Mein Körper, mein Feind - Claire Beeken - E-Book

Mein Körper, mein Feind E-Book

Claire Beeken

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Beschreibung

Als ihr Großvater sie missbraucht, ist für Claire nichts mehr so wie vorher. Ihr Lebenswille ist gebrochen, sie will unsichtbar werden indem sie nichts mehr isst, damit der Körper, den sie so hasst, verschwindet. Mit nur zehn ist sie so dünn, dass ihre Eltern sie das erste Mal in eine Klinik einweisen. Doch dem eigentlichen Grund für ihre Magersucht kommt niemand auf die Spur, und so hungert Claire weiter, bist es fast zu spät ist.

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinnenTitelImpressumAnmerkungWidmungErstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebtes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes KapitelVierzehntes KapitelFünfzehntes KapitelSechzehntes KapitelSiebzehntes KapitelAchtzehntes KapitelNeunzehntes KapitelZwanzigstes KapitelEinundzwanzigstes KapitelNachwortAdressen

Über dieses Buch

Als ihr Großvater sie missbraucht, ist für Claire nichts mehr so wie vorher. Ihr Lebenswille ist gebrochen, sie will unsichtbar werden indem sie nichts mehr isst, damit der Körper, den sie so hasst, verschwindet. Mit nur zehn ist sie so dünn, dass ihre Eltern sie das erste Mal in eine Klinik einweisen. Doch dem eigentlichen Grund für ihre Magersucht kommt niemand auf die Spur, und so hungert Claire weiter, bist es fast zu spät ist.

Über die Autorinnen

Claire Beeken leitet die von ihr gegründete Selbsthilfegruppe Caraline, die Magersüchtige, Bulimiker und zwanghaft Übergewichtige behandelt.

Rosanna Greenstreet ist eine bekannte britische Journalistin, die seit 27 Jahren eine wöchentliche Kolumne im Guardian schreibt.

BEEKEN/GREENSTREET

MEIN KÖRPER, MEIN FEIND

Wie jahrelanger Missbrauch mich in die Magersucht trieb

Aus dem Englischen von Barbara Ritterbach

BASTEI ENTERTAINMENT

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

© Copyright 1997 by Rosanna Greenstreet und Claire Beeken

Originalausgabe: »My body, my enemy: My thirteen year battle with anorexia nervosa«

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung eines Motives © shutterstock: Tinxi

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-3755-6

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Anmerkung

Zum Schutze der Unschuldigen – und der Schuldigen – habe ich einige Namen geändert bzw. weggelassen. Ich bin froh, dass ich inzwischen in der Lage bin, meine eigene Lebensgeschichte zu erzählen; umso mehr belastet es mich, dass ich andere weiterhin schützen muss.

Claire Beeken

Ich widme dieses Buch meiner lieben Freundin Caraline. Caraline, ich habe Dir versprochen, dass Dein Name noch zu meinen Lebzeiten in aller Munde sein würde. Ich habe mein Versprechen gehalten.

Claire Beeken

Erstes Kapitel

Der Mann, der mein Leben auf dem Gewissen hat, war als Weihnachtsmann verkleidet. Wir – Großmutter, meine Eltern, mein großer Bruder Michael, mein kleines Schwesterchen Lisa und ich – saßen im Wohnzimmer, als er mit seinem weißen Bart, dem roten Umhang und einem polternden »Hohoho« hereinkam. Damals – ich war gerade drei – erkannte ich ihn nicht; und das Merkwürdige ist, dass ich, auch wenn ich mir heute den Videofilm von Weihnachten 1973 anschaue, in ihm nicht meinen Großvater sehe.

Großvater und Großmutter waren die Eltern meines Vaters. Sie lebten in Luton in derselben Straße wie wir, und wir hatten ein sehr enges Verhältnis zu ihnen. Jeden Sonntag kamen sie entweder zum Mittagessen zu uns, oder wir gingen zu ihnen. Michael und ich himmelten die beiden an, und es gab keinen Grund, das nicht zu tun. Großmutter war rundlich und machte immer irgendeine Diät, aber sie aß einfach zu gern. Sie hatte dunkelgraues Haar und rauchte damals.

Auch Großvater war Raucher. Er liebte seine Pfeife und hatte sie ständig im Mund, sogar dann, wenn sie gar nicht an war. Er hatte eine Hakennase, und sein schlohweißes Haar wurde unter dem Filzhut, den er dauernd trug, langsam spärlich. Seine sommersprossige Haut ließ darauf schließen, dass er früher einmal kupferrotes Haar gehabt hatte. Michael und ich hatten Großvater besonders gern, weil er immer Süßigkeiten für uns hatte. Auch Sabre, unser Hund, schnüffelte ständig an seinen Hosentaschen. Großvater kramte daraufhin meist in seiner Tasche, zog sein weißes Taschentuch und die Pfefferminzbonbons hervor, die er immer bei sich hatte, dann grub er noch ein bisschen tiefer und überraschte jeden von uns mit einem Schokoriegel.

