Präzision und Phantasie - Petra Vetter - E-Book

Präzision und Phantasie E-Book

Petra Vetter

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Beschreibung

Zwei sehr unterschiedliche Therapieformen werden hier kombiniert: Die gemütsorientierte Homöopathie nach Sehgal und die Hypnose. Wertvoll für Sehgal-Homöopathen sind die präzise herausgearbeiteten Gemütsrubriken und die facettenreichen Arzneimittelbearbeitungen. Die jeweils zugeordneten Trancetexte ermöglichen ein vertieftes, bildhaftes Verständnis beider Elemente. Hypnotherapeuten entdecken eine Fundgrube von Trancetexten und Methaphern, sowie Feinheiten in der Anamneseerhebung. In den Falldarstellungen wird die Kombination dieser beiden Therapieformen verdeutlicht.

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Seitenzahl: 397

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Für Lara Fenja und Mats Niklas

Vorwort Ekkehard von Seckendorff

Vorwort

Danksagungen

Vorbemerkung

Die Sehgal–Methode

Philosophie

Anamnese nach Sehgal

Der vorurteilslose Beobachter

Gemütszustand versus Konstitution

King-pin-Symptome

Single-Rubriken

Potenzen

Fallmanagement

Hypnose

Allgemeines

Introduktionen

Visualisierung

Fixation

Vertiefungen

Am Meer

Im Garten

Im Wald

Rückführung in den Wachzustand

Die Handlevitation

Die Suchhypnose

Trancetexte für „alle Fälle“

Die Scherbe

Dein Freund

Der grosse Luftballon

Die drei Quellen

Die Sehgal-Methode und Hypnose

Abergläubisch Superstitious

Trancetext: Ein Glückspfennig

Aufzuhetzen, anzustacheln; andere Inciting others

Trancetext: Hütehunde

Beharrlichkeit Perseverance

Trancetext: Das Steinreich

Beschwerden durch - Verlegenheit Ailments from - embarrassment

Trancetext: Bummeln und Bettler

Beschwerden durch - Tod von geliebten Personen Ailments from - death of loved ones

Trancetext: Das Tränenkrüglein - Märchen von Ludwig Bechstein

Bett - bleiben; Verlangen, lange im Bett zu Bed - remain in bed; desire to

Trancetext: Reisen ? – Och nö…!

Delirium - Schreien, mit - Hilfe, um DELIRIUM - crying, with - help, for

Trancetext: Es brennt!

Erkennt - alles - bewegen; kann sich aber nicht - Katalepsie; bei Recognizing - everything - move; but cannot - catalepsy; in

Trancetext: “Thank you for travelling with Deutsche Bahn”

Fassung gebracht, verwirrt; außer Disconcerted

Trancetext: Die Wanderung

Frivol Frivolous

Trancetext: Schlittschuh laufen

Furcht - Extravaganz, vor Fear - extravagance, of

Trancetext: Löwenbändiger

Furcht - Verletzung; vor - selbst verletzt zu werden Fear - injury - being injured; of

Trancetext: Stark !

Furcht- verraten zu werden; davor FEAR - betrayed; of being

Trancetext: Frühling

Gesten, Gebärden; macht - tasten; als würde er - Dunkelheit; in der Gestures, makes - groping; as if - dark; in the

Trancetext: Die Zauberhöhle

Gesund - sagt, er sei gesund - krank ist; wenn er sehr Well - says he is well - sick; when very

Trancetext: Ganz gesund

Getragen - Verlangen getragen zu werden Carried - desire to be carried

Trancetext: Das Boot

Getragen - Verlangen getragen zu werden - schnell CARRIED - desire to be carried - fast

Trancetext: Das Glück dieser Erde liegt auf dem Rücken der Pferde

Geziertheit, Affektiertheit AFFECTATION

Trancetext: Der Apfel „Kaiser Wilhelm“

Klammert sich an - Personen oder Möbel; an Clinging - persons or furniture; to

Trancetext: Im Zoo

Licht - Abneigung gegen - meidet LIGHT - aversion to - shuns

Trancetext: Rehe

Licht - Verlangen nach Light - desire for

Trancetext: Die Sonnenblume (light - im Sinne von Licht)

Trancetext: Handlevitation (light - im Sinne von leicht)

Trancetext: Der Mantel aus Sternenstrahlen

Nackt sein, möchte Naked, wants to be

Trancetext: Schneeschmelze

Ruhe - Verlangen nach Rest - desire for

Trancetext: „Kurz- Jacobsen“

Sorgen; voller - andere, um Cares, full of - others, about

Trancetext: Unwetter

Sprechen - Geschäft, vom Talking - business, of

Trancetext: Am Bach

Stimmung, Laune - abweisend, zurückweisend Mood - repulsive

Trancetext: Harz

Störungen; Abneigung gegen Disturbed; averse to being

Trancetext: Briefmarken

Trancetext: Ruhe bitte! Wir zeichnen auf!

Töten, Verlangen zu Kill; desire to

Trancetext: Mücken

Verlangen; großes - Sonne, Licht und Gesellschaft; nach Longing - sunshine, light and society, for

Trancetext: Dabei sein ist alles

Verstecken - sich Hiding - himself

Trancetext: Tauchen

Trancetext: Tarnkappe

Verstecken - Gegenstände Hiding - things

Trancetext: Eichhörnchen

Verwirrung; geistige - Muskeln gehorchen dem Willen nicht, sobald er die Aufmerksamkeit abwendet Confusion of mind - muscles refuse to obey will when attention is turned away

Trancetext: Marathon

Wahnideen - arm; er sei DELUSIONS - poor; he is

Trancetext: Sterne und Köche

Wahnideen - gepackt, wie Delusions - seized, as if

Trancetext: in der Bergbahn

Wahnideen - Reichtum, von DELUSIONS - wealth, of

Trancetext: Der Garten im Herbst

Wahnideen - Verletzung - worden; er sei verletzt Delusions - injury - being injured; is

Trancetext: Junge Hunde

Wahnideen - Verletzung - worden; er sei verletzt - Umgebung; durch seine Delusions - injury - being injured; is - surroundings; by his

Trancetext: Dicke Luft

Arzneimittel und Hypnose

Apis mellifica

Homöopathische Betrachtung – fit und fleißig

Trancetext: die Brennnessel

Arsenicum Album

Homöopathische Betrachtung – genau genommen

Trancetext: Licht!

Barium carbonicum

Homöopathische Betrachtung

Trancetext: die Sandburg

Belladonna

Homöopathische Betrachtung – leicht und sinnig

Trancetext: Schmetterling

Cocculus indicus

Homöopathische Betrachtung – So ist es!

Trancetext: Koma

Gelsemium

Homöopathische Betrachtung – alles unter Kontrolle

Trancetext: Der Flug

Hyoscyamus

Homöopathische Betrachtung – Vorsicht ist besser als Nachsicht

Trancetext: Schneewittchen

Ignatia

Homöopathische Betrachtung – unfassbar!

Trancetext I: Absturz

Trancetext II: Ein Hundeleben

Lachesis

Homöopathische Betrachtung – gespannt

Trancetext: Vergiss es!

Natrium muriaticum

Homöopathische Betrachtung – Starre

Trancetext: Im Gletscher

Trancetext: Der Goldsucher

Opium

Homöopathische Betrachtung – Es reicht!

Trancetext – Jetzt!

Phosphorus

Homöopathische Betrachtung – Grenzenlos

Trancetext: Am Fenster

Trancetext: Die Talgkerze – Märchen von H.C. Andersen

Trancetext: Der Mantel aus Sternenstrahlen

Platinum

Homöopathische Betrachtung – Wo ich bin, ist oben!

Trancetext: Das Adlerjunge

Pulsatilla

Homöopathische Betrachtung – entschlossen unentschlossen!

