Mein Feuerpferd - Ritt im Nordlicht - Chantal Schreiber - E-Book

Mein Feuerpferd - Ritt im Nordlicht E-Book

Chantal Schreiber

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Beschreibung

Mit wehender Mähne durch Island

Sechs Wochen Island! Für die zehnjährige Eva gibt es kaum etwas Schlimmeres. Einöde, Langeweile und dann auch noch Papas neue Frau, die Eva schon aus Prinzip nicht leiden kann. Allein die Herde Islandpferde des Nachbarn macht diesen Urlaub erträglich. Ganz besonders der braune Eldur, zu dem sie schnell eine enge Beziehung aufbaut. Als sie ihn schließlich reiten darf, geht ein Traum in Erfüllung – die beiden sind das perfekte Team! Doch nicht nur Eva hat erkannt, dass Eldur etwas ganz Besonderes ist, und schon bald muss sie alles daran setzen, ihr Traumpferd nicht zu verlieren ...

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Seitenzahl: 203

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Chantal Schreiber

MEIN FEUERPFERD

Ritt im Nordlicht

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© 2018 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Kathrin Schüler, Berlin

Umschlagabbildung: © Rookie Photography/Eva Frischling

Kapitelvignette: Franziska Harvey

ml · Herstellung: UK

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-23121-7V002

www.cbj-verlag.de

Ans Ende der Welt

Hoffentlichist sie nicht mitgekommen, denke ich, als ich am Druck in meinen Ohren merke, dass das Flugzeug sich der Erde nähert. Ich presse meine Stirn an das kleine Fenster und versuche vergeblich irgendetwas zu erkennen. Nichts als Wolken.

Plötzlich sackt die Maschine kurz ab und mein Kopf knallt gegen die Scheibe. »Autsch!«, murmle ich und reibe meine Stirn. Gleich darauf fühlt es sich an, als würde eine riesige Hand das Flugzeug packen und mit aller Kraft schütteln. Die blonde Flugbegleiterin verliert das Gleichgewicht und kann sich gerade noch an einer Rückenlehne festhalten. Ohne dass ich es gemerkt habe, habe ich meine Finger in die Armlehnen gekrallt.

»Ist nur der Wind«, sagt mein Sitznachbar, ein älterer Mann, freundlich. »In Island ist es immer windig.«

»Ich weiß«, erwidere ich und löse meine Hände von den Lehnen. »Mein Vater ist Isländer.«

Der Mann lächelt. »Dann warst du sicher schon öfter hier?«

»Nein.« Ich schüttle sehr entschieden den Kopf. »Noch nie.« Und wenn es nach mir ginge, befände ich mich auch jetzt nicht im Landeanflug auf Reykjavik, Islands Hauptstadt. Aber was hätte ich machen sollen? Wäre ich stur geblieben, hätte doch bloß Sarah darunter gelitten. Sarah ist meine Mom, aber meistens nenne ich sie beim Vornamen. Sie sagt ja auch nicht »Tochter« zu mir, hat sie mal gemeint. Ich soll sie so nennen, wie es sich gerade richtig anfühlt.

»Und wenn sich ›Monster‹ richtig anfühlt?«, hab ich gefragt.

»Das kann gar nicht passieren«, hat sie ernsthaft geantwortet. »Wir wissen beide, dass ich die beste Mutter der Welt bin.«

Und sie hat – wie meistens – völlig recht. Meine beste Freundin Ann-Kathrin hat gesagt, manchmal mag sie meine Mutter lieber als ihre eigene. Das ist zwar wahrscheinlich Blödsinn, aber ich bin solche Reaktionen gewohnt: Jeder liebt Sarah. Sie ist fröhlich und hübsch und hat so viel Energie, dass sie ein ganzes Kraftwerk betreiben könnte (sagt ihre Mutter, meine Nonna – die selber keine zehn Minuten still sitzen kann).

