Mein Leben als Mime - Christoph Staerkle - E-Book

Mein Leben als Mime E-Book

Christoph Staerkle

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Beschreibung

Christoph Staerkles Bühnenkunst zählt zu den eindrucksvollsten Darbietungen der heutigen Pantomime. "Staerkle spricht auch ohne Worte Bände", schrieb eine Zeitung. Und in der Tat: In seinem "mimischen Kabarett" charakterisiert er mit präziser Stilisierung, feinsinniger Karikatur und bissiger Parodie Figuren des Alltags, ihre Mimik und Gestik. Die Lebenserinnerungen des großen Schweizer Pantomimen Christoph Staerkle, seines künstlerischen Wegs von der Straßenkunst zum internationalen Theater und die Bedeutung seiner Gehörlosigkeit für die Entwicklung seiner Kunst – eine ungewöhnliche, episodenreiche, von feinem Humor und genauer Beobachtung geprägte Künstlerbiografie, die uns mit einem Menschen vertraut macht, den das Leben vor vielerlei Herausforderungen stellt und dessen Wahrnehmung und Ausdrucksformen etwas anderer Art sind als die der Allgemeinheit.

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Christoph Staerkle

Mein Leben als Mime

Der Taube, der sich ins Rampenlicht wagte

Aufgezeichnet von Johanna Krapf

Orell Füssli Verlag, www.ofv.ch

© 2018 Orell Füssli Sicherheitsdruck AG, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Dadurch begründete Rechte, insbesondere der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf andern Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Vervielfältigungen des Werkes oder von Teilen des Werkes sind auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie sind grundsätzlich vergütungspflichtig.

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Umschlagfoto: © Reinhard Münch / D

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-280-05684-4 (Druckversion)

ISBN 978-3-280-09038-1 (ePub)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

Vorwort

Lange schon bewegt mich der Gedanke, ein Buch zu schreiben. Über die Jahre stauten sich in meinem Inneren die Erfahrungen, Erlebnisse und Beobachtungen, und es fühlte sich an, wie wenn der Wasserspiegel ständig steige – und mit ihm auch das Bedürfnis, Wasser abzulassen. Aber das Schreiben ist nun mal nicht meine Stärke. Im Sommer 2016 bot sich mir nun die Gelegenheit, aus meinem Leben zu erzählen. Es sprudelte aus mir heraus wie ein Wasserfall, und endlich ist der Spiegel wieder gesunken. Das Vergegenwärtigen meines Lebenswegs hat mir große Freude gemacht, denn ich liebe meine Mimen- und Improvisationskunst, und das Erzählen für das Buch »Mein Leben als Mime« hat mich beflügelt.

Meine Geschichte ist die eines Einzelgängers. Es gibt keine Wegweiser, die einem jungen Menschen den Weg weisen in eine berufliche Zukunft als Pantomime. Zudem wusste ich ja selber lange nicht, dass ich Pantomime werden wollte, und ich konnte mit niemandem über meine Bedürfnisse reden. Ich spürte zwar bereits als Kind, dass es mich faszinierte, Menschen und ihre Körpersprache zu beobachten, aber ich analysierte diese Faszination nicht. Zwar blühte ich auf, als mich mein Vater einmal ins Theater mitnahm, aber ich verlor keinen Gedanken daran, dass ich selber einmal auf der Bühne stehen und Theater ohne Worte spielen könnte. Und als es um meine Berufswahl ging, da war nie die Rede von einer Künstlerlaufbahn. Schließlich machte ich, wie man mir vorgeschlagen hatte, eine Lehre als Tiefbauzeichner. Immerhin durfte ich daneben einmal die Woche einen Theaterkurs besuchen, den mein Vater ausfindig gemacht hatte. Und damit war ein erster Kontakt zu Pantomimenkreisen geknüpft, ein erster Stein gelegt. Von da an pflasterte ich beharrlich meinen ganz persönlichen Weg weiter, Stein für Stein, bis er mich zu den großen Künstlern führte. Ich machte mir keine Gedanken darüber, dass ich taub bin, ich diskutierte nicht mit meinen Eltern über meine Zukunft als Pantomime, und ich hatte auch keinerlei Vorbilder. Außerdem war meine schulische Ausbildung viel weniger fundiert, viel weniger breit angelegt als die der gleichaltrigen Hörenden. Ein Studium stand nie zur Diskussion – wie hätte ich denn als Nicht-Hörender eine Matura ablegen sollen? Und da ich nicht angemessen gefördert wurde, entwickelte sich mein natürlicher Wissensdrang zu einem quälenden Durst.