Trancetext: Wildgänse

Stramonium

Homöopathische Betrachtung – ganz allein

Trancetext: der Tiger

Sulphur

Homöopathische Betrachtung – „Immer schön weitermachen!“ (John Compton Burnett)

Trancetext: Das Ziel

Trancetext: Wie ein Fisch im Wasser

Trancetext: Schrott

Trancetext: Die Eiche

Fallbeispiele

Fall mit Wortprotokoll

Belladonna-Fall

Carcinosinum-Fall

Hyoscyamus-Fall

Ignatia-Fall

Lyssinum-Fall

Natrium muriaticum-Fall

Nux vomica-Fall

Opium-Fall

Phosphorus-Fall

Stramonium-Fall

Schlussbemerkung

Literatur

Homöopathie

Hypnose/Psychologie

Sonstiges

Index Arzneimittel

Anhang

Rubriken

Merkblatt - Einnahmeempfehlung

VORWORT EKKEHARD VON SECKENDORFF

Frau Vetter!

Sie haben mich überzeugt!

Seit 1996 betreibe ich die sogenannte Sehgal-Homöopathie. Ich durfte noch Madan Lal Sehgal kennenlernen und zugleich seine beiden Söhne. Die drei haben mich überzeugt von dieser Methode, von ihrer Durchsichtigkeit und von der universellen Anwendbarkeit als eine Möglichkeit in der Homöopathie. Seitdem war ich hingerissen und machte nur noch dies und sage allen Leuten: man sollte die Sehgal-Methode mit keiner anderen Methode vermischen – sonst gibt es eine Verfälschung.

Umso skeptischer war ich, als Frau Vetter mir ihr Manuskript über die Hypnose und die Sehgal-Homöopathie vorlegte. Ich wusste von ihr, dass sie beide Methoden bei ihren Patienten anwendet. Ich kann beurteilen, wie sie die Patienten homöopathisch mithilfe der Sehgal-Methode behandelt, und wir haben viele Fälle zusammen bearbeitet.

Ihre Einfühlungskraft ist außergewöhnlich, ihre Zusammenarbeit mit anderen Kollegen ist es ebenfalls, und letztlich hat sie immer ein gutes Wort für jeden. Ihre Fälle sind fachlich sehr gut gelöst, und sie kann souverän mit dieser Methode umgehen.

Und nun die Hypnose? Ganz einfach, sie macht es wunderbar, und als Patient ist man bei ihr sofort aufgehoben und kann sich fallen lassen.

Und nun beides zusammen – wie sollte das gehen? – Ja es geht! Sie ist eine der ganz wenigen Therapeuten, die auf zwei Klavieren spielen kann und zwar in einem künstlerischen Wechsel von „Präzision und Phantasie“.

Ein Patient kommt zu ihr und wünscht, hypnotisch behandelt zu werden, und es geht ihm dabei gut, und er verliert seine Ängste. Anschließend oder einige Zeit später kann er von ihr homöopathisch behandelt werden, damit schwerwiegende Krankheiten wirklich ausheilen. Oder ein Patient kommt zu ihr und möchte homöopathisch behandelt werden, und er bekommt zusätzlich noch eine Hypnotherapie – ohne dass beides durcheinander geworfen wird.

Zu meinem großen Leid habe ich bei fast allen Psychologen und Psychotherapeuten kein Interesse an der Homöopathie gespürt; als ob sie es nicht wollten. Hier nun kann sich ein jeder Psychologe mit einer homöopathischen Methode beschäftigen und auch Anleihen von dem Frage-Stil machen, und er wird nun die Patienten, die auch homöopathisch behandelt werden, besser verstehen anstatt diese Behandlung zu belächeln oder zu negieren.

Der Homöopath, der keine Ahnung von Hypnose hat, kann sich hier sein erstes Wissen und eine Einführung holen, denn manche homöopathischen Gespräche sind so gelagert, dass sie in einen Trance- Zustand führen, und dieses kann man methodisch noch präzisieren, um die Essenz eines Mittels besser zu spüren.

Frau Vetter ist eine der stillen und unbekannten Homöopathinnen, und nicht umsonst arbeitet sie in Berlin, einem Ort von 400 Einwohnern 600 km nördlich von dem großen Berlin, in dem ich wohne und praktiziere. Nicht umsonst hat sie in ihrer Art, Menschen zu helfen, diese stille Ecke Deutschlands gewählt. Trotzdem wünsche ich der Welt der Therapeuten, dass sie eines Tages ein Seminar gibt, in dem man ihre Methode der Hypnose erlernen kann und zugleich erkennt, mit welcher Leichtigkeit sie die Sehgal-Methode anwendet.

Den besonders an dem homöopathischen Teil interessierten Leser bitte ich, den Phosphorfall auf Seite → ausführlich zu lesen und das Wortprotokoll mit den vielen Kurzantworten des Patienten zu studieren. Es ist ihr gelungen, einen Phosphor-Fall zu lösen, der richtig wortkarg ist und überhaupt nicht dem kooperativen üblichen Phosphor-Fall entspricht.

Ihr Einfühlungsvermögen und ihre Analysefähigkeit kennzeichnen auch hier den Titel dieses Buches.

Nun muss ich mich mit Gewalt zur Kürze eines Vorwortes zwingen, und es dem Leser überlassen, wie dieses präzise und phantasievolle Buch auf ihn wirken wird.

Dr. med. Ekkehard von Seckendorff

Berlin-Lichterfelde im Mai 2014

VORWORT

Seit ich mich mit der Homöopathie beschäftige, muss ich mich immer wieder auch mit Vorurteilen darüber auseinandersetzen: „Unwissenschaftlich, … da ist doch nichts drin, also kann sie auch nicht helfen, …reine Placebo-Effekte…“. –

Homöopathen kennen das.

Mit der Sehgal-Methode geht es mir ähnlich: „Schmalspurhomöopathie, …Psychologisiererei, …etwas für oberflächliche Therapeuten, denen es nur um Arbeitsersparnis geht“…etc.

Auch die Hypnose gilt vielen nicht als ernsthafte Therapie, sondern ist immer noch mit dem Odium des Mystischen, des Übernatürlichen oder sogar der Scharlatanerie behaftet.

Auf die Vorurteile der Homöopathie und der Hypnose gegenüber brauche ich nicht weiter einzugehen – sie sind in den letzten 250 Jahren m.E. ausreichend oft widerlegt worden.

Die Sehgal-Methode ist noch verhältnismäßig jung – der Begründer dieser homöopathischen Schule, M. L. Sehgal, lebte von 1922 – 2002; seine Söhne Sanjay und Yogesh Sehgal entwickeln diese Methode weiter. Hierzu fehlen noch mehr Erfahrungsberichte.

Außerdem geht der homöopathische Mainstream z.Z. mehr in Richtung Miasmatik und der Sankaran-Methode, sodass die Homöopathie – wie sie von M. L. Sehgal weiterentwickelt wurde – meines Erachtens nach zu wenig Beachtung findet.

Die Arbeit nach der Sehgal-Methode beeinflusste auch meinen Zugang zu Hypnosepatienten. Die Schulung der Beobachtungsgabe, das Training der Wahrnehmung und der sprachlichen Wiedergabe von Gefühlen präzisierte und verbesserte meine hypnotherapeutische Arbeit.

Auch in der Hypnosetherapie wird das uneingeschränkte Akzeptieren des jeweiligen Patienten angestrebt. Diese Haltung erleichterte mir den Zugang zu Patienten, deren Widerstände eine Therapie sonst stark erschweren.

Erfahrungen, die ich mit beiden Therapieformen gemacht habe liegen nun vor und ich hoffe, dass Therapeuten beider Richtungen davon profitieren können.

Petra Vetter

Seedorf, im August 2014

DANKSAGUNGEN

Ein großer Dank gebührt Sanjay und Yogesh Sehgal sowie Ekkehard von Seckendorff, in deren Seminaren und aus deren Büchern ich so viel gelernt habe. Zudem brachte von Seckendorffs Supervision einiger schwieriger Fälle oft Klarheit in meine Gedanken – auch für dieses Buch.

Ich danke allen Aktiven des Internet-Arbeitskreises „Sehgal-Training“. Der Gedankenaustausch dort ließ mich viele meiner Sichtweisen erweitern und vertiefen.