Jedenfalls ist meine Mutter Schauspielerin, und hätte ich mich auch diesmal geweigert, nach Island zu fahren, wäre ihr eine richtig tolle berufliche Chance entgangen. Eine dieser Chancen, die man nur einmal im Leben bekommt. Seit es mich gibt, hat sie immer nur von Weitem zugesehen, wie ihre Kolleginnen Karriere machten. Inzwischen nimmt sie wieder ab und zu kleine Rollen in Fernsehfilmen, Serien oder Werbespots an – aber nichts, wofür sie länger verreisen oder länger als ein paar Tage am Stück arbeiten müsste.

Immer werde ich gefragt, ob es mir nicht leidtut um das, was ich verpasse, höre ich Sarahs Stimme in meinem Kopf. Um die Rollen, die ich abgelehnt habe. Wenn ich die Augen schließe, kann ich auch das Lächeln sehen, das ich angeblich von ihr geerbt habe. Die haben ja keine Ahnung. Ich möchte keine einzige Stunde missen, die ich mit dir verbracht habe, mein Hase. Keine Minute. Weißt du auch, warum? Und dann hat sie immer dasselbe gesagt: Ich hab dich lieb wie verrückt. Einmal durchs Universum und wieder zurück.

Das reimt sich ein bisschen und als ich klein war, hab ich es immer mit ihr zusammen gesagt. Und danach hat sie mich ganz fest gedrückt und mir tausend Millionen Küsse gegeben. Sie hat in meine Ohren reingegrunzt wie ein Mamaschwein und ich hab gequietscht wie ein fröhliches Ferkel.

Das ist natürlich schon eine Weile her. Jetzt bin ich zehn und bei uns wird nicht mehr ganz so viel gegrunzt und gequietscht, auch wenn wir uns immer noch genauso lieb haben.

Jedenfalls war bei dieser Sache alles ein bisschen anders. Diesmal habe ich gespürt, wie wichtig es ihr ist, dabei zu sein. Die Serie, durch die sie schon als ganz junge Schauspielerin bekannt geworden ist, handelt von drei Mädels aus der Vorstadt, die ausziehen, um die Welt zu erobern. Und diese Serie soll jetzt eine Spezial-Folge kriegen, in Spielfilmlänge. Alle anderen Schauspieler von damals sind dabei. Sogar die, die inzwischen kaum noch Lücken in ihren Kalendern haben vor lauter Berühmtheit, haben es irgendwie geschafft, sich Zeit zu nehmen. Nur ob meine Mom ihren Vertrag unterschreiben würde, das war fraglich. Denn sie hatte ein Problem. Mich.

Die Studioarbeiten sind zum Glück bei uns in München. Aber sechs Wochen lang wird in ganz Europa an verschiedenen Orten gedreht und eine Woche sogar in den USA. Mich überallhin mitzunehmen, war keine Option, die Drehtage sind dicht gedrängt, der Zeitplan knapp und Sarah könnte sich einfach nicht um mich kümmern. Meine Nonna, die auch Schauspielerin und Sängerin ist, fiel als Babysitter aus. Sie hatte zur selben Zeit schon ein Engagement auf einem Kreuzfahrtschiff, um reiche Touristen zu unterhalten.

Und sonst gibt es eigentlich niemanden, denn die übrigen Verwandten meiner Mutter sind in Österreich, die Verwandten meines Vaters in Island.

»Tu mir das nicht an, Sarah«, hat ihre Agentin gefleht. Und als Mom mir das erzählt hat, wusste ich, sie musste da einfach dabei sein.

Ich hatte ja auch überhaupt kein Problem damit. Ich sah nur nicht ein, wieso ich deshalb nach Island musste.

