlte; er war stolz auf sich. Beim Anblick des schmalen Stegs war ihm dann doch ein wenig mulmig geworden.
Liam verstaute den Picknickkorb sicher in der Kajüte, ermahnte Jason, während der Fahrt ruhig sitzen zu bleiben, dann warf er den Motor an. Er löste die Taue am Anlegeplatz und fuhr hinaus aufs Meer. Jason jauchzte; der Fahrtwind zerzauste seine Haare. Vorsichtig versuchte er, direkt über die Reling ins Wasser zu blicken, doch er konnte nichts sehen, denn wenn er saß, war die Bordwand noch zu hoch für ihn. Er sah nur die Heckwelle, die hinter dem Boot schäumte, und bekam den einen oder anderen Gischt-Spritzer ab.
Sie schipperten an Poole vorbei, der großen Hafenstadt im Südwesten Englands, die wegen ihres Naturhafens, dem zweitgrößten weltweit, berühmt war. Von hier gingen Fähren nach Frankreich, und es gab zahlreiche Bootsbauer und Werften für große Luxusyachten. Liam Waterstone war selbst ein bekannter Bootsbauer in der pulsierenden Stadt gewesen, doch als er in Rente ging, suchten er und Sarah sich ein ruhiges Haus in der Umgebung.
Nachdem sie ein Stück hinausgefahren waren, drosselte Liam den Motor, ließ den Anker fallen, und sie schaukelten nun auf den Wellen. Sein Boot war ein ehemaliger Fischkutter, den er in seiner Werft umgebaut hatte. Die Heckwand ließ sich herunterklappen und bildete eine Schwimm-Plattform, auf der man sitzen und die Beine im Wasser baumeln lassen konnte, vorausgesetzt, sie waren lang genug. Oder man sprang zum Schwimmen ins Meer. Es gab natürlich auch eine Leiter, um wieder zurück ins Boot klettern zu können. Liam saß dort besonders gerne, wenn er angelte. Nachdem er heute die Bootswand heruntergelassen hatte, wandte er sich an seinen Enkel: „Matrose, du darfst jetzt aufstehen und auf dem Boot herumlaufen. Aber sei vorsichtig, hörst du? Geh mir ja nicht über Bord, sonst darf ich nie wieder nach Hause kommen. Deine Oma macht mich zur Schnecke, wenn dir was passiert.“ „Keine Sorge, Opa, ich pass schon auf.“ „Gut, Seebär, dann lass uns mal die Angel klar machen. Wollen doch mal sehen, ob wir deiner Oma nicht einen schönen Fisch mitbringen können.“
Jason reichte seinem Opa den Köder; das hatte er bereits bei seinem Vater, einem passionieren Angler, gelernt. Aber Jason hatte sich bei dem damaligen Angel-Ausflug mit Rick fürchterlich gelangweilt, denn es war einfach nichts los. Er hätte lieber etwas Abenteuerlicheres unternommen, wie Drachen jagen oder Prinzessinnen retten, doch das hatte sein Vater anscheinend nicht verstanden. Hier auf dem Boot war das natürlich etwas anderes.
Obwohl das Meer ganz ruhig aussah schaukelte und drehte sich der Kahn im Kreis, ein paar Möwen umkreisten sie neugierig. „Opa, warum schaukelt das Boot so?“, fragte Jason, „es gibt doch gar keine richtigen Wellen.“ Liam war verblüfft; was diesem Knirps so alles auffiel. „Du hast recht“, antwortete er, „das Wasser sieht nicht sonderlich bewegt aus, aber das täuscht. Draußen auf dem Meer sind die großen Fähren unterwegs, deren Bugwellen bis in diese Bucht kommen und bei bestimmten Windverhältnissen für Unruhe im Wasser sorgen.“ Ganz verstanden hatte Jason diese Erklärung nicht, aber er gab sich zufrieden. Wichtig war nur, dass sie sich in Aldianas Reich befanden. Hoffentlich verfing sie sich nicht in der Angelschnur, dachte er besorgt.
Doch Opa hatte sein Meermädchen als geschickte, vollendete Tänzerin beschrieben, die es liebte, sich dem anmutigen Reigen der Wasserpflanzen anzuschließen. Sie teilte dabei mit ihrem Fischschwanz, der, anders als bei den übrigen Meermenschen, in allen Farben des Regenbogens schillerte, kraftvoll das Wasser, so dass ihre Drehungen und Salti von unerhörter Schönheit und Grazie zeugten. Nein, Aldiana war viel zu gewandt, als dass eine Angelschnur ihr gefährlich werden könnte.