Ein herzlicher Dank auch unseren beiden Söhnen und unserem Freund Michael Spitzner, die mir immer weiterhalfen, wenn mein PC wieder mal gar nichts begriff, sowie meinem Neffen Arkadi Junold, der – selbst Verleger – immer viele Tipps für mich bereithielt.

Und natürlich an meine Freundin und engagierte Homöopathin Ilse Marie Kirschmann †, die mich zur Homöopathie brachte.

Ein besonderer Dank gilt meinen Patienten und Patientinnen; vor allem denen, die wiederkamen, obwohl das erste Mittel nicht gleich ein Volltreffer war, und die mir so Gelegenheit gaben, aus Fehlern zu lernen.

VORBEMERKUNG

Dieses Buch kann weder eine gründliche Ausbildung in der Sehgal-Methode noch in der Hypnosetherapie ersetzen. Es stellt lediglich eine Verbindung zwischen diesen beiden Therapieformen dar.

Geschlechtsneutrale Formulierungen sind recht umständlich. Daher wurde der Einfachheit halber meist die männliche Form gewählt. Dies soll niemanden diskriminieren.

Die erwähnten Gemütsrubriken stammen aus folgenden Computer- Repertorien von Radar 10: Synthesis 9,1 – nicht gekennzeichnet, Complete 2002 (C), Murphy 3 (M).

Die Schreibweise wurde beibehalten.

Spezielle Sehgal- Rubriken wurden mit (S) gekennzeichnet.

Zitate wurden in ihrer Schreibweise unverändert übernommen.

DIE SEHGAL–METHODE

PHILOSOPHIE

Zunächst einmal – M. L. Sehgal kam nicht auf seine neue Methode, weil er sich die Arbeit erleichtern wollte, sondern weil er in einem schwierigen, symptomarmen Fall nicht weiter kam. In Bd. VII seines Werkes „Die Wiederentdeckung der Homöopathie“ beschreibt er, wie ein zehnjähriger Junge schwer unter Malaria litt. Das einzige feststellbare Symptom war, dass der Junge in Stupor verfiel, wenn das Fieber die 400- Grenze überschritt. Die sonst üblichen Malariasymptome wie Knochenschmerzen, Schüttelfrost oder Schweiß tauchten nicht auf.

Die Arzneimittel der Rubrik >Allg.- Schmerzlosigkeit, bei Beschwerden< Helleborus, Stramonium und Opium brachten keinerlei Erleichterung. Da die Lage des Jungen immer kritischer wurde – das Fieber stieg auf 41,50– nahm M. L. Sehgal ihn bei sich auf, um ihn ausgiebig und in Ruhe beobachten zu können. Dabei fiel ihm auf, dass der Junge sich nie beklagte. Auf Fragen, wie es ihm gehe, immer mit „gut“ antwortete und auch an fieberfreien Tagen im Bett blieb. Ansonsten interessierte ihn nichts – er machte keinerlei Probleme.

Diese Beobachtungen führten zu drei Rubriken:

Bett bleiben, möchte im

(bed, remain in desires to)

Gleichgültigkeit, klagt nicht

(indifference, does not complain)

Gesund zu sein, behauptet trotz schwerer Krankheit

(well, says he is, when very sick).

Hyoscyamus ist das einzige Mittel, das sich in diesen drei Rubriken findet, und es wirkte Wunder. Es gab noch drei weitere Fieberanfälle mit jeweils geringeren Temperaturen; anschließend blieb die Körpertemperatur normal.

Als kurz darauf noch ein weiterer Malariafall auf die beschriebene Art gelöst werden konnte, war M. L. Sehgal überzeugt, einen revolutionären neuen Zugang zur homöopathischen Arzneimittelfindung entdeckt zu haben. Zunächst wandte er diese neue Methode nur bei Malariafällen an, später weitete er sie aus und beschrieb seine grundsätzlichen Überlegungen dazu.

Auch für M. L. Sehgal blieb Samuel Hahnemann das Fundament. In § 211 Organon heißt es:“

Dieß geht so weit, daß bei homöopathischer Wahl eines Heilmittels, der Gemüthszustand des Kranken oft am meisten den Ausschlag giebt, als Zeichen von bestimmter Eigenheit, welches dem genau beobachtenden Arzte unter allen am wenigsten verborgen bleiben kann.“ Und in den „Chronischen ‚Krankheiten“ schreibt er:

„Doch oft schon etwas grobe Diätsünden, eine Verkältung, der Zutritt einer vorzüglich rauhen, naßkalten oder stürmischen Witterung, so wie der (auch noch so milde) Herbst, besonders aber der Winter und der winterliche Frühling, dann eine heftige Anstrengung der Körpers oder Geistes, besonders aber die Gesundheits-Erschütterung durch eine äußere, große Beschädigung, oder ein sehr trauriges, das Gemüth beugendes Ereigniß, öfterer Schreck, großer Gram und Kummer und anhaltende Ärgerniß (Hervorhebung durch die Autorin) brachten oft, (wenn die Anscheinend geheilte Krankheit eine schon weiter entwickelte Psora zum Grunde gehabt hatte, oder) bei einem geschwächten Körper, gar bald wieder das eine oder mehre der schon besiegt geschienenen Leiden, auch wohl mit einigen ganz neuen Zufällen verschlimmert, hervor, welche, wo nicht bedenklicher, als die vordem homöopathisch beseitigten, doch oft eben so beschwerlich und nun hartnäckiger waren.“(.S Hahnemann, 2000, S.1).

Doch die häufigste Aufregung der schlummernden Psora zu chronischer Krankheit, so wie die häufigste Verschlimmerung schon vorhandner chronischer Übel im Menschen-Leben entsteht von Gram und Verdruß.

Ununterbrochner Kummer oder Ärgerniß erhöhet ja selbst die kleinsten Spuren noch schlummernder Psora gar bald zu größern Symptomen und entwickelt sie dann unvermuthet zum Ausbruche aller erdenklichen chronischen Leiden gewisser und öfterer, als alle andere nachtheilige Einflüsse im gewöhnlichen Menschen-Leben auf den Organism, wie denn beide eben so gewiß und oft die schon vorhandnen Übel verstärken.

So wie der gute Arzt sich’s schon zum Vergnügen macht, zur Beförderung einer nicht mit solchen Hindernissen befangenen Kur zu veranstalten, daß das Gemüth des Kranken möglichst erheitert und Langweile von ihm abgehalten werde, so wird er auch hier um so mehr die Verpflichtung in sich fühlen, alles anzuwenden, was in dem Bereiche seines Einflusses auf den Kranken und seine Angehörigen und Umgebungen liegt, um Gram und Ärgerniß von seinem Kranken zu entfernen. Dieß wird, dieß muß ein Haupt-Gegenstand seiner Sorgfalt und Menschen-Liebe seyn.

Sind aber des Kranken Verhältnisse hierin nicht zu bessern, hat er nicht so viel Philosophie, Religion und Herrschaft über sich selbst, alle Leiden und Schicksale, woran er nicht Schuld ist, und die zu ändern nicht in seiner Macht steht, geduldig und gelassen zu ertragen, stürmt Gram und Verdruß unabänderlich auf ihn ein, ohne daß der Arzt im Stande ist, dauernde Entfernung dieser größten Zerstörungs-Mittel des Lebens zu bewirken, so sage er sich lieber von der Behandlung der chronischen Krankheiten los und überlasse den Kranken seinem Schicksale, weil selbst durch die meisterhafteste Führung der Kur mit den ausgesuchtesten und dem Körper-Leiden angemessensten Heilmitteln nichts, gar nichts Gutes bei irgend einem chronischen Kranken unter fortwährendem Kummer und Verdrusse auszurichten ist, wo der Lebens-Haushalt durch stete Angriffe auf das Gemüth zerstört wird. Die Fortsetzung des schönsten Baues ist thöricht, wenn der Grund des Gebäudes täglich, obwohl nur allmählig von anspülenden Wellen untergraben wird..“(S. Hahnemann, 2000 S.170-171).

Hinzu kommen für M. L. Sehgal James Tyler Kents Überlegungen zur „Anatomie des Gemütes“, die dieser folgendermaßen strukturiert:

Dieses stellt das Zentrum eines jeden menschlichen Organismus dar.