»Warum kann ich nicht alleine bleiben?«, habe ich aufbegehrt. »Zehn Tage davon sind sowieso Herbstferien! Und an den anderen Tagen mache ich es wie Pippi Langstrumpf! Ich schicke mich abends selber ins Bett! Du kannst ja eine Kamera installieren und das überprüfen!«

»Es geht doch nicht darum, dass ich dir nicht vertraue, Evahase!«, hat Sarah mir erklärt. »Aber ich hätte keine ruhige Minute! Stell dir vor, es passiert irgendwas! Und gesetzlich verboten ist es außerdem!«

Früher hätte Magnus, mein Vater, vielleicht einspringen können. Er ist Pilot, und wenn er rechtzeitig Bescheid sagt, können die Leute, die seine Dienstpläne machen, Rücksicht auf so was nehmen. Aber er musste ja unbedingt nach Island ziehen. Ihretwegen. Ich hoffte wirklich, dass Hrönn nicht mit zum Flughafen gekommen ist.

Ich hab sie erst einmal getroffen: vor einem halben Jahr, als Magnus sie mit nach München gebracht hat, ausgerechnet zu meinem Geburtstag. Mom und Hrönn waren so nett zueinander! Mir wird heute noch beinahe übel, wenn ich daran denke!

Sarah: »Du hast wirklich wunderschöne Augen!« Hrönn: »Dasselbe wollte ich gerade zu dir sagen! Und du sprichst meinen Namen aus wie eine Isländerin! Sonst kriegt das hier niemand hin!« Sarah: »Na, dann war die Schauspielausbildung ja doch für etwas gut!«

Die beiden haben sich auf Englisch unterhalten, aber ich konnte alles verstehen. Englisch ist neben Sport mein liebstes Fach in der Schule.

Hrönn bedeutet »Woge«, hat sie uns erklärt. Also affig für ›Welle‹, hab ich gedacht und gar nicht erst versucht, den Namen auszusprechen. Ich habe bloß dagesessen und so getan, als würde ich kein Wort von der Unterhaltung verstehen. Und wollte am liebsten heulen. Mein Geburtstag, hab ich gedacht, es ist mein Geburtstag und wir sitzen hier und reden über sie. Wer hat sie überhaupt eingeladen? Ich bestimmt nicht! Ich habe meinen Vater seit zweieinhalb Monaten nicht gesehen! Ich will ihn für mich haben, ist das so schwer zu kapieren?

Irgendwann bin ich einfach aufgestanden und in mein Zimmer gegangen. Mal sehen, wie lange sie brauchen, bis sie bemerken, dass ich nicht mehr da bin, hab ich gedacht.Eigentlich bin ich sonst nicht so selbstmitleidig. Aber nur wegen Hrönn ist Magnus zurück nach Island gezogen. Ihretwegenverbringe ich nicht mehr ein paar Tage jede Woche und alle seine dienstfreien Wochenenden mit meinem Vater, sondern sehe ihn nur noch drei- bis viermal im Jahr. Natürlich hat er nie direkt gesagt, dass es ihretwegen war. Aber bevor er sie kennengelernt hat, war nie die Rede davon. Und ich kann schließlich zwei und zwei zusammenzählen.

Es hat damals nicht lange gedauert, bis Mom mir nachgekommen ist, um mir zu sagen, dass Hrönn noch etwas besorgen musste und sich schon verabschiedet hat. »Sie hat sich gefreut, dich kennenzulernen, und hofft, du kommst sie und Magnus bald in ihrem neuen Haus besuchen«, hat Mom mir ausgerichtet und mich erwartungsvoll angesehen.

Aber was hätte ich sagen sollen? Dass sie darauf lange warten kann? Dass die Freude nicht auf Gegenseitigkeit beruht und Hrönn mir meinen Geburtstag versaut hat? Also habe ich Mom nur angestarrt, mit einem Und-was-willst-du-jetzt-von-mir-hören?-Blick.

»Sie ist wirklich nett«, hat Mom gesagt und meinen Blick gehalten. »Du solltest ihr eine Chance geben.«

In diesem Moment hat Magnus angeklopft und ich konnte mich vor der Antwort drücken. Zum Glück hat mein Dad seine neue Frau mit keinem Wort erwähnt.