Andererseits führte meine Taubheit dazu, dass sich meine angeborene Beobachtungsgabe erst richtig entfaltete und meine Freude am körpersprachlichen Ausdruck zur Leidenschaft wurde. Ja, das Nicht-Hören-Können gehört zu mir wie mein Charakter, mein Aussehen und meine Herkunft. Dank der Taubheit wurden mein Körpergefühl und meine anderen Sinne – das Sehen, das Fühlen, das Schmecken und das Riechen – geschärft. So ersetze ich das Hören der Lautsprache durch die Wahrnehmung von Körpersprache, und ich verwandle Musik, beziehungsweise Rhythmus, in Körperbewegung. Überhaupt ist es meine Art, aus jeder Situation das Beste zu machen. Meine Devise lautet:

Machen, reden

Handeln, nicht plappern

Reagieren, nicht verschieben

Anpacken, nichtnichtverzögern

Ich bin meinen schon vor Jahren verstorbenen Eltern, ganz besonders meinem Vater, zu großem Dank verpflichtet. Er, der stille und zurückhaltende Beobachter, setzte sich auf seine Weise immer für mich ein. Er verlor nie viele Worte, aber er spürte genau, was mir guttat, und verhielt sich entsprechend.

Eine fast ebenso wichtige Rolle auf meiner Suche nach mir selbst spielten meine vielen Freunde: Ich bin nicht sicher, ob ich ohne ihre Freundschaft und treue Begleitung meinen Lebensweg gefunden hätte. Ich bin ihnen sehr dankbar.

Christoph Staerkle

Thun, Juni 2017

Familiengeschichte

Meine Herkunftsfamilie

Ich wurde am 15. Juni 1952 als viertes von fünf Kindern geboren. Meine Familie lebte damals in einer Mietwohnung in Luzern. Dass ich taub war, wurde sehr früh entdeckt, denn schon meine fünf Jahre ältere Schwester Brigitte war gehörlos geboren worden. Meine Eltern hatten sich also bereits intensiv mit dem Thema Hörbehinderung auseinandersetzen müssen. Meine Mutter schrieb dazu in ihren biografischen Notizen über meinen Vater: »Ein großer Kummer war die Entdeckung von Brigittes Gehörlosigkeit. (…) Mit drei Jahren mussten wir sie schon ins Internat in den Kindergarten der Schwerhörigenschule Landenhof in Unterentfelden geben. Das war bitter. (Prof. Graf sagte mir später einmal, seine Nachforschungen hätten ergeben, dass wir beide [Vater und Mutter] ein Gen haben.) Vorher vermutete man das Röntgen.« [1]

Ich war erst zwei Jahre alt, als ich meinem ersten Sprach- und Hörtraining unterzogen wurde. Zwei- bis dreimal wöchentlich fuhr meine Mutter mit mir zum Direktor der damaligen Taubstummenanstalt Hohenrain im Kanton Luzern.

Unterdessen war meine Familie in ein eigenes Heim umgezogen. Alle meine Erinnerungen an mein Zuhause sind mit diesem Haus über dem Vierwaldstättersee verknüpft, wo ich nach meiner Einschulung allerdings nur noch an den Wochenenden und während eines Teils der Ferien wohnte, da ich meine ganze Schulzeit im Internat verbrachte. Deshalb hatte ich auch kaum Freunde in der Nachbarschaft.

Meine Eltern, meine vier Schwestern und ich bildeten ein aus sieben Individualisten bestehendes Familiengefüge. Selten kam es vor, dass wir alle zusammen etwas unternahmen; meist verbrachten wir nicht einmal die Ferien gemeinsam. Grund dafür war das Schweizer Schulwesen mit seinen von Kanton zu Kanton unterschiedlichen Ferienplänen, denn meine gehörlose Schwester und ich besuchten die in Unterentfelden im Kanton Aargau gelegene Schweizerische Schwerhörigenschule Landenhof, während die anderen Geschwister in die öffentliche Schule im Kanton Luzern gingen. Vermutlich waren meine Eltern jedoch nicht unglücklich über diese gestaffelten Ferienzeiten. Vor allem der Vater hätte sich in den Ferien nicht erholen können, wenn alle fünf Kinder mit in den Urlaub gefahren wären. Kinderrummel überforderte ihn. Und da meine gehörlose Schwester und ich unter der Woche auswärts wohnten, war auch bei den Mahlzeiten selten die ganze Familie anwesend. Sogar am Samstagabend aßen wir Kinder nicht mit den Eltern, doch das war gut: Wir hatten unseren Spaß und die Eltern ihre Ruhe. Einzig der Sonntag war Familienzeit.