Nun aber geht M. L. Sehgal weiter als Samuel Hahnemann oder James Tyler Kent. Er fordert nicht mehr die Totalität der Symptome, um ein möglichst umfassendes Bild zu erhalten. Er sucht auch nicht mehr nach den § 153er - Symptomen, um den Fall zu individualisieren. Es ist allein das Zentrum, das Gemüt, auf das er sein Interesse richtet. Die Begründung dafür ist einleuchtend: Vom Zentrum aus wird jede einzelne Zelle gesteuert. Es ist im Krankheitsfall immer in irgendeiner Art verändert. Daher muss zunächst die natürliche Ordnung des Zentrums wiederhergestellt werden. Anschließend werden sich alle fehlgerichteten körperlichen Zustände normalisieren. Die Aufgabe des Homöopathen besteht also darin, die Veränderungen des Gemütes (des Zentrums) aufzuspüren und diese Veränderungen durch Auffinden der entsprechenden Repertoriumsrubriken nutzbar zu machen. Mit dem so gefundenen Arzneimittel kann er direkt das Zentrum treffen und die Heilung einleiten.

Ganz einfach also. Ganz einfach, wenn es dem Therapeuten gelingt, ein vorurteilsfreier Beobachter zu bleiben, „übersinnliche Ergrübelungen“ (Hahnemann, Organon § 6) zu unterlassen und die Gemütsrubriken genauestens zu verstehen und einzusetzen.

Glücklicherweise haben Sanjay und Yogeh Sehgal reichlich Vorarbeit geleistet und zahlreiche Rubriken sowie auch Facetten einiger Arzneimittel durchdacht und beschrieben.

Zum geforderten „vorurteilsfreien Beobachter“ gibt es von M. L. Sehgal einen Tipp: Man betrachte den Patienten wie einen Computer und notiere emotionslos alle Äußerungen dieses „Apparates“. Nichts ist unwichtig. Auch Äußerungen, die völlig normal erscheinen, also über keinen Wert im Sinne des § 153 verfügen, sind von Bedeutung. Nichts kann uns als Therapeuten wirklich tangieren. Selbst Wutausbrüche oder Beleidigungen sind nichts weiter als verwertbare Symptome. Ein guter Tipp, der oft – allerdings nicht immer – weiterhilft.

Häufig ist auch echtes Mitleiden (homoios pathein) erforderlich, um dem Patienten zunächst in seiner Notsituation beizustehen.

Die Repertoriumsrubriken wurden von M. L. Sehgal in einer neuen Art durchdacht und interpretiert. Zunächst einmal versuchte er sie mittels eines Wörterbuches genauestens zu verstehen. Dann übertrug er die erkannte Bedeutung auf Alltagssituationen.

 

§ 153

Bei dieser Aufsuchung eines homöopathisch specifischen Heilmittels, das ist, bei dieser Gegeneinanderhaltung des Zeichen-Inbegriffs der natürlichen Krankheit gegen die Symptomenreihen der vorhandenen Arzneien um unter diesen eine, dem zu heilenden Übel in Ähnlichkeit entsprechende Kunstkrankheits-Potenz zu finden, sind die auffallendern, sonderlichen, ungewöhnlichen und eigenheitlichen (charakteristischen) Zeichen und Symptome des Krankheitsfalles, besonders und fast einzig fest in’s Auge zu fassen; denn vorzüglich diesen, müssen sehr ähnliche, in der Symptomenreihe der gesuchten Arznei entsprechen, wenn sie die passendste zur Heilung sein soll. Die allgemeinern und unbestimmtern: Eßlust-Mangel, Kopfweh, Mattigkeit, unruhiger Schlaf, Unbehaglichkeit u.s. w., verdienen in dieser Allgemeinheit und wenn sie nicht näher bezeichnet sind, wenig Aufmerksamkeit, da man so etwas Allgemeines fast bei jeder Krankheit und jeder Arznei sieht

Hierzu ein paar Beispiele:

>Störungen; Abneigung gegen DISTURBED; averse to being< ant-c. ant-t. bamb-a. BRY. cench. cham. chinin-ar. Cocc. gels. gink-b. hell. iod. kali-m. lil-t. naja nat-ar. Nux-v. plut-n. sec. Sep. sulph. tub. ulm-c.

Bedeutung: Gestört(adj): Aus dem Gleichgewicht gebracht, unruhig.

Interpretation: Es gilt für beide Richtungen. Wenn man bereits gestört ist, möchte man die Störung beenden, und wenn man ausgeglichen ist, hat man es nicht gerne, wenn man aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Was kann gestört werden? Etwas, was in Frieden und Ruhe ist oder etwas, das fest steht. Man stelle sich vor, da ist ein Tank voll Wasser im Zustand der vollständigen Ruhe, in den nun ein Stein geworfen wird. Das wird man als gestört oder aus dem Gleichgewicht gebracht bezeichnen. Ebenso, wenn jemand um seinen Sitzplatz gebracht wird oder aus seiner ursprünglichen Position geholt wird. Das kann umgekehrt genauso sein. Irgendetwas ist bereits gestört, und es versucht nun, seine ursprüngliche Position wiederzuerlangen, d. h. den Zustand des Friedens. Und bei diesem Prozess der Wiederherstellung mag er es nicht, wenn er in irgendeiner Weise gestört wird und wird das ablehnen. Der Zustand des Gemütes kann dann ebenso als „Gestört werden, will nicht“ bezeichnet werden.

Versionen:

1. ´Wenn ich einmal eine Stellung eingenommen habe, so ändere ich sie nicht gerne. Denn es nimmt mir die Gemütlichkeit weg, die ich auf die eine oder andere Weise versuche zu erhalten.´

2. ´Ich fühle mich innerlich aus dem Gleichgewicht gebracht, ich möchte gern meinen ursprünglichen Zustand im Gemüt und Körper wiederherstellen.´

3. ´Wenn ich diese Schmerzen los bin, wird es mir gut gehen.´

4. ´Ich möchte mich hinsetzen oder mich hinlegen, ich habe ein Bedürfnis danach, aber ich bin nicht in der Lage so zu handeln, wie ich gerne möchte.´“ (M. L. Sehgal 2004, S. 463 f.).

>Aufzuhetzen, anzustacheln; andere INCITING others<

cimic. coloc. hyos. plb.

Jemanden zu einer Handlung veranlassen.

Interpretation: Andere zu Handlungen veranlassen und sich selbst ruhig im Hintergrund halten

Version: Es kann sein, dass Sie viele Leute erfolgreich behandelt haben, aber ich werdeIhre Fähigkeit erst dann anerkenne, wenn Sie mich geheilt haben.´“ (M. L. Sehgal,2004,S.479).

>Furcht - Extravaganz, vor Fear, extravagance,of<

op.

„Furcht: Unbehagen bei dem Gedanken an etwas Spezifisches, z. B. Furcht vor einem Löwen, Furcht vor Versagen usw.

Extravaganz: bedeutet, dass man für eine Sache mehr ausgibt, als sie wert ist. Gewöhnlich wird dieser Ausdruck nur bei Geldangelegenheiten benutzt, aber es funktioniert auch, wenn man es in einem ausgedehnteren Sinn benutzt, indem wir andere Aspekte des Lebens ebenfalls in Betracht ziehen.“ (M. L. Sehgal, 2004, S. 1103).

„Bedeutung: Ein Übermaß, ein Zuviel in jeder Richtung löst Unbehagen aus und kann nicht toleriert werden.

Interpretation: Bis zu einer persönlichen Grenze ist vieles auszuhalten, aber ab einem bestimmten Punkt geht es zu weit.

„So wie jede andere Rubrik hat sie zwei Seiten, weder hält sie Exzesse durch andere aus, noch möchte sie irgendwelche Exzesse anderen zumuten.“ (M. L. Sehgal, 2004, S. 1103).