Unsere Eltern waren arm und hatten es schwer, als wir klein waren. Papa arbeitete auf der anderen Straßenseite in einer Fabrik, die Kugellager herstellte. Sobald er abends nach Hause kam, verschwand Mama zu ihrem Putzjob in dieselbe Fabrik. Mein Vater arbeitete auch an den Wochenenden, und sonntags saß Mama mit uns Kindern immer vor dem Fernseher, und wir schauten uns den Nachmittagsfilm an. Ich schwärmte für die alten Elvis-Filme; meine Mutter sah alles gern, solange Mario Lanza darin vorkam. Manchmal zeigte Mama aus dem Fenster und sagte: »Guckt mal, da ist Papa.« Wir drehten uns um, und tatsächlich, da stand er auf dem Dach der Fabrik, in einem schwarzen Kittel, auf dem der Fabrikname aufgedruckt war, und winkte uns zu.

Als meine Schwester drei Monate alt war, waren die finanziellen Probleme meiner Eltern ihre kleinste Sorge. Lisa litt an Atemschwierigkeiten, und zunächst vermutete man, es handele sich um Mukoviszidose. Schließlich diagnostizierte man schweres Asthma, und die Ärzte sagten meinen Eltern, dass Lisa mit aller Wahrscheinlichkeit vor ihrem 18. Geburtstag sterben würde. Meine armen Eltern waren ständig mit Lisa im Krankenhaus und mein Bruder und ich immer häufiger bei Großmutter zu Besuch.

Großmutter war eine tolle Köchin – sie konnte leckere Pfannkuchen backen und machte die wunderbarsten Bratkartoffeln. Sie kochte mit ziemlich viel Fett; der Geruch stieg einem in die Nase, sobald man zur Tür hereinkam. Großmutter und Großvater besaßen ein typisches Alte-Leute-Haus: Im Flur lag ein braun-orange gemusterter Teppich, und im Wohnzimmer standen Großmutters Orgel und in einer länglichen, altmodischen Vitrine ein Schallplattenspieler. Die Schallplatten gehörten Großvater; er hörte gern populäre Songs wie ›Downtown‹ von Petula Clark oder ›Stupid Cupid‹ von Connie Francis. Der Kamin verschwand fast völlig unter einem Wust alter Familienfotos, und an der gegenüberliegenden Wand hing ein Teppich mit einem Hirsch darauf – ich liebte diesen Teppich über alles.

Die Treppe wand sich hinauf zum ersten Schlafzimmer, das Großvater bewohnte. Es war ein karger Raum mit einem Kleiderschrank und zwei einzelnen Betten. Neben dem Bett lagen keine Bücher, denn er las nicht. Daneben war die Toilette mit der knarrenden Tür und dem kalten Linoleumboden. Hier roch es nach Krankenhaus, und manchmal gab es statt Toilettenpapier nur ein Stück Zeitung. Im Badezimmer stand eine Wanne aus weißer Emaille mit Kalkablagerungen an den Wasserhähnen – dennoch war das Haus nicht schmutzig, nur alt.

Meine Großeltern hatten getrennte Schlafzimmer; in Großmutters standen ein Doppelbett, ein Waschtisch und eine laut tickende Uhr. Neben dem Bett lagen immer Bücher aus der Bibliothek, von Catherine Cookson oder Jean Plaidy, eine Lesebrille mit dicken Gläsern und religiöse Dinge wie Rosenkränze oder Andachtsbildchen. Schließlich gab es noch einen winzigen Abstellraum, in dem Großmutters große braune Nähmaschine untergebracht war, mit den faszinierenden Pedalen, auf die ich so gern trat.

Der Garten meiner Großeltern war eine Sonnenoase. Man machte die Küchentür auf und lief mit zwei Schritten zu dem Kohlenbunker hinunter, von dem wir Kinder liebend gern hinuntersprangen. »Runter mit euch!«, brüllten die Erwachsenen dann jedes Mal. Aber wir wussten, dass Großvater uns dort oben hinaufsetzte, wenn wir lieb waren. Wir durften uns dann nicht rühren, bis er uns wieder hinunter hob, damit wir uns nicht wehtaten. Ein schmaler Betonweg führte durch den Garten, und auf jeder Seite stand ein Apfelbaum. Hinter den Bäumen lag der Schuppen, in dem Großvater schreinerte. Er hatte früher als Zimmermann gearbeitet und konnte die tollsten Möbelstücke anfertigen.

Ich war sieben, als Großvater in Rente ging; ich erinnere mich noch gut daran. Mein Vater hat damals auf dem Fest ein Foto von mir gemacht – ich trug ein blaugepunktetes Kleid und zwei pinkfarbene Schleifen im Haar.

Mit neun Jahren fasst er mich zum ersten Mal an. Seit kurzer Zeit erlauben mir meine Eltern, alleine Tee zu kochen, und ich kann es kaum erwarten, ihm meine neue Fertigkeit vorzuführen. Großmutter ist nicht zu Hause, und ich fühle mich sehr erwachsen, als ich in der Küche stehe, darauf warte, dass das Wasser endlich kocht, sorgfältig die richtige Menge Teeblätter in die weiße Kanne mit dem Sprung fülle und nicht zueinander passende Tassen und Untertassen bereitstelle. Ich bin überrascht, als Großvater von hinten kommt und mich an sich zieht. Noch überraschter bin ich, als er mich zu sich herumdreht, sich vorbeugt und mich hart auf die Lippen küsst. Sein naher Tabakatem raubt mir den Atem. »Ich liebe dich, ich liebe dich sehr«, flüstert er, während seine fleckigen alten Hände wie giftige Spinnen über meinen Körper kriechen. Gefangen in der sonnendurchfluteten Küche, überkommt mich ein Gefühl des Unbehagens, und meine Unschuld beginnt zu schwinden.