Ja, wir waren sieben Einzelgänger und Einzelgängerinnen: mein stiller Vater, meine gesellige, aber ungeduldige Mutter, wir zwei nicht-hörenden Kinder – Mädchen und Bub –, meine Schwester mit Autismus und die beiden hörenden, ansonsten aber grundverschiedenen Schwestern.

Hing diese Familienkonstellation vielleicht auch damit zusammen, dass die Elternhäuser meiner Eltern kaum unterschiedlicher hätten sein können? Mein Vater stammte aus einfachen Verhältnissen: Sein Vater hatte als Steinmetz, Glasmaler und Gewerbelehrer in St. Gallen gearbeitet, er war katholisch und sehr bescheiden. Meine Mutter kam aus einer vornehmen und reichen reformierten Familie. Ihr Vater, ein großzügiger und vielseitig beschäftigter Mann, war Militäroffizier, Chemiker und Erfinder eines Gelatine-Sprengstoffs gewesen, und die Familie ihrer Mutter, einer verwöhnten, selbstsicheren, forsch-frechen Frau, hatte eine Seidenbandweberei in Liestal besessen. Auch meine Mutter war wohl verwöhnt worden, auch sie legte zuweilen dieses forsche Auftreten an den Tag. Gott bewahre, wenn sie am Steuer eines Autos saß! Gleichzeitig kam sie mir aber oft unsicher und unfrei vor – ganz anders als mein Vater, der ruhig und bestimmt durchs Leben ging. Der Spruch »Gegensätze ziehen sich an« traf also recht gut auf meine Eltern zu. Nun, ich habe davon profitiert, indem ich sowohl das Draufgängerische meiner Mutter als auch die ruhige Art meines Vaters in meinem Wesen vereine.

Kennengelernt hatten sich meine Eltern in einer Klinik für Lungenkranke in Arosa, wo mein Vater als Assistenzarzt und meine Mutter als Laborantin arbeitete. Ob sie glücklich waren miteinander? Ich kann es nicht sagen, aber ich bin mir sicher, dass mein Vater meine Mutter liebte. Oft beobachtete ich, wie er sie zärtlich streichelte, wie er ihr eine Freude machte, wie liebevoll er sich ihr gegenüber verhielt. Und sie blieben zeitlebens beieinander. Keine Selbstverständlichkeit. Auch wir Geschwister, die wir ganz und gar getrennte Wege gehen, akzeptieren einander und raufen uns immer wieder zusammen, wenn es zum Beispiel darum geht, über Familienangelegenheiten zu diskutieren. Auch das ist nicht selbstverständlich.

Leben und leben lassen – kein Motto beschreibt unser Familienklima besser. Nie gaben mir meine Eltern zu verstehen, dass ich ihre Erwartungen erfüllen müsse, dass ich nicht genüge, dass ich anders sein solle. Auch mein Nicht-Hören war kein Thema. Sogar als ich mit dem Pfeifenrauchen anfing – ich war etwa fünfzehn Jahre alt –, ließen mich meine Eltern gewähren. Ich hatte es meinem Deutsch-Privatlehrer abgeschaut und qualmte nun ständig, wenn ich zu Hause war, und zwar nicht nur im Garten. Trotzdem wurde ich nie darauf hingewiesen, dass das Rauchen störe oder schädlich für meine Gesundheit sei, obwohl niemand das besser wusste als mein Vater, der Lungenspezialist. Ich kann mir sein Verhalten nur so erklären, dass er sich ganz allgemein nicht so schnell aus der Ruhe bringen ließ und dass er Konfliktsituationen gern aus dem Weg ging. Er war ein friedliebender Mensch. Streiten mochte er nicht, und mit mir schon gar nicht, denn ich war ein impulsiver Junge und wusste mich zu wehren. Und meine Mutter hielt sich wohl aus Gesundheitsfragen heraus.