Mögliche Patientenäußerungen: „Ab und zu mal Kopfschmerzen vertrage ich ja, aber nun habe ich sie schon jeden zweiten Tag!“

„Ich bin jetzt schon das dritte Mal bei Ihnen, ohne dass ihre Behandlung irgendetwas gebracht hat. Jetzt suche ich mir einen anderen Homöopathen.“

„Unser Säugling wird nachts alle zwei Stunden wach. Das kann man keinem Babysitter zumuten.“

>Furcht - verraten zu werden; davor FEAR - betrayed; of being<

bell. hyos. ign. lach. lyss. nat-m. petr-ra.

„Furcht: Eine Art von Unbehagen, das durch eine spezifische, drohende Gefahr hervorgerufen wird. Die Person kann den Grund ihrer Furcht angeben.

Interpretation: Furcht von Personen, Situationen und/oder Ereignissen getäuscht zu werden.“ (M. L. Sehgal, 2004, S. 468).

Mögliche Patientenäußerungen: „Haben Sie diese Art Krankheit schon behandelt?“ –

„Meine Medikamente weglassen? Und wenn ihre Homöopathie dann nicht hilft? Das ist mir zu riskant.“ –

Man sieht, dass diese Rubriken in einer viel umfassenderen Art gebraucht werden können, als es zunächst den Anschein hat. Ja, einige Rubriken können überhaupt erst verwandt werden, wenn ihr weitergehender Sinn entdeckt wurde (Furcht, Extravaganz, vor).

Diese Beispiele mögen hier genügen, um aufzuzeigen, dass man tatsächlich den momentanen Gemütszustand eines Patienten durch Rubriken erfassen kann, auch und gerade dann, wenn er nicht besonders auffallend ist.

ANAMNESE NACH SEHGAL

In der Anamnese nach M. L. Sehgal soll vor allem die akute Form der Krankheit festgestellt werden, so wie sie sich im Gemüt ausdrückt.

Die PPP-Regel gibt dazu eine Hilfestellung: Die Gemütssymptome, die zur Arzneimittelwahl führen, sollen PRESENT (gegenwärtig), PREDOMINATING (vorherrschend) und PERSISTING (anhaltend) sein – im Einzelnen:

PRESENT

(gegenwärtig) – das jeweilige Symptom wird mit Betonung und Emotion geäußert,die z. B. Gleichgültigkeit oder Wut oder Unruhe ist spürbar. Möglicherweise lassen sich auch nonverbale Signale beobachten, die dieses bestätigen.

PREDOMINATING

(vorherrschend) – das betreffende Symptom beherrscht das Denken des Patienten.

PERSISTING

(anhaltend) – der Patient kann die jeweiligen Gedanken/Gefühle nicht „abschalten“ und nur zeitweise „zurückdrängen“. Sie kommen immer wieder, auch, wenn er es nicht will.

Wie schafft man es nun, den aktuellen Gemütszustand mit seinen deutlichsten Merkmalen zu erfassen?

In meiner Praxis hat sich dabei das „Narrative Interview“ (von Seckendorf, 2012) bewährt. – Worum geht es dabei ?

Narrativ heißt erzählend, und so ermutigt der Interviewer den Patienten, seine Geschichte zu erzählen. So wie er sie wahrnimmt und empfindet.

Dazu wird zunächst ein Stimulus gesetzt, der kürzer oder länger ausfallen kann, und der auch den Schluss der Geschichte ins Auge fasst. Z. B. so: „Bitte erzählen Sie mir die Geschichte Ihrer Beschwerden und Ihrer Krankheit. Wie sie angefangen hat und wie sie heute ist. Was Sie dagegen getan haben. Sie können ganz frei berichten, ohne dass ich Ihren Bericht durch Fragen lenke oder unterbreche. Sie haben genügend Zeit, und wenn Sie am Ende Ihres Berichtes angekommen sind, werden Sie es mir sagen. Mich interessieren alle Dinge, die für Sie von Interesse sind, und die Sie besonders belasten. Reden Sie nun ganz frei und unbeeinflusst. Ich werde Ihnen sehr aufmerksam zuhören und keine Fragen stellen. Anschließend erlaube ich mir, Ihnen Fragen zu stellen.“ (von Seckendorff, 2012, S. 3).

Mein Stimulus sieht kürzer aus: „Erzählen Sie einfach mal, und sagen Sie mir, wenn Sie fertig sind.“ – In den Folgekonsultationen reicht dann „Erzählen Sie“ oder manchmal nur „Ja?“

Zur Selbstkontrolle und um eine genaue Analyse zu ermöglichen, empfiehlt es sich, eine Audio- oder Videoaufnahme zu machen. Dies erleichtert auch die Fokussierung auf den Patienten.

Es ist hochinteressant zu erleben, wie unterschiedlich Patienten auf den Stimulus „Erzählen Sie einfach mal und sagen Sie mir, wenn Sie fertig sind“, reagieren. Manche können es kaum erwarten und lassen den Therapeuten fast nicht ausreden. Manche sind verunsichert und wissen nicht, was von ihnen erwartet wird: „Was soll ich erzählen? – Können Sie nicht lieber fragen?“ – Meist reicht dann ein: „Mich interessiert alles“ oder „Ich will erst mal nur zuhören.“ – Einige bringen bereits Notizen mit ihrer Krankengeschichte mit oder einen Stapel von Befunden und eine Tasche voller Medikamente. So kommt man schon in den ersten Minuten zu sehr wichtigen Eindrücken und Beobachtungen.

Ebenso interessant ist das Ende des Interviews. Meist wird es ganz deutlich geäußert: „Ja, das war alles“ – oder so ähnlich. Dann lohnt es sich fast immer noch ein bisschen zu warten, zu lächeln und zu nicken. Sehr oft kommen dann noch ganz besonders wichtige Aussagen. Der Patient ist dann „warmgelaufen“. Er hat das ernsthafte Interesse und die uneingeschränkte Aufmerksamkeit des Therapeuten erlebt und traut sich nun oft an den „wunden Punkt“ heran; an das, was vielleicht zu schmerzhaft oder zu unangenehm ist, um es gleich zu erzählen.

Schwierig wird es nur, wenn wir einen Patienten vor uns haben, der zu Redseligkeit neigt und endlose Schleifen produziert. Wie gut auch immer die Kondition des Therapeuten sein mag – irgendwann lässt die Konzentration nach. Da ist es schon erlaubt, die Fortsetzung des Gespräches auf einen späteren Termin zu verlegen. Oder sogar sanft zu lenken: „...hm, aber was sind Ihre Gefühle dabei?“ –

Ein Vorteil des narrativen Interviews liegt auch darin, dass der Interviewer ausreichend Zeit findet, um sein Gegenüber zu beobachten. Gerade sehr gesprächige Patienten, deren Wortflut eher verwirrt, lassen sich über die Beobachtung ihrer Sprache, Gesten, ihres Äußeren und ihrer Haltung doch noch gut analysieren.

Dazu einige Auszüge zu Samuel Hahnemanns Anamneseanleitung im Organon, die den Gemütszustand des Patienten betreffen:

§ 84

„ Der Kranke klagt den Vorgang seiner Beschwerden; die Angehörigen erzählen seine Klagen, sein Benehmen, und was sie an ihm wahrgenommen; der Arzt sieht, hört und bemerkt durch die übrigen Sinne, was verändert und ungewöhnlich an demselben ist. Er schreibt alles genau mit den nämlichen Ausdrücken auf, deren der Kranke und die Angehörigen sich bedienen. Wo möglich läßt er sie stillschweigend ausreden, und wenn sie nicht auf Nebendinge abschweifen, ohne Unterbrechung. Bloß langsam zu sprechen ermahne sie der Arzt gleich Anfangs, damit er dem Sprechenden im Nachschreiben des Nöthigen folgen könne“.

Jede Unterbrechung stört die Gedankenreihe der Erzählenden und es fällt ihnen hinterdrein nicht alles genau so wieder ein, wie sie es Anfangs sagen wollten.“ (Hervorhebungen durch Autorin).