»Wollen wir ins Schwimmbad gehen, Krutmúsin min?«, hat er nur gefragt. »Krutmúsin min« ist Isländisch und heißt »Meine süße Maus«, so nennt er mich, seit ich ganz klein war. Als ich es ihn in seiner Papastimme sagen hörte, wurde mir erst richtig klar, wie sehr ich ihn vermisst hatte. Ich bin aus dem Bett gesprungen, zu ihm gelaufen und hab ihn umarmt. Und gehofft, dass er nicht merkt, wie nass mein Gesicht auf einmal war.

Und so ist es doch noch ein ziemlich guter Geburtstag geworden, mit Pizzaessen zu dritt nach dem Schwimmbad. Also mit Mom, ohne Hrönn. Die hat irgendwann angerufen, sie könne nicht zum Essen nachkommen, sie würde sich nicht wohlfühlen. Ich war nicht wirklich traurig darüber.

»Dir ist doch nicht übel?«, fragt der ältere Mann neben mir besorgt und seine Stimme zoomt mich wieder ins Hier und Jetzt.

»Nein, nein, mir geht’s gut!«, antworte ich und lächle, obwohl mir nicht wirklich danach zumute ist. Ich werfe erneut einen Blick aus dem Fenster: Das Meer ist zu sehen, aber es sieht dunkelgrau aus, nicht blau. Der Himmel ist heller als das Meer, aber ebenso grau. Das ist also Island: Grau in Grau.

Es rattert und poltert im Bauch des Flugzeugs.

»Das Fahrwerk«, sagt der Mann neben mir und ich nicke. Wir werden jeden Moment landen. Ich halte mir die Nase zu und blase vorsichtig Luft hinein, um den Druck in meinen Ohren auszugleichen. Diesen Trick hat Magnus mir bei meinem ersten Flug gezeigt. Der ging ins Disneyland Paris, ich durfte im Cockpit sitzen und er hat mir alles erklärt.

Rrrrums. Das Flugzeug setzt auf und rast über die Landebahn. Grünbraune Wiesenflächen fliegen an meinem Fenster vorbei, da und dort mit ein paar weißen Flecken. Hat es hier etwa schon geschneit? Zu Hause war sonniges, mildes Spätherbstwetter. Perfekt für Radausflüge oder Spaziergänge mit Ann-Kathrin. Ich kann es echt nicht fassen, dass ich ihre letzten Tage in München verpasse. Wenn ich zurückkomme, werde ich keine beste Freundin mehr haben.

»Du wirst neue Freunde finden«, hat Nonna zu mir gesagt. Na klar, weil das ja so einfach ist, eine beste Freundin zu ersetzen! Aber wie soll meine Großmutter das verstehen? Sie ist einer dieser Menschen, die immer im Mittelpunkt stehen. Sie hat einen ganzen Schwarm von Freunden, mit denen sie Salsa tanzt, Spanisch lernt, einen veganen Kochkurs oder ein Astrologie-Seminar besucht, ins Kino oder Theater geht und tausend andere Dinge tut.

Ich bin da anders. Ich will keinen Schwarm Freunde, ich will eine beste Freundin. Und zwar nicht irgendeine, sondern Ann-Kathrin.

»Um diese Reise würden dich viele Kids in deinem Alter beneiden«, hat meine Nonna mir erklärt. »Nicht nur, dass du dreimal längere Herbstferien hast als alle anderen, Island ist ein einzigartiges, spannendes Land! Man kann Wale und Robben beobachten, Nordlichter sehen, es gibt Vogelarten, die man sonst nirgends zu Gesicht kriegt. Papageientaucher zum Beispiel! Die sehen aus wie eine Mischung aus Papagei und Pinguin.«

»Du klingst wie ein Island-Werbespot«, hab ich geknurrt, musste dabei aber selbst beinahe lachen.

