Mein Leben als Soldat im Kaiserreich 1884-1914 - Hans Wilhelm Fell - E-Book

Mein Leben als Soldat im Kaiserreich 1884-1914 E-Book

Hans Wilhelm Fell

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Beschreibung

Zwölf Jahre lang dient Hans Wilhelm Fell in der alten kaiserlichen Armee, arbeitet sich vom Fähnrich hoch zum Major, bis er schwer verwundet vom Dienst ausscheidet. Seine Memoiren geben Einblicke in die Gedanken und Empfindungen der militärischen Elite in Europa vor 1914. Sie berichten von zahlreichen Reisen, echten Freundschaften und militärischer Realität und wissen dabei stets zu unterhalten.

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Hans Wilhelm Fell

Mein Leben als Soldat im Kaiserreich 1884 – 1914. Erinnerungen des Grossherzoglich Hessischen Offiziers Hans Wilhelm Fell

Herausgeber: Dirk Ippen

Vorwort des Herausgebers

Hans Wilhelm Fell (1884-1966) stand von 1902 bis zu seiner schweren Verwundung im August 1914 im Regiment »Prinz Carl« in Worms. Auf über 1000 Seiten hat er im Alter diese Erinnerungen geschrieben.

Fast alle seine Vorfahren waren Offiziere gewesen. Kaum einer ist eines natürlichen Todes gestorben.

1897 mit gerade 13 Jahren tritt er in die Kadettenvoranstalt Bensberg bei Köln ein. Die Kadettenanstalt Gross-Lichterfelde verlässt er als Fähnrich, 1902 wird er Portepeefähnrich in Worms, 1904 Leutnant im Regiment Prinz Carl.

Fell wird wiederholt zu spannenden Verwendungen »abkommandiert«. So bekommt er eine Weltläufigkeit, die weit über den Horizont eines normalen Offiziers hinaus geht.1906 verbringt er drei Monate zu Sprachstudien in Paris. 1907 wird er zu einer Radfahrkompanie kommandiert. Auf wochenlangen, anstrengenden Versuchsfahrten werden alle Verwendungsmöglichkeiten des Rades für einen künftigen Krieg erprobt. Militärische Einladungen führen ihn nach Madrid, Toledo und durch seine französichen Vettern nach Nordafrika. Dort lebt er längere Zeit als Gast innerhalb der Kasernen der Fremdenlegion.

Als im August 1910 die Zarenfamilie wochenlang in Friedberg lebt, wird er Leutnant in der Wachkompanie und dadurch enger Gefährte russischer Offiziere. Die Zarenfamilie lädt ihn zu Tisch. Zwischen dem Mädchenschwarm Fell und der Zarentochter Alice spinnt sich ein zarter Flirt an.

Im Oktober 1911 verbringt er einige Wochen in dem englischen Militärlager Aldershot. Sein Bericht über all diese Stationen zeigt, wie nah verbunden das europäische Militär vor dem Krieg in Wahrheit gewesen ist.

Dem Regiment Prinz Carl waren seit 1904 jährlich ein bis zwei argentinische Offiziere zugeteilt. Das führte dazu, dass Fell im Herbst 1912 auf 3 Monate als Ehrengast dorthin eingeladen wird. Über 70 Seiten schildert er spannend seine Überfahrt und die herzliche Aufnahme bei Militär wie Zivil. Als Gast in einem argentinischen Dragonerregiment erlebt er im unduchdringlichen Urwald den »Krieg« gegen Giftpfeilindianer. Eine Aktion gegen »die Wilden« die von heute betrachtet nicht kritisch genug gesehen werden kann.

Am 2. August 1914 erlebt er den Abschied und Ausmarsch des aktiven Regiments Prinz Carl. Danach hatte er den Abmarsch der ersten Reservetruppe zu organisieren mit der er selber am 12. August in die Schlacht an der Marne ausrückt. Am 9. September wird Fell schwer verwundet und muss ausgegraben werden. Nach Dunkelwerden beginnt der Rückzug. Damit enden die Erinnerungen von Fell.

Diese Erinnerungen sind eine lebendig erlebte Geschichte der alten kaiserlichen Armee. Dem übersteigerten Preussentum, jeder Kriegstreiberei steht der Anhänger des Hauses Hessen-Darmstadt ausgesprochen kritisch gegenüber.

Über seine nicht wenigen amourösen Abenteuer, nach dem plötzlichen Tod seiner jungen Frau durch einen Reitunfall, schreibt Fell mit der Diskretion eines Gentleman. Sie sind aber wie alles spannend zu lesen, weil Fell anschaulich schreiben konnte. Das hebt diese Erinnerungen weit über alle normalen Militärmemoiren hinaus. Es ist kein Zufall, dass er nach seinem Abschied als »Charakter-Major« im Zivilleben Journalist und Auslandskorrespondent geworden ist.

Wie es gewesen ist in der alten Armee und was die militärischen Eliten in Europa vor 1914 gedacht und empfunden haben, das vermitteln diese Aufzeichnungen auf sehr unterhaltsame Weise.

München, 6.12. 2021

Dirk Ippen

Hinweis: Major Fells Erinnerungen beinhalten auch Wertungen und Berichte über Menschen außereuropäischer Kulturen, die in der damaligen Zeit als "nicht zivilisiert" betrachtet wurden. Der Herausgeber und der Verlag distanzieren sich ausdrücklich von geschilderten Meinungen und Taten und weisen darauf hin, dass die vorliegende Veröffentlichung auch insoweit als historisches Zeitdokument zu verstehen ist.

I. Band 1884-1906

Rechenschaft.

»Wir sind ein fahrend Ritterpaar, Bayard,

Und taugen beide nicht zur Gegenwart.«

C.F. Meyer

Wenn ich mich nun doch, nach langem Widerstreben, dem Drängen eines teuren Menschen nachgebend, entschlossen habe, die eintönige Dumpfheit dieser erzwungenen Muße zu einer Rückschau auf meine vielverschlungene Lebensbahn zu nutzen, so bin ich mir darüber klar, daß es sich nicht um die Niederschrift von Memoiren im üblichen Sinne, vielleicht mit dem Hintergedanken späterer Veröffentlichung, handeln kann. Wer, außer den Nächststehenden, könnte in dieser Zeit auch Interesse an den Schicksalen eines Mannes haben, den Beruf und Zufall freilich weit auf dieser Erde herumgeführt und häufig sogar zum Zeugen, ja zum bescheidenen Mitwirkenden an großem und weitwirkendem Geschehen gemacht haben, der auch mit manchem der wirklichen oder problematischen Heldendarsteller auf der lauten Bühne der Völkergeschichte in persönliche Berührung getreten ist, selbst dabei aber immer eine Nebenrolle im Dunkel der Kulisse gespielt hat? Ist es ja doch sogar mehr als fraglich, ob die wenigen lieben Menschen in der fernen gequälten Heimat, die von meiner Familie noch übrig geblieben waren, diese Seiten jemals zu Gesicht bekommen werden, ob die strahlenden dunklen Augen meines Kindes nicht längst im vernichtenden Orkan der vaterländischen Katastrophe erloschen sind. So sollen diese Aufzeichnungen mehr eine Lebensbeichte werden, eine Rechenschaft, die ich vor mir selbst, wie von einem mühsam erklommenen Gipfel zurückschauend, ablege, während über das mehr oder weniger kurze Stück des Erdenweges, das ich noch zurückzulegen habe, schon die Schatten der Abenddämmerung sich senken. Das bedeutet einen schwerwiegenden Unterschied gegenüber der gedruckten Memoirenliteratur, nämlich den, daß ich rückhaltlos wahr sein kann. Ich brauche mich selbst nicht zu schonen, aber auch andere nicht. Ich kann frei und offen zu den Entwicklungen und Ereignissen der Vergangenheit und der Gegenwart meine Meinung äußern, – die freilich manchem sehr paradox vorkommen würde. Ich bin mir durchaus klar darüber, daß ich mein Leben lang in vielen Dingen ein Sonderling gewesen bin, ein Mensch voller Widersprüche, in dessen Seele eigentlich immer eine heimliche Opposition gegen viele Doktrinen und Meinungen lebendig gewesen ist, die den Meisten, ja fast Allen als unangreifbar und unumstößlich erschienen. Oft genug ist es mir selbst nicht gelungen, aus dem Irrsal meiner Gedanken, Träume, Überzeugungen einen Ausweg zu finden. Manchmal hatte – und habe – ich das Gefühl, als sei ich heute eine ganz andere Persönlichkeit als gestern und würde morgen vielleicht wieder ein anderer sein. Vielleicht liegt die Erklärung dafür in den so ganz verschiedenen Blutströmen, die sich in mir kreuzen und merkwürdig machtvoll geblieben sind, viel mehr als in meinem lieben gefallenen Bruder. Wenn ich im nächsten Abschnitt das mir überkommene Ahnenerbe schildere, so wird deutlich werden, was ich damit sagen will.

Alles Erinnern an die Vergangenheit überschattet das Grauen der Gegenwart. Ehe ich die Jahrzehnte wiederaufleben lasse, die tiefer, unwiederbringlicher versunken sind als Atlantis in den Fluten des Ozeans, ziemt sich daher ein Blick in die Zeit. Diese Zeilen werden geschrieben an der grüngoldenen, palmenumrauschten Sonnenküste Portugals, dieses vom tiefblauen Meer umspülten gastlichen Friedensparadieses, des letzten in Europa. Wir Deutschen, die wir heute hier als Heimatlose in der furchtbarsten Bedeutung des Begriffes leben dürfen, sind dem schönen Lande, das uns Asyl bot, dem sympathischen, freundlichen Volke und dem großen Staatsmann an seiner Spitze – vielleicht dem größten, weil menschlichsten unserer Tage – in tiefstem Herzen dankbar, und es wäre ein Frevel, leugnen zu wollen, daß wir vorläufig von all den Millionen unserer Volksgenossen wohl das beste Los gezogen haben. Aber was bedeutet das materielle Wohlergehen, das uns noch gegönnt ist, gegenüber dem furchtbaren Bewußtsein, kein Vaterland mehr zu haben, und all das Glänzende, Große, Schöne und Wertvolle, das sich für uns mit dem Reiche, mit Deutschland, als selbstverständlich verband, nach menschlichem Ermessen unwiederbringlich verloren und ohne Hoffnung auf eine Wiederauferstehung begraben zu wissen. Draußen auf den weißen Häusern von Estoril wehen die grünroten Fahnen Portugals – wir haben keine Fahne mehr. Die kleinste exotische Räuberrepublik prunkt mit ihrem Gesandtschaftswappen – uns schützt niemand mehr, wenn nicht die gütige Gastfreundschaft einer fremden Nation, denn wir haben keinen Staat, wir sind nicht einmal mehr eine Nation, sondern nur ein elender, wimmelnder Millionenhaufen deutschsprechender Menschen. Vielleicht, hoffentlich, hält unsere Jugend an der Zuversicht und dem Willen fest, eines fernen Tages doch wieder einen deutschen Staat in irgendeiner heute noch nicht erkennbaren Form aufbauen zu können. Wir Alten und Älteren werden es bestimmt nicht mehr erleben. Wir sehen, daß wir nicht einen Krieg verloren haben, sondern daß tausend Jahre deutscher Geschichte ausgelöscht sind, als wären sie nie gewesen. Die Dämme, die die Sachsenkaiser und die preußischen Könige in mühevollen, kampfreichen Jahrhunderten so weit nach Osten vorgeschoben haben, daß unserem Volke wenigstens der allernotwendigste Lebensraum gesichert schien, sind gebrochen und die slawische Flut umspült, wie in der sagenhaften Wendenzeit, den Fuß des Thüringer Waldes. Der Rhein ist nicht mehr Deutschlands Strom, sondern, im besten Falle, Deutschlands Grenze. Aber noch schlimmer als diese Zusammendrängung der Trümmer unseres Volkstums auf ein für seine Erhaltung völlig unzureichendes Restgebiet ist die absolute Zerstörung aller politischen, wirtschaftlichen und, selbstverständlich, militärischen Grundlagen und Einrichtungen, die seit Urzeiten überhaupt den Begriff eines Staates ausmachen. Wer sich freilich damit begnügen will, daß die Masse des deutschen Volkes zu Kartoffelbauern wird, daß ein anderer Teil als Fronarbeiter für das Ausland in der geringen noch erhaltenen Industrie schuften darf, der mag den Zustand, wie er sich auf deutschem Boden vielleicht in einigen Jahren entwickeln wird, erträglich finden. Schließlich »lebt« ja auch der ägyptische Fellache oder der indische Kuli irgendwie. Für uns andere aber, für die das animalische Dasein nicht der Güter höchstes ist, die wir stolz waren und sind, uns Deutsche zu nennen, Kinder des, was auch immer eine verblendete Hetze in die Welt posaunen mag, größten Kulturvolkes dar Erde, für uns kann es keinen Trost und keine Freude mehr geben, denn unsere große Mutter, die wir ebenso oder noch mehr als unsere leibliche Mutter geliebt haben, starb in Qualen.

Man kann jetzt oft im Gespräch mit Landsleuten den Ausspruch hören: »Wir haben es ja kommen sehen.« Bei sehr vielen ist es ehrlich gemeint und entspricht den Tatsachen. Jeder aufrichtige Vaterlandsfreund, der sich nicht von dem Lärm einer zweckbetonten Propaganda, von dem Geklirr großer Worte und, wie sich jetzt herausgestellt hat, von trügerischen, ja, teilweise bewußt erlogenen Versprechungen und Voraussagen berauschen ließ, hat nicht erst in den Jahren des Krieges, sondern schon lange vorher die Entwicklung mit bitterster Sorge beobachtet. Auf diese Dinge der jüngsten Vergangenheit will ich hier nicht näher eingehen. Sie leben im Bewußtsein eines Jeden und werden auf lange Zukunft hinaus auch nicht vergessen werden. Worauf es mir aber in dieser meiner Lebensbeichte ankommt, ist ein anderes, und ich will es hier aufzeichnen, weil es zu jenen vielleicht von wenigen geteilten und von vielen als »verschroben« betrachteten Auffassungen gehört, die mich mein ganzes Leben lang beherrscht haben. Ich sehe die Ursprünge des deutschen Unglücks viel tiefer als in den paar Jahren nationalsozialistischer Herrschaft und Irrwege. Nach meiner Meinung ist es für Deutschland ein wahres Unheil gewesen, daß Preußen seit Friedrich dem Großen zum mehr und mehr ausschlaggebenden Faktor im Reiche geworden ist. Daß Friedrich der Große seine Eroberungskriege, die ja im Grunde nichts anderes waren als eine Rebellion gegen das Reich und die Kaiserkrone, zum erfolgreichen Ende führen konnte, daß damit ein Staat, dessen ganze Struktur politisch auf gewaltsame Ausdehnung gerichtet sein mußte, dessen Bevölkerung noch dazu in den östlichen Provinzen keineswegs als rein deutschblütig bezeichnet werden kann, neben das milde und kulturell unzweifelhaft höherstehende Österreich trat, war schon ein Unheil. Das Siegel darauf setzte das Jahr 1866, in dem Österreich endgültig aus dem Reich hinausgedrängt wurde, und die Kaiserproklamation von Versailles, die, wie sich ganz klar ergeben hat, trotz manchen Widerstrebens der Einzelstaaten, besonders Bayerns, die schnelle Umwandlung des Deutschen Reiches in ein Großpreußen einleitete. Damit ist Deutschland, das völkerverbindende Reich der Mitte, auf eine völlig falsche Bahn geleitet worden, die mit Naturnotwendigkeit zum Zusammenstoß mit den anderen Großmächten führen mußte. Daß unsere Stellung an der Spitze der abendländischen Kultur gerade unter preußischer Aegide nicht besonders gefördert worden ist, bedarf kaum einer Unterstreichung. Jene Version der offiziellen Geschichtsbücher, die das alte Reich und später den Deutschen Bund gar nicht genug mit Hohn und Spott bewerfen konnte wegen ihrer angeblichen Schwäche und Ohnmacht, ist bei näherer Prüfung ganz unhaltbar. Sowohl das alte Reich des 18. Jahrhunderts, wie auch der Deutsche Bund, waren durchaus in der Lage, sich gegen Angriffe von außen zu verteidigen, und wären es noch mehr gewesen, wenn nicht Preußen oft genug seine eigensüchtige und keineswegs immer von allgemein deutschen Interessen bestimmte Sonderpolitik getrieben hätte. Zu Angriffs- und Eroberungskriegen waren sie freilich weder befähigt noch gewillt – aber kann man das als einen Nachteil bezeichnen? Ganz im Sinne der preußischen Politik lag auch das Streben nach einer fortschreitenden Zentralisierung des Reiches und einer allmählichen, schon vor 1914 weit fortgeschrittenen Auslöschung aller Rechte und jedes Eigenlebens der Einzelstaaten, die im weiteren Verlauf unweigerlich zu einer völligen Konzentrierung des politischen, wirtschaftlichen und geistigen Lebens in Berlin hätte führen müssen. Das Beispiel Frankreichs mit dem alles erdrückenden Einfluß von Paris zeigt für jeden, der die Stagnation und die verstaubte Langeweile französischer Provinzstädte kennt, was das Ergebnis gewesen wäre. Der Nationalsozialismus, in sehr vielem der getreue Nachbeter und sogar Übertreiber der preußischen Staatsgrundsätze (obwohl seine führenden Männer durchweg keine Preußen waren), hat auch diese Zentralisierung während der kurzen Jahre seiner Blüte bis ins Extrem gesteigert, und die Folgen waren bereits deutlich zu erkennen. In den Augen des Auslandes ist daher Deutschtum in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr mit Preußen identifiziert worden, und das hat uns nicht zum mindesten die zunehmende Feindschaft fast der gesamten Welt eingetragen. Die instinktive Abneigung keineswegs nur des Süddeutschen, sondern beispielsweise auch des Hanseaten und des in den preußischen Rahmen gezwungenen Rheinländers gegen den Preußen als Typ (nicht etwa den Einzelmenschen) und besonders den Berliner war nur zu wohl begründet. Die sehr kurze Zeit, in der Berlin so etwas wie ein Kulturzentrum war, also im wesentlichen die Biedermeierzeit und die 1890er Jahre, ist über Gebühr aufgeblasen worden. Man braucht sich aber nur zu fragen, ob das geistige Leben Weimars, Münchens, Dresdens unter dem preußischen Adler denkbar gewesen wäre, und ob die stolze kaufmännische und seemännische Leistung Hamburgs zu solcher Höhe gediehen wäre, wenn die Handelsstadt ein preußischer Provinzhafen wie Stettin oder Emden gewesen wäre. Es muß dem Rückschauenden heute noch unbegreiflich sein, daß die deutschen Fürsten, die nach der Verfassung selbst des Bismarck-Reiches nicht Vasallen, sondern Verbündete des Kaisers, ihres Primus inter pares, waren, sich dieser allmählichen Degradierung sozusagen widerstandslos unterworfen haben. Ein so klarblickender Mann wie Kronprinz Rupprecht von Bayern, der, wie aus seinen Memoiren hervorgeht, schon in der Mitte des Ersten Weltkrieges die volle Erkenntnis gewonnen hatte, welchem Verhängnis das Reich zutrieb, hätte als Thronerbe des zweitgrößten Staates und gegebener Führer der, wie ich weiß, allmählich unter den deutschen Fürsten sehr stark gewordenen Opposition gegen die Berliner Politik, durchaus die Möglichkeit gehabt, noch damals die Weiche umzustellen, und dadurch unserem Volke nicht nur die Demütigung von Versailles, die Schmach der albernen Revolution von 1918, sondern im weiteren Verlauf der Dinge auch die mit beinahe naturgegebener Notwendigkeit daraus folgenden Ereignisse, nämlich das nationalsozialistische Experiment, den sinnlosen Zweiten Weltkrieg und die Endkatastrophe zu ersparen. Der alte Herr mag es sich selbst heute vielleicht manchmal sagen.

Eine andere Überzeugung, der ich mein ganzes Leben hindurch treu geblieben bin, ist die, daß die Monarchie, die legitime Erbmonarchie, die denkbar beste Regierungsform darstellt, jedenfalls für Europa und ganz besonders für das deutsche Volk, das zwar eine starke Hand am Steuer seines Staatsschiffes wissen will, aber, im Gegensatz zu allen propagandistischen Behauptungen, durchaus nicht die knechtische Herde ist, die, wie die Russen, eines selbstherrlichen Diktators bedarf. Das deutsche Volk steht geistig und kulturell viel zu hoch, als daß es sich freiwillig jeder Mitwirkung an der Gestaltung seiner Geschicke entäußern möchte. Die Herrschaftszeit des Nationalsozialismus ist kein Gegenbeweis. Wir wissen heute alle, aus welchen Wurzeln er entsprang, wie er zur Macht gelangte und mit welchen Mitteln er jede Opposition einfach unmöglich zu machen wußte. Wenn es noch eines Beweises bedürfte, welchen gar nicht zu überschätzenden Wert die monarchische Staatsform, selbst wenn sie durch schärfste konstitutionelle Grenzen in ihrer Machtbefugnis eingeengt ist, für eine Nation gerade in Kriegszeiten besitzt, so hätte ihn England während dieses Krieges erbracht. Ich bin davon überzeugt, daß Großbritannien ohne seine Monarchie die verschiedenen kritischen Augenblicke dieses Ringens nicht überwunden und nicht bis zum siegreichen Ende durchgehalten hätte, obwohl sein König, rein menschlich betrachtet, ja wirklich keine besonders hervorragende Persönlichkeit ist. Aber er vertritt das große Prinzip der Kontinuität, das über alle politischen Schwankungen und Veränderungen hinweg für den einfachsten Mann auf der Straße greifbar und sichtbar die große Idee des Reiches, des Vaterlandes, verkörpert. Mag der Monarch selbst nicht mit großen Geistesgaben ausgerüstet sein – in ihm lebt, vielleicht ihm selbst unbewußt, das seelische Erbe zahlloser Herrschergenerationen und befähigt ihn, ausgleichend und leitend zu wirken, ohne persönlich in die Einzelheiten der Politik eingreifen zu müssen. Es liegt ein tiefer Sinn in dem französischen Grundsatz »Le roi règne, mais il ne gouverne pas«. Es ist sogar noch die Frage, ob ein Genie auf dem Throne, wie Friedrich der Große, ein Segen für Land und Volk ist. Vielleicht ist Maria Theresia mit ihrem hausbackenen, aber gesunden, mütterlichen Menschenverstand, vielleicht sind Kaiser Wilhelm der Erste oder Kaiser Franz Joseph, diese beiden letzten gekrönten Gentlemen, mit ihrem schlichten Sinn und ihrem auf tiefreligiöser Grundlage aufgebauten Bewußtsein von Pflicht und Verantwortung des Herrschers in Wahrheit größer gewesen als die schillernden Meteore, die, schnell wieder verlöschend, das Firmament der Weltgeschichte durchkreuzen. Ich bin nie ein Demokrat gewesen und habe immer mehr zu dem Worte des Dunois aus der Jungfrau von Orléans geneigt: »Für seinen König muß das Volk sich opfern, so will es Schicksal und Gesetz der Welt« und zu jenem anderen Schiller-Zitat: »Der Staat muß untergeh’n früh oder spat, wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet«. Aber das Opfer soll eben dem angestammten König, das heißt der unsterblichen Idee des Vaterlandes, und nicht irgendeinem plötzlich aus der Tiefe aufgetauchten Machthaber gebracht werden und – auch ein König trägt Verantwortung, vor Gott und vor seinem Volk. Wenn man die Demokratie ablehnt, dieses wahrhaft sinnlose System, in dem die Stimme eines analphabetischen Ochsenknechtes soviel wiegt wie die des weltberühmten Gelehrten, so heißt das nicht, denen, die die Macht besitzen, alle Zügel frei zu geben. Es muß eine Möglichkeit bestehen, Willen und Gefühl der Nation den Regierenden deutlich zu machen. Wir haben es erlebt, wohin es führt, wenn jede Kontrolle fehlt und wenn jeder Widerspruch, ja auch nur jede Meinungsäußerung ernstlich besorgter Vaterlandsfreunde und berufener Sachkundiger nicht nur mundtot gemacht, sondern als Hochverrat angesehen und bestraft werden. Jedem von uns liegen die grauenhaften Folgen für Innen- und Außenpolitik, für Kriegführung und, nicht zum wenigsten, für die öffentliche Moral, heute leider nur zu klar vor Augen. Ich bin der Überzeugung, daß, wenn wir in Deutschland noch die Monarchie gehabt hätten, der Nationalsozialismus, selbst wenn er überhaupt zur Macht gelangt wäre, niemals diese »Enormitäten« (um wieder mit Schiller zu sprechen) hätte zeitigen können. Das Beispiel des faschistischen Italien zeigt es deutlich.

Hat wohl schon einmal jemand darüber nachgedacht, daß alle, ausnahmslos alle Völker, die ihre angestammten Throne gestürzt haben, furchtbar dafür büßen mußten? Wenn man sich in unserer entgötterten Zeit nicht fast schämte, es zu sagen, so möchte man glauben, daß das viel verlästerte Wort vom Gottesgnadentum doch mehr als eine absolutistische Formel bedeutet, als ob Gott oder das Weltenschicksal diese Nationen für ihren Frevel mit feurigen Ruten geißelte. Ich brauche nur die Namen Deutschland, Österreich, Rußland, China, Spanien, Portugal, Griechenland zu nennen. Und die »Große« Französische Revolution, die von allen »freien« Geistern in der Welt als ein neues Morgenrot der Menschheit gefeiert wurde? Nun, sie hat dem französischen Volke nicht nur die Schreckenszeit, sondern auch die Blutströme der Napoleonischen Kriege und die verzweiflungsvolle politische Instabilität des ganzen 19. Jahrhunderts und in letzter Folge jetzt den Abstieg zu einer Nation 2. oder 3. Ranges eingebracht. Darüber hinaus aber ist gerade diese Revolution für ganz Europa ein Verhängnis geworden, denn sie öffnete der Unterwelt das Tor und leitete jene Aera sozialer Kämpfe ein, deren Ausgang wir noch nicht kennen, aber wohl als grauenhaft fürchten müssen und, vor allem, sie hat in ihrer levée en masse jene völlige Verrohung des Krieges eröffnet, deren letzte übelduftende Blüte wir jetzt in der Atombombe schaudernd erlebten. Solange der Krieg – dessen Verschwinden aus dem Völkerleben ich mir übrigens trotz aller schönen Redensarten und auch der eben genannten Atombombe nicht vorstellen kann, da er in der Natur des Menschen begründet ist – solange der Krieg noch von Berufsheeren, von Söldnern unter Führung von Gentlemen, geführt wurde, hat er immer, selbst in den schlimmsten Zeiten des 30-jährigen Krieges, noch eine Spur von Ritterlichkeit bewahrt, und die Anwendung allzu vernichtender Kampfmittel unterblieb schon aus rein praktischen Erwägungen heraus, da der geworbene Soldat teuer und nicht leicht zu ersetzen war, und Fürsten wie Feldherren aus menschlichen, vielfach auch religiösen Beweggründen, vor einer Zerstörung friedlicher Städte und einer systematischen Ausrottung der Bevölkerung zurückschreckten. Seitdem der Krieg nicht mehr ein Kampf der Heere, sondern der Nationen geworden ist, also seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, ist er zunehmend bestialischer geworden und gleicht heute mehr dem rücksichtslosen Vernichtungskampf feindlicher Gangsterbanden in Chicago als dem Degenkreuzen zwischen Kavalieren. Ich persönlich habe mich niemals jener in allen Ländern, außer England und Nordamerika, aus begreiflichen Gründen gepflegten Begeisterung über den allgemeinen Wehrdienst anschließen können, und hätte selbst wahrhaftig lieber eine Truppe von Berufssoldaten kommandiert als diese zum größten Teil sehr wider ihren Willen in die Uniform gesteckten und vielfach wenig zum Kriegshelden geeigneten braven Bäckergesellen, Schlosserlehrlinge, Bauernjungen usw. Als in den 1920er Jahren der unvergeßliche General von Seeckt sein Buch über »Die Armee der Zukunft« veröffentlichte und darin der Meinung Ausdruck gab, daß gerade die technische Vervollkommnung der Kriegsmittel die Massenheere entbehrlich und die Schaffung einer hochspezialisierten kleinen Armee von Berufssoldaten notwendig machen würde, war ich natürlich von der Meinung dieses großen Soldaten, die so sehr der meinigen entsprach, begeistert. Bis jetzt haben wir uns beide geirrt – gerade das Gegenteil ist eingetreten: In diesem Zweiten Weltkriege waren nicht nur alle Männer, die überhaupt noch zwei Arme und Beine hatten, sondern sogar Frauen, Kinder und Greise kämpfende Soldaten! Auf lange Sicht hinaus aber werden wir vielleicht doch Recht behalten, wofür manche Anzeichen sprechen. Für uns Deutsche sind derartige Überlegungen reine Theorie geworden. Es wäre Wahnsinn, von einem Freiheitskriege auch nur zu träumen. In unserer auf unabsehbare Zeit hinaus hoffnungslosen Lage, die sich nicht einmal mit der Preußens nach dem Frieden von Tilsit vergleichen läßt, hätten wir nicht einmal von einem ja durchaus möglichen kriegerischen Zusammenstoß zwischen den siegreichen Welten, also den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, denn England und Frankreich sind Mächte zweiten Ranges geworden, Vorteile zu erhoffen. Ein solcher Konflikt müßte sich, soweit er europäischen Boden berührt, naturnotwendig auf deutscher Erde abspielen, also zu einer restlosen Zerstörung der wenigen noch aufrecht stehenden Städte und zu einer vollständigen Ausrottung der Reste unseres Volkstums führen, ganz abgesehen von der furchtbaren Wahrscheinlichkeit, daß dann wieder einmal auf beiden Seiten Deutsche gegeneinander kämpfen würden. Wenn man mich fragen würde, wie ich mir denn bei einer derartig hoffnungslosen Beurteilung der Lage Deutschlands die zukünftige Entwicklung vorstelle, so müßte ich darauf antworten: »Ich weiß es nicht.« Eine Wiederauferstehung des Reiches als Großmacht halte ich für so gut wie ausgeschlossen. Selbst wenn irgendeiner der heute und noch auf lange Zeit hinaus über unsere Geschicke entscheidenden Staaten es als nützlich für seine eigenen Interessen ansehen würde, die Neuschaffung eines Staatsgebildes in Deutschland zu begünstigen, so würde dabei im besten Falle ein völlig abhängiger Vasallenstaat herauskommen, bei dem von vorneherein dafür gesorgt würde, daß er keinerlei selbständige Außenpolitik betreiben könnte und unter keinen Umständen wieder so etwas wie eine wirtschaftliche, industrielle oder gar militärische Macht aufbaute. Das einzige, was unser Volk überhaupt noch erhoffen kann, ist, daß es dank seiner Arbeitskraft und Organisationsfähigkeit nach Überwindung der zunächst noch vor ihm liegenden furchtbaren Not- und Hungerjahre für die dann noch übrig bleibende Bevölkerung eine leidliche Lebensmöglichkeit schafft und vielleicht auch wieder anfangen kann, seine Arbeit auf kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet irgendwie fortzusetzen. Ich beneide die Glücklichen, die optimistischer sein können als ich – mir ist es beim besten Willen unmöglich.

Soll man nun diese Verurteilung zum Tode oder zu lebenslänglichem Zuchthaus, die die Sieger über eines der größten und ältesten Kulturvölker dieser Erde ausgesprochen haben, auch noch als rechtsgültig, als ein Gottesurteil, anerkennen? Unsere Feinde wünschen es und werfen uns sozusagen als ein Verbrechen vor, daß wir uns nicht damit abfinden können, ja, daß wir auch nur die Hoffnung zu hegen wagten, es könne wieder einmal besser werden. Ich bestreite ihnen das Recht dazu. Ich bin der Letzte, der es leugnen wollte, daß in diesem Kriege auf unserer Seite manches geschehen ist, was kein anständiger Mensch billigen kann, und mich als alten Soldaten des Ersten Weltkrieges, der aus heiligster Überzeugung und tiefer Kenntnis der Dinge heraus sagen kann, daß unsere Armee damals mit fleckenlosem Ehrenschilde heimgekehrt ist, hat das seit langem tief geschmerzt. Aber – sind die anderen, in deren vorderster Reihe ja die Sowjetunion steht, wirklich so viel besser als wir gewesen, daß sie sich als Richter über eine ganze Nation aufspielen dürfen? Es ist nicht so. Und sollte Gott wahrhaftig ein ganzes Volk, unter dem unzweifelhaft selbst bei Anlegung des schärfsten Maßstabes 99 % völlig Unschuldiger sich befinden, wegen der Sünden einiger verdammt haben? Dann wäre er grausamer als der Gott des Alten Bundes, der Sodom schonen wollte, wenn sich auch nur ein Gerechter dort befände. Der Pfarrer der hiesigen protestantischen Gemeinde hat in einer tief durchdachten und von echtestem Gefühl erfüllten Predigt im ersten Gottesdienst der Lissaboner deutschen Kirche nach der Katastrophe die Ursache unseres Unglücks in der Abwendung des deutschen Volkes von Gott gesucht. Es mag sein, daß darin eine der vielen Ursachen liegt, denn auch der nicht unbedingt Kirchengläubige muß, wenn er weiterdenkt, anerkennen, daß der, der einem Volke und besonders der Jugend die Religion nimmt, sie des besten und wertvollsten Teils ihrer moralischen Grundlagen beraubt. Und doch muß ich dem von mir hochverehrten Pfarrer widersprechen. Zunächst ist es nicht richtig, daß das deutsche Volk sich von Gott abgewandt hat, sondern nur seine vorübergehend Regierenden und ein Teil der in falschen und, wie viele schon längst erkannten, in verderblichen Grundsätzen erzogenen Jugend. Ungezählte Millionen Deutsche haben an ihrem Glauben festgehalten trotz aller Anfeindungen, viele dafür gelitten, und der größte Teil von ihnen hat seine Kinder im christlichen Sinne erzogen. Sollte ein allweiser und allgütiger Gott ein so grauenhaftes Schicksal über diese Millionen treuer und gläubiger Männer, Frauen und Kinder verhängt haben, um sie für die Irrtümer, meinetwegen auch Verbrechen verhältnismäßig weniger – zu deren Verhütung sie völlig ohnmächtig waren – zu bestrafen? Ich kann und will es nicht glauben. Und so komme ich als letztes Stück dieser inneren Abrechnung mit mir selbst auf meine religiösen Anschauungen. Den größten Teil meines Lebens hindurch bin ich ein leidlich guter und gläubiger Katholik gewesen. Noch heute halte ich die Römisch-Katholische Kirche für die vielleicht gewaltigste geistige Organisation, die die menschliche Gesellschaft überhaupt jemals hervorgebracht hat. Ihr Verschwinden würde den endgültigen Abstieg zur Vertierung bedeuten. Aber dieser grauenhafte Krieg hat mich in meiner Dogmengläubigkeit erschüttert. Bisher hat niemand mir auf die Frage, wie ein nicht nur allgütiger, sondern auch allmächtiger Gott solche Scheusäligkeiten unter den nach seinem Bilde geschaffenen Menschen zulassen konnte, eine mich befriedigende Antwort erteilen können. Gerade in diesen Tagen las ich zufällig in einem Buche über den Heiligen Augustinus, daß schon diesen größten Kirchenvater und Philosophen der ersten christlichen Jahrhunderte das gleiche Problem beschäftigt und ihm schwere Skrupel gemacht hat. Er ist auch nur zu dem berühmten Ausweg gelangt, daß Gott den Menschen eben den freien Willen verliehen habe, aber auch diesem scharfen Geiste gelingt es nicht, das Rätsel zu lösen, warum Gott, der in seiner Allweisheit alle Folgen in fernster Zukunft gekannt hat, den Menschen dieses gefährliche Geschenk machte. Ich persönlich kann mich jedenfalls nicht dabei beruhigen, und, wenn der Heilige Augustinus dann sogar zu dem merkwürdigen Schluß gelangt, daß Gott dem Menschen diese freie Willensausübung trotz des üblen Gebrauchs, den er davon macht, nicht wieder habe nehmen oder beschränken können, weil er sich sonst selbst eines Irrtums (der für Gott unmöglich ist) zeihen würde, – so grenzt das meiner Meinung nach an Blasphemie, denn es heißt nicht mehr und nicht weniger, als daß Gott zu eigensinnig wäre, um der Menschheit durch ein Machtgebot die schauerlichen Leiden zu ersparen, die sie seit Jahrtausenden trägt. Außerdem wird ja durch diese Beweisführung der ganze Sinn und Wert des Gebetes hinfällig, denn wie sollte dann jemand hoffen können, Gott durch seine Bitten zu beeinflussen? Ich jedenfalls kann nicht mehr an den Gott glauben, den die Kirche uns verkündet, sondern ich bin mehr und mehr zu der Überzeugung gelangt, daß dem Lenker der Weltengeschicke, den zu leugnen töricht wäre, das Tun und Lassen der Menschen auf unserer winzigen Erde, diesem Staubkorn in der Unendlichkeit, so gleichgültig ist wie uns das Gewimmel eines Ameisenhaufens.

