Schatten der Macht - Petra Vetter - E-Book

Schatten der Macht E-Book

Petra Vetter

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Beschreibung

Tauchen Sie ein in die Geschichte der Familie Borgland, vom wirtschaftlichen Aufschwung der 50er bis in die 2000er. Eine Zeit, in der der Nazi-Terror noch nicht vergessen ist und die Attentate der linksextremistischen RAF die Bevölkerung in Atem halten. Doch es geht nicht nur um historische Ereignisse und den Aufstieg des Borgland-Imperiums. Es geht vor allem um einen Sohn, der seinen Platz in Familie und Gesellschaft nicht finden will und dessen Angehörige daran zu zerbrechen drohen. Ein spannender Teil deutscher Geschichte verbindet sich mit dem aufwühlenden Porträt zerbrechlicher Familienbande.

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Seitenzahl: 462

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Petra Vetter

Schatten der Macht

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Teil 1

Teil 2

Teil 3

Teil 4

Teil 5

Impressum neobooks

Teil 1

Das Buch

Jens Borgland tarnt seine skrupellosen Manipulationen hinter einer charmanten, zuvorkommenden Fassade. Dieses Blendwerk hält er allerdings nur so lange aufrecht, wie sich die Dinge nach seinen Vorstellungen gestalten. Andernfalls verleiht er seinen Wünschen durch eigenwilligere Methoden den nötigen Nachdruck.

Sein Umfeld stürzt er in permanente Zerrissenheitzwischen Faszination, Bewunderung, Irritation und Unbehagen. Beruflich leistet er zu Beginn Großes, doch die Enthüllungen seiner Wirtschafts-Straftaten bringen ihn für mehrere Jahre ins Gefängnis. Sein Universum droht zu zerbrechen, und Jens sieht sich in die Enge getrieben. Mit fatalen Folgen für seine Familie.

Die Autorin

Petra Vetterwurde in Hannover geboren, studierte an der dortigen Musikhochschule und tanzte in freien Kompanien an renommierten Bühnen. Später nahm sie ihre Tätigkeit als freiberufliche Choreographin und Regisseurin auf. Die Erarbeitung ihrer Dramaturgien brachte sie zum Schreiben, indem sie ‚die Schritte durch Worte ersetzte‘. Seitdem verknüpft sie in der Bühnenarbeit ihre Choreographien mit eigener Prosa.

Als Autorin verfasste Petra Vetter bisher Short Stories und den Roman Meermädchen.

Weiter Informationen zu Petra Vetters künstlerischer Arbeit und ihren Veranstaltungen finden Sie auf

www.petra-vetter-tanz.de

Impressum

Text: © 2022 Copyright by Petra Vetter

Umschlag: © 2022 by Petra Vetter

Gestaltung: by Janko Buve, Alyssa Vetter

Cover-Foto: by carlos de toro / unsplash

Verantwortlich

für den Inhalt: Petra Vetter

Büchnerstr. 4

51429 Bergisch Gladbach

[email protected]

Druck: neobooks – ein Service der Neopubli

GmbH, Berlin

Dank

An dieser Stelle möchte ich besonders meinen Lektorinnen Helgard Grosseschallau und Yamina Vetter für ihre leidenschaftlichen Diskussionen danken.

Sie brachten mich immer wieder auf den richtigen Weg, wenn ich mich im Dickicht von Familiensaga, deutscher Geschichte und Psychologie verlor. Sie drängten überzeugend auf Änderungen, bis wir alle mit dem Ergebnis glücklich waren.

Dank auch an meine Tochter Alyssa und meinen Schwiegersohn Janko für ihre fantastische Covergestaltung.

Und last but not least danke ich meinem Mann Klaus für seine Unterstützung.

1

Ende Mai 1980, nach Abschluss seines BWL-Studiums in Paderborn, kehrte Jens Borgland nach Elmenwerde zurück. An seinem ersten Sonntagmorgen im Elternhaus, stand er um 9:00 Uhr am Fenster seines ehemaligen Kinderzimmers, das sich nie zu einem Jugend- oder Erwachsenenzimmer gewandelt hatte. Die Wände waren weiß, wie im übrigen Haus, hier allerdings ohne ein schmückendes Bild. Es gab keinerlei Dekoration, so dass das Zimmer einen unbewohnten, fast schon sterilen Eindruck machte.

Seine Eltern hatten es seinerzeit mit einem Bett, einem Kleiderschrank, einem Tisch und einem einzelnen Stuhl aus Buchenholz möbliert. Lediglich das Kinderbett war ‚mit ihm gewachsen‘ und im Laufe der Jahre durch ein größeres ersetzt worden.

Seine früheren Spielsachen standen noch immer überall herum. Er hatte sie nie besonders beachtet, da er am liebsten im angrenzenden Wald, der zum Grundstück seiner Eltern gehörte, herumgestromert war. Und als Teenager fand er es nie der Mühe wert, den Krempel in seinen kurzen Heimspielen, wie er seine Ferienaufenthalte nannte, wegzuräumen. Jens war 1963 mit sechs Jahren ins Internat Schloss Papeneck bei Holzminden gekommen, um von dort nahtlos an die Paderborner Uni zu wechseln. ‚Die dunklen Jahre der Verbannung‘ pflegte er seine Internatszeit seiner Umwelt gegenüber ein wenig theatralisch zu nennen.Voller Befriedigung blickte er auf das Inventar aus seiner Studentenbude, das er mitgebracht hatte. Er würde das Thema Zimmerneugestaltung endlich in Angriff nehmen. Gegen den vehementen Protest seiner Eltern, versteht sich. „Junge, du willst doch nicht etwa deine hochwertigen Möbel gegen diesen billigen Sperrmüll austauschen“, hatte sich seine Mutter entsetzt.

„Welche Möbel?“, hatte er spöttisch gefragt. Und ja, genau das wollte er; der Sperrmüll-Charme seiner Innenausstattung gab dem Zimmer eine persönliche Note und zeigte ihm, dass es von jetzt an sein Reich war.

Gedankenverloren drehte er einen Spielzeug-Ritter mit gezücktem Schwert zwischen seinen Fingern, während sein Blick in den Garten wanderte. Er kannte den anschließenden Wald wie seine Westentasche, hatte dort jedes Blatt und jeden Stein umgedreht und unzählige imaginäre Abenteuer zwischen den Bäumen bestanden.

Es war seine glücklichste Zeit gewesen. Jens war kein Naturliebhaber per se. Er begeisterte sich nicht für die Schönheit der Bäume und Blumen, nicht für das erste Grün des Frühlings, das sich gerade überall zeigte.

Aber er genoss die scheinbar grenzenlose Freiheit der Wald-Einsamkeit und die Experimente, die er dort durchgeführt hatte. Würmer, Krabbel- und Kriechtiere und auch der eine oder andere Frosch hatten ihm bemerkenswerte Einblicke in anatomische Zusammenhänge verschafft. Jens stellte den Ritter wieder zurück auf die Zinnen seiner Burg. Es fühlte sich merkwürdig an, nach all den Jahren wieder im Haus der Eltern zu sein.

Am Montag, dem 01. Juni, sollte er seinen ersten Job in der Elmen Erschließungsgesellschaft, kurz ELEG GmbH, seines Vaters Wilhelm antreten. Die ELEG war eine in Elmenwerde angesiedelte Tochterfirma der Elmen Privatbank. Genaugenommen gehörten beide Unternehmen seinem Großvater Renzo, doch Wilhelm war der Geschäftsführer. Die Bank verwaltete in Münster schwerpunktmäßig das Vermögen einer betuchten Klientel. Verrückt, dachte Jens. Wilhelm hatte bei Renzo als talentierter, vielversprechender Bänker angefangen und sich in dessen Tochter Constanze, Jens´ Mutter, verliebt. Während ihrer Schwangerschaft gefiel es Constanze, sich ein Dorf, das jetzige Elmenwerde, als Wohnort zu wünschen. Sie hatte sich für ein Fleckchen Erde zwischen Hiltrup und Amelsbüren begeistert, das bis dahin unerschlossenes Kirchenland gewesen war. Daraufhin gründete Renzo die ELEG, deren Geschäftsführer Wilhelm wurde. Renzo von Elmen gehörte dem alten Münsteraner Stadtadel an, den einstigen Erbmännern, denen früher das Recht vorbehalten war, die Münsteraner Ratsherren zu wählen. Obwohl der Adel längst seiner Standesrechte beraubt war, hatten die von Elmen stets weiterhin gute Beziehungen zur Politik gepflegt, und Renzo war sogar Mitglied des Stadtrates geworden. Nur so ließ sich sein Einfluss erklären, der es ihm ermöglicht hatte, Constanzes Wunsch durchzusetzen und dabei sogar ein Stück Kirchenland in seinen Besitz zu bringen. Die Gründe seines Großvaters konnte Jens noch nachvollziehen. Eine Tochterfirma bedeutete Expansion. Was seinen Vater umgetrieben hatte, war Jens jedoch ein Rätsel. Konnte man so verliebt sein, dass man sich sang- und klanglos von seinem Traumjob in einer Bank auf den ungeliebten Geschäftsführer-Posten einer Erschließungsgesellschaft abdrängen ließ? Denn dass Wilhelm mit Leib und Seele Bänker war, wusste Jens. Er hielt sich jedoch nicht lange damit auf, die schwierigen Tiefen der Liebe zu ergründen. Die Schwäche seines Vaters brachte ihm immerhin zwei Unternehmen als Erbe und seinen ersten Job ein. War er, Jens, erst Geschäftsführer der ELEG, konnte sich Wilhelm wieder ausschließlich in seine geliebte Bank zurückziehen. Nach Abschluss seines Studiums hatte sein Vater ihm großzügig zwei Wochen Ferien gewährt. Jens hasste diesen völlig ungerechtfertigten Ausdruck. Seine ‚Ferien‘ hatten gerade dazu gereicht, seine Studentenbude aufzulösen und den Umzug zu organisieren. Es handelte sich also lediglich um eine Auszeit, keinesfalls jedoch um Urlaub oder gar Dolce Vita. Wilhelm seinerseits hasste die Bezeichnung ‚Job‘, die bei den jungen Leuten in Mode zu sein schien. Er bot seinem Sohn keinen ‚Job‘, sondern eine Arbeitsstelle, die ihn auf den Geschäftsführerposten der ELEG vorbereitete. Hoffentlich nahm der Junge seine Verantwortung ernst.