Die Zeit verging, ohne dass ein Fisch anbiss. Einmal spannte sich die Leine, hing aber wieder durch, bevor Liam und Jason sie einholen konnten. Jason freute sich insgeheim für den Fisch. „Macht nichts“, meinte Liam, „lass uns erstmal etwas essen; ich bekomme langsam einen Mordshunger.“ Jason stimmte begeistert zu, denn er konnte das Picknick kaum erwarten; Opa packte immer so leckere Sachen ein und schien genau zu wissen, was sein Enkel am liebsten mochte.
Nach dem Imbiss gähnte Liam herzhaft. Das gute Essen und das Gläschen Wein -Jason hatte stattdessen Limonade aus einem Weinglas bekommen- ließen ihn ein wenig schläfrig werden.
Als Jason bemerkte, dass sein Großvater vor sich hindöste, zog er sich Schuhe und Strümpfe aus, setzte sich vorsichtig an den Rand der Plattform und versuchte, mit den Füßen im Wasser zu plantschen, doch seine Beine waren einfach noch zu kurz. Obwohl er schon ein guter Schwimmer war, wollte er nicht riskieren, ins Wasser zu fallen, denn dann würde sein Opa gewaltigen Ärger bekommen. Oma hatte ihm nämlich verboten, an Bord Wein zu trinken, weil ihn das immer müde machte. Also beobachtete Jason die Fische und bewegte ab und zu die Angel, damit keiner von ihnen aus Versehen anbiss.
Aldiana hatte sich bisher nicht blicken lassen. Jason überlegte: Sein Großvater hatte sich immer geweigert, ihm die Geschichte von Arielle zu erzählen, die alle anderen Kinder kannten. Dieser geklaute Walt Disney Kitsch hänge ihm zum Hals raus, begründete er seine Ablehnung. Zuckersüße Bilder, die dem tieferen Sinn des Märchens einfach nicht gerecht würden. Jason verstand nicht, was sein Opa meinte, doch spielte es keine Rolle, denn er hatte sein eigenes Meermädchen bekommen, das er mit keinem anderen Kind teilen musste. Aber eine große Frage war für ihn unbeantwortet geblieben. Opa erzählte von Aldiana, als würde es sie, im Gegensatz zu Arielle, wirklich geben. Konnte das sein? Warum schwamm sie dann nicht herbei? Nachdenklich blickte er auf den großen Felsen an der Backbord-Seite. Er sah genauso aus, wie der in Opas Beschreibung. Dort sonnte sich Aldiana am liebsten. Wenn es also den Felsen gab, musste es auch sie geben!
Jason versuchte, das Wasser mit seinen Blicken zu durchdringen, bis auf dessen Grund zu schauen. Wie gerne hätte er Aldianas Palast, der sich irgendwo in der Nähe befinden musste, gesehen! Was für ein munteres Treiben an diesem Ort herrschen musste, an dem Fische aller Art ihren ganz speziellen Aufgaben nachgingen.
Opa hatte von Meerforellen, den geborenen vornehmen Dienern, erzählt:
Sie beaufsichtigten die Putzerfische, sorgten dafür, dass die Kleidung der Palastbewohner immer in tadellosem Zustand war und überwachten die Service-Fische -meist Schellfische – beim Auftragen der Speisen, die eifrige Krabben und Krebse in der Palastküche zubereiteten.
Aale hingegen erledigten die Hausmeisterarbeiten, weil sie sich überall mühelos hindurchschlängeln konnten. Die vornehmen Schollen jedoch besetzten die Ministerposten, und so waren alle Aufgaben nach den Fähigkeiten der Meeresbewohner gerecht verteilt.
Doch wie sehr Jason sich auch bemühte, er konnte all diese Wunder nicht entdecken.