§ 90

„ Ist der Arzt mit Niederschreibung dieser Aussagen fertig, so merkt er sich an, was er selbst an dem Kranken wahrnimmt und erkundigt sich, was demselben hievon in gesunden Tagen eigen gewesen. Z. B. Wie sich der Kranke bei dem Besuche gebehrdet hat, ob er verdrießlich, zänkisch, hastig, weinerlich, ängstlich, verzweifelt oder traurig, oder getrost, gelassen, u.s. w.; ob er schlaftrunken oder überhaupt unbesinnlich war? ob er heisch, sehr leise, oder ob er unpassend, oder wie anders er redete? (..)“

§ 96

„Zudem sind die Kranken selbst von so abweichender Gemüthsart, daß einige, vorzüglich die sogenannten Hypochondristen und andere sehr gefühlige und unleidliche Personen, ihre Klagen in allzu grellem Lichte aufstellen und, um den Arzt zur Hülfe aufzureizen, die Beschwerden mit überspannten Ausdrücken bezeichnen“

§ 97

Andere, entgegengesetzt geartete Personen aber, halten theils aus Trägheit, theils aus mißverstandener Scham, theils aus einer Art milder Gesinnung oder Blödigkeit, mit einer Menge von Beschwerden zurück, bezeichnen sie mit undeutlichen Ausdrücken oder geben mehrere als unbedeutend an.

Eine große Gefahr, das narrative Interview zu verlassen, entsteht, wenn der Therapeut direkt um Rat gefragt wird. Dann gehört schon etwas Übung dazu, freundlich lächelnd in der Rolle zu bleiben und abzuwarten, was kommt.

Daher lese ich mir die folgende Einleitung einer Kurzgeschichte von Sommerset Maugham immer mal wieder durch:

„Es ist sehr gefährlich, in das Leben anderer Leute einzugreifen, und ich habe mich immer über das Selbstvertrauen gewundert, mit dem Politiker, Reformer und sonstige Wohltäter ihre Mitmenschen zwingen, liebgewordene Gewohnheiten und Lebenshaltungen aufzugeben. Ich meinerseits erteile nur ungern Ratschläge. Wie soll ich jemanden raten, den ich nicht ebenso genau kenne, wie mich selbst? Und um die Wahrheit zu sagen: ich kenne mich schon selbst nicht ganz genau. Meine Mitmenschen sind mir völlig fremd; das heißt, dass ich nur vermuten kann, was sie denken und fühlen. Jeder von uns ist ein Gefangener seines eigenen Ichs und kann sich von seiner Einzelzelle aus nur durch verabredete Zeichen und Symbole mit den anderen Gefangenen verständigen, denen es ebenso ergeht. Es ist klar, dass diese Zeichensprache zu Missverständnissen führen muss, und es ist erwiesen, dass einmal begangene Fehler sich im Rahmen unseres kurzen Erdenwallens nur sehr schwer gutmachen lassen.“ (William Sommerset Maugham: Ein glücklicher Mensch, in Hutsch (Hrsg.), 2011, S. 40).

DER VORURTEILSLOSE BEOBACHTER

Um diesen Gemütszustand festzustellen, braucht es in erster Linie den „vorurteilslosen Beobachter“, so wie ihn schon Samuel Hahnemann in § 6 fordert:

§6

„Der vorurtheillose Beobachter, - die Nichtigkeit übersinnlicher Ergrübelungen kennend, die sich in der Erfahrung nicht nachweisen lassen, - nimmt, auch wenn er der scharfsinnigste ist, an jeder einzelnen Krankheit nichts, als äußerlich durch die Sinne erkennbare Veränderungen im Befinden des Leibes und der Seele, Krankheitszeichen, Zufälle, Symptome wahr, das ist, Abweichungen vom gesunden, ehemaligen Zustande des jetzt Kranken, die dieser selbst fühlt, die die Umstehenden an ihm wahrnehmen, und die der Arzt an ihm beobachtet. Alle diese wahrnehmbaren Zeichen repräsentiren die Krankheit in ihrem ganzen Umfange, das ist, sie bilden zusammen die wahre und einzig denkbare Gestalt der Krankheit.“

Und der ist leider eine Illusion.

Jede Beobachtung - jede Wahrnehmung - ist auch vom Vorwissen des Akteurs geprägt.

Dazu gibt es eine schöne Geschichte aus „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint Exupéry. Zu Beginn berichtet der Autor, wie er sich als Kind über die Erwachsenen geärgert hatte.

Er hatte nämlich eine Zeichnung angefertigt, die ungefähr so aussah:

(Nachzeichnung der Autorin)

Jeder, der diese Zeichnung sah, meinte gleich, darin einen Hut zu erkennen. Der kleine Junge wurde ärgerlich, denn für ihn war es völlig klar, dass er etwas ganz anderes gezeichnet hatte, nämlich eine Schlange, die einen Elefanten gefressen hatte (vgl. Saint Exupéry, 1956).

So ungefähr stelle ich mir die Situation eines Patienten vor, der seinem Therapeuten sein Problem erklären möchte, und dieser hat bereits eine feste Vorstellung davon. Für den Patienten ist es ganz klar und für den Therapeuten auch. Aber beide sehen etwas völlig anderes und kommen einfach nicht auf einen Nenner.

Und sogar gegenüber Vorurteilen gibt es Vorurteile. Z. B. dass sie immer negativ seien. Aber eine Denkart, die so weit verbreitet ist, und die sich so hartnäckig zeigt, kann nicht nur Nachteile haben, sonst gäbe es sie längst nicht mehr.

Aber was sind Vorurteile überhaupt?

Im allgemeinen Sprachgebrauch versteht man wohl eine vorgefasste negative Meinung über etwas oder über jemanden.

Ein Lexikon der Psychologie definiert wie folgt: „Vorurteil, eine nicht sachlich begründete bzw. durch Erfahrung erworbene, affektiv mitbestimmte Einstellung gegenüber Dingen oder Menschen, besonders auch gegenüber der eigenen Gruppe oder Fremdgruppen, durch die ihnen positive oder negative Eigenschaften zugesprochen werden. Vorurteile sind grundsätzlich übernommen und auch durch entgegen gesetzte Erfahrungen nur schwer korrigierbar. Oft werden durch Vorurteile diejenigen Erfahrungen selbst provoziert, deren Eintreffen ihnen gemäß erwartet wird (z. B. durch eine feindselige oder geringschätzende Haltung).“ (Faktum, (Hrsg.), 1995, S. 515).

Hier erfahren wir schon mal, dass Vorurteile emotional mitbeeinflusste Einstellungen sind, die auch positive Eigenschaften umfassen können.

Aber worin besteht der Nutzen, den Vorurteile bieten können?

Das wichtigste Plus ist wohl der Sicherheitsaspekt. So kann z. B. das Vorurteil „alkoholisierte Jugendliche neigen zu Aggressionen“ durchaus mal lebensrettend sein, auch wenn im Einzelfall die betreffenden Jugendlichen völlig harmlos sein mögen und man selbst noch nie negative Erlebnisse dieser Art hatte.

Zum anderen erhöht es die Reaktionsgeschwindigkeit. Das Vorurteil „alle Frauen lieben Blumen“ hat sicher schon manchem aus schwierigen Situationen geholfen.

Und schließlich: Vorurteile vereinfachen das Leben. Wenn ich schon weiß, dass ich – z. B. Opern, diese Angebertypen von Nachbarn, Gartenarbeit – oder was auch immer nicht mag, brauche ich mich auch nicht damit auseinanderzusetzen und kann es mir bequem machen.

Dies gilt insbesondere auch für Homöopathen, die zusätzlich noch über ein paar spezifische Vorurteile verfügen. Da sind zum einen die Arzneimittelbilder, die sich manchmal nur schwer zurückdrängen lassen. Die anhängliche Pulsatillapatientin, der hektische Nux-vomica-workoholic, der geschniegelte Arsenicum Patient – gut zu merken und auch oft hilfreich, so lange man nach der Kent´schen Methode repertorisiert.

Nicht so, wenn man mit der Sehgal-Methode arbeitet. Die Konstitution, das Äußere, der miasmatische Hintergrund – interessant, aber keine Hilfe bei der Arzneimittelauswahl.

Dann die Einteilungen nach Bönninghausen in kurz, mittel und lang wirkende Arzneimittel. Sie kann verhindern, dass z. B. Belladonna als Mittel bei schweren Pathologien in Betracht gezogen wird, da man diesem Arzneimittel keine tiefer gehende Wirkung zutraut.