Das nächste Mal geschieht es wieder, als Großmutter fort ist. Eines Nachmittags gehe ich zu ihnen und treffe Großvater vor dem Fernseher an. Er liebt alte Filme und wettet gern, und man kann sicher sein, dass er sich entweder ein Pferderennen ansieht oder einen alten Schwarzweißfilm. Ich koche Tee und setze mich neben ihn.

»Ich würde dich sehr gern mit in mein Boudoir nehmen«, sagt er leise. Boudoir? Ich weiß nicht, was ein Boudoir ist. Während ich das Wort in Gedanken hin und her wende, sagt er: »Küss mich.« Ich küsse ihn rasch auf die Wange, wie man das als kleines Mädchen macht. »Nein, auf die Lippen. Richtig«, beharrt er, packt mein Gesicht und zwingt meine Lippen auf seine. Als er mich loslässt, sprudelt es aus mir heraus: »Was ist ein Boudoir, Großvater?«

»Ich zeige es dir«, antwortet er; und das tut er dann auch.

Zweites Kapitel

Vielleicht habe ich das, was Großvater getan hat, ja nur geträumt, aber die Schmerzen zwischen meinen Beinen sind Wirklichkeit. Er sagte, er habe das gemacht, weil er mich liebt, und ich glaube ihm. Großvater gibt mir das Gefühl, jemand Besonderes zu sein, und da sich alle Aufmerksamkeit auf meine kranke kleine Schwester richtet, genieße ich dieses Gefühl. Ich weiß, dass meine Eltern mich lieben. Trotzdem bin ich eifersüchtig auf Lisa und ihre Krankheit, die so viel von ihrer Zeit beansprucht. Großvater zeigt mir seine ganze Liebe, und anfangs klammere ich mich daran. »Liebst du mich heute nicht, Großvater?«, frage ich, wenn er mich nicht berührt.

Was er mit mir macht, tut weh, aber ich denke einfach an andere Dinge: an Wiesen und Blumen und ganze Episoden von Fernsehserien. Ich liege da, spiele in Gedanken die Geschichten nach, während der Wecker mit dem weißen Zifferblatt neben Großvaters Bett meine Kindheit hinwegtickt. Danach fühle ich mich wie ein Zombie. Ich esse den Schokoriegel, den er mir jedes Mal gibt, und gehe wie in Trance nach Hause – tagsüber allein, in der Dunkelheit in Großvaters Begleitung.

»Warum küsst du Claire immer, Großvater?«, fragt meine Kusine. Wir sitzen vor dem Fernseher; der Rest der Familie ist draußen. Großvater kommt immer wieder zu uns herein, beugt sich über die Sofalehne und drückt mir feuchte Küsse auf die Stirn. Großvater beantwortet die Frage nicht, er sieht mich nur an und zwinkert mir zu. Mir ist Großvaters Aufmerksamkeit unangenehm, und ich wünschte, ich könnte einfach wie eine Münze zwischen die Sofakissen rutschen.

Ich liebe Großvater, doch das, was er mit mir macht, kommt mir nicht richtig vor. Ich muss unbedingt herausfinden, ob es normal ist. »Was macht dein Großvater mit dir?«, frage ich ein Mädchen aus meiner Klasse aus. »Er geht mit mir in den Park, kauft mir ein Eis, und wir haben Spaß zusammen«, erzählt sie strahlend. »Kuschelt er mit dir?«, frage ich. »Ja, er kuschelt mit mir«, antwortet meine Klassenkameradin. »Und was macht er noch?«, forsche ich weiter. »Nichts, wieso?«, sagt sie. »Ach nur so«, antworte ich und wechsele schnell das Thema.

Allmählich fürchte ich mich davor, allein zu meinem Großvater zu gehen. Großmutter ist oft weg – bei ihrer Schwester oder ihrem Sohn; und einmal fährt sie für sechs Wochen zu ihrem Bruder nach Kanada. »Warum besuchst du Großvater nicht?«, drängt Mama mich immer wieder. »Du weißt doch, dass du sein Liebling bist.« Ich würde am liebsten jedes Mal schreien: »Aber ich will nicht Großvaters Liebling sein. Ich fühle mich nicht wohl dabei. Es ist kein gutes Gefühl, Großvaters Liebling zu sein.« Doch ich lasse meinen Schmerz nie heraus. Stattdessen setzt er sich in meinem Kopf fest. Ich reagiere mit bohrenden Kopfschmerzen, liege da und halte meinen Kopf, während eine Ratte an meinem Schädel zu nagen scheint. Außerdem weine ich oft, aber nie in Gegenwart von anderen. Ich kauere in meinem Bett unter dem Fenster und bitte Gott unter Tränen, mich zu sich zu holen. Ich entschuldige mich ständig bei ihm, denn ich habe das Gefühl, sehr böse zu sein. Warum sonst lässt er es zu, dass mir das alles passiert? Warum sonst werde ich so bestraft?

Im Herbst feiere ich meinen zehnten Geburtstag, und zu dieser Zeit werden meine Kopfschmerzen häufiger. Es fällt mir auch immer schwerer zu essen – ich werde das Gefühl einfach nicht los, dass etwas Unangenehmes passiert, wenn ich mir etwas in den Mund stecke. Meine Eltern merken davon erst nichts, denn ich bin von Geburt an eine schlechte Esserin. In den ersten Monaten hatte ich Atemprobleme und konnte nicht gleichzeitig essen und atmen; ich musste wie ein kleines Vögelchen gefüttert werden, jede Stunde, 24 Stunden lang. Auf dem Video von meiner Taufe sehe ich aus wie ein Kriegsbaby in den Fernsehnachrichten.