In diesem Moment schreckte sein Großvater aus seinem Nickerchen hoch. Er suchte Jason mit den Augen und sah erschrocken und schuldbewusst aus, als er ihn am Rand der Plattform entdeckte. „Alles in Ordnung, Opa!“, rief dieser ihm fröhlich zu, „ich war ganz vorsichtig! Du sollst doch keinen Ärger mit Oma bekommen.“
Liam räusperte sich verlegen. „Na, Seemann, schon etwas gefangen?“, dabei deutete er auf die Angel. Jason schüttelte bedauernd den Kopf, obwohl es ihm überhaupt nicht leidtat. „Wenn die Fische heute nicht beißen, können wir auch schwimmen gehen“, schlug Liam vor. Darauf hatte die Wasserratte Jason nur gewartet. Endlich raus aus der Schwimmweste und ab ins kühle Nass. Sie tollten wie wild herum, schwammen um die Wette und tauchten, bis sie völlig erledigt waren. Zurück an Bord gab es noch einen kleinen Snack zur Stärkung, dann war es auch schon Zeit, zurück zu schippern.
Während ihr Schiffsbug die Wellen teilte, dachte Jason an die weiteren Ereignisse in Aldianas Geschichte und an das wohlgehütete Geheimnis der Meermenschen.
Ein besonderes Lungengeflecht ermöglichte ihnen, sich sowohl im Wasser, als auch an Land aufzuhalten. Sie konnten bei Landgängen ihren Fischschwanz ablegen, an dessen Stelle sofort ein Paar Beine erschien. Da sie die Menschensprache beherrschten, konnten sie alle wichtigen Informationen beider Welten sammeln und so die Lebewesen des Wassers wirksam vor Übergriffen der Menschen schützen. Allerdings mussten sie ihre Wandlung in aller Abgeschiedenheit vollziehen, sonst verloren sie diese Fähigkeit und damit ihre Macht.
Ein Verräter-Hai, der dem Meereskönig eine Botschaft seines Hauptmannes überbringen sollte, hatte zufällig Königin Amber und ihre Tochter Aldiana belauscht, als sie über dieses Geheimnis sprachen. Er teilte es sofort dem Anführer der Drachenfische mit. Nachdem nun das Mysterium von Aldianas Volk für sie gelüftet war, wollten sie die Gabe der Meermenschen auf der Stelle stehlen, erfuhren aber durch den Verräter-Hai, dass dies unmöglich sei. Die Drachenfische konnten mit der Entführung von König Dorian dem Zweiten lediglich einen Fluch über das Reich legen, durch den die besonderen Eigenschaften der Meermenschen
verlorengingen.
Jason schreckte aus seinen Gedanken auf, als sie sich dem großen Felsen näherten. Er reckte seinen Kopf, doch vergeblich. „Opa“, fragte er, „ist das hier Aldianas Felsen?“ „Ganz genau“, erhielt er die Bestätigung. „Ich habe mich schon gewundert, dass du gar nicht fragst. Hatte schon befürchtet, du erkennst ihn nicht, obwohl ich ihn immer so gut beschreibe“, grinste sein Opa.
Bald darauf fuhren sie ihr Anlegemanöver und vertäuten das Boot am Anleger. Es war ein toller Ausflug, aber trotzdem war Jason ein wenig enttäuscht. Warum war Aldiana nicht erschienen? War sie vielleicht krank oder hatte womöglich einen Sonnenbrand? Was wusste er schon von Meermädchen.
Zurück im Haus, erwartete sie Sarah, die bereits aus London zurückgekehrt war. Die Frage, ob sie erfolgreich gewesen sei, bejahte sie und bedachte dabei ihren Mann mit einem verschwörerischen Lächeln. Normalerweise hätte Jason beleidigt darauf reagiert, weil er wusste, dass er bei diesen Blicken unter Erwachsenen von irgendetwas ausgeschlossen wurde, doch heute verzieh er es seinen Großeltern. Dafür gab es einen ganz besonderen Grund. Er hatte morgen Geburtstag, und bestimmt heckten die beiden eine riesengroße Überraschung für ihn aus. Der Abend ging, nach dem gemeinsamen Kochen und Abendessen, dann auch recht schnell für ihn zu Ende, denn er war hundemüde. Er schlief traumlos, wie ein Stein.