Ab Montag hieß es für ihn, Jens, also Akten wälzen, Zahlenmaterial studieren und sich einen groben Überblick über die Auftragssituation und die Partnerfirmen derELEG zu verschaffen. In den ersten Wochen würde dies seine Hauptbeschäftigung sein, danach sollte er während seiner Einarbeitungsphase alle Abteilungen des Betriebs durchlaufen. In den ersten zwei Jahren zahlte ihm sein Vater ein eher bescheidenes Gehalt, das sich nach Fristablauf peu à peu erhöhen sollte. Schließlich würde der Junge einmal ein gutsituiertes Unternehmen erben, da konnte man ihn ruhig in die Pflicht nehmen und ein wenig Einsatz erwarten, lautete Wilhelms Devise. Als eine Art Verdienst-Aufbesserung bot er ihm jedoch unentgeltliches Wohnen im Elternhaus an, Verpflegung inbegriffen. Wie großzügig, dachte Jens voller Ironie. Aber natürlich bewertete Wilhelm die Dinge, wie gewohnt, ganz anders als sein Sohn.

Jens sah bei der Arbeit im familieneigenen Unternehmen diverse Probleme auf sich zurollen. Er verstand sich nicht mit seinem Vater, die Konflikte waren daher vorprogrammiert. Ständig unter der Knute dieses selbstgerechten Vollidioten zu stehen, schmeckte ihm überhaupt nicht. Jenem Mann, der ihn als Kind weggeschickt und seinen Bruder Falko bevorzugt hatte. Der heilige Falko, mit dem genialen Namen und dem fantastischen Aussehen, das er von der adeligen Familie ihrer Mutter Constanze geerbt hatte. Doch die Macht, die er spätestens nach der Übernahme der ELEG innehätte, reizte Jens mehr als alles andere. Dafür lohnte es sich, die Zähne zusammenzubeißen. Immerhin hatte er die Aussicht auf den Job des Geschäftsführers seinem Bruder voraus. Und später würde er Gesellschafter und irgendwann auch Bankdirektor. Ein wirklich großer innerer Vorbeimarsch war das allerdings nicht für ihn, denn er konnte Falko damit nicht ausbooten. Der interessierte sich nicht für so profane Dinge des Lebens wie Geld. Falko hatte sich den Geisteswissenschaften verschrieben und würde in diesem Wintersemester nach Göttingen gehen, um Germanistik mit dem Schwerpunkt Literatur zu studieren. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte würden die Familien von Elmen und Borgland wohl einen Hungerleider hervorbringen, dachte Jens belustigt. Wenn er an Falkos heißgeliebten Shakespeare dachte konnte er nur lachen: ‚Sein oder nicht sein‘ bedeutete für ihn eindeutig ‚Haben oder nicht haben‘.

Jens drehte dem Fenster den Rücken zu. Es war Zeit, ins Esszimmer hinunterzugehen. Im Hause Borgland legte man Wert auf das gemeinsame Sonntagsfrühstück. Ihm selbst war diese geheuchelte Zusammengehörigkeit lästig. Trotz allem empfand er eine gewisse Freude, wieder im Familienkreis aufgenommen, wieder akzeptiert zu sein. Da wollte er diese neuen Bande nicht gleich durch Verweigerung und Renitenz stören.

Als er das Esszimmer betrat, erwartete ihn der gedeckte Tisch. Natürlich hatte seine Mutter Constanze bereits pflichtbewusst den Kaffee aufgesetzt und die Brötchen aufgebacken. Wilhelm und Falko erschienen fast gleichzeitig und setzten sich zu ihnen. „Gibst du mir bitte die Marmelade?“, fragte Wilhelm seine Frau. Dann wandte er sich an Falko: „Mutter sagte, du hast deinen Platz im Studentenwohnheim abgelehnt und willst dir stattdessen einen Platz in einer WG suchen. Hast du dich infor-miert, wie die aktuelle Wohnungssituation in Göttingen aussieht, bevor du überstürzt ein sicheres Angebot ausschlägst?“ Noch bevor Falko mit seinem vollen Mund antworten konnte, mischte sich Constanze ein: „Sei doch nicht so hart mit dem Jungen“, wandte sie sich an ihren Mann, „er fühlt sich in diesen winzigen Zimmern des Wohnheims nicht wohl. Was spricht dagegen, wenn er sich nach etwas anderem umsieht?“

„Constanze, dagegen spricht die Tatsache, dass Falko noch nicht einmal nach Göttingen gefahren ist, um sich vor Ort umzusehen. Man gibt etwas Sicheres nicht auf, solange nichts anderes in Sicht ist. Außerdem ist Falko wohl alt genug, um für sich selbst zu sprechen. Ich denke, du brauchst ihn nicht zu verteidigen.“

„Mutter beschützt gerne die Entrechteten“, murmelte Jens vor sich hin. Verdammt, dachte er im gleichen Augenblick, warum kann ich nicht einfach die Klappe halten. Doch dieses Aufhebens, das immer um Falko gemacht wurde, ging ihm gehörig auf die Nerven. ‚Er fühlt sich in den winzigen Zimmerchen nicht wohl‘. Hatte sich irgendjemanden über seine Gefühle in seinem Internatszimmer gesorgt? Wilhelm warf Jens einen durchdringenden Blick zu, sagte aber nichts. Anscheinend hatte sein Vater ihn nicht verstanden. Gut so, er wollte wirklich nicht gleich unangenehm auffallen. Inzwischen war Falkos Mund wieder leer: „Ich habe mir meine Absage natürlich überlegt“, warf er ein, „aber ich habe doch Zeit; das Semester fängt ja erst im Oktober an. Bislang habe ich noch in den letzten Abi-Prüfungen ge-steckt, aber sobald ich damit durch bin, fahre ich nach Göttingen und suche mir eine passende Bude. Wirst sehen, das wird schon klappen.“

Das Gespräch drehte sich noch eine Weile um Falkos Wohnungssuche, doch Jens hörte nicht mehr zu. Es war immer dasselbe. Falko war nun wirklich kein Kleinkind mehr und auch kein Dummkopf. Letzteres musste selbst Jens zugeben, leider. Warum machten seine Eltern nur immer einen solchen Wirbel um ihn? Wieso hatten sie sich nie gefragt, wie es ihrem älteren Sohn dabei ging? Der Sohn, der bereits als Kind ins Internat abgeschoben worden war, weil er nicht in das Familienbild der Borglands passte, Etikette und Konventionen störte! Er spürte, wie das Blut wieder in seinen Schläfen zu pochen begann. Er wollte sich durchaus zusammenreißen, aber sie sollten seine Duldsamkeit nicht derart herausfordern, derart auf die Probe stellen; das konnte kein Mensch auf Dauer aushalten. Hatten seine Eltern nichts gelernt? Nur gut, dass sein Bruder bald aus dem Haus ging, sie sich quasi gegenseitig ablösten. Das befreite ihn, Jens, von diesem beständigen Konkurrenzkampf. Andererseits war es schade, denn er hatte nie eine richtige Gelegenheit bekommen, Falko kennenzulernen. Er war sein fremder Bruder geblieben, und Schuld daran trugen die Eltern. Für Jens stand es außer Frage, dass die Distanz zwischen ihm und Falko insbesondere der Fehler seines Vaters war. Er hatte mit Jens´ Verbannung ins Internat nicht nur die Geschwister auseinandergerissen, sondern auch ihren unseligen Konkurrenzkampf gefördert. Nur so konnte sich Jens die bestehende Situation erklären.