Auch die Kenntnis von § 153iger-Symptomen kann hinderlich sein: „Hunger um 11.00 Uhr morgens? – Na klar: Sulphur! Hautjucken besser durch heißes Wasser? Rhus toxicodendron – eindeutig!“ – All dies mühsam angeeignete Wissen muss für die Arzneimittelwahl unberücksichtigt bleiben, denn es geht einzig und allein um die Erfassung des akuten Gemütszustandes.

Und dann noch die persönlichen Vorurteile, die sich speziell durch Erfahrung aufbauen. Wenn man häufiger ein bestimmtes Arzneimittel mit Erfolg eingesetzt hat, z. B. Stramonium bei ängstlichen, klammernden Kindern, dann fällt es schwer, dieses zu vergessen, wenn wieder eine Mutter mit einem Kind kommt, weil es „dauernd an mir hängt und voller Ängste ist“.

Oder umgekehrt. Mehrfacher Misserfolg mit einem Arzneimittel, lässt es uns leicht „unsympathisch“ werden, so dass wir es kaum noch in Betracht ziehen.

Auch dieses Problem kannte Samuel Hahnemann. In § 257 Orgnon schreibt er:

„Der ächte Heilkünstler wird es zu vermeiden wissen, sich Arzneien vorzugsweise zu Lieblingsmitteln zu machen, deren Gebrauch er, zufälliger Weise, vielleicht öfterer angemessen gefunden und mit gutem Erfolge anzuwenden Gelegenheit gehabt hatte. Dabei werden seltener angewendete, welche homöopathisch passender, folglich hülfreicher wären, oft hintangesetzt.“

Und in § 258: „Eben so wird der ächte Heilkünstler auch die, wegen unrichtiger Wahl (also aus eigner Schuld) hie und da mit Nachtheil angewendeten Arzneien nicht aus mißtrauischer Schwäche beim fernern Heilgeschäfte hintansetzen, oder aus andern (unächten) Gründen, als denen, weil sie für den Krankheitsfall unhomöopathisch waren, vermeiden, eingedenk der Wahrheit, daß stets bloß diejenige unter den arzneilichen Krankheitspotenzen Achtung und Vorzug verdient, welche, in dem jedesmaligen Krankheitsfalle, der Gesammtheit der charakteristischen Symptome am treffendsten in Ähnlichkeit entspricht und daß keine kleinlichen Leidenschaften sich in diese ernste Wahl mischen dürfen“

Auch die Homöopathen, die nach Sehgal arbeiten, sind wieder speziellen Vorurteilen ausgesetzt. Wenn M. L. Sehgal betont, dass Belladonna das Arzneimittel darstellt, das mit Abstand am häufigsten vorkommt, wenn Rathmer eine Hierarchie der gebräuchlichsten Arzneimittel aufstellt (Rathmer, 2011), kann das sehr schnell dazu führen, dass sich der Blick einengt.

Eine weitere Schwierigkeit ist die vorschnelle Festlegung auf ein Arzneimittel. Z. B. weil es endlich geglückt ist, eine seltenere Rubrik zu verstehen, wie >Wahnidee, er bedient eine Maschine<. Wenn dann der nächste Patient nebenbei davon erzählt, dass er nur noch mechanisch vor sich hin arbeite, wird diese Rubrik leicht als erste genommen, ohne genauer festzustellen, ob es denn wirklich den PPP- Kriterien entspricht. Also ob es nicht nur gegenwärtig und anhaltend, sondern wirklich auch ein vorherrschender Zustand ist.

Weiter werden nur noch Rubriken gewählt, die zu dem favorisierten Mittel passen, und der Patient bekommt Plumbum, welches dann nicht hilft.

Also aufpassen, wenn wir wieder einmal, irgendwo, einem „alten Hut“ begegnen. – Es könnte sich um einen Elefanten handeln, der von einer Schlange gefressen wurde!

Was also tun? –

Zunächst einmal zugeben, dass Freisein von Vorurteilen schlichtweg nicht möglich ist. Unsere Wahrnehmung ist immer und zu jeder Zeit eingeschränkt z. B. durch unser Vorwissen, durch unsere Überzeugungen und Haltungen. Auch äußere Umstände und unsere Tagesform bilden Begrenzungen.

Die äußeren Umstände müssen wir oft so nehmen wie sie sind. Häufig aber lassen sie sich durch Kleinigkeiten optimieren. Sitzgelegenheiten, akustische Störfaktoren, Lichtverhältnisse – daran kann man arbeiten.

Die eigene Tagesform sollte ein Therapeut immer wieder kritisch beurteilen und gegebenenfalls auch mal einen Termin verschieben, wenn der Kopf nicht klar genug ist.

Vorurteile, die unsere Wahrnehmung einschränken, sind am schwierigsten zu beeinflussen. Sie müssen erst einmal erkannt und dann zurückgestellt werden. Besonders schwer ist dies, wenn es sich um mühsam erworbenes Wissen (Arzneimittelbilder) handelt. Dieses kann man zwar noch zeitweise zurückzudrängen, wenn ein neuer Patient den Spontanbericht erzählt, aber bei der Analyse wird es schwierig. Da tauchen Arzneimittelbilder wieder auf, auch „Lieblingsmittel“ und Erwartungen. Diese Grenzen müssen wir uns immer wieder bewusst machen und kritisch hinterfragen, ob wir unseren Patienten denn wirklich verstanden haben. Jedes Symptom, das wir für die Arzneimittelwahl benutzen wollen sollte wir mehrmals daraufhin „abklopfen“.

Die Homöopathen sind übrigens nicht die einzige Berufsgruppe, die mit derlei Schwierigkeiten zu kämpfen hat.

Von Pablo Picasso stammt der Satz: „Es hat mich vier Jahre gekostet, um malen zu lernen wie Raphael – und ein Leben lang, um malen zu lernen wie ein Kind.“

Samuel Hahnemann fordert in § 6 den „vorurteilslosen Beobachter. Beobachtungsgabe lässt sich schulen. Dazu gib er in einem Fragment in seiner Reinen Arzneimittellehre eine gute Anleitung gegeben, die als Grundlage dienen kann:

„Der ärztliche Beobachter

(Ein Bruchstück.) Die Beobachtung des Heilkünstlers setzt eine, bei gemeinen Ärzten auch nicht in mittelmäßigem Grade anzutreffende Fähigkeit und Übung voraus, die Erscheinungen bei den natürlichen Krankheiten sowohl, als bei den durch Arzneien in ihrer Prüfung am gesunden Körper künstlich erregten Krankheitszuständen genau und treffend wahrzunehmen und mit den passendsten, natürlichen Ausdrücken zu bezeichnen.

Um das an Kranken zu Beobachtende genau wahrzunehmen, muß man alle seine Gedanken darauf richten, sich gleichsam aus sich selbst setzen, und sich, so zu sagen, an den Gegenstand mit aller Fassungskraft anheften, damit uns nichts entgehe, was wirklich da ist, zur Sache gehört und durch jeden offnen Sinn empfangen werden kann.

Da muß die dichterische Einbildungskraft, der gaukelnde Witz und die Vermuthung einstweilen verstummen, und alles Vernünfteln, Deuteln und Erklärenwollen muß unterdrückt bleiben.

Der Beobachter ist bloß da, um die Erscheinung und den Vorgang aufzufassen; seine Aufmerksamkeit allein muß wachen, daß ihm von der Gegenwart nicht nur nichts entschlüpfe, sondern daß auch das Wahrgenommene so richtig verstanden werde, als es wirklich ist.

Diese Fähigkeit, genau zu beobachten, ist wohl nie ganz angeerbt; sie muß größtentheils durch Übung erlangt, durch Läuterung und Berichtigung der Sinne, das ist, durch strenge Kritik unsrer schnell gefaßten Ansichten der Aussendinge vervollkommnet, und die dabei nöthige Kälte, Ruhe und Festigkeit im Urtheile muß unter steter Aufsicht eines Mißtrauens in unsre Fassungskraft gehalten werden. (Hervorhebung durch Autorin)

Die hohe Wichtigkeit dieses unsers Gegenstandes muß Leib und Seele auf die Beobachtung hinrichten und eine vielfach geübte Geduld, von Kraft des Willens gestützt, muß uns in dieser Richtung bis zur Vollendung der Beobachtung erhalten“.