Am nächsten Morgen trieb es ihn schon in aller Herrgottsfrühe aus den Federn; er platzte fast vor Neugier und rumorte extra laut in der Gegend herum. Die beiden Schlafmützen von Oma und Opa sollten endlich aufstehen. Laut sang er: „Ich habe heute Geburtstag, ich habe heute Geburtstag!“ Verschlafen schauten Liam und Sarah aus ihrem Schlafzimmer hervor. Ihr Glück, dachte Jason. Wären sie jetzt nicht gekommen, hätte er ihr Zimmer gestürmt, um auf ihrem Bett herumzuhopsen. Seine Großeltern umarmten ihn, küssten ihn ab -darauf hätte er gut verzichten können, doch ließ er es heute großzügig geschehen- und sangen ihm ein Geburtstagslied. Es war nicht das übliche ‚Happy Birthday‘, sondern eine witzige Eigenkomposition seines Vaters, die Jason liebte. „Nochmal“, drängelte er deshalb seine Großeltern, als sie die letzte Note beendet hatten. „Später“, vertrösteten sie ihn. „Willst du nicht erst mal Geschenke auspacken? Heute warten noch einige Überraschungen auf dich.“ Das ließ sich Jason nicht zweimal sagen. Wie der Blitz rannte er ins Wohnzimmer, wo gewöhnlich der Tisch mit seinen Präsenten stand.
Sarah entzündete die Kerzen auf seiner Torte, die er alle auf einmal ausblies. Na ja, nicht alle. Eine blieb übrig, denn dafür hatte seine Puste heute vor lauter Aufregung nicht gereicht. Egal, auf dem Tisch lagen viele bunte Päckchen, die alle ausgepackt werden wollten. Da Jason mit fünf Jahren nach den Ferien in die Primary School gehen würde, hatten ihm seine Eltern seine erste Schuluniform geschenkt. Sie sah sehr chic aus, und Jason freute sich, dass er ein freundliches Türkisblau tragen durfte. Es erinnerte ihn ans Meer und war nicht so düster und langweilig, wie die Farben anderer Einrichtungen. Die Uniform saß wie angegossen. Es gab noch weitere Geschenke für seine Einschulung, so dass er schon fast ein bisschen enttäuscht war, als er das letzte Päckchen öffnete.
Schon das Papier gefiel ihm ungeheuer gut. Es schillerte in allen grün und blau Tönen, wie das Wasser in ihrer Bucht, und kleine Seepferdchen schwammen darauf herum. Was es wohl verbarg? Jason hatte nicht die geringste Ahnung, öffnete vorsichtig die Verpackung und hielt ein umwerfendes Buch in den Händen.
Auf dem Einband saß ein Meermädchen auf einem aus dem Wasser ragenden Felsen. Ihr Fischschwanz schillerte in allen Regenbogenfarben, und sie winkte jemandem an Land fröhlich zu. Meinte sie Jason? Begrüßte sie ihn?
Jason konnte schon ein paar Wörter lesen und seinen Namen schreiben. A l d i a n a buchstabierte er den Titel. Er stieß einen Freudenschrei aus und begann, in dem Buch zu blättern. Für den langen Text reichten seine Künste noch nicht, aber er bestaunte die wunderschönen Bilder. „Gefällt es dir?“, rissen ihn seine Großeltern aus seiner Betrachtung. Jason strahlte; es war das schönste Geschenk von allen.
„Weißt du“, hörte er seine Oma, „dein Opa hat die Geschichte von Aldiana aufgeschrieben, weil sie dir so sehr gefällt. Jetzt, wo du in die Schule kommst, wirst du sie bald selber lesen können.“ „Und deine Oma“, ergänzte Liam, „hat die tollen Aquarelle gemalt. Gestern in London hat sie dann das Layout und den Druck fertiggestellt, damit das Buch heute auf deinem Geburtstagstisch liegen kann.“ Jason verstand nichts vom Layout, aber er druckte, nein, drückte sein Geschenk fest an sich und tanzte ausgelassen und glücklich durchs ganze Haus.
„Heute Mittag fahren wir nach Poole!“, riefen ihm seine Großeltern hinterher, „da erwartet dich die nächste Überraschung!“ Jason war glücklich; von jetzt an würde er jedes Jahr fünf werden, denn mit fünf gab es anscheinend die besten Geschenke.