2

Jens saß in seinem Büro der ELEG und gähnte. Büro konnte man das kleine, fensterlose Kabuff eigentlich nicht nennen, doch er konnte sich hier, ungestört vom Tagesgeschäft, in die Firmenvorgänge vertiefen.Ihn störten weder die räumliche Isolation noch die fehlende soziale Integration, die sein Büro mit sich brachte, doch die Enge des Raumes und dessen Fensterlosigkeit empfand er als Zumutung. Zwar ließ ihn die Aussicht in die Umgebung gleichgültig, doch ein Raum mit Fenster zeugte von der gehobenen Position eines Mitarbeiters, von dessen Wertschätzung und Anerkennung, die er, Jens, offensichtlich nicht erhielt. Ärgerlich drehte er einen Kugelschreiber in den Händen, bevor er ihn auseinanderschraubte. Er sollte eine Pause machen und sich einen Kaffee bei der Sekretärin seines Vaters holen. Wenn er Pech hatte, würde Wilhelm wahrscheinlich genau in diesem Augenblick aus seinem Zimmer kommen und ihm eine leutselige Ansprache, er solle seine Privilegien als Sohn des Inhabers nicht strapazieren, halten. Privilegien, dass ich nicht lache, dachte Jens. Nur weil ich mir ab und zu einen Kaffee genehmige! Er war schon auf dem Weg zur Tür, als er sich umentschied. Er hatte genug Arbeit. Warum sollte er seine Zeit für ein Geplänkel mit seinem Vater vertun? Es gab größere Ziele. Trotzdem zog Jens den Aktenordner aus der Buchhaltung nur lustlos zu sich heran. Eigentlich sollte er systematischer vorgehen und bei seiner Lektüre nicht zwischen den einzelnen Abteilungen der ELEG hin und her springen, aber er hatte keine Lust mehr, weitere Verträge mit Partnerfirmen, Zulieferern und Pächtern zu lesen. Er konzentrierte sich zur Abwechslung lieber auf die Bilanzen der letzten zwei Jahre. Zahlen sagten ihm zu, fesselten ihn, waren sein Metier. Als er seinen Ordner gerade weglegen wollte, um nun doch eine Pause einzulegen, wurde er stutzig.

Die Kirche hatte der ELEG jenes Areal Elmenwerdes zur Verpachtung abgetreten, auf dem die Einkaufsläden standen. Das war ein Geniestreich seines Großvaters gewesen. Indem Renzo dem Oberbürgermeister von Münster den Mund mit der Aussicht auf zusätzliche Steuereinnahmen aus dem Gewerbegebiet des neuen Dorfes wässrig machte, sorgte er dafür, dass dieses Stück Kirchenland als Bauland ausgeschrieben wurde. Daraufhin hatte das Bistum das Land eschließen lassen und die Kosten dafür tragen müssen.

Renzo unterbreitete den hohen Würdenträgern ein günstiges Angebot, machte dafür aber Ansprüche geltend. Deshalb ging das Stück Land, auf dem Wilhelms Haus stand, in Renzos Besitz über und die Pacht der Läden floss auf die Konten der ELEG.

Doch die Zahlungen des modernen Supermarktes, der in Elmenwerde im Zeichen des Fortschritts an Stelle des Tante-Emma-Ladens gebaut worden war, waren zu niedrig! Jens erinnerte sich genau, dass er den entsprechenden Vertrag erst vor ein paar Stunden in den Händen gehalten hatte. Eilig suchte er nach den Unterlagen, um die Beträge zu vergleichen. Bingo! Gut, dass er ein so ausgezeichnetes Zahlengedächtnis hatte und eher unorthodox durch die Akten gegangen war, ansonsten wäre er nicht über diese Unstimmigkeit gestolpert. Im Vertrag stand eine höhere Pacht, als in der Buchhaltung gelistet wurde. Interessant, die Sache begann spannend zu werden.

Jens erhob sich und war erneut auf dem Weg zur Tür, um die Angelegenheit mit seinem Vater zu besprechen, als er innehielt und sich wieder setzte. Warum so eilig, warum nicht erst einmal in Ruhe darüber nachdenken? Bei den entgangenen Einnahmen handelte es sich um eine überschaubare Summe. Deshalb war der Fehler wohl noch niemandem aufgefallen. Was bisher im Verborgenen geblieben war, müsste auch in Zukunft nicht unbedingt ans Licht kommen. Der ELEG fehlten seit fünf Jahren fünfhundert Mark im Monat, machten sechstausend Mark aufs Jahr und dreißigtausend Mark auf den gesamten Zeitraum gerechnet. Eine Menge Geld für eine einzelne Person, doch als Fehlbetrag in einem mittelständischen Unternehmen nicht zwangsläufig zu entdecken. Ein Versehen in der Buchhaltung schloss Jens entschieden aus. Hier waren andere Kräfte am Werk. Den verantwortlichen Buchhalter konnte er leicht ausfindig machen. Vielleicht sollte er sich ein wenig mit ihm unterhalten, und vielleicht sollte es ein informelles Gespräch außerhalb des Büros sein? Er würde ihm ein Angebot machen, das dieser zwar nicht ablehnen konnte, doch würde es ihn keineswegs beglücken, das war bombensicher.

Zufrieden legte Jens die Ordner zur Seite und blickte auf die Uhr. Feierabend, dachte er. Was für ein bereichernder Arbeitstag! Als ihm die Doppeldeutigkeit seiner Worte aufging, zog ein breites Grinsen über sein Gesicht. Bereichernd im wahrsten Sinne des Wortes. So machte die Arbeit Spaß.

Zwei Tage später saß Jens mit Ingo Holtmann im Einhorn, der einzigen Kneipe von Elmenwerde, die genau genommen ein Gasthaus mit gutbürgerlichem Restaurant war. Hier trafen sich die Dorfbewohner zum Bierchen. Jens hatte dem sich sträubenden Holtmann die Pistole auf die Brust gesetzt und das Treffen dringlich gemacht. Holtmanns Ausreden, er müsse abends bei seiner kleinen Tochter bleiben, weil seine Frau dann arbeite, ließ Jens nicht gelten. Es würde doch sicherlich eine Oma geben, schlug er aufmunternd vor.

In einer der hinteren Ecken des Restaurants war auf Jens´ Wunsch ein Platz für ihn und seinen Gast reserviert. Denn Holtmann würde sein Gast sein; dieses kleine, grausame Katz-und-Maus-Spiel ließ sich Jens nicht nehmen. Holtmann schien nervös zu sein, der Blick aus seinen grauen, ein wenig traurigen Augen wanderte unstet durch den Raum. Wie unscheinbar er mit seinem bereits schütter werdenden, strohblonden Haar aussah. Dabei war er erst fünfunddreißig. Bei der Beurteilung anderer vergaß Jens gerne seine eigene schlichte Erscheinung. Immerhin hatte es sein farbloses Gegenüber geschafft, die ELEG zwei Jahre lang geschickt zu betrügen; doch das würde sich heute ändern. Die Kellnerin brachte die Speisekarte, und Jens ermunterte Holtmann, zu wählen. Er selbst würde sich für die Rouladen entscheiden, die er wärmstens empfehlen könne. Holtmann sah sich daraufhin genötigt, sie ebenfalls zu bestellen, ohne rechten Hunger zu verspüren. Während des Essens erging sich Jens im Small Talk, dessen Kunst er meisterhaft beherrschte. Mit Genugtuung beobachtete er die Schweißtröpfchen, die sich auf Holtmanns Stirn bildeten, während er lustlos in seinem Essen herumstocherte. Erst beim Cognac, zu dem Jens seinen Gast drängte, kam er endlich zur Sache.

„Mein lieber Holtmann“, begann er, „wie Sie wissen, arbeite ich mich derzeit in die Vorgänge der ELEG ein und bin dabei auf“, an dieser Stelle zögerte er gekonnt, „nun ja, wie soll ich sagen, ich bin dabei auf gewisse Unregelmäßigkeiten gestoßen.“

Holtmann erbleichte, das unerträgliche Gefühl fahrender D-Züge in seinen Innereien peinigte ihn. Jens legte eine Kunstpause ein, der Holtmann nur kurz standhielt, dann knickte er ein. „Ich werde das fehlende Geld zurückzahlen“, stammelte er, während er sich ängstlich im Raum umsah. Zum Glück war das Restaurant mitt-lerweile leer, so dass er keine Lauscher befürchten musste, und die wenigen Leute an der Bar bekamen den Inhalt ihre Unterredung nicht mit. „Aber ich bitte Sie inständig, mir Zeit zu geben“, fuhr Holtmann immer leiser werdend fort, „ich kann diese hohe Summe nicht auf einmal zurückzahlen, denn das Geld ist bereits ausgegeben. Und bei meinem Gehalt … ich muss eine Familie ernähren“, Holtmann hob hilflos die Hände.

„Mein lieber Holtmann“, Jens bereitete es offensichtlich Vergnügen, sein Gegenüber mit dieser Anrede zu quälen, „so schlecht ist Ihr Gehalt doch gar nicht. Andere müssen mit weniger auskommen und haben ebenfalls eine Familie zu umsorgen. Das hätten Sie sich früher überlegen sollen. Jetzt ist das Kind in den Brunnen gefallen.“ Ingo Holtmann wischte sich mit der Serviette den Schweiß von der Stirn. Er saß in der Falle, ihm stand eine fristlose Kündigung ins Haus. Und es würde einen Vermerk in seiner Akte geben, den jeder potentielle neue Arbeitgeber bei einem informellen Telefonat mit Wilhelm Borgland erfahren würde. Hätte er nur nicht seinem Wunsch nachgegeben, seine Frau zu entlasten. Er fand es nicht richtig, dass sie sich um Kind und Haushalt kümmern und abends noch arbeiten gehen musste. Zwar hatte er das heutige Zusammentreffen mit Jens Borgland mit der Ausrede vermeiden wollen, er müsse sich um seine Tochter kümmern, doch tatsächlich arbeitete seine Frau seit Maries Geburt nicht mehr. Aber sein ‚hätte, hätte‘ nützte ihm nun nicht mehr. Borgland Junior brachte es ganz richtig auf den Punkt: das Kind war in den Brunnen gefallen. Was sollte er nur tun? Er blickte in Jens´ kühle graublaue Augen. Sie signalisierten weder Verständnis noch Milde; er war diesem kalten Fisch auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Er flehte inständig und den Tränen nahe, Borgland Junior möge ihn nicht entlassen, an Holtmanns Frau und Kind denken, sie nicht für seinen Fehler büßen lassen.