Wir Geschwister verstehen einander gut, was gar nicht selbstverständlich ist, denn wir sind sehr verschieden: meine älteste Schwester, die ein Medizinstudium absolvierte, und die gehörlose Schwester – sie ist Dekorateurin –, die im Gegensatz zu mir nicht gebärden mag, weil es ihr nicht angenehm ist. Außerdem bin ich sehr aktiv, während sie eher passiv ist. Aber auch sie hat ihren Weg gefunden, ist verheiratet und schon Großmutter. Gut verstehe ich mich mit der dritten Schwester. Sie ist Physiotherapeutin und hat eine eigene Pedicure-Praxis. Und was meine autistische Schwester angeht, so bin ich froh, dass es ihr heute so gut geht.

Meine Eltern setzten sich immer für sie ein. Überhaupt waren sie für uns da und kämpften wenn nötig für uns. Anders als es in vielen heutigen Familien der Fall ist, nahmen sie sich viel Zeit für uns und ließen uns auch genügend Raum für das freie Spiel.

Leben und leben lassen.

Mein Vater

Wenn mein Vater aus seiner Praxis nach Hause kam, brauchte er vor allem eines: seine Ruhe. Überhaupt teilte er sich mehr durch sein Tun mit als durch Worte. Für meine Mutter mag das nicht immer ganz einfach gewesen sein, denn sie hätte wohl gern jemanden an ihrer Seite gehabt, der mit ihr plauderte und ihr zuhörte. Ich aber war es gewohnt, in einer stillen Welt zu leben. Wenn mich die Mutter zum Vater schickte, weil sie meine Fragen nicht beantworten wollte oder, was sehr häufig der Fall war, gerade telefonierte, erwartete ich nicht, dass er sich mit mir unterhielt, weder mit den Händen – er vermied jegliche Gestik – noch mit Worten. Ich war einfach gern in seiner Nähe. Und ich wusste genau, wo ich ihn als Erstes suchen musste: am Flügel. Kaum je war ich ihm so nahe wie in jenen Momenten, in denen er musizierte, obwohl er meine Fragen meist nicht beachtete. Er schien sie nicht zu hören und spielte einfach weiter. Eine Ewigkeit lang. Trotzdem fühlte ich, wie mich mein Vater wahrnahm und in Beziehung zu mir trat. Ich spürte den Rhythmus und die Dynamik seiner Musik, wenn ich meine Hände auf das Klavier legte, und ich sah ihre Intensität und Tiefe in seinen über die Tasten fliegenden Fingern, in den harmonischen Bewegungen seines Körpers, im innigen Ausdruck seines Gesichts. In der Körpersprache meines Vaters las ich seine Liebe zur Musik und seine Liebe zu mir. Musik und Liebe ergriffen mich wie die Wellen des Meeres, sie veränderten mich und beeinflussten mein ganzes künftiges Leben.

Einmal nur, da unterbrach mein Vater sein Spiel, schaute mich an und fragte mich nach meinem Befinden. Ich kann mich nicht mehr so genau erinnern, was ich ihm antwortete, aber ich muss wohl ganz ehrlich und unbefangen von meiner Langeweile, einer inneren Leere, vielleicht sogar von einer tiefen Unzufriedenheit gesprochen haben. Da sagte er zu mir: »Du darfst machen, was du willst. Du musst nicht, aber du darfst.« Diese ermunternden Sätze haben mich befreit für ein Leben in Selbstverantwortung und Selbstständigkeit. Dafür bin ich ihm unendlich dankbar.

Meist sprach er wenig mit mir, und wenn, dann oft nur in Stichworten. »Heute erstens rasieren. Zweitens Stadt. Drittens einkaufen.« Mich ärgerten und verletzten diese Satzscherben, ich wollte durch eine intakte Scheibe sehen. »Du sollst nicht in Einzelwörtern reden«, verlangte ich dann von ihm, »sprich in Sätzen mit mir!« Fragte er: »Café?«, dann erwiderte ich: »Was ist mit dem Café? Café – was meinst du damit?« Diese aufs Notwendigste reduzierte Kommunikation hatte aber sicher nicht mit fehlendem Respekt mir gegenüber zu tun, sondern war eher ein Ausdruck seines Wesens. Er war ein stiller, introvertierter Mensch, weise und mit einem feinen Sinn für Humor ausgestattet.