Mittags saßen sie dann in Poole in Jasons Lieblings- Restaurant. Seine Großeltern waren hier seit vielen Jahren Stammgäste, und die Eigentümer hatten den Tisch zu Jasons Geburtstag besonders hübsch gedeckt. Sogar eine kleine Tafel Schokolade lag auf seiner Serviette. Schon zweimal war der Kellner vorbeigekommen, um nach ihren Wünschen zu fragen, doch Liam hatte nur die Getränke bestellt und ihn dann wieder fortgeschickt. Während sich Jason noch fragte, ob ihn seine Großeltern heute an seinem Geburtstag verhungern lassen wollten, öffnete sich die Restauranttür und seine Eltern kamen herein.
Sein Vater, Rick Waterstone, war Dirigent des berühmten Sundown Orchestra und, neben seinen Verpflichtungen am Rundfunk, häufig mit seinen Musikern unterwegs. Seine Mutter Helen hingegen arbeitete als Schauspielerin am Two Pieces Theatre, das unter anderem für seine Shakespeare Inszenierungen gefeiert wurde. In den Sommerferien gingen beide auf Tournee und brachten Jason dann, zur großen Freude aller Beteiligten, zu Ricks Eltern.
Jason riss es vor Freude von seinem Stuhl. „Mama, Papa!“, schrie er durchs ganze Restaurant und stürzte ihnen entgegen. Rick und Helen hatten es geschafft, sich für diesen besonderen Tag von ihren beruflichen Verpflichtungen loszueisen und waren aus dem Ausland angereist, um mit ihrem Sohn zu feiern. Jason freute sich wie ein König, oder, präziser gesagt, wie ein Meerkönig. Es kam leider nicht sehr oft vor, dass er seine Eltern an seinem Geburtstag sah, doch stimmte es ihn nie allzu traurig, denn seine Großeltern ließen keine trübte Laune aufkommen.
Helen umarmte ihren Sohn zuerst, verwuschelte liebevoll sein Haar, während er ausgelassen quietschte und ihr schönes, schmales Gesicht betrachtete. Ihr langes, braunes Haar war so wellig wie sein eigenes, doch in ihren braunen Augen konnte man kleine Goldsprenkel sehen. Sein Vater Rick wartete geduldig, bis Mutter und Sohn ihr Begrüßungsritual vollzogen hatten, um Jason dann fest in seine Arme zu ziehen. Er war von großer und ähnlich kräftiger Statur wie sein Vater, und aus seinem markanten Gesicht mit dem dunkelblonden Haar blickten ein paar freundliche dunkelblaue Augen.
Nun war ihre Gesellschaft vollständig, und das Essen konnte bestellt werden. Endlich, dachte Jason erleichtert.
Liam erzählte gerade von ihrem Angelausflug. „Wie viele Fische habt ihr denn gefangen?“, fragte Rick scheinheilig. Er kannte die Antwort ganz genau. „Keinen einzigen“, lautete sie dann auch wahrheitsgetreu, und die beiden Angler versuchten, ein bekümmertes Gesicht zu machen. Alle lachten schallend, denn sie wussten, wie sehr Jason das Töten der gefangenen Fische hasste.
„Zeit für den Nachtisch“, sein Vater erhob sich. „Wollen doch mal sehen, ob wir für euren entgangenen Fang eine Entschädigung auftreiben können.“ Mit diesen Worten ging er zur Theke. Wenig später trug der Kellner einen Teller mit brennenden Wunderkerzen, die in einem Seestern aus Eis steckten, an ihren Tisch. So etwas Tolles hatte Jason noch nie gesehen, und während er noch staunte, ertönte sein geliebtes Geburtstagsständchen zum zweiten Mal. Was für ein großartiger Tag!
Nach dem Essen spazierten sie noch ein wenig an der Strandpromenade von Poole entlang, doch wurde es Jason schnell langweilig. Deshalb fuhren sie zum Haus seiner Großeltern, um gemeinsam im Meer zu schwimmen.
Schon bald, viel zu bald, war es für seine Eltern Zeit zum Aufbruch. Sie drückten Jason fest an sich, und als sich seine große, schlanke Mutter zu ihm herabbeugte sagte sie leise: „Bis zur Einschulung, mein Großer“, dann stieg sie zusammen mit seinem Vater in das wartende Taxi.