Jens beschloss, sein Buchhalter sei nun weich genug gekocht und setzte zu dessen Überraschung sein charmantestes Lächeln auf. „Aber, aber, lieber Holtmann, wer spricht denn von Entlassung oder Rückzahlung. Es gibt doch kreativere Lösungen.“ Ingo traute seinen Ohren nicht; Borgland machte ganz und gar nicht den Eindruck eines Menschenfreundes. Was für niederträchtige Pläne verfolgte er? Entspannt lehnte sich Jens zurück und ließ Holtmann wiederum eine Weile zappeln, ehe er gelassen fortfuhr: „Hier ist mein Vorschlag. Sie lassen alles wie es ist, mit dem einzigen Unterschied, dass Sie von nun an diese Zuwendungen, die Sie von dem Firmen-Unterkonto auf Ihres überweisen, stattdessen an mich abtreten. Cash versteht sich. Das bisher veruntreute Geld brauchen Sie nicht zurückzuzahlen; das würde nur auffallen und unangenehme, lästige Fragen mit sich bringen. Sehen Sie es als Vorabzahlung für das Risiko, das Sie von jetzt an für mich tragen werden. Sollten Ihre Unterschlagungen auffliegen, weiß ich selbstverständlich von nichts. Ich sehe, wir verstehen uns. Es ist ausgesprochen bereichernd, mit Ihnen Geschäfte zu machen.“ Jens konnte es sich nicht verkneifen, seinem überraschten, unfreiwilligen Mäzen dieses Wortspiel unter die Nase zu reiben. „Trinken Sie Ihren Cognac aus, er ist vorzüglich“, ermunterte er Holtmann noch. Dann beglich Jens die Rechnung und erhob sich. „Mein lieber Holtmann“, wandte er sich ein letztes Mal an seinen Gast, „solange alles zu meiner Zufriedenheit läuft, werden wir uns zukünftig lediglich zur Übergabe der Briefumschläge kurz und selbstverständlich diskret außerhalb des Büros begegnen. Für ein weiteres irreguläres Treffen gibt es einstweilen keinen Anlass.“ Jens ging in Richtung Ausgang, drehte sich aber noch einmal um: „Ach ja, Holtmann, und lassen Sie sich nicht einfallen zu kündigen. Das würde ich gar nicht gerne sehen. Sie sind ein geschätzter Mitarbeiter des Unternehmens.“ Mit diesen Worten verließ er den Raum.

Holtmann hingegen blieb wie angewurzelt sitzen und bestellte sich ein Bier und einen Korn. Er würde weiterhin das ganze Risiko seines Betrugs tragen, ohne künftig davon zu profitieren, und dieses Jüngelchen, das mit einem goldenen Löffel im Mund zur Welt gekommen war, sahnte einmal mehr ab. Vielleicht wären Kündigung und Geldstrafe eine bessere Lösung gewesen; einen Schlussstrich ziehen und irgendwo anders von vorne anfangen. Aber dafür war es zu spät. Borgland Juniors Drohung ließ keine Zweifel offen. Der Betrüger war einem Erpresser zum Opfer gefallen.

3

Am ersten Sonntag im Oktober kamen Jens´ Großeltern Renzo und Evelyn zu Besuch nach Elmenwerde. Er erinnerte sich, dass er sie als Kind gut leiden mochte, doch seine Internats- und Studienaufenthalte hatten den Kontakt zu ihnen über all die Jahre stark eingeschränkt, fast einschlafen lassen. Ein wenig gespannt war Jens schon auf das Wiedersehen. Als es klingelte, öffnete er höchstpersönlich die Tür. Erstaunt stellte er fest, dass Renzo selbst zu einem Familienbesuch im feinen Anzug mit Weste und Krawatte erschien, während Jens in seiner Freizeit nur noch Jeans, T-Shirt und Turnschuhe trug. Er bat sie herein und versuchte, Renzo und Evelyn unauffällig zu mustern. Sein Großvater war ein distinguierter Mann, dessen Gelassenheit sich in seinen ruhigen, grauen Augen und seiner angenehm dunklen Stimme spiegelte. Volle, wellige, blonde Haare umrahmten sein schmales Aristokraten-Gesicht und fielen ihm in einer Art Elvis-Tolle in die Stirn.

Seine Großmutter bestach durch ihr zartes Gesicht mit den hohen Wangenknochen und der feingeschwungenen Nase. Sie trug ihr blondes Haar in einer modisch kessen Kurzhaarfrisur, die sie frisch und jugendlich erscheinen ließ. Kurz beneidete Jens seine Mutter Constanze und seinen Bruder Falko, die das gute Aussehen der beiden geerbt hatten.

Die Begrüßung fiel herzlich aus, und er bat seine Großeltern zur Kaffeetafel ins Wohnzimmer. Der Esstisch aus Kirschbaumholz stand in einem separaten Teil des Zimmers und bot Platz für zwölf Personen. Er verriet, genau wie die übrige Einrichtung, den Einfluss eines modifizierten Bauhaus-Stils: schnörkellos und funktional, in klarem, modernem Design und aus edlen Hölzern. An den Wänden hingen Bilder moderner Künstler, ganz im Sinn des Bauhaus Meisters Johannes Itten. Bei der Möblierung des Hauses hatte Wilhelm seiner Frau freie Hand gelassen, jeden Einmischungsversuch tunlichst vermieden. Er fühlte sich mit den Themen Stil und Innenarchitektur überfordert und vertraute Constanzes Wahl. Er selber kannte nur den ‚Gelsenkirchener Barock‘ aus Eiche rustikal seiner Eltern, der seiner Frau nie ins Haus gekommen wäre.

Der Tisch war bereits für den obligatorischen Kuchen gedeckt. Jens hasste den steifen Rahmen der Kaffeerunde nach wie vor und wäre am liebsten wie früher durch den Garten in den Wald gestürmt, doch konnte er sich mittlerweile besser zur Ruhe zwingen. Interessiert erkundigte sich Renzo, wie es ihm in der Firma gefalle. Es sei immerhin eine große Aufgabe, sie einst zu übernehmen. Evelyn lachte leise, weil ihr vierundsiebzigjähriger Mann von der Übernahme sprach, als läge sie in weiter Ferne. Tatsächlich wollte er sich in spätestens vier Jahren vollständig aus den Geschäften seiner Bank zurückziehen und deren Leitung allein Wilhelm überlassen; bis dahin sollte Jens als Geschäftsführer der ELEG gerüstet sein. Obwohl der Ausstieg aus dem Berufsleben Renzos Idee war, schien er sie zu verdrängen, je näher der Zeitpunkt rückte.

Interessiert beobachtete Evelyn Jens´ Reaktion; konnte und wollte er diese Verantwortung überhaupt tragen? Ihr Enkel war für sie nie lesbar gewesen; sie ahnte selten, was sich hinter seiner Stirn verbarg. Als Kind hatte er sich explosiven Wutausbrüchen hingegeben, die er jetzt unter Kontrolle zu haben schien. Das machte den Umgang mit ihm auf den ersten Blick zwar angenehmer, doch waren seine früheren Anfälle immerhin ein Hinweis auf seine Seeelenlage gewesen.

Renzo wechselte das Thema. „Weißt du“, sagte er unvermittelt zu Jens, „ich finde es zwar gut, dass du nach Abitur und Studium so zügig in das Berufsleben eingestiegen bist, aber durch deinen Vater habe ich von deiner Wehrdienstverweigerung erfahren. Mit dieser Entscheidung bin ich überhaupt nicht einverstanden.“ „Warum?“, fragte Jens zurück. „Ich habe aus Gewissensgründen verweigert, das ist mein gutes Recht.“ „Wie das“, entgegnete Renzo, „geht es gegen dein Gewissen, dein Vaterland zu verteidigen?“ Seine Stimme hatte eine ungewohnte Schärfe angenommen. Jens sah ihn aufsässig an; so aufsässig wie früher, konstatierte Evelyn im Stillen.

Ihr Mann fuhr indes unbeirrt fort: „Ist es nicht mehr modern, sein Land zu schützen? Können wir das jetzt getrost den Amerikanern und Briten überlassen und uns als Bündnisarmee der NATO zurücklehnen? Brauchen sich die jungen Männer heutzutage nicht mehr um die Grenzen zu kümmern? Was denkt ihr euch? Unsere heutige Demokratie ist mit dem Blut zweier Generationen erkauft, und ihr habt es nicht nötig, eure gewonnene Freiheit zu sichern?“ Renzo redete sich in Fahrt. Evelyn stieß ihn unter dem Tisch mit dem Knie an, um ihn zu beschwichtigen, doch es war zu spät. Die Diskussion war in vollem Gang und würde nach ihrer Erfahrung den gemeinsamen Nachmittag ruinieren. Männer waren aus unerfindlichen Gründen nicht zu bremsen, wenn es um Politik ging.