»Verehrtes Publikum, besuchen Sie Island!«, hat Nonna da mit ihrer Schauspielerinnen-Stimme gerufen. »Sie können dort das unglücklichste Kind der Welt bestaunen, von den Nordlichtern ganz zu schweigen!«

Ich gebe zu, da musste ich dann wirklich lachen.

Als Pilot hat mein Papa Zutritt zu den meisten Bereichen am Flughafen und deshalb angekündigt, dass er schon bei der Passkontrolle auf mich warten würde.

Plötzlich bin ich richtig aufgeregt. Die anderen Passagiere gehen alle so schrecklich langsam! Ich drängle mich an ihnen vorbei, und wirklich, da steht er, an einem der Schalter, wie versprochen, noch in seiner Pilotenuniform – er ist auch erst vor zwei Stunden von einem Flug zurückgekommen – und zum Glück allein. Mein Herz macht einen Sprung, als ich ihn sehe, ich reiße den Arm in die Höhe und winke ihm zu. Auch wenn ich nicht ununterbrochen an ihn denke, seit er wieder in Island lebt – vermissen tu ich ihn doch jede Minute. Und wenn ich ihn dann mal sehe, kommen mir immer dieselben Gedanken: Er ist doch mein Papa! Warum willer nicht bei mir leben? Warum hat er sich für sieentschieden? Ich mag diese Gedanken nicht, sie verderben mir das Wiedersehen. Aber sie sind nun mal da. Und deshalb renne ich ihm auch jetzt nicht entgegen, um ihm um den Hals zu fallen, wie ich es eigentlich möchte, sondern gehe langsam auf ihn zu und sage: »Du hättest nicht hier warten müssen. Ich schaffe das auch alleine.«

»Natürlich tust du das«, sagt er. »Aber ich hätte es nicht mehr so lange ausgehalten.« Und dann umarme ich ihn doch.

»Soll ich dir Reykjavik zeigen, bevor wir fahren?«, fragt Magnus auf Isländisch. Wir sind auf dem Weg zu seinem Auto und das Ganze ist so was wie ein Test, das merke ich an seinem Blick. Er hofft, dass ich automatisch auf Isländisch antworte.

Als ich ganz klein war, hat er immer Isländisch mit mir gesprochen. Aber da ich mich bald auf Deutsch viel besser ausdrücken konnte und nicht verstand, warum ich stattdessen mit Isländisch kämpfen sollte, hat er irgendwann damit aufgehört.

Ich sehe ihn an, als hätte ich absolut keine Ahnung, was er mir sagen will, und mit einem kleinen Seufzer wiederholt er seine Frage auf Deutsch. Wir treten gerade ins Freie – es nieselt, ein kalter Wind bläst und ich ziehe unwillkürlich die Schultern hoch.

»Wie du willst. Meinetwegen muss es nicht sein.«

»Oder möchtest du noch irgendetwas einkaufen?«, hakt er nach. »Hier in der Hauptstadt kriegt man so ziemlich alles, aber im Norden oben sieht es anders aus. Also wenn du irgendwas Bestimmtes brauchst …«

Ich schüttle den Kopf. »Nein. Danke. Ich hab alles.«

»Ok.« Magnus wirkt ein bisschen ratlos. »Also gleich nach Akureyri?«

A-ku-rey-ri. Ich hab den Namen seiner Heimatstadt als kleines Kind gelernt, als er mir Fotos von seiner Familie gezeigt hat. Seit er nach Island gezogen ist, habe ich kein einziges Wort Isländisch mehr gesprochen. Und ich habe auch nicht vor, das jetzt zu ändern.

»Okay«, sage ich nur und zucke erneut mit den Schultern.

»Ist vielleicht auch besser«, meint Magnus, »dann haben wir den Großteil der Strecke noch Tageslicht.« Wir erreichen ein riesiges grünes Auto mit Monsterreifen. Magnus verstaut meinen Koffer, öffnet die Beifahrertür und lässt mich einsteigen. »Die Fahrt dauert etwa fünf Stunden, wenn das Wetter so bleibt …«

»Wieso sollte das Wetter denn nicht so bleiben?«, unterbreche ich ihn erstaunt.