Es war ein so schöner Tag gewesen, trotzdem wurde Jason nun ein wenig traurig. Sarah bemerkte seinen Stimmungswechsel und schlug deshalb vor, es sich bei einem Gläschen Wein -Limonade für Jason, versteht sich- und ein paar kleinen Snacks gemütlich zu machen. Sie hatten einen aufregenden Tag erlebt und waren alle ein wenig müde, so dass ihnen ein bisschen Ruhe nicht schaden würde. Eine wunderbare Gelegenheit, um die Geschichte von Aldiana zu hören. Ihre Idee wurde begeistert angenommen, und sie waren sich schnell einig, dass Liam vorlesen sollte. Jeder kuschelte sich auf seinem Lieblingsplatz zurecht, und Liam begann:
Aldiana
Zuerst rauschten die Worte an Jason vorbei, der die Geschichte nur zu gut kannte und sich einer wohligen Schläfrigkeit überließ.
Er wusste, dass der Fluch, der durch die Entführung des Meerkönigs über dem Reich lag, gebrochen werden konnte. Dazu musste eine Königstochter einen Menschen mit reinem Herzen finden, der bereit war, ihr in ihren Palast zu folgen, um den Meermenschen bei ihrem Kampf gegen die Drachenfische beizustehen. Die Königsfamilie besaß eine Geheimwaffe, -eine Hightech-Harpune von einem gekenterten Schiff- deren Handhabung ihnen unbekannt und nur den Menschen vertraut war. Aldiana würde diese schwierige Aufgabe übernehmen und Malcolm finden, der sie begleiten und zusammen mit der Hai-Arme erfolgreich König Dorian aus den Flossen der Drachenfische befreien würde.
Doch plötzlich rissen Liams Worte Jason aus seiner Schläfrigkeit. Aldianas Geschichte hatte eine Wendung bekommen, die er nicht kannte. Aufmerksam lauschte Jason seinem Opa.
Königin Amber verkündete gerade ihren bedrückten Töchtern, dass der Retter ihres Volkes nach vollendeter Tat nicht mehr an Land zurückkehren könne:
In dem Moment, in dem er einer von euch Königskindern folgt, wird sich seine Lunge verwandeln, so dass er von nun an nur noch unter Wasser leben kann. Das weiß der Auserwählte jedoch nicht, und es wäre auch nicht klug, ihm das zu sagen. Wohl kaum einer würde sonst einer Meeresprinzessin folgen.‘
Die Mädchen blieben nach dieser Offenbarung lange stumm. Ihnen war klar, was sie bedeutete. Eine von ihnen musste Verrat an einem Menschen üben, der ihnen nichts angetan hatte, musste ihn in ihre Welt locken, aus der er niemals mehr entfliehen konnte. Dieses Wissen lastete schwer auf ihnen, doch musste es getan werden, um den Fluch von ihrem eigenen Volk zu nehmen.
Jason verschlug es die Sprache; diese Veränderung der Erzählung verwirrte ihn. Was hatte das zu bedeuten? Seit wann konnte Malcolm nach bestandenem Abenteuer nicht mehr an Land zurück? Und warum gab sich Aldiana für diesen Verrat her?
„Ist Aldiana jetzt böse geworden?“, fragte Jason unvermittelt. „Nein, eigentlich nicht“, antwortete seine Oma. „Aber das ist eine unheimlich schwierige Frage. Lass uns nach der Geschichte darüber reden.“
Sein Opa fuhr fort und Jason verfolgte aufgewühlt den Fortgang, in dem es vorläufig keine weiteren Änderungen gab. Malcolm besiegte die Drachenfische und befreite König Dorian den Zweiten. Nach beider Rückkehr in den Palast wurde ein großes Fest gefeiert.
Doch nun musste es ein neues, noch unbekanntes Ende geben. Und tatsächlich fuhr sein Großvater fort:
Ein großes Fest wurde zu Malcolms Ehren geplant, doch der wollte nur noch zurück an Land, zurück zu seiner Familie, seinen Freunden und zu Liana, seiner großen Liebe, die sich sicher schon schrecklich um ihn sorgte. Wie sollte er ihr nur sein Verschwinden erklären? Sie würde ihm nicht glauben. Er konnte doch nicht zurückkehren und ihr von einer Nixe und der Rettung ihres Reiches erzählen. Er würde sich etwas anderes einfallen lassen müssen. Malcolm suchte Aldiana, um sich von ihr zu verabschieden. Als er sie fand, verspürte er bei ihrem Anblick eine ungute Vorahnung; sie sah ihn so merkwürdig an. Irgendetwas stimmte nicht, obwohl der König und sein Reich gerettet waren. Aldiana blieb nun nichts anderes übrig, als Malcolm ihren Betrug an ihm zu beichten.