„Das sagt der Richtige“, höhnte Jens gerade, „du hast doch nie mit der Waffe in der Hand gekämpft! Dich hat dein feiner Vater freigekauft, weil du angeblich im Familienunternehmen unabkömmlich warst. Und jetzt bist du mental im Kalten Krieg stecken geblieben, prophezeist eine neue Invasion Westdeutschlands, siehst aus jeder Ecke die Russen hervorspringen.“ „Der Kalte Krieg ist nicht vorbei,“ warf Wilhelm sachlich ein. „Aber es gibt vielversprechende Fortschritte in der Entspannungspolitik, seit Willi Brand vor acht Jahren mit den Ost-Gesprächen begann“, mischte sich nun auch Constanze ein.

„Ich prophezeie keine neue Invasion“, stellte Renzo klar, „aber ich war immer für eine Wiederbewaffnung Deutschlands zu Verteidigungszwecken; alles andere wäre unvernünftig.“

„Hast du die Widerstände des Volks und die der Politik in den 1950er Jahren gegen eine Wiederbewaffnung vergessen?“, Jens´ Sarkasmus war unüberhörbar. „Soll ich dir meine Geschichtsbücher zur Auffrischung deines Wissens leihen? Sprichst von Verteidigung der Freiheit und ignorierst, dass die Offiziere der Bundeswehr zu Beginn aus der Wehrmacht und sogar aus der Waffen-SS kamen. Du glaubst hoffentlich nicht, dass der Verein heute frei von rechtem Gedankengut ist!“

„Das weiß ich“, Renzo ließ sich auch weiterhin nicht von seinem Enkel provozieren, „aber wenn du schon von Geschichtsbüchern sprichst, kennst du vielleicht auch Adenauers Stellungnahme zu diesem Thema. Natürlich wusste er um die Vergangenheit der Offiziere, aber er konnte keine Armee mit ahnungslosen Grünschnäbeln in Führungspositionen gründen.“

„Deshalb wurden die Altgedienten auf ihre Eignung überprüft“, ergänzte Wilhelm. „Und Bewerber aus der Waffen-SS wurden im Übrigen abgelehnt“, korrigierte Renzo seinen Enkel.

„Sag mal, welche Werte genau willst du eigentlich mit der Bundeswehr verteidigen?“ Auf Jens´ Gesicht zeigte sich ein spöttisches Grinsen. „Du meinst doch hoffentlich nicht die inneren Werte?“

Renzo sah ihn verständnislos an. „Musste nicht vor zwei Jahren unser geschätzter Hans Filbinger als Ministerpräsident von Baden-Württemberg zurücktreten?“, fuhr Jens fort. „Konnte nicht mehr gehalten werden, nachdem bekannt wurde, dass er als Marinerichter unter den Nazis Todesurteile unterschrieben hatte. Danach sind die anderen braunen Ratten erstmal in die Kanalisation abgetaucht, aber die kommen wieder; die alten Seilschaften existieren noch.“

„Sicherlich wird es auch weiterhin nationalsozialistisches Gedankengut geben“, räumte Renzo ein, „aber was hat das mit der Bundeswehr zu tun? Sie soll in der Regel Außengrenzen verteidigen, ist nicht für die innere Sicherheit zuständig.“

„Außengrenzen, Außengrenzen“, zeterte Jens, „dafür willst du meine Generation dem Drill durch alte Faschisten aussetzen, obwohl du trotz des Krieges immer eine ruhige Kugel in der Bank schieben konntest!“ Renzos Sachlichkeit brachte Jens in Rage. Diesem selbstgerechten alten Mann mussten dringend Grenzen gesetzt werden. War selber nie irgendwelchen Befehlen gefolgt, hatte sich nie untergeordnet, kritisierte aber seinen Enkel für dessen Kriegsdienstverweigerung.

Aus Renzos Gesicht war bei Jens´ Worten alle Farbe gewichen. Lange saß er wortlos da, rang um Beherrschung. Seine Erstarrung ließ die anderen ebenfalls verstummen. Jens beschlich das ungute Gefühl, vielleicht zu weit gegangen zu sein. Endlich räusperte sich Renzo, sprach, ohne jemanden aus der Runde anzusehen: „Du hast keine Ahnung, wie das damals war. Ich habe nach Kriegsende, 1945, die Leitung der Elmen Privatbank von meinem Vater übernommen. Ich war neununddreißig Jahre alt und fragte mich, wie ich künftig den Umgang mit meinen Kunden gestalten sollte. Als Privatbank verwalteten wir hauptsächlich das Vermögen des Adels, der traditionell konservativen Einstellungen anhing. Viele hatten Hitler anfangs zugejubelt, seine Ansichten über Rassentrennung befürwortet. Viele hatten sich später wieder von ihm abgewandt, deckten seine Verbrechen nicht.“ Renzo nahm einen Schluck aus seinem Wasserglas. Selbst Jens unterbrach die Stille nicht. Dann fuhr Renzo fort: „Ich habe mich, ob du es glaubst oder nicht,“ mit den letzten Worten wandte er sich direkt an seinen Enkel, „der Ideologie des Dritten Reiches immer verweigert, musste aber davon ausgehen, dass sich Nazis unter meinen Kunden befanden. Wie sollte ich mit diesem Wissen umgehen, wie mein Verhalten darauf einstellen? Konnte die Bank überleben, wenn ich mich rigoros von der Klientel mit nationalsozialistischer Vergangenheit trennte? Und wie hätte ich diese Leute erkennen sollen? Hätte ich außerdem zwischen den ewig Unverbesserlichen und den Mitläufern unterscheiden müssen? Waren letztere weniger schuldig?“

Renzo legte erneut eine Pause ein: „Du hast recht“, fuhr er schließlich fort, „ich war privilegiert, musste nie an der Front kämpfen, doch habe ich mich oft gefragt, wie es mir dort ergangen wäre. Ob mich Angst, Gewalt und die überlebensnotwendige Kameradschaft dort nicht auch zum Mitläufer hätten werden lassen?“ Evelyn und Constanze sahen Renzo bestürzt an. Noch nie hatte er so offen über die Vergangenheit gesprochen.

„Aber das waren nicht die einzigen Sorgen, die dich bedrängten“, sprang ihm Evelyn jetzt zur Seite, denn Jens´ Angriffe auf ihren Mann gingen ihr entschieden zu weit. „Nach dem Sieg der Alliierten rollte in Deutschland eine Enteignungswelle durch den sowjetischen Sektor.

Der dortige Landadel verlor seine Lebensgrundlage, und der Adel im Westen sorgte sich danach um sein Vermögen, hätte es am liebsten nicht mehr den Banken anvertraut.“ Sie wandte sich ebenfalls direkt an Jens: „Dein Großvater musste ganze Überzeugungsarbeit leisten, um die Bank sicher durch diese schwere Zeit zu manövrieren.“ Renzo nickte bestätigend: „So viel zum Thema ‚ruhige Kugel schieben‘“, sagte er.

Es war zum Verrücktwerden, dachte Jens. All seine Argumente wurden vom Tisch gefegt, alles stets so gedreht, wie es seinen Eltern und Großeltern passte. Und jetzt kam ihm Renzo auch noch mit dem Gesülze, welch Ungemach das Leben ihm bereitet hatte. Typisch, dass seine Eltern mal wieder nicht Partei für ihn ergriffen. Sein Vater sollte endlich den Mund aufmachen. Er war immerhin als Neunzehnjähriger eingezogen worden. Jens sprang auf und hieb mit der Faust auf den Tisch: „Aber dass ich mein Studium früher als üblich abgeschlossen habe und dem Familienunternehmen mit meiner Arbeitskraft eher zur Verfügung stehe, stört dich nicht, nein? Ich habe von meinem Recht, den Dienst in der Bundeswehr zu verweigern, Gebrauch gemacht. Auf der Basis unserer demokratischen Ordnung. Lest mal im Grundgesetz nach. Ich muss mich hier nicht vor eurem Tribunal verteidigen“

Mit diesen Worten stürmte Jens aus dem Zimmer und durch den Garten direkt in den Wald, seinen alten Rückzugsort. Wütend kickte er gegen Wurzeln und am Boden liegende Äste. Wäre er diesem ‚Kaffeeklatsch‘ bloß ferngeblieben. Sein Bruder war da klüger gewesen, hatte sich der Familienrunde mit angeblich unaufschiebbaren Angelegenheiten entzogen. Wer hätte aber auch gedacht, dass sein Opa sich als Verfechter des Militärs entpuppte. Vielleicht war er doch ein alter Nazi und die heutigen Enthüllungen gehörten zu seinem Entnazifizierungs-Lied?