Ich entwickle mich zu einer sehr wählerischen Esserin; vor allem das Schulessen ist mir zuwider, und das ärgert Frau Speck. Ihr richtiger Name ist Frau Soundso, aber aus irgendeinem Grund hat sich der Name Frau ›Speck‹ in meinem Kopf festgesetzt. Eines Tages besteht sie darauf, dass ich bleibe und mein Essen aufesse, das ich wie üblich kaum angerührt habe. Die anderen Kinder stürmen hinaus auf den Spielplatz, und ich bleibe im Speisezimmer zurück und höre aus der Ferne ihr Gejohle. Frau Speck sitzt in ihrem blassgemusterten Overall neben mir und zwingt mich zu essen. »Mir wird schlecht, wenn ich noch mehr essen muss«, protestiere ich und starre in meine Schüssel mit Grieß. »Du wirst das essen«, beharrt sie. Ich esse noch einen Löffel, und mein Körper wird von einem gewaltigen Würgen erschüttert. Da fliegen der Kohl, das Püree, das Fleisch und der Grieß mit dem kleinen Klecks Marmelade – alles über die blaue Tischplatte und auf den Boden. Frau Speck ist entsetzt und scheucht mich, so schnell sie kann, zum Sanitätsraum. Erleichtert fliehe ich von ihr, während sie mein Essen mit einem Desinfektionspuder bedeckt.

Mit zunehmendem Alter weigere ich mich, irgendetwas zu essen, dem man auf den ersten Blick ansieht, dass es Fisch oder Fleisch ist. Genüsslich stopfe ich Würstchen, Hamburger oder Fischstäbchen in mich hinein, rühre aber weder Schinken noch Roastbeef oder Lamm an. Ich mag Hähnchen – abgesehen von der Haut –, und aus irgendeinem Grund esse ich niemals ein Sandwich, es sei denn, meine Mutter oder ich selbst haben es gemacht.

Meine Eltern sind daran gewöhnt, dass ich ein schwieriges und mageres Kind bin. Aber als ich im Herbst 1980 noch schwieriger und magerer werde, beginnen sie sich Sorgen zu machen. Nachdem ich wegen Migräne mehrere Tage nicht in der Schule war und nichts gegessen habe, geht Mama mit mir zum Arzt. Mein rapide sinkendes Gewicht und die unerträglichen Kopfschmerzen deuten auf eine Hirnhautentzündung hin, und ich werde schnellstens in die Kinderklinik des Klinikums Luton und Dunstable überwiesen, wo entsprechende Tests gemacht werden sollen.

Zunächst stecken sie mich in ein Einzelzimmer, und alles ist schrecklich. Ich stochere in dem ungenießbaren Essen herum und langweile mich, weil ich nicht aufstehen darf. Das Schlimmste ist, dass ich die Schule versäume. Ich finde Schule eigentlich schrecklich, aber dieses Jahr soll ich im Weihnachtsspiel die Jungfrau Maria spielen. Großmutter hat mir eine bemalte Statue von Maria geschenkt, die in meinem Zimmer auf dem Fensterbrett steht und die ich immer vorsichtig auf mein Bett herunterhebe, um sie zu entstauben. Sie ist mein ganzer Stolz, und schon seit Kindergartenzeiten ist es mein Traum gewesen, einmal die Maria zu spielen. Die Proben zu dem Stück haben begonnen, und ich habe Angst, dass meine Ersatzspielerin sich die Rolle unter den Nagel reißt, während ich im Krankenhaus liege. Sie heißt Fleur. »Das ist Französisch und heißt Blume, wisst ihr«, prahlt sie hochnäsig.

Nach ein paar Tagen bringt Papa mir den kleinen Schwarzweißfernseher, den wir immer mit in den Campingurlaub nehmen. Als ich im Bett liege und mir das Ende eines Films anschaue, kommt eine Krankenschwester herein. Sie setzt sich und sagt mir, dass sie mir eine Geschichte aus Black Beauty vorlesen möchte – ich liebe Black Beauty und stelle mir gern vor, ich sei die Jenny. Gerade mache ich es mir gemütlich, um die Geschichte zu hören, als die Schwester sagt: »Wir machen bei dir heute Nachmittag eine Lumbalpunktion.«

»Tut das weh?«, frage ich. »Nur ein kleines bisschen«, sagt sie, dann schaut sie weg und vertieft sich in die Geschichte. Ich sehe an ihrem Gesicht, dass sie lügt.

Der Raum der Schmerzen liegt hinter der Doppeltür am Ende der Station. Dort werden Bluttests gemacht und Injektionen verabreicht; er enthält ein Bett und einen Bildschirm, und man sieht direkt in den Garten der Klinik. Ein Arzt und vier Schwestern sind im Zimmer, und auch wenn ich keine Nadeln sehen kann, ich kann sie riechen. »Klettere auf das Bett, Claire, und leg dich auf den Bauch«, sagt der Arzt hinter seinem weißen Mundschutz. Starr vor Angst lege ich mich auf das Bett. Die Schwestern versammeln sich um mich herum und richten meinen Körper für die Prozedur her. Ich habe ein weißes Hemdchen an, das am Rücken offen ist, und keinen Schlüpfer, und mein Hinterteil liegt kalt und entblößt da. Rums! – da haut die Spritze rein. Ich schreie vor Schreck und trete nach den Schwestern. Sie drücken meinen Rücken nach unten und halten mir Arme und Beine fest. »Wenn du ruhig hältst, sind wir ganz schnell fertig«, sagt eine von ihnen. Nach einer Weile höre ich, wie der Arzt den Schwestern Anweisungen gibt: »Und noch eine!« Ram! Da kommt die nächste Spritze. Ich zappele wie eine harpunierte Robbe und schreie und schreie, bis das Beruhigungsmittel wirkt und ich nicht mehr schreien kann. Dann drehen sie mich auf die Seite und führen eine riesige Nadel in meine Wirbelsäule, um Flüssigkeit aus der Nähe meines Gehirns abzuleiten, und ich fühle nichts mehr.