Seine Reaktion erschütterte sie, als er bleich und schreckerfüllt auf einem Felsen niedersank und dort regungslos sitzenblieb. Seine blonden, kurzen Locken bewegten sich in der sanften Strömung des Wassers, doch seine blauen Augen schienen jeden Lebensfunken verloren zu haben und sein sonst so schelmig dreinblickendes Gesicht wirkte starr wie eine Maske.
Aldiana kannte sich mit dem Verhalten der Menschen nicht aus. Nach drei Stunden beauftragte sie beunruhigt zwei Forellen, in seiner Nähe zu bleiben und für ihn zu sorgen, um ihre Eltern aufzusuchen. Er braucht Hilfe, und sie musste sie für ihn finden, das war sie ihm schuldig.
König Dorian und seine Frau Amber rührte das Schicksal dieses jungen Mannes ebenfalls, doch guter Rat war nicht in Sicht. Der König berichtete, dass es nur ein einziges Mittel zur Rettung gäbe, es aber unmöglich sei, es zu beschaffen. ‚Sag mir, was es ist, und ich werde es für ihn besorgen, Vater‘, beschwor ihn Aldiana. ‚Ich habe Malcolm aus seiner Welt gerissen; es ist meine Pflicht, ihn zu retten, koste es was es wolle.‘ ‚Das ist sehr edel von dir, meine Tochter‘, erwiderte der König, ‚doch es steht nicht in deiner Macht, ihn zu erlösen. Nur die Träne der Meeresprinzessin, die ihn in die Unterwasserwelt gelockt hat, kann seine Lunge zurückverwandeln.‘
Aldiana öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Meermenschen konnten nicht weinen; sie besaßen keine Tränen, konnten sich nicht einmal vorstellen, was das sein sollte. Es war tatsächlich hoffnungslos. Bedrückt begab sie sich zurück zu Malcolm, um für den Rest seines Lebens über ihn zu wachen und ihn zu behüten. Vielleicht würde er sich eines Tages mit seinem Schicksal abfinden und doch noch als Bewohner der Wasserwelt glücklich werden? Sie würde alles für ihn tun.
So saß Malcolm wie zur Statue erstarrt auf seinem Felsen, starrte mit leerem Blick in die Weite, aß nicht mehr und sprach nicht mehr. Die Tage vergingen, wurden zu einer Woche und einer zweiten. Nichts konnte Malcolm aus seiner Verzweiflung reißen. Dann brachten die Wellen eines Tages ein Stück Stoff zu seinem Felsen. Die Meermenschen schenkten ihm keine große Beachtung, so etwas geschah häufiger. An der groben Herstellung des Tuches konnte man erkennen, dass es menschengefertigt war. Nur Malcolms Aufmerksamkeit wurde plötzlich erregt, der den Stoff mit den Augen verfolgte. Das Tuch erinnerte ihn an Liana, seine Freundin. Wie es ihr wohl erging? Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon unter Wasser gefangen war. Ihm kam es wie Jahre vor. Gespannt beobachtete Aldiana, wie Malcolms Arme in Bewegung gerieten, als er nach dem Schal griff und ihn an sein Herz drückte. Seine Qual stand ihm ins Gesicht geschrieben. Nie zuvor hatte Aldiana etwas so Bedrückendes und gleichzeitig so Bewegendes gesehen. Plötzlich fühlten sich ihre Augen an, als wäre Sand hineingeraten. Sie brannten, schienen überzuquellen. Aldiana rieb in ihnen … und hielt zu ihrer großen Verwunderung eine wunderschöne Perle in der Hand. Seit wann drangen Perlen aus ihren Augen? Dann verstand sie: Der Anblick des trauernden Malcolm hatte sie so sehr gerührt, dass sie weinen konnte, und die Perle war die Träne einer Meerestochter. Vorsichtig schwamm sie mit Malcolm zur Wasseroberfläche und hoffte innständig, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Als sein Kopf aus dem Meer auftauchte, rang er nach Luft und vollführte hektische Bewegungen, doch dann hörte sie ihn zu ihrer Erleichterung atmen. Sie begleitete ihn an den Strand, auf den er sich erschöpft fallen ließ und beobachtete ihn noch eine Weile; sie wollte sicher sein, dass es ihm gut ging. Dann entschuldigte sie sich beschämt, sagte, wie leid ihr alles täte, und wie sehr sie sich wünschte, es hätte eine andere Möglichkeit zur Rettung ihres Reiches gegeben. Ihre Aufrichtigkeit und ihr offensichtlicher Kummer beschwichtigten Malcolm ein klein wenig. Doch wusste er nicht, ob er ihr den Verrat an ihm jemals verzeihen würde. Aldiana übergab ihm die kostbare Perle als Dank des Meervolkes und verschwand in den Fluten.