Jens hatte seinen Vorwurf, Renzo sei gedanklich im Kalten Krieg steckengeblieben und das Land brauche keine Wiederbewaffnung, aus der Luft gegriffen, provokant gemeint: die Bundeswehr existierte jenseits aller Diskussionen seit über zwanzig Jahren. Trotzdem stimmten seine Vorwürfe, dass sie immer noch von rechtem Gedankengut durchzogen war, so wie der Rest des Landes. Und in einen solchen Sauhaufen wollte Renzo seinen Enkel stecken. Als ob das Internat, in das er als Kind abgeschoben worden war, nicht reichte. Aber natürlich war er, Jens, nur ein Enkel zweiter Klasse. Er war es nicht einmal wert, von seinem Großvater in den Adelsstand zurückgeholt zu werden, aus dem Constanze bei ihrer Eheschließung mit seinem bürgerlichen Vater ausgeheiratet hatte. Das ging angeblich nicht. Jens redete sich gedanklich immer mehr in Rage und übersah dabei geflissentlich die einseitige Ausrichtung seiner Argumentation und ihre ausschließlich persönliche Färbung. Im Grunde interessierten ihn Geschichte, Politik und die Belange des deutschen Staats nur solange, wie sie sich für seine eigenen Bedürfnisse nutzen ließen. Die Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen kam ihm da sehr gelegen. Und jeder Dummkopf konnte die dazugehörige schriftliche Begründung und die mündliche Anhörung vor der Prüfungskommission bestehen, wenn er die Systematik und das Muster der Fragen begriff.

Als Jens der Kamm gehörig geschwollen war, fiel ihm voller Genugtuung der geniale Coup ein, den er neulich mit dem rückgratlosen Holtmann eingefädelt hatte. Er betrachtete es als gerechten Ausgleich für erlittenes Ungemach, Renzo und Wilhelm um einen, wenn auch geringen Teil ihres Vermögens zu erleichtern und nannte es ‚seinen kleinen Akt revolutionärer Radikalität‘.

4

An diesem Abend ging Jens direkt aus dem Wald ins Einhorn, um sich Renzo aus dem Kopf zu saufen. Als er die Kneipe betrat, war dieser heroische Vorsatz allerdings wie weggeblasen.

Die Elmenwerder seines Alters versammelten sich meist an einem der großen Tische. Obwohl Jens mit den meisten von ihnen den Kindergarten und für kurze Zeit auch die Schule besucht hatte, waren sie ihm fremd. Das Internat hatte anscheinend seine Erinnerungen an sie gelöscht. Das störte ihn nicht weiter, denn sie waren durch die Bank derart langweilig, dass er nichts vermisste. Heute jedoch saß ein Mädchen bei ihnen, deren Anblick ihm den Atem raubte.

Sie war von jener unauffälligen Schönheit die nicht sofort alle Blicke auf sich zog, die einen aber nicht mehr losließ, sobald man sie etwas länger betrachtete. Ihr fast silberblondes Haar stand in reizvollem Kontrast zu ihrem goldenen Teint und ihren braunen Augen und verlieh ihr eine magische Aura. ‚Magische Aura‘, habe ich diesen Schwachsinn wirklich gedacht, fragte sich Jens, als er sich wie hypnotisiert zu ihr setzte. Die bösen Blicke ihres Begleiters kümmerten ihn nicht; genau genommen nahm er sie nicht einmal wahr. Auch bemerkte er nicht, wie die Zeit verflog.

Obwohl es ein langer Abend wurde gelang es ihm nicht, diesem Zauberwesen näherzukommen. Ihr Freund wachte mit Argusaugen über sie, legte seinen Arm besitzergreifend um ihre Schultern und küsste sie beständig, so dass Jens keine Gelegenheit zu einem vertraulichen Gespräch mit ihr fand. Immerhin schaffte er es, ihren Namen zu erfahren: Tina. Wie gut er zu ihrer Feenerscheinung passte.

Als sich der aufgeblasene Depp von einem Freund zur Toilette begab, schluckte Jens schwer. Dieser Typ war über 1,90m groß und von muskulösem Körperbau. Vor diesem Tarzan nahm er sich besser in Acht. Wenigstens konnte er nun ungestört ein paar Worte mit Tina wechseln, die ihn bereits eingehend gemustert hatte. Leider kam ihr Gorilla viel zu schnell zurück und drängte zum Aufbruch. Tina erhob sich, jedoch nicht, ohne Jens einen Blick des Bedauerns zuzuwerfen; so jedenfalls lautete seine Interpretation.

Kaum hatte sich die Kneipentür hinter den beiden geschlossen, wandte sich eins der anderen Mädchen an Jens: „Martin kommst du besser nicht in die Quere. Er ist schon seit drei Jahren mit Tina zusammen und versteht keinen Spaß, wenn ein anderer sie angräbt. Hast du seine Muskeln gesehen? Er spielt Basketball in irgendeiner hohen Liga und ist auf dem Absprung zum Profilager. Lass also besser die Finger von ihr.“

„Und wer sagt dir, dass ich etwas von ihr will? Aber trotzdem vielen Dank für den Tipp.“ Jens erntete einen höhnischen Blick seiner Gesprächspartnerin: „Dein Interesse war ja wohl offensichtlich. Selbst Martin konnte es nicht übersehen. Sonst klebt er nicht so an Tina.“ „Wer ist eigentlich diese Tina?“, fragte Jens. „Wohnt sie in Elmenwerde? Ich habe sie hier noch nie gesehen.“ Ungläubig starrte ihn sein Gegenüber an: „Du hast Tina noch nie gesehen? Sie ist doch die Tochter eurer Nachbarn. Wo lebst du denn?“

Nachbarstochter, dachte Jens verwirrt, welche Nach-barstochter? Das Haus seiner Eltern lag einsam am Dorfrand mit Blick auf ihren Wald. Es stand auf dem schönsten und größten Grundstück Elmenwerdes, an das keine Bebauungsgrundstücke angrenzten. Von welchem Nachbarn …? Ach ja, es gab eine Ausnahme. Auf den unteren zwanzig Metern ihres riesigen Gartens grenzte im rechten Winkel der Garten der Hassels an ihren Zaun.

Und nun fiel es Jens wieder ein: Dieses kleine Mädchen, das er dort manchmal in den Internatsferien gesehen hatte, besaß das gleiche silberblonde Haar, ansonsten konnte er keine Ähnlichkeit mehr entdecken. Sie hieß also Tina, und sie hatte damals nie auf seine Einladungen zum Spielen reagiert. Jens konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er aufstand um zu zahlen. Heute hatte ihm die kleine Tina mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als ihrem Tarzan lieb war. Das sollte doch ausbaufähig sein. Und nein, er würde diesem Gorilla nicht in die Quere kommen; zumindest nicht physisch. Dazu war er viel zu clever.

Beschwingt ging Jens nach Hause. Wozu so ein Kneipenabend doch gut sein konnte. Selbst in Elmenwerde.

5

Nachdem sich Elmenwerde reizvoller entpuppt hatte als gedacht, legte Jens seine Umzugspläne nach Münster auf Eis und blieb bei seinen Eltern wohnen. Vielleicht kein Idealzustand, doch einer, der seiner Bequemlichkeit entgegenkam. Keine Einkäufe, keine Wäsche, kein Hausputz. Und gekocht wurde auch für ihn. Eigentlich eine gerechte Situation. Endlich sorgten seine Eltern so für ihn, wie sie es immer hätten tun sollen. Außerdem konnte er sein Gehalt ausschließlich für seine Wünsche durchbringen, ohne sich um anstehende Fixkosten kümmern zu müssen. Das konnte nur von Vorteil sein, wenn Tina erst seine Freundin war. Wie gut, dass sein kleines Nebengeschäft mit Holtmann seinen angestrebten Autokauf schneller näher rücken ließ, dann konnte er sie zu Landpartien einladen.

Elmenwerde war ein elendes Kaff, in dem er unter normalen Umständen nicht tot über dem Zaun hängen wollte. Besonders nicht in der bald beginnenden dunklen Winterzeit. Doch nun brachte Tina Hassel einen Lichtblick in sein Leben, nachdem sie im Einhorn Interesse an ihm signalisiert hatte. Bislang war es ihm zwar noch nicht gelungen, sie dort alleine anzutreffen, doch das würde sich bald ändern. Im Moment versteckte sie sich hinter ihrem Muskelfreund, dem Basketballer, der über sie wachte. Sie wusste noch nicht, dass sie Jens´ Charme längst erlegen war, brauchte ein wenig Zeit, um sich an den Gedanken einer Trennung von Tarzan zu gewöhnen. Denn ihre Trennung von Martin stand außer Frage.

Der Rest der Elmenwerder in seinem Alter gab sich unglaublich hinterwäldlerisch, als lebte er auf dem Mond. Jens hatte versucht, sich mit ihnen anzufreunden, oh ja. Er gesellte sich zu ihnen, um sein Feierabend-Bierchen zu trinken, doch wollte kein Funke überspringen. Sie kamen von verschiedenen Planeten. Allein der Name ihrer Kneipe Zum Einhorn zeugte von der verstaubten Elmenwerder Möchtegern-Szene. In Paderborn und Münster hießen die Schuppen Das Ei, Das Ding, Destille, Spelunke oder Der Spiegel, nach dem gleichnamigen Politmagazin. Da war schon der Name Programm. Aber hier?

Und erst die Gespräche, die ihn zu Tode langweilten: ‚Wer geht mit wem oder wessen Liaison steht gerade auf der Kippe‘ waren noch die interessanteren. Bei der Gelegenheit erfuhr er hin und wieder Details über Tina, deren Beziehungsstatus bislang unverändert schien. Ansonsten drehte sich das Denken und Handeln seiner Elmenwerder Trinkspezis um ‚den Chef, die Arbeit‘, und wieder um ‚den Chef‘ bis es Zeit war, zu gehen. Öde! Umgekehrt sprang niemand auf seine Themen an, obwohl Jens ein ausgesprochen charmanter Unterhalter sein konnte, solange es nach seinen Vorstellungen lief. An den Elmenwerdern allerdings perlte seine Eloquenz ab wie Regen an einem Wachstuch.