Er grinst ein bisschen. »Hier gibt es einen Spruch: Wenn dir das Wetter in Island nicht gefällt, dann warte zehn Minuten. Starkwind, Regen, Nebel, Sand- oder Schneestürme – kann alles sehr plötzlich kommen. Dann passiert es schon mal, dass man auf einer gesperrten Straße stundenlang im Auto festsitzt. Jedenfalls ist es immer gut, Snacks und genug Wasser dabei zu haben. In der Tüte da findest du beides.« Die Tüte vor meinem Sitz ist bis obenhin gefüllt und platzt aus allen Nähten.

Er grinst ein bisschen verlegen. »Ich wusste nicht so genau, was du jetzt magst, und hab von allem etwas genommen, also falls du Hunger hast oder Durst …«

»Danke«, antworte ich, rühre die Tüte aber nicht an.

Magnus betrachtet mich – irgendwie ein bisschen zu lange.

»Was?«, frage ich unbehaglich.

»Du bist so groß geworden.«

»In den letzten drei Monaten?«, frage ich verblüfft.

»Das auch, aber … ich meine, überhaupt …«

Er will sagen, in den letzten drei Jahren. Drei Jahre, in denen ich ihn nur alle paar Monate gesehen habe.

»Aus Kindern werden Leute, sagt Nonna immer«, erkläre ich, weil es das Einzige ist, was mir darauf einfällt. »Da hat deine Nonna recht«, sagt Magnus lächelnd, steigt ein und lenkt das Auto aus dem Parkplatzgelände.

»Ich muss Sarah schreiben, dass ich gut angekommen bin«, erkläre ich, krame mein Handy hervor und sehe, dass bereits zwei Nachrichten von Mom auf mich warten.

Gut gelandet? Alles gut gegangen? Papa pünktlich? Geht’s dir gut? Wie ist das Wetter?

Dein Flieger ist vor zehn Minuten gelandet, bitte schreib mir gleich, ich bin ein bisschen nervös (Mama allein zu Haus ).

Ich tippe drauflos:

Ja. Ja. Ja. Ja. Kalt. Mama. Ich bin zehn. Alles gut. Aus Kindern werden Leute.

Inzwischen ist Moms dritte Nachricht angekommen:

Dein Vater HAT geschrieben. Aber ich gebe keine Ruhe, bevor ich nicht von dir auch etwas höre. Bitte schreib schnell!

Schnell

Ich vergesse immer, wie alt und weise du bist. Ich hab dich sooooo lieb, mein Hase, wie verrückt .

Einmal durchs Universum und wieder zurück !

Schreib bald wieder!

Bald wieder!

Ich muss lächeln. Meine Mama ist schon cool.

Als ich mein Handy wieder einstecke, stehen wir gerade vor einer roten Ampel und ich bemerke, dass mein Vater mich lächelnd betrachtet.

»Was?«, frage ich misstrauisch.

»Wenn du lachst, siehst du deiner Mutter so unglaublich ähnlich.«

»Und Mama sagt immer, ich hätte genau deine Augen.«

»Die Farbe«, meint Magnus, »Aber nicht die Form.« Er lächelt. »Ja. Wir haben beide islandgrüne Augen.«

Ich sehe aus dem Fenster. »Sehr grün ist es hier aber nicht. Eher grau.«

»Das sind Lavafelder. Ich hab dir doch erzählt, dass Island eine vulkanische Insel ist?«

Ich zucke nur mit den Schultern. Ja, hat er, und Sarah hat mir auch ein bisschen was erzählt, vor meiner Abreise. Dass zum Beispiel vor einigen Jahren ein Vulkan auf Island ausgebrochen ist, dessen Namen niemand aussprechen konnte. Und dass der den Flugverkehr in ganz Europa lahmgelegt hat.