Nach der Lumbalpunktion winde ich mich vor Schmerzen, mein Kopf tut mir immer noch weh, und ich werde mit Schmerzmitteln vollgepumpt. Das Krankenhausessen ist mir zuwider. Während der nächsten Tage drängen die Schwestern mich zum Essen, was ich nicht begreife. »Was soll das?«, frage ich. »Ich habe keinen Hunger.« Dann beginnen die Drohungen. »Wenn du nicht bald isst, Claire, müssen wir dich über einen Tropf ernähren.« Sie verlegen mich auf die allgemeine Station. Weil ich nichts esse, bin ich zu schwach, um zu laufen. Deshalb liege ich nur da und beobachte das Mädchen im gegenüberliegenden Bett. Sie hat eine Menge Tanten und wird überschüttet mit Pralinen, die sie ihr mitbringen. Ich liebe Süßigkeiten und sehe neidisch zu, wie sie sie gedankenlos in ihren Mund schiebt. Sie merkt, dass ich sie anstarre, und bietet mir eine Praline an. »Nein, danke«, antworte ich und wundere mich über das Überlegenheitsgefühl, das ich dabei empfinde.

Nachdem ich drei oder vier Tage nichts gegessen habe, setzt sich die dicke schwarze Oberschwester mit einer Schüssel Weetabix auf mein Bett. Sie hat sie mit Zucker bestreut und literweise mit Milch überschüttet – und ich hasse Milch! »Die Ärzte sagen, dass du das hier essen musst, Claire«, erklärt sie und hält mir die Schüssel unter die Nase. »Ich mag nicht«, wehre ich ab. »Ich habe keinen Hunger.«

»Du musst das essen, Claire«, wiederholt sie. »Nein, nein, nein«, beharre ich. »Ich kann nicht.« Daraufhin hält sie mir die Nase zu, mein Mund öffnet sich, und hinein geht der Löffel: Er schlägt gegen meine Zähne, während die Oberschwester mir die klebrige Masse in den Mund stopft. Sie wiederholt das ganze ein paar Mal und lässt mich dann Luft holen. »Wenn du nicht willst, dass ich das tue, musst du selber essen«, sagt sie. Gedemütigt esse ich den Rest ohne ihre Hilfe.

Danach habe ich Angst vor den Mahlzeiten. Jeden Morgen erwarte ich mit Grauen das Scheppern des Stahltabletts mit seiner verhassten Ladung: Weetabix, Cornflakes, Müsli und Berge von Weißbrot mit Butter. Ich höre das Klirren der metallenen Milchkrüge und atme den Übelkeit erregenden Geruch des Frühstücks ein, der über die Station weht. Ich möchte keine Zwangsfütterung mehr riskieren, deshalb bitte ich um Weetabix, von denen ich die meisten in den Schrank neben meinem Bett schütte.

Die Oberschwester kommt mir auf die Schliche und zwingt mich, mit den anderen Patienten am Tisch auf dem Stationsflur zu essen. »Ich muss mal auf die Toilette«, sage ich eines Mittags zu dem Pralinen-Mädchen und schleppe mich zu den Toiletten, die am Ende der Station neben dem Schmerzraum liegen. Ich verriegele die Tür und bete: »Lieber Herr Jesus Christus, mach, dass sie nicht merken, dass ich hier bin. Mach, dass sie nicht nach mir suchen. Ich kann nicht essen. Mach, dass sie mich nicht finden. Ich verspreche, dass ich morgen essen werde.« Da hämmert es gebieterisch an der Tür. Die Oberschwester. »Claire, mach sofort die Tür auf. Sonst kommen wir und holen dich da raus!« Lammfromm schließe ich die Tür auf und komme heraus. Die Oberschwester schiebt mich zum Tisch zurück, aber ich heule und schreie und weigere mich, etwas zu essen.

»Ich werde euch schon noch hinters Licht führen«, nehme ich mir vor, als der Stationsarzt am nächsten Tag seine Runde macht. »Hallo, Claire. Wie geht es dir heute Morgen?«, erkundigt er sich. »Danke, sehr gut, wirklich«, erwidere ich strahlend. »Ich kann nach Hause gehen.«

»Du isst nicht sehr gut, Claire«, sagt er und sieht sich die Tabelle an meinem Bettende an. »Das liegt an dem Essen hier«, entgegne ich mit größtmöglicher Überzeugungskraft. »Mama kocht ganz toll; ich werde jede Menge essen, sobald ich wieder zu Hause bin.«

»Also gut«, meint der Arzt. »Du kannst nach Hause gehen.« Ich kann es kaum glauben. »Super!«, denke ich. »Ich werde die Maria spielen!«