Er nahm mich ernst und ließ mich an seinen kulturellen Interessen und vielfältigen Tätigkeiten teilhaben. Wenn er zum Beispiel am Sonntag zu einem Patienten gerufen wurde, durfte ich ihn begleiten, falls ich das wünschte. Zwar musste ich im Auto warten, bis er von seinem Hausbesuch zurückkam, aber das machte mir nichts aus. Ich war ein neugieriges Kind und nutzte die Zeit, indem ich die Umgebung studierte, die großen und kleinen, weißen oder farbigen Häuser, die Bäume, Hecken, Büsche entlang der Straße, den Verkehr, die Katzen und Hunde. Zu gern beobachtete ich auch die vorbeischlendernden Menschen, ihre Ausstrahlung, ihren Gesichtsausdruck. Glänzten ihre Augen? Hatten sie Kummerfalten oder sahen sie zufrieden aus? Auch mein Vater war ein beobachtender Mensch. Ging ich mit ihm einkaufen – am liebsten am Morgen, wenn noch nicht viele Leute unterwegs waren –, dann nahm ich wahr, wie seine Augen umherschweiften. Sah er eine Frau, dann ließ er seinen Blick auf ihr ruhen, auf ihrer Figur, Frisur, Kleidung, auf ihrem Schmuck. Mit Wohlgefallen, das war nicht zu übersehen. Und er studierte die Schaufenster – ausgestellte Frauenwäsche, Strümpfe –, während ich ihn studierte. So beeinflusste er mich, ohne sich dessen bewusst zu sein. Genau wie er bewundere ich die Frauen und fühle mich wohl in ihrer Nähe. Von ihm habe ich auch das Interesse an handwerklichen Tätigkeiten geerbt. So begleitete ich ihn besonders gern in einen Eisenwarenladen. Ich liebte es, mit ihm nach einer bestimmten Schraube oder Zange zu suchen. Was es da doch alles zu bewundern gab: Werkzeug für drinnen und draußen, Utensilien, um Wein abzufüllen, Netze, was auch immer.

Ja, mein Vater und ich standen uns sehr nahe. Ich ertappe mich heute noch häufig dabei, wie ich etliche seiner Verhaltensweisen, die ich unbewusst verinnerlicht haben muss, an den Tag lege. Von ihm habe ich auch die Liebe zum Kochen – mein Vater bereitete jeweils das Sonntagsmahl zu –, und wie er umgebe ich mich gern mit schönen Bildern. Er liebte die bildende Kunst und ging oft in ein Museum – mit mir im Schlepptau. Ich genoss die gediegene Atmosphäre in den vornehmen Häusern und fühlte mich wohl in den hohen, hellen Räumen. Es machte mir Freude, mit meinem Vater Bilder und Statuen oder auch antike Möbel zu bestaunen. Ich beobachtete seine Mimik, wenn er ein Bild betrachtete, und sah seine Freude daran, sein Schmunzeln oder Staunen. Ich ließ meinen Blick von seinem Gesicht zum Bild schweifen und versuchte zu verstehen, welches Detail genau diese Mimik hervorgerufen haben könnte. Dank meinem Vater lernte ich die Kunst schätzen. Wie er kann ich mich über ein Kunstwerk freuen und eine Beziehung zu ihm herstellen. Die Kunst hat mir geholfen, in meinem Kopf eine reiche, lebendige, kreative Welt zu schaffen. Und sie hat verhindert, dass ich das Leben verschlafe oder gar depressiv werde. Ja, die Kunst hat bleibenden Wert und gleichzeitig die Kraft zu verändern. Mit meinem Vater sprach ich jedoch nie darüber. Wenn wir miteinander vor einem Bild standen, waren wir uns in Gedanken nah. Worte hätten diese Atmosphäre der Nähe wohl mehr gestört als vertieft. Trotzdem, es konnte mir auch manchmal langweilig werden in der Stille, die mich immer einschloss.

Der Vater nahm mich sogar einmal zu einem Konzert mit. Ob er mir, dem Nicht-Hörenden, einen Zugang zur Musik vermitteln oder ob er seine tiefe Leidenschaft mit mir teilen wollte? Bach war der Lieblingskomponist meines Vaters. Mir sagte der Name damals gar nichts. Erst viel später lernte ich von meiner ersten Frau, wer Johann Sebastian Bach war.

Ich begleitete meinen Vater auch ins Theater. Dort kam ich zum ersten Mal mit der Kunst der Pantomime in Kontakt, die mich später ganz in ihren Bann ziehen sollte. Dass sie mich zugleich aus meiner Einsamkeit befreite, war ein Glück für mich, hatte aber nichts mit meiner Entscheidung für diesen Weg zu tun.