»Eigentlich dürfte es Island gar nicht geben«, sagt mein Vater. »Es ist in der Erdzeit-Geschichte sehr spät entstanden, keiner weiß, warum. Das jüngste Kind von Mutter Erde sozusagen.«

»Ein Nachzügler«, sage ich, denn so haben alle Ann-Kathrins kleinen Bruder genannt, der erst vor einem Jahr auf die Welt gekommen und damit neun Jahre jünger ist als sie und zwölf Jahre jünger als ihre große Schwester.

Magnus lacht. »Genau, ein Nachzügler. Und deshalb ein bisschen anders als seine großen Geschwister, in jeder Hinsicht.«

Plötzlich ist da ein seltsamer Geruch, ziemlich eklig, wie faule Eier. Ich lasse mein Fenster runter, um frische Luft reinzulassen, aber der Gestank wird bloß schlimmer.

»Was stinkt denn hier so schrecklich?«, frage ich und verziehe angewidert das Gesicht.

Mein Vater muss wieder lachen. »Schwefel«, sagt er. »Der Geruch kommt sozusagen direkt aus der Erde.«

»Riecht wie ein Megafurz. Der Nachzügler hat wohl Probleme mit der Verdauung.«

Magnus gluckst in sich hinein. »So kann man es auch sehen.«

Die Landschaft ist eintönig und das gleichmäßige Geräusch des Motors macht mich schläfrig.

»Mach ruhig ein bisschen die Augen zu«, höre ich Papas Stimme. »Es ist eine lange Fahrt.«

Überraschung!

»Wie lang hab ich geschlafen?« Ich gähne und strecke mich. Draußen ist gerade noch ein Rest Dämmerlicht übrig und ich kann die Umrisse einer Bergkette erkennen, die aussieht, als ob jemand mit einer riesigen Säge die Gipfel abgeschnitten hätte. Ich habe noch nie solche Berge gesehen.

»Fast drei Stunden.« Mein Vater wirft einen kurzen Blick zu mir und lächelt. »Krutmúsin min.«

Meine Mutter hat neulich zu mir gesagt, wenn ich schlafe, bin ich immer noch ihr Baby – aber sobald ich die Augen aufmache, altere ich um zehn Jahre. Ich schätze, mein Vater denkt gerade so was Ähnliches.

»Hab ich was verpasst?«

»Einen sehr, sehr langen Tunnel. Einen ziemlich kitschigen Sonnenuntergang. Ein paar Pferdeherden.«

»Pferde?«, frage ich unwillkürlich nach und beiße mir dann sofort auf die Lippe. Ich will nicht, dass er weiß, dass ich die Pferde vermisse.

»Ja, du wirst sie überall sehen, keine Sorge.« Er zögert. »Unsere Nachbarn … sie haben ein Gästehaus und eine kleine Pferdezucht. Touristen können da auch Pferde für Wanderritte mieten. Du könntest wieder mit dem Reiten anfangen, wenn du …«

»Ich glaube nicht, Papa. Danke.«

Nun beißt er sich auf die Lippe. Als ich fünf war, hat er einen Islandpferde-Reitstall in der Nähe von München gefunden. Da war ich dann erst ein Jahr in einem Reit-Kindergarten und danach ein Jahr in der Reitschule. Als Magnus weggezogen ist, hat meine Mutter mir angeboten, mich weiter zum Unterricht zu fahren – aber ich wollte nicht. Der Reiterhof, das war Papazeit. Ich habe die Pferde schrecklich vermisst, vor allem zu Anfang, es hat den ganzen Schmerz darüber, dass mein Vater plötzlich so weit weg war, noch schlimmer gemacht. Vielleicht wäre es mir besser gegangen, wenn ich Moms Angebot angenommen hätte. Ziemlich sicher sogar. Aber ich hab’s trotzdem nicht getan. Pferde und Papa, das hat zusammengehört. Meine Mutter behauptet immer, ich sei der größte Sturkopf der Welt. Ihre beste Freundin Wilma hat mein Horoskop errechnet und erklärt, ich könne nichts dafür, bei einem Stiergeborenen mit Stier-Aszendent sei das nicht anders zu erwarten. Ich müsse aber darauf achten, mir nicht selbst im Weg zu stehen. Keine Ahnung, was das genau heißen soll.