Meine Eltern holen mich am nächsten Morgen ab. Sie haben mir meinen braunen Pulli mit dem Polokragen mitgebracht und einen dazu passenden karierten Rock. Als meine Mutter den Reißverschluss des Rockes zuzieht, hängt er mir wie ein Sack um die Hüften. An ihrem Gesicht sehe ich, dass sie nicht besonders glücklich darüber ist. Meine armen Eltern. Ich war nun drei Wochen im Krankenhaus, und eine Hirnhautentzündung wurde ausgeschlossen, aber ich habe immer noch Kopfschmerzen und esse nicht anständig. Sie tauschen besorgte Blicke, und dann wollen sie mit der Oberschwester sprechen. Ich bin sicher, dass sie mich nicht mit nach Hause nehmen werden. »Das ist es, ich bin verloren«, denke ich und will zum Ausgang rennen, doch ich bin so schwach und vollgepumpt mit Schmerzmitteln, dass ich zusammenbreche.

Der Arzt wird gerufen, und ich spüre kaum, wie er mir einen intravenösen Zugang in den Handrücken legt. Aber eine halbe Stunde später fühle ich mich langsam besser, viel besser. Ich bleibe eine Woche an den Tropf gefesselt, und Großvater besucht mich jeden Nachmittag. Er sitzt auf der Bettkante, fragt mich, wie es mir geht, und schenkt mir einen Schokoriegel. »Danke«, sage ich höflich und lege ihn zur Seite. Ich weiß, dass Großvater mich nicht anrühren wird, weil ständig Leute in der Nähe sind.

Eines Nachmittags würde ich tatsächlich gern etwas essen, aber ich will seinen Schokoriegel nicht. »Ich habe Hunger«, sage ich zu Großvater. Erfreut springt er auf, um einer Schwester Bescheid zu sagen. Sie rollt den Kaffeewagen heran. »Das möchte ich gern«, sage ich und zeige auf einen kleinen Schokoladenkuchen mit einem Geleeklecks in der Mitte. Als ich hineinbeiße, sagt die Schwester: »Wenn du isst, können wir den Tropf entfernen und du kannst nach Hause gehen.«

»Und dann kann ich die Maria spielen«, denke ich bei mir. Also esse ich, und 48 Stunden später bin ich zu Hause.

Die ganze Familie kommt, um mich in dem Weihnachtsspiel zu sehen. »Ihre Tochter hat eine Stimme wie ein Engel«, sagt eine andere Mutter zu meinen Eltern. Mama erzählt mir hinterher, dass Großmutter geweint hat.

Drittes Kapitel

»Wenn dich jemand schlägt, schlag zurück«, rät Papa mir, als ich weinend von der Schule nach Hause komme. Ich bin die Außenseiterin, die ständig gehänselt wird. Ein Mädchen aus meiner Klasse droht mir immer wieder, mich zu verprügeln, und den neuen Mantel, den Mama mir gekauft hat, wirft Madame Großmaul einfach in den Papierkorb. Die anderen Kinder behaupten, ich sei hässlich und stänke, und weil ich so dünn bin, beschimpfen sie mich als ›Skelett‹, ›Gespensterheuschrecke‹ und ›Xylophon‹.

Ich bin immer noch wählerisch, wenn es ums Essen geht, und ernähre mich nicht normal. Frühstücken tue ich nie. Wenn ich aus der Schule nach Hause komme, setzt Mama mir einen Teller Suppe oder ein Sandwich vor – manchmal esse ich es und manchmal nicht. Wenn ich Schulbrote mitnehme, werfe ich sie einfach weg und stopfe stattdessen Süßigkeiten in mich hinein. Mama hätte mich geschlagen, wenn sie das erfahren hätte. Aber da es mir nachmittags meist gelingt, etwas zu mir zu nehmen, merkt sie nicht, dass ich nicht ordentlich esse.

Irgendwann erzähle ich meinen Eltern nicht mehr, dass ich ständig gehänselt werde – sie haben genug Sorgen mit Lisa, und das, was mir in der Schule passiert, ist nur halb so schlimm wie das, was mir bei Großvater passiert.

Mit elf komme ich auf die Lealands Highschool. Mama rät mir: »Setz dich zu den Kindern, die du nicht kennst, dann bekommst du neue Freunde.« Aber das tue ich nicht. Ich setze mich neben Yvonne, die ich kenne. Yvonne wird auch verspottet, weil sie keine Haare hat. Sie leidet an Leukämie, bekommt Chemotherapie und muss ein Kopftuch tragen. Die anderen Kinder reißen es ihr herunter, bis sie weint.

»Wenn du älter bist und arbeiten gehst, wirst du merken, wie schön die Schulzeit war«, prophezeit Papa. »Wetten nicht«, antworte ich. Ich hasse alles an der Schule, bis auf zwei Ausnahmen: Tanz und Musik. Wir haben eine blonde Tanz- und Musiklehrerin; sie heißt Frau Patterson. Sie ist ziemlich dick, aber sie kann tanzen und wunderbar singen. Sie versteht es, eine Show auf die Beine zu stellen, und gibt mir immer eine Hauptrolle. »I’m the gypsy – the acid queen«, trällere ich zu Tina Turners Filmmusik. Wir führen Orpheus aus der Unterwelt auf und benutzen dazu die Musik aus den Filmen Tommy und Grease. Mit silbrig bemaltem Gesicht, glitzerndem Disco-Outfit, und den Kopf mit Schlangen umwickelt, mime ich die Acid Queen, und Ian Carrington spielt den Teufel. Frau Patterson gibt mir immer Ian an die Seite, er ist der beste Tänzer bei den Jungs. Ich mache einen Salto rückwärts über seine Schulter, dann stürzen wir uns in ›You’re The One That I Want‹.