Beobachten und ggf. in Rubriken wieder finden lässt sich:

Sprache:

Wortwahl – z. B.

Gemüt - Sprache - undeutlich - überschlägt sich; Worte komme hervor und die Sprache

Lautstärke – z. B.

Gemüt - Sprache - hastig, eilig - laut; und

Tonmodulation – z. B.

Sprache - GEZWUNGENE, gepresste Sprache (M)

Störungen – z. B.

Gemüt - Fehler; macht - Sprechen, beim

Wiederholungen von Redewendungen/ Worten –

z. B. Gemüt - Sprache - wiederholt - alles, was man ihm sagt

Unterbrechen/Pausen – z. B.

Gemüt - Stumpfheit - versteht nicht; er - Fragen; ihr gestellte - wiederholt werden; nur wenn sie.

Versprechen – z. B.

Gemüt - Fehler; macht - Sprechen, beim - falsch aus; spricht Worte

Mimik:

Blickrichtung /Blickbewegung – z. B.

Gemüt - AUGEN, allgemein - gesenkten, Augen, geht mit(M)

Mundbewegungen – z. B.

Gemüt - Delirium - Lippen, als würde er sprechen; bewegt die

Stirnverzerrungen – z. B.

Gemüt - Stirnrunzeln, Neigung zum - Zusammenziehung der Haut der Stirn; durch

Weinen – z. B.

Gemüt - Lustig, fröhlich - abwechselnd mit – Weinen

Lächeln/Lachen – z. B.

Gemüt - Lächeln – unwillkürlich

Gestik

Körperhaltung (sitzen, stehen, liegen, knieen, bücken) – z. B.

Gemüt - Stereotype Bewegungen

Zu/Abwendung zu Mitmenschen – z. B.

GEMÜT - ANKLAMMERN - Ruhelosigkeit, mit(C)

Beinhaltung – z. B.

Gemüt - Gesten, Gebärden; macht - Füße; unwillkürliche Bewegungen der - stampft mit den Füßen - Sprechen; beim

Kopfhaltung und -bewegung – z. B.

GEMÜT - ALBERNES Benehmen - schüttelt den Kopf(C)

Handhaltung -bewegungen -bevorzugung – z. B.

GEMÜT - GEBÄRDEN, Gesten, macht - Haar, streicht sich durch das (C)

Soziale Distanz

Abstand zu anderen Person/en – z. B.

Gemüt - Furcht - Näherkommen, Annäherung von; vor

Körperberührungen (schlagen, streicheln, festhalten, küssen, Händeschütteln) – z. B.

Gemüt - Zorn - Berührung, bei

Körperliche Reaktionen

Erröten – z. B.

Gemüt - SCHÜCHTERN, (vgl. Nachgiebigkeit, Zaghaftigkeit) - Erröten, mit(M)

Erblassen – z. B.

GEMÜT - ANGST - Schweiss - mit - Blässe, mit (C)

Schwitzen – z. B.

GEMÜT - ANGST - Gehen - während - geht, bis sich das Schwitzen bessert (C)

Zittern – z. B.

Gemüt - Erregung - Zittern, mit

Bewegungen

schnell/langsam – z. B.

Gemüt - Gesten, Gebärden; macht - Hände; unwillkürliche Bewegungen der - Greifen - schnell

dys/harmonisch – z. B.

Extremitäten - Bewegung - Füße; der - eckig, fahrig

schleppend – z. B. EXTREMITÄTEN - GEHEN – schleppend (C)

(nach Vetter, W., Manuskript, unveröffentlicht,1997)

Mehr Rubriken im Anhang.

Um sicher zu gehen, nichts verpasst zu haben, habe es mir angewöhnt, am Ende einer Anamnese kurz meine Sinne abzufragen:

Was habe ich gesehen (Mimik, Gestik, Haltung), gehört (Stimmstärke, Atmung), gerochen (Alkohol, Zigarettenrauch), getastet (Händedruck)? Da kommen oft noch eine Menge Symptome zusammen.

Eine sehr schöne Kurzfassung der Anamnese nach Sehgal gibt Erwin Vatter: „Meine vorwiegende Aufgabe ist es also, auf jeden kleinen Hinweis, den der Patient gibt, zu achten und nach dessen Qualität zu schauen. Rein intellektuell kann man diese Arbeit nicht bewältigen. Die Anamnese ist wie ein Spiel. Mit jeder Aktion von meiner Seite zeigt sich auch der Patient wieder, indem er reagiert. Das Schöne an dieser Arbeit ist, dass wir die Symptome geschenkt bekommen. Nach meiner Meinung gibt es keinen Menschen, der sich nicht zeigt. Es gibt mich, als Behandler, der einen Patienten nicht versteht oder Zeichen nicht versteht oder die Zeichen nicht übersetzen kann, aber es gibt keinen Menschen, der sich nicht zeigt. Auch wenn der Patient nur eine halbe Stunde dasitzt und nichts sagt, still ist, wird er nonverbale Informationen bringen. Je länger ich nach dieser Methode arbeite, umso mehr bekomme ich geschenkt, umso feiner wird meine Wahrnehmung, umso mehr kann ich übersetzen. Ich setze mich einfach hin und schaue zu.“ (Vatter, E., 1995, S. 65).

GEMÜTSZUSTAND VERSUS KONSTITUTION

Ein wichtiger Unterschied zur Klassischen Homöopathie Kent´ scher Prägung besteht darin, dass der Gemütszustand und nicht die Konstitution des Patienten als Grundlage der Arzneimittelverschreibung dient.

So, wie es in §211, Organon formuliert ist:

“Dieß geht so weit, daß bei homöopathischer Wahl eines Heilmittels, der Gemüthszustand des Kranken oft am meisten den Ausschlag giebt, als Zeichen von bestimmter Eigenheit, welches dem genau beobachtenden Arzte unter allen am wenigsten verborgen bleiben kann.“ (Samuel Hahnemann, Organon, § 211).

Unter Gemüt versteht man: „... seit dem Mittelalter (..) Bezeichnung für Geist, aber auch für Innerlichkeit, seelische Empfänglichkeit, Seele überhaupt. Im psychologischen Sinne wird heute unter Gemüt der Inbegriff der Gefühlsseite des Psychischen verstanden…..“ (Faktum Lexikoninstitut, 1995, S. 154).

Und unter Zustand die: „Art und Weise des Bestehens“ (Duden 7, 1995, S. 804). Zusammengefasst geht es also um die Art und Weise des Bestehens der Seele.

Der Begriff Gemütszustand sagt also nichts über die zeitliche Dimension oder über die Veränderbarkeit aus. Ein Gemütszustand kann kurz oder lang anhalten, sich leicht oder schwer verändern oder auch sehr konstant sein.

Anders die Konstitution: „Zustand, Beschaffenheit, Verfassung; in der Biologie und Psychologie die durch morphologische, funktionelle und psychische Eigenschaften geschaffene Ganzheit eines Individuums; umfasst vor allem die unveränderlichen Merkmale, die nicht von äußeren Faktoren beeinflusst werden, sondern angeboren und wahrscheinlich erblich bedingt sind; setzt unter dem Gesichtspunkt der seelischen Ausstattung eines Individuums den Rahmen seiner Entwicklungsmöglichkeiten; in der Medizin das Erscheinungsbild eines Menschen und seine Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten und Belastungen.“ (Faktum Lexikoninstitut, 1995, S. 235).

Die Konstitution ist also ein sehr viel Festeres, nur schwer veränderbares Konzept eines Individuums. Ein fester Rahmen, innerhalb dessen es Entwicklungs- und Heilungs-möglichkeiten gibt, der selbst aber kaum zu sprengen ist.

Samuel Hahnemann verwendet diesen Begriff nur gelegentlich, etwa, wenn er in § 81 schreibt: