Mein geflicktes Herz - Erna Gabath - E-Book

Mein geflicktes Herz E-Book

Erna Gabath

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Beschreibung

Eine Geschichte mitten aus dem Leben, authentisch und schlicht erzählt von Erna Gabath. Aufgewachsen in Südbaden, schildert sie die ereignisreichen Jahre seit ihrer Geburt 1925 bis heute. Ihr wacher Blick zurück macht sie zur Zeugin eines Jahrhunderts. Und ihre Aufgeschlossenheit der Gegenwart gegenüber lässt sie zur Botschafterin werden für diesen besonderen Lebensmut, trotz harter und schwerer Zeiten auch im hohen Alter gerne nach vorn zu schauen - und jeden Tag neu anzunehmen. Die unverschnörkelt geschilderten Episoden aus ihrem Leben als Mutter, als Ehefrau und letztendlich als ideenreiche Geschäftsfrau reihen sich aneinander und ermöglichen den spannenden Seitenblick auf eine ganze Epoche. Was so unaufgeregt erzählt wird, birgt neben erstaunlich kreativen Überlebensstrategien auch erschütternde Erfahrungen. Ihr Lebenswille fesselt nicht nur Zeitgenossen, sondern genauso die Leser jüngerer Generationen. Jetzt in der 2. Auflage.

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Seitenzahl: 159

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INHALT

Die Prophezeiung

Sorgenfrei und sorgenvoll

1925 bis 1945

Fast eine kleine Schande

Glücklich als Kindergärtnerin

Erste Freundschaft

Die Elsässer

Wie habe ich das geschafft?

1945 bis 1963

Heimkehrer

Keinen aus dem Ort!

Da war ich wer

Das „Café Prophet"

„Hast du keinen Stolz?"

Der Zeit voraus

ab 1963 ab 2014

Neues Glück?

Auf Erfolgskurs

Doppelter Abschied

Eine gute Geschäftsfrau

Die Polizei als Freund und Helfer

Der Entschluss zum Buch

Nachtrag

Die Prophezeiung

Das Haus meiner Eltern hatte immer offene Türen und um Hilfe bittenden Menschen wurde stets geholfen.

Am 2. Juli 1925, es war ein Donnerstag, zogen Zigeuner – wie man damals noch sagte – durch unser Dorf. Eine der Frauen klopfte an die Tür meines Elternhauses, meine Großmutter öffnete ihr und genau in diesem Augenblick tat ich den ersten Schrei meines Lebens. Da sagte die Zigeunerin: „Grad ist ein Mädel auf die Welt gekommen. Das gibt einmal eine gute Geschäftsfrau. Die wird 102 Jahre alt.“ So erzählte man es mir.

Das mit dem Mädel stimmte, die Beurteilung, ob ich eine gute Geschäftsfrau geworden bin, überlasse ich meinen Lesern und ob ich 102 Jahre alt werde, wird die Zukunft zeigen. Eines aber steht fest: Es ist mir nichts geschenkt worden, ich habe viel gelitten und hart gekämpft, aber trotzdem möchte ich keinen Tag meines Lebens missen.

Sorgenfrei und sorgenvoll

1925 bis 1945

Fast eine kleine Schande

Ich bin 1925 in einem kleinen Dorf in Südbaden geboren – damit fiel meine Kindheit in die Zeit der Weltwirtschaftskrise und in den aufkommenden Nationalsozialismus, meine Jugend fand während des Zweiten Weltkriegs statt und als ich mit 21 Jahren volljährig war, befand sich Deutschland mitten in der Nachkriegszeit. Gewiss, es war eine harte Zeit, aber es war trotzdem auch eine gute Zeit. Das habe ich vor allem meinen Eltern Joseph und Maria Bayer zu verdanken.

Wir waren fünf Kinder: Mein Bruder Eugen war der Älteste, nach ihm kam ich auf die Welt, dann folgten meine Geschwister Hans, Laura und Kilian. In den 1920er Jahren waren Familien mit fünf Kindern eine Seltenheit und auch im Kreis der Verwandten meiner Eltern war das außergewöhnlich. Fünf Kinder zu haben, war fast eine kleine Schande. Das bekam meine Familie sowohl von Seiten der Dorfbevölkerung, als auch von Seiten der Verwandtschaft deutlich zu spüren. Die Brüder und Schwestern meiner Eltern hatten jeweils nur ein oder zwei Kinder – lauter Söhne, die dann auch noch alle studierten. Auf uns Bayer-Kinder schaute man immer ein wenig herab. Meine Eltern taten aber ihr Bestes, um das auszugleichen. Sie nahmen sich – ungewöhnlich für die damalige Zeit – sehr viel Zeit für uns Kinder. Und sie waren ausgesprochen aufgeschlossen, was unsere Erziehung anging (davon später mehr). Sie schufteten und schufteten und schafften es, dass es uns Kindern auch während des Krieges an nichts mangelte. Mein Geburtsort Ringsheim hatte in den 1920er/30er Jahren um die 1500 Einwohner und die Menschen lebten von der Landwirtschaft und von der Arbeit in den Zigarrenfabriken. Auch wir waren Selbstversorger: Meine Eltern hielten Kühe und Schweine, wir bewirtschafteten Reben, wir bauten Kartoffeln und vielerlei Gemüse an und wir besaßen große Obstgärten. Wir Kinder mussten früh und hart in der Landwirtschaft mitarbeiten und es ist uns nichts geschenkt worden. Aber meine Eltern waren nicht wie die anderen, sie waren fortschrittlicher und ihrer Zeit im Denken sowie in der Erziehung voraus. So hatte ich einerseits das Gefühl, dass die anderen auf uns herabschauten, andererseits aber fühlte ich, dass wir etwas „Besseres“ waren.

Das hat mich geprägt.

Die Familie bei der Arbeit in den Reben: Mein Vater, mein Großvater Ignaz Baumann und meine Mutter stehen in der hinteren Reihe. Vorne mein Bruder Eugen, mein Cousin Arthur, sowie meine Geschwister Hans, Kilian und Laura (von links). Ich war einen Tag vorher beim Spielen vom Dach gefallen und hatte mir den linken Arm gebrochen. Deshalb bin ich nicht mit auf dem Bild.

Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs war mein Vater 16 Jahre alt, mit 17 wurde er eingezogen. Nach Ringsheim kehrte er verletzt zurück: Eine Gewehrkugel hatte ihm einen Nerv in der Handfläche durchschlagen, so dass sich die Hand verkrümmte. Trotzdem aber konnte er damit alle Arbeiten erledigen. Ursprünglich sollte mein Vater eine Ausbildung bei einem Verwandten in Karlsruhe machen. Dieser hatte keine Kinder und hätte meinen Vater gerne als Nachfolger gehabt. Doch der Verwandte starb kurz vor Kriegsende, so dass mein Vater nie eine Ausbildung machte. Eine Zeit lang war er arbeitslos, schließlich fand er eine Anstellung als sogenannter Akquisiteur beim Führer-Verlag in Karlsruhe. Er war einer der ersten Akquisiteure dort. Der Führer-Verlag gab ab 1927 die Zeitung „Der Führer“ heraus, das Presseorgan der NSDAP im Gau Baden. Die Zeitung erschien zunächst wöchentlich, ab 1931 dann täglich. Gedruckt wurden sowohl Morgen- als auch Abendausgaben. Als Akquisiteur war mein Vater für den Verkauf von Abonnements zuständig. Und er machte wirklich gute Geschäfte.

Viele Menschen fühlten sich nach der „Machtergreifung“ durch Hitler im Januar 1933 vom Nationalsozialismus angezogen und wollten die Zeitung lesen. Hinzu kam, dass mein Vater ein guter Verkäufer war. Er war nicht nur ein schöner Mann, sondern konnte sich auch präsentieren und mit Menschen umgehen. Meine Geschwister und ich sahen unseren Vater wenig in dieser Zeit: Er verließ Ringsheim am frühen Montagmorgen mit dem Zug und kehrte oft erst am Samstagabend aus Karlsruhe zurück. Samstags traf er die meisten Menschen zu Hause an, an diesem Tag machte er die besten Geschäfte. Dennoch war er sich auch nach einer Heimkehr am späteren Nachmittag nicht zu schade, um mit meiner Mutter noch zum Arbeiten aufs Feld zu fahren. Wir Kinder waren

sehr stolz auf unseren Vater. Wenn einer in der Schule nach dem Beruf des Vaters gefragt wurde, konnten wir bedeutungsvoll sagen: „Er ist Akquisiteur.“ „Bezieher-Werber“ sagte man damals auf gut Deutsch. Am Sonntag blieb oft noch die Zeit, um mit uns Kindern einen Ausflug zu machen.

Mein Vater sah nicht nur gut aus – er war gleichzeitig auch ein sehr stolzer Mann. Geschenkt bekommen wollte er jedenfalls nichts, auch nicht von den Nationalsozialisten. Er wollte seine Familie aus eigener Kraft durchbringen. Das zeigt diese Episode aus dem Jahr 1933:

Es klingelte. Vor der Tür standen zwei SA-Männer, der eine trug einen großen Sack über der Schulter. Sie meinten, sie kämen im Auftrag des Winterhilfswerks und brächten etwas für die Kinder. Meine Mutter war überrascht, führte die Männer aber in das Wohnzimmer. Auf dem Tisch lag stets eine schöne Tischdecke mit einem separaten Läufer darüber. Den Tischläufer mit aufwendiger Richelieu-Stickerei – einer besonderen Form der Weißstickerei – hatte meine Mutter selbst angefertigt. Wie so vieles, brachte sie es mir später bei.

„Machen Sie die Tischdecken da weg“, meinte einer der beiden geringschätzig. Mit Schwung leerte er den Sack aus: heraus purzelten lauter Lebensmittel. Für uns Kinder war dies eine Wahnsinnsfreude. In diesem Moment betrat mein Vater das Wohnzimmer: „Was macht ihr da?“, fuhr er die Männer an.

„Wir besuchen kinderreiche Familien.“

„Ich brauche euch nicht. Ich kriege meine Kinder alleine durch. Nehmt euer Zeug wieder mit.“

„Das dürfen wir aber nicht“, lautete die Antwort.

Mein Vater überlegte kurz und sagte: „Gut, aber dann traut euch nicht noch ein zweites Mal in mein Haus.“

Unter den Lebensmitteln befand sich ein Paket Linsen und als wir dieses öffneten, waren lauter kleine schwarze Pünktchen darin, die sich als Ungeziefer entpuppten. Meine Mutter verfütterte die Linsen kurzerhand an unser Schwein.

Als Akquisiteur beim Führer-Verlag musste mein Vater zwangsläufig Mitglied der NSDAP sein. Und sicher war er das auch mit einer gewissen Überzeugung, denn schließlich verdiente er beim Verlag – und damit mit den Ideen der Nazis – gutes Geld. Über Hitler und die Partei sprach man in meiner Familie nicht; zumindest nicht im Beisein von uns Kindern. Meine Eltern, wie auch meine Großeltern väterlicher- und mütterlicherseits, waren aber auch strenggläubige Katholiken, die ihren Glauben pflegten und weitergaben. Jeden Morgen wurde ganz selbstverständlich ein Tischgebet gesprochen und natürlich ging man jeden Sonntag in die Kirche. Schon als junges Mädel schöpfte ich große Kraft aus dem

Glauben, was ich sicher von meiner Mutter gelernt habe. Eine Zeit lang konnte ich mir sogar vorstellen, Nonne zu werden. Ich besuchte Seminare in einer Klosterschule in Gengenbach und überlegte, ob ich nicht gleich als Novizin dort bleiben sollte. Meine Mutter meinte aber: „Für eine Nonne bist du viel zu lebenslustig.“ Vermutlich hatte sie Recht.

Der Zeit entsprechend wurden wir Bayer-Kinder auch Mitglieder in den Jugendorganisationen der NSDAP, also in der Hitler-Jugend, beziehungsweise im Bund deutscher Mädel (BDM). Ob man dort hingehen sollte oder nicht, wurde weder besprochen, noch wurde darüber debattiert – das war eine unumstößliche Tatsache. Ich hatte nie das Gefühl, dass unsere Aktivitäten dort etwas mit „großer“ Politik zu tun hatten. Wir trafen uns zu Liederabenden, wir machten Ausflüge und veranstalteten Schnitzeljagden, Spielenachmittage sowie Turnfeste. Große Aufmärsche gab es bei uns nicht. Für Kinder war damals auf einem Dorf wie Ringsheim wahrlich wenig geboten, umso begeisterter waren wir, dass es ein bisschen Abwechslung gab. Das Gedankengut der Nationalsozialisten haben wir sicher nicht in all seiner schrecklichen Konsequenz erfasst. Im Alter von 18 Jahren schieden Mädchen aus dem BDM aus und wechselten zur Organisation „Glaube und Schönheit“. Bei mir war das bereits im Alter von 17 Jahren der Fall, als ich die jüngste Kindergartenleiterin im Gau Baden, beziehungsweise Württemberg war. Bald leitete ich Gymnastik- und Turngruppen. War ich deshalb eine Nationalsozialistin? Sicher nicht, war doch Gerda Heilbronn meine allerbeste Schulfreundin. Gerdas Vater war im Viehhandel tätig – und er war Jude. Gerda, die wie ihre Mutter und ihre ältere Schwester Hilde katholisch war, war gemäß der Nomenklatur der Nazis also ein „Mischling ersten Grades“. Das wussten wir. Darum gekümmert oder daran gestoßen, dass ich Umgang mit Gerda hatte, haben sich meine Eltern nie.

Unzählige Nachmittage verbrachte ich in Gerdas Elternhaus; ich war dort immer willkommen. In diesem Haus lernte ich sehr viel Gutes und Schönes. Gerdas Mutter betrieb in Ringsheim ein Kolonialwarengeschäft. Die Familie besaß vieles, was es in unserem Haushalt nicht gab, etwa feines Geschirr oder schöne Tischdekorationen. Sie pflegten auch andere Umgangsformen und sie bewegten sich auch in anderen Kreisen. Einmal kam eine Bekannte von Gerdas Mutter und erklärte uns Mädchen, wie man sich schminkte. Neben Heilbronners wohnte der Patensohn meiner Großmutter. Er war Prokurist einer großen Südfrüchtefirma aus dem nahegelegenen Kenzingen. Südfrüchte! Früh lernte ich so Orangen, Datteln und andere Delikatessen, wie etwa Salami, kennen. Gemeinsam mit Gerda durfte ich einmal nach Straßburg zu einer Verwandten fahren. Schon die Fahrt dorthin war etwas Besonderes, als ich dann aber die Wohnung der Bekannten sah, die mit den exklusivsten Möbeln ausgestattet war, verschlug es mir den Atem. Für mich war das eine andere Welt. Gerdas Vater war immer viel unterwegs und so fiel es mir zunächst nicht auf, als ich ihn gar nicht mehr zu Gesicht bekam. Darüber sprach man aber nicht. Es hieß dann irgendwann, der Vater mache Geschäfte und sei „weg“. Gerda selbst ließ sich überhaupt nichts anmerken und redete auch nicht über ihn. Dass er ins KZ gekommen und vergast worden war, erfuhren wir erst nach Kriegsende. Allerdings nicht von Gerda, sondern nur durch Gerede im Dorf.

Wir wohnten im Haus meiner Großeltern väterlicherseits. Robert Bayer, mein Großvater, war Schumacher und hatte das große Haus in der Neudorfstraße 1898, im Geburtsjahr meines Vaters, gebaut. Die Werkstatt existierte nicht mehr, Großvater war bereits in Rente, allerdings war noch ein großer Teil seiner Werkzeuge vorhanden, etwa der Dreifuß, die Hämmer, die Feilen, diverse Holzstifte, aber auch Schuhmacherahlen sowie Leisten. Opa zeigte mir, wie man Schuhe in Handarbeit herstellte und ich war lernfähig. Mein Wissen war uns nach dem Krieg von Nutzen, als wir über die Elsässer – über diese werde ich noch ausführlich berichten – an Leder und diverse Riemen kamen. Daraus fertigte ich dann entsprechende Schuhe. Diese sahen wirklich gut aus.

Die Großeltern bewohnten zwei der vier Zimmer im Erdgeschoss. Die beiden anderen Räume dienten als Elternschlafzimmer sowie als unser Wohnzimmer. Wir Kinder hatten unser Reich in den drei Zimmern im oberen Stockwerk. Meine Großmutter Amalia empfand ihre Schwiegertochter stets als ihre Konkurrentin, so dass das Leben für meine Mutter in diesem Haus kein Honigschlecken war. Gekocht wurde getrennt, möglicherweise um größere Reibereien zu verhindern. Für mich hatte das einen großen Vorteil, denn als Kind war ich arg „schneigig“, wie man bei uns im Dialekt sagt. Ich aß einfach nicht alles. Wenn ich wieder einmal lustlos auf etwas herumkaute, meinte mein Vater zu mir: „Schmeckt es dir wieder nicht? Du iß‘s wie eine Geis auf den vordern Zähn.“ Niemand störte sich daran, wenn ich dann zu meinen Großeltern lief, um zu sehen, ob es dort etwas gab, was ich lieber mochte. Ich war der Liebling meiner Großeltern, was mit sich brachte, dass sie mich fast überall mit hinnahmen. Kaum konnte ich laufen, da fuhren sie mit mir nach Freiburg ins bekannte „Bratwurstglöckle“. Noch heute liegt mir der Geschmack der Wurst auf der Zunge. Sonntags durfte ich regelmäßig mit ihnen ins fünf Kilometer entfernte Dorf Rust fahren, wo allerlei Feste geboten waren.

Goldene Hochzeit meiner Großeltern Amalia und Robert Bayer 1938. Auf dem Foto bin ich als Fünfte von links in der zweiten Reihe zu sehen.

Als junges Mädchen

Gern gesehen war ich auch bei meinem Großvater Ignaz Baumann, der gerade um die nächste Straßenecke herum wohnte. Meine Großmutter war verstorben, als ich gerade ein Jahr alt war und so lebte er dort allein. Er hatte eine kleine Zigarrenfabrik in Ringsheim mit 16 Arbeitern besessen. Wann genau er die Fabrik aufgegeben hat, weiß ich nicht, aber meine Mutter erzählte, dass nach dem Ersten Weltkrieg sie selbst und einer ihrer Brüder – er hatte im Krieg einen Arm verloren – dort noch arbeiteten. Eigentlich war es wie ein kleiner Familienbetrieb, denn auch eine unverheiratete Base hatte eine Beschäftigung in der Fabrik gefunden. Tabakanbau und -verarbeitung haben in unserer Region eine lange Tradition: Den Grundstein hierzu legte Carl Ludwig Lotzbeck, als er 1774 eine Schnupftabakfabrik in Lahr gründete. Auf Veranlassung von Lotzbeck begannen 1790 in Kappel und in Rust einige Bauern mit dem Tabakanbau. Um 1900 war Tabak für die Landwirte zu einer der wichtigsten Einnahmequellen geworden, denn es gab einen gesetzlichen Beimischungszwang für heimischen Tabak in deutschen Zigarren und Zigaretten. Rund 32000 Tabakpflanzer bauten Tabak auf einer Fläche von gut 6000 Hektar an. Verarbeitet wurde der Tabak in etwa 300 Fabriken. Im Keller des Hauses meines Großvaters stand noch der große, etwa 2,50 Meter hohe Fermentierofen. Auch die Formen, in denen die Zigarren gepresst wurden, verschiedene Bleche und die besonders geformten Messer existierten noch. Dass meine Mutter nicht nur Tabak fermentieren, sondern auch Zigarren drehen konnte – schließlich hatte sie von Kindesbeinen alles mitbekommen und auch mitgearbeitet –, kam uns während des Krieges zu Gute, als wir Zigarren für den Schwarzmarkt herstellten. Noch heute beherrsche ich die verschiedenen Handbewegungen im Schlaf. Für Zigarren bekamen wir alles, was man offiziell nicht mehr kaufen konnte, oder was wir selbst nicht anbauten, etwa Reis. Noch einem anderen, sehr wohlschmeckendem Zweck diente der große Ofen: Von 1933 bis Kriegsbeginn war mein Vater jedes Jahr für vier bis sechs Wochen als Reserveoffizier zu Übungen eingezogen. Bevor er nach Hause kam, buk meine Mutter im Fermentierofen große Bleche mit Schneckennudeln oder mit Marmorkuchen, auf den sie mit Sahne „Herzlich willkommen“ schrieb. Auch dem Brotbacken diente der Ofen. Jede Woche buk meine Mutter um die zehn Laib Brot. Wir waren ja auch viele Esser.

Meine Mutter wollte eigentlich Ärztin werden, aber sie hatte drei Brüder, da hieß es: „Du musst nichts lernen. Du bleibst daheim bis du heiratest.“ Nach dem Ersten Weltkrieg, sie war 22 Jahre alt, überlegte sie, ob sie nicht Hebamme werden könnte – wenn schon aus der Ärztin nichts geworden war. Da meinten ihre „Herren Brüder“: „Wenn du das lernst, dann essen wir nichts mehr von dem Tisch, an dem du sitzt.“ So verklemmt war man damals. Meine Eltern heirateten schließlich 1922, danach kamen fünf Kinder auf die Welt. Deshalb blieb meine Mutter Hausfrau.

Großvater Ignaz aß bereits jeden Morgen weiße Brötchen, was absolut ungewöhnlich war. Die Weckle waren viergeteilt und wir sagten „Kinderärschle“ dazu. Zum Frühstück trank er außerdem guten, frisch gebrühten Bohnenkaffee. Wenn ich nicht zur Schule musste, ließen wir uns die Brötchen gemeinsam schmecken. Schon als junges Mädchen musste ich außerdem samstags zu ihm gehen, um im Haushalt zu helfen. Gerne ließ er mich Staub wischen. Das Wohnzimmer hatte an den Wänden eine Holzvertäfelung mit vielen Ecken und Kanten. War ich fertig, überprüfte er mit dem Zeigefinger, ob ich auch wirklich an jeder Stelle gewischt hatte. „Schau mal, das Fingerle ist noch nicht ganz sauber“, hieß es dann. Wahrscheinlich bin ich deswegen etwas pingelig geworden. Als er älter wurde und es ihm schlechter ging, musste ich in seinem Haus übernachten. Trotzdem: Die Großeltern waren einmalig gut zu mir.

Nur als ich mit Gerda befreundet war, mischte sich Großvater Ignaz einmal ein. Er traf sich regelmäßig mit einer Clique älterer Männer, die eindeutig zu Hitler tendierten. Jedenfalls meinte er zu mir: „Du, Mädel, das ist für dich kein Umgang.“ Mehr passierte aber nicht.

Glücklich als Kindergärtnerin

1938 führten die Nationalsozialisten das sogenannte Pflichtjahr ein. Dieses sah für alle Frauen unter 25 Jahren ein Jahr Arbeit „in der Land- und Hauswirtschaft“, wie es hieß, vor. Ohne Nachweis über das geleistete Pflichtjahr konnte man keine Lehre oder eine andere Ausbildung beginnen. Mein Pflichtjahr begann nach Ostern 1940 mit dem Ende meiner Volksschulzeit in Ringsheim.

An die Schulzeit habe ich keine besonderen Erinnerungen mehr. Ich lernte gerne und war immer eine der Besten. Unter dem einen Lehrer litt man mehr als unter dem anderen, aber das war sicher normal. Ein Erlebnis in der Schulzeit habe ich allerdings bis heute nicht verarbeitet: Es hieß, wenn man im Jahresdurchschnitt eine 2,5 erreicht hatte, würde man im Zeugnis noch eine Zwei bekommen. Bei mir war dies in einem der Fächer der Fall, allerdings stand im Zeugnis dann eine Drei. Ich war entsetzt. Erstens war das meine erste Drei und zweitens hatte eine Mitschülerin, die bei 2,7 gelandet war, tatsächlich eine Zwei erhalten. Ich empfand das als himmelschreiende Ungerechtigkeit. In der siebten oder achten Klasse schickte man uns alle in den Wald, wo wir Schützengräben ausheben mussten. Für uns Kinder war das spannend, wir hatten keine Ahnung, um was es eigentlich ging.

Für mein Pflichtjahr hatte ich mir eine Gärtnerei in Ettenheim ausgesucht. Anfangs radelte ich auf der Landstraße dorthin. Es war ein Katzensprung von knapp vier Kilometern. Dann begannen die Truppenverschiebungen und -bewegungen, so dass auf der Landstraße vor lauter Soldaten, Kolonnen, Pferden und Lastwagen kein Durchkommen mehr war. Also wich ich aus: Ich fuhr nun über den Kahlenberg, wobei ich mein Rad aber schieben musste, so steil ging es hinauf.