Wenn ich tanze und singe, fühle ich mich besser. Ich vergesse meine Probleme und fühle mich leicht und beschwingt. Ich freue mich auf die Dienstage und die Donnerstage, an denen wir Tanz und Musik haben, und schleiche mich immer schon etwas früher zum Tanzraum. »Patterson-Liebling« verspotten mich die anderen Kinder, aber das kümmert mich nicht. Nur ein einziges Mal widersetze ich mich Frau Patterson. Sie möchte, dass ich eine Bauchtänzerin spiele, mit durchsichtigen Netzstrümpfen über einem roten Slip und einem knappen Bikinioberteil. Das sieht aus, als trüge ich nur Unterwäsche, und ich weigere mich, meinen Körper zu zeigen, weil ich weiß, dass Großvater zusehen wird.

»Mama, weißt du was?«, beginne ich eines Tages. Ich bin zwölf und habe das dringende Bedürfnis, mich endlich jemandem mitzuteilen. »Ja?«, antwortet sie. Aber die Worte bleiben mir im Hals stecken – was ist, wenn sie mir nicht glaubt, was, wenn die Familie wegen mir auseinander bricht? Ich wechsele das Thema und behalte mein schreckliches Geheimnis für mich. Es nagt weiter in mir, und mein Verhalten wird immer sonderbarer. Ich bin entweder extrem gut oder extrem schlecht gelaunt. Wenn ich aus der Schule nach Hause komme, gehe ich oft direkt in mein Zimmer und mache die Tür hinter mir zu. Ich lege mich eine gute Stunde hin und höre Musik – erst dann bin ich in der Lage, mit jemandem zu sprechen. Ich liebe meine Familie, aber einer von ihnen tut mir weh.

Ich teile mein Zimmer mit Lisa. Wir haben eine Tapete mit Holly-Hobbie-Motiven und passende Federbetten, denn Lisa hat eine Allergie gegen Laken und Wolldecken. An einer Wand sind zwei weiße Schränke eingebaut mit einer Kommode in der Mitte. Darauf steht mein Schmuckkästchen, aus dem Schwanensee ertönt, wenn man es öffnet, und eine Flasche Parfum, Marke ›Rose‹, die ich bei der Avon-Beraterin gekauft habe. Es ist schwierig, mit Lisa in einem Zimmer zu wohnen, denn wenn sie keinen Asthmaanfall hat, ist sie neurotisch. Sie kann nicht einschlafen, ohne vorher mindestens fünfzig Mal den Lichtschalter zu berühren und »Gute Nacht, Gott segne dich, träum schön« zu mir zu sagen. Aber ich zahle es ihr mit meinem eigenen Repertoire an nächtlichen Gewohnheiten heim.

Manchmal habe ich die Augen offen, obwohl ich tief und fest schlafe. Eines Abends gehe ich früh ins Bett, und Lisa kommt herein. Da sie glaubt, ich sei wach, beginnt sie auf mich einzureden. Aber ich liege im Tiefschlaf und reagiere nicht. Die arme Lisa rennt schreiend die Treppe herunter zu Mama, weil sie denkt, ich sei tot.

Auch meine Schlafwandelanfälle ängstigen Lisa zu Tode. Sie wird wach, weil ich schreie, an den Gardinen zerre und versuche aus dem Fenster zu klettern. Eines Abends hat sie mal wieder Nasenbluten, und da sie glaubt, ich sei wach, bittet sie mich, ihr etwas Klopapier zu holen. Ich gehe nach unten ins Bad und komme mit einer Haarbürste zurück. »Was soll ich denn damit?«, fragt sie und schickt mich wieder nach unten. Daraufhin reiße ich die Klopapierrolle vom Halter, gehe ins Schlafzimmer meiner Eltern, mache das Licht an, werfe Papa die Klopapierrolle an den Kopf und gehe wieder ins Bett. Dabei schlafe ich die ganze Zeit über tief und fest.

»Spiel mit mir, Claire«, quengelt Lisa ständig. Ich habe keine Lust dazu, doch manchmal zwingt Mama mich. Wir spielen dann Der Zauberer von Oz, wobei ich immer dafür sorge, dass ich die Dorothy bin und Lisa die Hexe. Erst mit zunehmendem Alter entwickeln wir mehr Gemeinsamkeiten. Als ich 13 bin und sie neun, sind wir beide verrückt nach Fame – ich besitze ein Fame-T-Shirt und ein Fame-Tanzdress – und freuen uns auf Dienstagabend, denn dann kommt Fame im Fernsehen. Es fällt mir immer schwerer, mein Abendessen zu essen, und ich schiebe es zum Verdruss meiner Eltern auf dem Teller herum; aber dienstagabends esse ich immer alles. Ich bin besonders hungrig, denn ich hatte in der Schule Tanzen und habe danach Zeitungen ausgetragen, wobei ich ziemlich viel bergauf laufen muss. Meine Mutter kocht Hamburger und Ravioli oder ein Reisgericht – ich liebe ihre Reisgerichte –, und dann geht sie einkaufen und überlässt mich und Lisa mit einer Tüte Sahnebonbons dem Fernseher und Fame.

»Karen Carpenter ist an den Folgen einer Magersucht gestorben«, heißt es am 4. Februar 1983 in den Nachrichten. Dann erscheint ein Videoclip von ihr, in dem sie ›Mr. Postman‹ singt, während sie auf Elefanten durch Disneyland fliegt. »Was hatte sie, Papa?«, frage ich. Ich mag die Carpenters; schon als ich klein war, stand ich immer auf Papas Zehen, und wir tanzten zu ihrer Musik. »Sie hat sich verdammt noch mal zu Tode gehungert! Dummes Mädchen, das alles wegzuwerfen«, antwortet er. Ich verstehe ihn nicht. Ich habe das Wort Magersucht noch nie gehört, und mein armer Vater denkt wohl auch nicht im Traum daran, dass es für uns einmal eine sehr wesentliche Vokabel wird.

Alle nennen mich ›Gespensterheuschrecke‹ und hänseln mich, dabei finde ich, dass ich längst nicht so dünn bin wie Kate, ein anderes Mädchen aus meiner Klasse. Die wirklich abstoßend mager ist. »Du bist total dünn, Kate«, sage ich zu ihr. »Du bist viel dünner als ich«, protestiert sie. »Bin ich nicht«, antworte ich verärgert, und das ganze endet schließlich in einem handfesten Krach. Bei der nächsten Gelegenheit stellen wir uns auf die Waage, um die Sache ein für allemal zu klären. Ich bin baff, absolut baff – sie wiegt 45 Kilo, ich wiege 42. Ich hatte wirklich geglaubt, ich wäre dicker als sie. Es macht mich wütend, dass man mich wegen meines Gewichts ständig aufzieht, aber der Gedanke, einfach mehr zu essen und ein wenig zuzunehmen, kommt mir nicht.

Ich mag zwar dürr sein, aber in mir schwelen Aggressionen, die meine Kameraden im Air Training Corps, dem Trainingscorps der Luftwaffe, das Fürchten lehren. Mein Bruder Michael wird als Erster Mitglied im ATC, und ich bestürme seinen Gruppenleiter, mich auch mitmachen zu lassen. »Mädchen nehmen ein Stück Tapete und malen hübsche Bilder. Sie haben im ATC nichts zu suchen«, schimpfen Michael und sein Freund Glyn, die beide zur Icknield-Mannschaft gehören. Aber ich will wie die Jungen Leichtathletik machen, mit dem Gewehr schießen und am Wochenende ins Zeltlager fahren. Als ich 14 werde, gibt der Gruppenleiter nach und nimmt mich auf, was den Jungen überhaupt nicht passt.

»Hierher!«, brüllt der Gruppenleiter, und ich finde es toll. Ich gebe mir alle Mühe, nicht zickig zu sein; ich mache Schießübungen mit einem 303er Gewehr, bis meine Schulter dunkelrot von Blutergüssen ist, und kämpfe gegen die Besten. Ich liebe meine blaue Airforce-Uniform – die dicken Twill-Hosen, den Pulli mit den Lederflicken am Ärmel, das Barett mit dem Abzeichen und vor allem die schweren Doc-Marten-Stiefel mit den Stahlkappen.

Wir befinden uns auf einer Nachtexkursion in der Nähe von Aylesbury und sind in zwei Mannschaften eingeteilt. Meine Mannschaft muss die Bombe suchen, die der Feind versteckt hat, und ins Lager zurückbringen. Der Gruppenleiter verbindet uns die Augen und fährt uns mit dem Laster so lange in der Gegend herum, bis wir nicht mehr wissen, wo wir sind. Dann nimmt er uns die Binden von den Augen und lässt uns auf einem Feld aussteigen. Es ist stockdunkel, und wir stürzen uns mit großem Gejohle auf Heustöcke und stellen uns vor, sie seien der Feind. Dann entdecke ich einen Jungen, den wir ›Mong‹ nennen und der zum anderen Team gehört. Ich entferne mich von meiner Mannschaft, schleiche durchs Gebüsch, stürze mich auf seine Beine und werfe ihn zu Boden. Ehe er sich aufrappeln kann, sitze ich auf ihm. »Wo ist die Bombe? Wo ist die Bombe?«, brülle ich und drohe dem Feind mit den Fäusten. »Bitte tu mir nicht weh, bitte tu mir nicht weh!«, bettelt der arme Junge. Ich bin die Leichteste in der Gruppe, aber ich bin im Einsatz, und ›Mong‹ hat keine Chance. Danach wollen mich alle Jungen in ihrem Team haben, weil sie befürchten, sonst halbtot zu enden!

Wenn ich meinen Zorn nicht im ATC abreagiere oder wie besessen tanze, um meinen Schmerz zu ersticken, verbringe ich Stunden mit meinen Haustieren. Ich ziehe Tiere Menschen vor – Tiere können einen nicht verletzen.

Unser Haus ist ein regelrechter Zoo. Nach Sabres Tod bekommen wir einen neuen Schäferhund, den wir Drummer nennen, außerdem haben wir drei Fische – Freddie, Goldie und Rainbow – und vier Kaninchen, die ich Bramble, Holly, Smoky und Thumper taufe. Zuerst haben wir nur Bramble und Holly, dann kaufen wir Kinder Smoky für Mama und Thumper für Papa zum Vatertag. Mit jedem Neuzugang stockt unser armer gequälter Vater den bereits bestehenden Stall nach oben auf.