Meine Mutter

Meine Mutter war ganz anders als mein Vater: gesellig – wenn sie Gäste eingeladen hatte, blühte sie richtig auf –, ungeduldig und oft an sich selbst leidend. Und sie hatte gern das Zepter in der Hand. Vielleicht hingen ihre seelische Unausgeglichenheit und ihr inneres Leiden damit zusammen, dass ihr Bruder im Alter von zwanzig Jahren bei einem Verkehrsunfall, den er nicht verschuldet hatte, ums Leben gekommen war? Dieses Ereignis muss sie und ihre ganze Familie ins Mark getroffen und für immer verändert haben. Außerdem hatte meine Mutter von ihren Eltern wohl nicht besonders viel Wärme bekommen. Meine Großmutter war eine starke, strenge und konservative Frau gewesen. So konnte auch meine Mutter später ihren Kindern nicht viel Wärme geben. Dafür spürten wir ihre Unsicherheit umso deutlicher. Sie zog es vor, um den heißen Brei herumzureden oder gar zu schwindeln, anstatt offen und ehrlich mit uns zu sein, und das machte mir sehr zu schaffen. Wie sollte ich ihr vertrauen, wenn ich nie wusste, ob ich ihr glauben konnte? Sie versprach mir zum Beispiel, sie werde mich am folgenden Wochenende aus der Schule holen, doch als der abgemachte Zeitpunkt gekommen war, hielt sie mich hin: Sie bleibe noch in den Ferien, sie komme einige Tage später – ganz ehrlich –, höchstens eine Woche müsse ich länger warten. Ja, sie wahrte lieber so lange wie möglich den Anschein des Friedens und schob die offene Konfrontation vor sich her. Aus einer Angst heraus oder aus Feigheit oder wollte sie mich schonen? Schwer zu sagen. Auf jeden Fall war sie nicht glücklich. Sie litt darunter, zwei gehörlose Kinder und eines mit Autismus zu haben. Zu jener Zeit wurden Familien wie unsere stigmatisiert. Man schämte sich dafür, nicht dem Durchschnitt zu entsprechen, was wiederum zu einem schlechten Gewissen führen mochte. Vielleicht war das ein Grund, weshalb sie mich manchmal verwöhnte, während sie vor allem mit den beiden hörenden Schwestern sehr streng sein konnte. Oder hatte es damit zu tun, dass ich der einzige Bub war?

Meine Mutter kümmerte sich nicht besonders viel um sich selbst, immerhin fuhr sie ab und zu nach Varese, um sich ein Kleid schneidern zu lassen. Ich durfte sie manchmal begleiten. Und einmal nahm der Schneider auch mein Maß und fertigte extra für mich einen eleganten Anzug an – das werde ich nie vergessen. Nicht Kleider aber waren die Leidenschaft meiner Mutter, sondern Bücher. Sie sammelte alte Ausgaben. Alles liebte sie daran, den Umschlag, das Layout und natürlich auch den Inhalt. Wenn sie zuweilen in einer Buchbinderei aushelfen durfte, lebte sie richtig auf, denn die Arbeit mit den Büchern bereitete ihr Freude und verschaffte ihr ein bisschen Distanz zur Familienarbeit. Dem Haushalt nämlich – vor allem dem Aufräumen und Putzen – konnte sie wenig abgewinnen. Nur die Gartenarbeit, das Kochen und Backen machten ihr Spaß. Wen wundert’s, dass auch ich mich gern im Garten und in der Küche betätige? Schon als Kind schaute ich meiner Mutter – und meinem Vater – mit großem Vergnügen beim Kochen zu und half beispielsweise bei der Zubereitung der Salatsauce. Auch an ihrer Leidenschaft für Bücher ließ meine Mutter uns Kinder manchmal teilhaben, indem sie uns – natürlich immer in Lautsprache – Geschichten erzählte. Es war mir ehrlich gesagt sogar lieber, wenn sie ihre Erzählungen nicht allzu sehr mit Gesten untermalte, denn ihre Bewegungen waren »schrill« und manchmal sogar grob, jedenfalls nicht angenehm anzuschauen. Die richtige Gebärdensprache war bei uns daheim ebenso wie in der Schule kein Thema.

Als ältere Dame, nach dem Tod meines Vaters, wurde meine Mutter weicher. Sie räumte auf in ihrem Leben, lernte ihren Eltern und sich selber zu verzeihen und stand zu ihrem schlechten Gewissen uns Kindern gegenüber. Ich habe mich jedenfalls mit ihr versöhnen können.

Ferien

Anders als viele Familien zu jener Zeit machte meine Familie regelmäßig Ferien, und zwar nicht nur einmal, sondern gleich mehrmals pro Jahr, aber kaum je alle zusammen: zum Beispiel die Winterferien in den Bergen, die ich jeweils mit meiner Mutter und einer der Schwestern im Wallis oder im Berner Oberland verbrachte. Ich liebte den Schnee und das Skifahren. Dann die Herbstferien zu viert am Meer: meine Eltern, eine Schwester und ich. Und die vielen Wochen in unserem Ferienhaus im Tessin oberhalb des Lago di Lugano: im Frühling, im Sommer und auch im Winter. Mein Vater hatte das Haus 1959 mit der Unterstützung meiner Großmutter mütterlicherseits bauen lassen. Sie griff meinen Eltern manchmal unter die Arme, da diese wegen uns drei Kindern mit einer Beeinträchtigung finanziell recht belastet waren. Dort, im Süden der Schweiz, fühlten wir uns wohl. Wir waren ein bisschen von der Öffentlichkeit abgeschirmt, während wir im Alltag in Luzern unweigerlich die Aufmerksamkeit der Umgebung auf uns zogen. In den Weihnachtsferien wäre ich allerdings lieber Ski fahren gegangen. Doch mein Vater bevorzugte das angenehm milde Tessiner Klima, obwohl es im Haus selbst nie richtig warm wurde. Es war für den Sommer gebaut worden und hatte damals noch keine Wärmepumpe, sondern nur einen wunderschönen Kachelofen, den mein Vater zwar liebevoll mit Kohle fütterte, dessen wohlige Wärme sich aber auf die Stube beschränkte. Trotzdem erinnere ich mich auch gern an diese Tage zwischen Weihnachten und Neujahr mit meinem Vater und zwei der Schwestern. Wir gingen zusammen wandern, oder ich half meinem Vater beim Holzsägen. Oft spielte ich auch allein draußen im Wald, mit dem Ball, auf der Schaukel, mit Pfeil und Bogen. Und einmal übte ich Schreibmaschine zu schreiben. Stundenlang tippte ich Texte ab. Das war vielleicht nicht gerade spannend, aber auf jeden Fall sehr nützlich. Und was mich im Rückblick erstaunt: Mein höchst lärmempfindlicher Vater beklagte sich nie, nicht ein einziges Mal, über das lästige Klappern der Schreibmaschine (mir war natürlich gar nicht bewusst, dass ich überhaupt ein Geräusch verursachte). Im Gegenteil, er blieb immer ruhig und lieb. Wahrscheinlich freute er sich über meinen Lerneifer.

Im Sommer zogen wir gleich für einige Wochen ins Tessin, aber auch dann wegen der unterschiedlichen Schulferien selten alle sieben miteinander. Erst nahm die Mutter zwei, danach die anderen drei Kinder mit, während der Vater meist zu Hause blieb und arbeitete. Aber auch wenn er mitkam, zog er sich oft zurück. Er begleitete uns nicht nach Luino zum Einkaufen, und am Strand – falls er überhaupt mit von der Partie war – ging er nicht mit uns baden, sondern machte es sich auf einem Liegestuhl im Schatten bequem und las. Barfuß im Sand zu spazieren war ihm ein Graus. Einmal blieb er sogar im Auto, während wir uns im Wasser vergnügten, und verließ es nur kurz zum Filmen.

Ich durfte jeweils für eine Woche ein bis zwei Schulkollegen mitnehmen. Außerdem freundete ich mich mit den Kindern in den benachbarten Ferienhäusern an. Die Erwachsenen ließen uns sehr viel Freiheit, wie es sich die Kinder heute überhaupt nicht mehr vorstellen können. Wir streiften unbeaufsichtigt in den Wäldern umher und zogen durch die Quartiere. Sogar ins Strandbad hätten uns die Eltern allein gehen lassen, doch leider verwehrte uns der Bademeister, als wir eines Tages hineingehen wollten, den Zutritt. Wir verstanden die Welt nicht mehr. Niemand hatte uns darauf aufmerksam gemacht, dass Kinder nur in Begleitung einer erwachsenen Person baden durften. Wir ärgerten uns umso mehr, als der Weg von unserem Ferienhaus hinunter bis zum See weit, steil und heiß war. Aber wir hatten ja genug Zeit. Auch das Nichtstun und die Langeweile hatten ihren Platz, und das war gut so, denn gerade diese nicht verplanten Verschnaufpausen sind doch sehr wichtig für die Entwicklung der Fantasie und der Kreativität. Arme Kinder des 21. Jahrhunderts, die vor lauter Spielzeug ihre eigenen Ideen nicht mehr wahrnehmen, die ständig am Handy hängen oder vor dem Bildschirm sitzen. Wir hatten viel Freiraum; nur an den Abenden hätten wir uns etwas mehr davon gewünscht, wir mussten nämlich immer sehr früh zu Bett gehen, obwohl wir auch am Mittag, nach dem Essen, brav eine halbe Stunde Siesta machten, während die Eltern ihre Ruhe genossen.