»Wo sind wir?«, frage ich, als das Schweigen ungemütlich wird.

»Hvammstangi«, sagt er. »In fünf Minuten. Da tanken wir kurz. Pinkelpause?«

Ich nicke.

»Na jedenfalls«, nimmt Magnus einen neuen Anlauf, »gibt es auf dem Nachbarhof nicht nur Pferde, sondern auch ein Mädchen in deinem Alter. Ihr werdet bestimmt schnell Freundinnen.«

»Sicher!«, sage ich und nicke. »Du bist ja bestimmt auch mit allen Männern befreundet, die gleich alt sind wie du!«

Magnus wirft mir einen beinahe erschrockenen Blick zu. Okay, das sollte nicht ganz so zickig rüberkommen, wie es geklungen hat, aber es ist doch wahr! Ich weiß nicht, wieso Erwachsene immer von Kindern erwarten, dass sie sich glänzend verstehen, nur weil sie zufällig gleich alt sind!

»Nein, natürlich nicht, aber …« Er sucht nach Worten. »Es ist ein Glücksfall. Wir sind außerhalb der Stadt und bis zum nächsten Nachbarn ist es so weit, dass man fahren oder reiten muss. Salka freut sich jedenfalls schon, dass du kommst.«

Ich denke an Ann-Kathrin und daran, dass niemand jemals ihren Platz einnehmen kann. Beinahe fange ich an zu heulen und drehe vorsichtshalber meinen Kopf auf die Seite, als wollte ich aus dem Fenster schauen.

»Und Hrönn«, fährt Magnus fort, »Hrönn freut sich auch schon sehr, dass du endlich kommst! Sie überlegt seit Wochen, was wir alles mit dir unternehmen könnten und was wir dir unbedingt zeigen müssen …«

Wir, wir, wir, denke ich. Er und Hrönn, das ist »wir«. Und ich bin bloß zu Besuch.

»Sie hat mich gelöchert, was deine Lieblingsfarben sind«, fährt er fort. »Sie hat Vorhänge für dein Zimmer genäht und Kissenhüllen, sie hat sich wirklich viel Mühe gemacht.«

Bevor ich darauf etwas sagen kann, schwärmt er schon weiter: »Überhaupt, was sie aus dem alten Haus gemacht hat, du wirst staunen, wie gemütlich es ist und wie schön. Sie hat einen tollen Geschmack. Und sie hat alles selber gemacht, jede Kleinigkeit.«

Ich will fast schon fragen, ob sie auch die Kleiderhaken selbst geschnitzt hat, aber ich habe zu viel Angst, die Antwort könnte »Ja!« lauten. Wahrscheinlich kann Hrönn auch übers Wasser gehen.

»Hrönn ist wirklich fantastisch«, setzt er noch eins drauf und seine Stimme geht über vor Stolz. Er lächelt, wahrscheinlich ohne es zu merken, und seine Augen strahlen, als er mir einen Seitenblick zuwirft. »Jeder liebt sie, es ist unmöglich sie nicht zu mögen.«

Na, das wollen wir doch erst mal sehen. Das sage ich natürlich nicht laut, aber ich würde es gerne. Ich hab’s kapiert!, würde ich am liebsten rufen. Sie ist die tollste Frau der Welt! Blöderweise ist sie aber auch daran schuld, dass du jetzt drei Flugstunden von mir entfernt bist statt wie früher drei Gehminuten! Und außerdem sollst du auf mich