Welche Erfolge hatte Jens in den Kneipen Paderborns bei politischen Diskussionen gefeiert. Zwar war er über das Geschehen im In- und Ausland eher schlechter informiert als ein Teil seiner Kommilitonen, doch verstand er es, sein Halbwissen wirkungsvoll in Szene zu setzen. Politisches Interesse zu zeigen war unter den Studenten en vogue, und wenn Jens Borgland seine Meinung zum Besten gab, hingen vor allem seine weiblichen Zuhörer an seinen Lippen. Als dann das Thema Wehrdienstverweigerung gegen Ende des Studiums für einige seiner männlichen Kommilitonen brisant wurde, war er der Mann der Stunde. Nach seiner eigenen erfolgreichen Anhörung gründete er sogar eine Art Selbsthilfegruppe, die sich einmal pro Woche in der Destille traf und wurde zum gefragten Mittelpunkt seines Semesters. Natürlich hatte er die Treffen nicht nur wegen des Bierchens in die Kneipe verlegt, sondern dabei einen Selbstzweck verfolgt. Sein Wissen und sein Esprit, die er bei diesen Zusammenkünften an den Tag legte, brachten ihm ganz nebenbei jede Menge Aufmerksamkeit bei den Mädels ein.

Jens schwelgte in Erinnerungen. Nie würde er die verwirrten Gesichter der potentiellen Möchtegern-Verweigerer vergessen, wenn er ihnen mitteilte, dass zwar nur ein Pazifist anerkannt wurde, dieser aber durchaus Gewalt zu Selbstverteidigungszwecken anwenden durfte. Sie sogar anwenden musste, um glaubwürdig zu bleiben. Zu viel Altruismus ließ bei der Kommission Zweifel aufkommen Die Fragen, die seine Kommilitonen beantworten mussten, waren knifflig, und sie schafften die Gratwanderung zwischen den beiden Extremen nur selten ohne seine Hilfestellung.

Aber es half nicht, der Vergangenheit nachzuweinen, selbst wenn sie noch so einladend und verlockend er- schien. Er lebte in der Gegenwart, und in Elmenwerde tickten die Uhren definitiv anders. Es interessierte seine Altersgenossen anscheinend überhaupt nicht, ihrer Einöde zu entkommen. Weshalb auch, sie hatten vor Ort alles, was sie brauchten, sagten sie. Abends im nahegelegenen Münster auf Zechtour oder ins Kino zu gehen, stieß bei ihnen auf Unverständnis. Wie sehr sehnte sich Jens nach seinem Studentenleben zurück. Er konnte es kaum erwarten, bis er endlich stolzer Besitzer eines Autos sein und der dörflichen Tristesse entkommen würde.

Dann, eines Abends, traf Jens Tina ganz allein, vor allem aber ohne ihren Athleten im Einhorn an. Ohne zu zögern setzte er sich neben sie und rückte ihr im Laufe des Abends unauffällig näher. Heute erschien sie ihm besonders hübsch. Sie vertieften sich in eine angeregte Unterhaltung, in deren Verlauf er Tina immer begehrenswerter fand. Jens kam ihr so nahe, dass sein Bein das ihre berührte. Zu seiner großen Freude wich sie nicht zurück. Sie spürte also langsam, dass sie nicht zu diesem Kleiderschrank gehörte, sondern lieber mit ihm zusammen sein sollte. Es konnte auch gar nicht anders sein. Bisher hatte noch keine Frau seinem Charme widerstehen können. Seine diesbezüglichen Erfolge waren während seiner Studienzeit legendär, und ihm eilte ein gewisser Ruf voraus.

Wie hatten ihn seine männlichen Kommilitonen beneidet, besonders die gutaussehenden. Sie verstanden nicht, wieso er ihnen alle Mädels hatte ausspannen können. Er besaß das unscheinbare Äußere seines Vaters. Wer an ihm vorbeiging konnte sich später nicht mehr an ihn erinnern. Ein Allerweltgesicht: hellbraune, streichholzglatte Haare; graublaue, meist misstrauisch dreinblickende Augen. Nur das häufig rebellisch hervorgeschobene Kinn gab ihm etwas Individuelles. Doch wenn er wollte, konnte er hinreißend charmant sein, ein echter Frauenversteher; aber dieses Geheimnis verriet er natürlich nicht.

Als sich Jens und Tina sehr spät voneinander verabschiedeten und er versuchte, sich erneut mit ihr zu verabreden, zögerte sie, bevor sie ablehnte. Vortrefflich, der Fisch zappelte bereits am Haken. Jetzt musste er ihm beim Einholen nur genügend Leine lassen. An diesem Abend ging er siegesgewiss und beschwingt nach Hause.

6

Im Frühjahr 1981 fuhr Jens an einem Dienstagnachmittag mit einem feuerroten, gebrauchten NSU 1200 in der Einfahrt seines Elternhauses vor. Er hatte ihn gerade vom Vorbesitzer abgeholt und machte sich nicht die Mühe, seinen Autokauf zu verheimlichen. Er würde bei seinen Eltern in Erklärungsnot geraten, doch der Wagen war sein ganzer Stolz: ein gepflegtes, rostfreies Gefährt, dessen Motor wie ein Kätzchen schnurrte. Trotz seiner sieben Jahre hatte das Auto einen relativ niedrigen Kilometerstand, und das eingebaute Radio war der Knüller. Der NSU stammte aus erster Hand mit nagelneuer TÜV Plakette, so dass Jens den Kaufpreis von eintausendneunhundert D-Mark alles in allem als günstige Gelegenheit einschätzte.

Als Constanze ihren Sohn aus dem NSU aussteigen sah fragte sie sofort, ob das Auto von einem Freund ge-liehen sei. Jens verneinte, und seine Mutter befiel ein ungutes Gefühl. „Ich wusste gar nicht“, begann sie vorsichtig, „dass du gut genug verdienst, um einen eigenen Wagen zu fahren. Dein Vater sagte, dein Anfangsgehalt sei genauso niedrig wie bei jedem Berufs-Einsteiger deines Alters.“ Die Ader an Jens‘ Schläfe begann zu schwellen, doch nahm er sich zusammen und versuchte es mit einer Charme-Offensive: „Das ist selbstverständlich ein Gebrauchtwagen, sonst könnte ich ihn mir tatsächlich nicht leisten. Was hältst du von einer kleinen Probefahrt? Ich habe mir den Nachmittag freigenommen. Wir könnten irgendwo unterwegs ein Gläschen Sekt auf das neue Fahrgestell trinken.“ Constanze sagte nur zu gerne ja. Sie vermisste Falko, der jetzt in Göttingen studierte, und freute sich über jede Annäherung, die Jens zuließ. Als sie nach einer recht entspannten Spritztour zurückkehrten, war Wilhelm bereits zu Hause und stellte Jens die gleichen Fragen wie zuvor seine Frau. „Ich habe während meiner Internats- und Studienzeit immer wieder Geld von Opa bekommen, das ich sparen konnte“, lautete die prompte Antwort. Entgeistert sah Constanze ihren Ältesten an: „Aber du hast mir doch erzählt …“, setzte sie an, als Jens ihr das Wort abschnitt. „Ich habe keine Ahnung, was du meinst. Was immer du glaubst verstanden zu haben, war offensichtlich falsch. Ich habe mir mein Auto von Renzos Geld erspart. Du solltest vielleicht besser zuhören.“ „Sprich nicht so mit deiner Mutter“, fuhr ihm Wilhelm in die Parade. „Ihre Ohren sind sehr gut. Also, raus mit der Sprache, woher stammt das Geld? Von deinem Gehalt konntest du dir innerhalb eines knappen Jahres jedenfalls nicht genug zurücklegen.“ „Was ist los mit euch?“, fragte Jens äußerlich halbwegs ruhig, innerlich aber vor Wut kochend. „Kann man euch irgendetwas recht machen? Ich arbeite hart, und ihr gönnt mir mein kleines Vergnügen nicht? Ihr solltet vielleicht eure Haltung überprüfen.“ Mit diesen Worten rauschte er zur Tür hinaus.

Jetzt verschlug es auch Wilhelm die Sprache. Wieso war der Junge immer gleich beleidigt und unsachlich? Bislang hatte er, Wilhelm, nur nach der Finanzierung der Neuanschaffung gefragt. Das war kein Grund, ihn abzukanzeln und einfach stehen zu lassen. Wenn Jens seine Ausbrüche nicht unter Kontrolle bekam, wäre er Gift für die Firma, sobald er allein am Ruder stand. Ein dermaßen egozentrischer Charakter konnte unmöglich seine Erschließungsgesellschaft leiten. Wenn Jens so weiter-machte, sah Wilhelm schwarz mit seinen Plänen hinsichtlich der Firmenübernahme. Natürlich könnte er einen außerbetrieblichen Geschäftsführer suchen, das wäre nicht außergewöhnlich, allerdings ganz und gar nicht in Wilhelms Sinn.

„Wie es aussieht, hat uns unser Sohn zwei unterschiedliche Versionen über die Herkunft des Geldes erzählt“, wandte sich Wilhelm an seine Frau, als sie im Wohn- zimmer bei einem Glas Wein saßen. „Welche Fassung hat er denn dir gegenüber zum Besten gegeben?“ Constanze erzählte. „Das glaubt ihm doch kein Mensch“, lautete Wilhelms Kommentar. Er griff zum Telefon, um seinen Schwiegervater anzurufen. Es wurde ein sehr kurzes Gespräch. „Wie vermutet“, bestätigte Wilhelm, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte.

„Warum macht er das? Warum lügt er so offensichtlich? Es scheint ihn nicht einmal zu kümmern, ob er damit auffliegt“, Constanzes gute Laune nach dem schönen Nachmittag war gründlich verdorben. Dieser Sohn war so unberechenbar. „Ich weiß es nicht“, kam die lapidare Antwort ihres Mannes, „ich bin noch nie schlau aus dem Jungen geworden und werde es jetzt auch nicht.“ Für den Rest des Abends gab Wilhelm vor, seine Zeitung zu lesen, und Constanze hing beklommen ihren Gedanken nach. Sie hatte sich darauf gefreut, ihren älteren Sohn wieder im Hause zu haben. Sie war sich der Probleme, die daraus entstehen konnten, durchaus bewusst ge-wesen, doch ihr Optimismus hatte sämtliche Zweifel besiegt. Jens hatte sich sicherlich verändert und war durch Internat und Studium gereift. Allerdings hatte diese Hoffnung in dem vergangenen Jahr einige Sprünge bekommen. Ihr Sohn gab sich immer noch aufbrausend und überspannt, wenn auch nicht mehr so extrem wie früher. Seine heutige faustdicke Lüge warf allerdings ein anderes Licht auf ihn und erinnerte Constanze unangenehm an seine Kindheit.

Jens war von klein auf schwierig gewesen und hatte stets alle Aufmerksamkeit gefordert. Als Kindergartenkind war er schnell zum Gesprächsthema des Dorfes geworden. Er hatte die anderen Kinder beständig drangsaliert, so dass sie sich bald vor ihm fürchteten. Unzählige Male mussten die Erzieher über Jens´ Ein- und Ausfälle konferieren, unzählige Male waren Wilhelm und Constanze zum Gespräch gebeten worden, unzählige Male hatte es Anrufe von aufgebrachten Eltern gegeben, die darauf drängten, Jens vom Kindergarten auszuschließen. Der Schulrektor hatte später den Besuch eines Psychologen empfohlen und sogar mit einem Schulverweis gedroht. Ihr Sohn jedoch hatte stets vehement alle ihm vorgeworfenen Taten bestritten und seinerseits andere Kinder als Übeltäter beschuldigt. Zwar wussten die Erwachsenen sehr bald um Jens´ zerstörerische Ausbrüche, doch zog ihn niemand zur Verantwortung, da ihm keine der vorgeworfenen Missetaten nachgewiesen werden konnten. Erst als Constanze ihn im Jahr 1962 bei dem Versuch erwischt hatte, seinen neugeborenen Bruder Falko mit einem Kissen zu ersticken, tagte der Familienrat. Der folgte schließlich Renzos Vorschlag, den Jungen, der alten Adelstradition folgend, in ein Internat zu geben. Jens besuchte daraufhin Schloss Papeneck bei Holzminden. Constanze selbst war mit dieser Entscheidung nie glücklich gewesen, doch fiel auch ihr damals keine bessere Lösung ein.

Sie hatte seitdem mit ihrem schlechten Gewissen und der Sorge, ihr Kind vernachlässigt zu haben, gelebt. Wilhelm war ihr in diesem Konflikt keine große Hilfe gewesen. Sein ihm eigener Pragmatismus ließ solche Erwägungen nicht zu. Constanze dachte an Ralph Meltín, Elmenwerdes Pfarrer, und ein leises Lächeln zog über ihr Gesicht. Sie konnte sich glücklich schätzen, ihm begegnet zu sein. Er besaß außerordentliche seelsorgerische Fähigkeiten und war ihr in der damaligen Zeit, in der ihr Leben im Dorf einem Spießrutenlauf glich, eine große Stütze gewesen.

Constanze sah die Geschichte ihres ersten Zusammentreffens als eine Art paradiesische Fügung. Während ihrer Schwangerschaft mit Jens wollte ihre Familie sie in Watte packen, denn sie war mit ihren siebenundzwanzig Jahren in jener Zeit recht alt für ein erstes Kind. Und auch Wilhelm ging mit seinen sechsunddreißig Jahren nicht mehr als junger Vater durch. Sie war der Eintönigkeit dieser erzwungenen Ruhe entkommen, indem sie lange Fahrradtouren über Land unternahm. Auf einem ihrer Ausflüge besuchte sie auch die kleine Kirche St. Nicolai, die einsam zwischen den umliegenden Ge-höften stand, und die sie von früher kannte. Nachdem sie den kleinen Innenraum betreten hatte, empfand sie erneut dessen Einzigartigkeit. Er strahlte eine vornehme Ruhe aus, die sich besänftigend auf das Gemüt seiner Besucher auswirkte. Nichts zeugte hier von zu viel Pomp oder übertriebenem Prunk, wie man ihn in katholischen Kirchen so häufig antraf. Als der Pfarrer durch die Sakristei eintrat, hatte sie ihn mit den Worten begrüßt, er müsse an einem solch idyllischen Arbeitsplatz ein sehr erfüllter Mensch sein. Zu ihrem Erstaunen hatte er gelacht und geantwortet, er wäre vor allem ein unterbeschäftigter Mensch, da sich die Bauern kaum zum Gottesdienst blicken ließen, geschweige denn, zur Seelsorge kamen. Ihr Gespräch hatte damals unter anderem zu Constanzes Wunsch geführt, an diesem Ort leben zu wollen und zur Entstehung Elmenwerdes beigetragen.

7

Wenige Tage nach seinem Autokauf betrat Jens Ingo Holtmanns Büro und schloss die Tür hinter sich. Holtmann blickte auf und fühlte, wie im Augenblick des Erkennens ein Intercity durch seine Eingeweide zu rasen begann. Borgland Junior besuchte ihn nie. Das war ganz und gar kein gutes Zeichen, doch Holtmann konnte nicht so tun, als hätte er ihn nicht erwartet. Jens setzte sich. Er ließ sich Zeit, bis er das Wort ergriff, denn er liebte diese kleinen Grausamkeiten. „Guten Tag, mein lieber Holtmann“, begann er schließlich. Dieser mur-melte eine Erwiderung. „Ich muss sagen, ich bin ein wenig enttäuscht“, fuhr Jens gelassen fort. „Sie erinnern sich doch sicherlich an unsere Vereinbarung?“ Holtmann nickte gequält. Er verspürte große Lust, seine Faust im Gesicht dieses Borgland-Sprösslings zu versenken, doch das würde seine Situation nicht verbessern. „Dann frage ich mich natürlich, warum mich Ihr Briefumschlag vom September noch nicht erreicht hat. Sie haben ihn nicht etwa mit der Post geschickt?“, Jens spöttisches Grinsen beschleunigte den Intercity in Holtmanns Eingeweiden. Er hatte, in einem Anflug von Aufbegehren, beschlossen, keine Zahlungen mehr an Jens zu leisten. „Gut, dass Sie vorbeikommen, Herr Borgland“, erwiderte Ingo daher. „Wir müssen über die Konditionen unseres Abkommens neu verhandeln.“ „Inwiefern?“, aller Spott war aus Jens´ Gesicht gewichen. „Insofern, dass ich eine 60/40 Prozent Verteilung verlange, wobei die 60 Prozent für mich sind.“ „Sonst?“, fragte Jens. „Sonst lasse ich die Unterschlagungen auffliegen,“ drohte Ingo. Jens zog die Augenbrauen hoch: „Mein lieber Holtmann, reden Sie keinen Unsinn. Wir beide wissen, dass Ihnen der Mut dazu fehlt. Ich erwarte Ihren Briefumschlag morgen und wünsche künftig keine weiteren Nachlässigkeiten. Ich denke, wir haben uns verstanden.“ Mit diesen Worten verließ Jens das Büro.

Am späten Nachmittag des darauffolgenden Tages betrat Jens erneut Holtmanns Raum, nachdem er vergeblich auf den Geldtransfer gewartet hatte. Das Büro war leer, der Schreibtisch aufgeräumt. Sieh da, der Vogel ist also ausgeflogen, dachte Jens. Ärger stieg in ihm hoch. Egal, ob die ausbleibende Übergabe Holtmanns Renitenz im Allgemeinen ausdrückte, oder ihm heute etwas dazwischengekommen war, er brauchte ganz offensichtlich eine Lektion.

Am nächsten Vormittag nahm sich Jens unter einem Vorwand ein paar Stunden frei und drückte sich am Zaun des Kindergarten- Geländes herum. Wenn er sich recht erinnerte, hatte Holtmann etwas von einer Tochter gefaselt. Die Kinder spielten gerade im Garten. Was für wuselige, kreischende, kleine Scheißer, dachte er bei ihrem Anblick gereizt. Dass man sich so etwas freiwillig anschaffte. Stellte sich nur die Frage, wie er Holtmanns Tochter in diesem Haufen ausfindig machen sollte. Er wusste nicht einmal, wie sie hieß.