1964 dann ließen meine Eltern im Garten ein Schwimmbad bauen. Nun konnten wir uns den weiten Weg ins Strandbad sparen. Ja, mit dem Tessin verbinden mich unzählige unvergessliche Erinnerungen.

Im Herbst fuhren meine Eltern, meine gehörlose Schwester und ich meist nach Italien ans Meer, während die anderen Geschwister, die noch keine Ferien hatten, daheim von einer Haushälterin umsorgt wurden. Wir vier Glücklichen nisteten uns dann jeweils im ligurischen Alassio im Grandhotel ein, einem vornehmen Fünf-Sterne-Hotel, das wir nur mit wenigen Touristen teilen mussten. Meine Eltern genossen die Ruhe der Zwischensaison und vertieften sich in ihre Bücher – mein Vater war ein passionierter Krimi-Leser –, für meine Schwester und mich bedeutete das allerdings, dass wir die einzigen Kinder waren. Kein Problem für mich, ich war es ja gewohnt, mich allein durchzuschlagen. Zudem hielten sich im Hotel deutsche Gäste auf, mit denen ich manchmal schwimmen ging, manchmal auch im Sand Boccia oder Fußball spielte. Oder ich zog los, neugierig wie ich war, und schaute in eine Bar, wo ich die Leute so lange beim »Töggelen«, beim Tischfußball, beobachtete, bis sie mich mitspielen ließen.

Unter den temperamentvollen Italienern fühlte ich mich wohl. Sie mochten mich sehr, so sehr, dass mich meine Mutter einmal warnte, ich solle vor den Männern auf der Hut sein. Sie wollte mich vor Übergriffen schützen, und das war gut, denn nun wusste ich, ich durfte und musste mich verteidigen, falls mir jemand zu nahe käme. Zum Glück war das nie der Fall. Nein, ich machte immer nur gute Erfahrungen mit den Südländern. Und ich habe ihnen viel zu verdanken, denn ihre ausdrucksstarke Körpersprache und die schönen Gesten haben mir gezeigt: Die Verständigung mit Hörenden muss nicht unbedingt kompliziert sein. Ich verstehe die Südländer viel besser als die gehemmten Deutschschweizer und -schweizerinnen, die oft nicht wissen, was sie mit ihren Händen tun sollen, während sie reden. Sie stecken sie in ihre Hosentaschen oder verschränken sie vor dem Bauch. Ist das nicht jammerschade, wo sie doch mit ihren Händen sprechen könnten? Ohne diese Erfahrung, dass es Menschen gibt, die ihre lautsprachlichen Äußerungen körpersprachlich untermalen, hätte mein Leben vermutlich einen anderen Gang genommen und ich wäre nicht beim Theater und bei der Pantomime gelandet. Wer weiss, was aus mir geworden wäre?

Vier Generationen (von links nach rechts): Christophs Mutter Yvonne Staerkle-Rubin mit Christoph, Yvonne, Grossmutter Elisabeth Rubin-Scholer, Verena, Vater Alfred Staerkle, Brigitte, Marianne, Urgrossmutter Anna Scholer-Mohler. Foto: Familienbesitz

Christoph im Alter von 2 Jahren mit seiner Mutter. Foto: Familienbesitz

Christoph im Alter von 7 Jahren. Foto: Familienbesitz

Mein Leben als gehörloses Kind

Erlebnisse im Elternhaus

Da ich mit meiner Familie meist nur die Wochenenden und die Ferien verbrachte, beschränken sich meine Erinnerungen an das Familienleben auf einzelne starke Erlebnisse, die sich in mein Gedächtnis eingebrannt haben. Viele davon habe ich nie oder erst viel später jemandem erzählt. Ich möchte sie hier als eine Art Flashbacks stehen lassen, ohne sie in einen größeren Zusammenhang zu stellen.

Ein Geist

Draußen herrschte unfreundliches Wetter und es dunkelte schon. Deshalb spielte ich in meinem Zimmer. Ich war wohl etwa fünfjährig.