Jason wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Auge. Heulen war uncool, wenn man keine Perlen weinte. Dieses Ende seines Märchens hatte er noch nie gehört. War Aldiana nun gut oder böse? Konnte jemand beides zu gleicher Zeit sein? Doch es sah so aus, als würde er heute keine Antwort mehr auf diese Frage erhalten, die ihn gerade so sehr beschäftigte. Es war spät geworden, und Sarah schickte ihn ins Bad, damit er sich fürs Bett fertig machte.
In dieser Nacht schlief Jason sehr unruhig. Er war aufgewühlt, denn bisher hatte er Aldianas Geschichte immer nur in kleineren Abschnitten gehört. Die Kraft des Gesamtwerkes mit seinem neuen Ende erschütterte ihn und zeigte ihm sein Meermädchen in einem anderen Licht. Er wusste nicht mehr so genau, was er von ihr halten sollte.
…Aldiana sitzt auf ihrem Felsen. Die Sonne lässt ihr rot-blondes, hüftlanges Haar wie Kupfer glänzen. Sie scheint auf den Menschen zu warten, der ihr im Krieg gegen die grausigen Drachenfische Beistand leisten wird. Da, jetzt winkt sie jemandem am Ufer zu. Die Gestalt ist nicht zu erkennen. Sie scheint klein zu sein. Auf einmal weiß Jason, dass er dort am Strand steht. Soll er zu Aldiana schwimmen? Sie kann nicht ihn meinen; er ist doch nur ein Kind und hat nicht die Macht, ihr Reich zu verteidigen. Sie winkt erneut. Der Wind trägt ihre helle, wohlklingende Stimme übers Meer. ‚Du bist unser Retter‘, singt sie, ‚wir warten voller Hoffnung auf dich. Nur du kannst unser Volk befreien, und wir werden deine Heldentat niemals vergessen.‘
Diesem magischen Gesang kann Jason nicht widerstehen, und er stürzt sich ins Wasser, dessen Eiseskälte ihm den Atem nimmt. Damit hat er nicht gerechnet; das Meer ist sonst wesentlich wärmer. Im selben Augenblick, als er um Luft ringt, stürzen sich die Drachenfische auf ihn. Er ist in einen Hinterhalt geraten.
Aldiana schwimmt mit einem Haifischgrinsen auf ihn zu. Ihr Gebiss besteht plötzlich aus dolchartigen Zähnen, die sie, wie die Drachenfische, nach vorne klappen kann. Mit rauer, barscher Stimme weist sie ihre Verbündeten an, Jason nicht zu verletzen oder gar zu töten. Er gehöre ihr allein. Nur ihr stehe es zu, sich an ihm für seinen Verrat zu rächen. Jason wehrt sich vehement gegen den brutalen Angriff der Drachenfische…
Er strampelte wie ein Wilder und wachte auf, als er mitsamt Bettdecke, in der er sich verheddert hatte, aus dem Bett fiel. Immer noch hieb er mit den Fäusten auf seine Gegner ein, bevor er merkte, dass er in die Luft schlug. Es dauerte geraume Zeit, bis er sich aus seinem verwirrenden und beängstigenden Traum befreien konnte.
Es wurde bereits hell im Zimmer; die Morgendämmerung war schon heraufgezogen. Jason legte sich wieder hin, versuchte, noch ein wenig zu schlafen, doch es gelang ihm nicht. Kurz darauf stand er auf, denn er hatte einen Plan gefasst. Leise suchte er seine Badehose und zog sich an. Er wusste, dass er nicht trödeln durfte, denn seine Großeltern waren meist Frühaufsteher. Wenn sie ihn erwischten, war es mit seinem Vorhaben vorbei.