So stehe ich am Ende meiner Bahn vor einem Berg von Scherben. Nichts von dem ist übrig geblieben, was meines Lebens und meiner Arbeit Inhalt war. Das einzig Gute ist, daß ich nicht mehr enttäuscht werden kann, denn ich erhoffe und erwarte nichts mehr von der Zukunft, weder für mein Volk, noch für meine bedeutungslose Persönlichkeit. Wenn früher oder später der Schlußpunkt gesetzt wird, so bleibt mir nichts, als »die Einsicht in das Nichts und herzliche Verachtung alles dessen, was uns erhaben schien und wünschenswert«.

Wurzeln.

»Wohl dem, der seiner Väter gern gedenkt.«

Goethe

Vielfach wird die Ansicht verfochten, daß der Mensch im Wesentlichen ein Produkt der Umgebung sei, in der er aufgewachsen ist, oder der Erziehung, die er genossen hat. Ich habe das nie glauben können, und bin der Meinung, daß das Blut, das von den Ahnen überkommene Erbgut, das Beherrschende ist. Wie man aus dem Abkömmling hochgezüchteter Rennpferde niemals einen Karrengaul wird machen können, so wird ein Kind, das durch irgendwelche Umstände selbst im frühesten Alter in eine höhere oder tiefere Lebensschicht verschlagen wurde, sich immer deutlich von seiner Umgebung unterscheiden, mag es auch deren äußere Formen angenommen haben. Ohne daß ich mich je besonders in die in den letzten Jahren in Deutschland so beliebte Ahnenforschung vertieft habe, hatte ich eigentlich von jeher immer das selbstverständliche Bewußtsein, in allen meinen Lebensäußerungen das Ergebnis einer allerdings besonders eigenartigen Mischung sehr verschiedener Blutströme zu sein. Die Wurzeln meines Daseins entspringen in deutscher und in südfranzösischer Erde. Drei Zweige sind ausgesprochen soldatisch bestimmt, einer führt in hohe geistige Regionen zurück. Meine väterliche Familie ist im Mannesstamme durch Jahrhunderte in Mainz verwurzelt gewesen. Seitdem der erste nachweisbare Ahne im Jahre 1624, wahrscheinlich aus dem damals kurmainzischen Erfurt, als Büchsenmeister, also Artillerieoffizier, durch den Kurfürsten Joseph von Erstein in die goldene Stadt am Rhein berufen wurde, – ein Zeichen, daß er sich in jenen kriegerischen Jahren schon eines guten fachlichen Rufes erfreut haben muß, – sind alle meine Vorfahren bis zu meinem einzigen Bruder und mir Offiziere gewesen, zuerst in kurmainzischen, dann in landgräflich bzw.. später großherzoglich hessischen Diensten. Sie haben vielfach, da die Truppen der kleineren deutschen Staaten ja in ganz Europa gefochten haben, ein buntes Schicksal gehabt, ihre Gräber liegen verstreut irgendwo zwischen Gibraltar und Kolberg. Eine eigenartige Fügung hat über unserer Familie gewaltet: Seitdem mein damaliger Ahn in der Schlacht bei Roßbach als Hauptmann eines kurmainzischen Grenadierbataillons, das zur Reichsarmee gehörte, gefallen ist, starb keiner meiner direkten Vorfahren – und übrigens ebenso viele ihrer Brüder – mehr eines sogenannten »natürlichen Todes«. Sie sind alle auf dem Schlachtfeld geblieben, bis auf meinen Großvater, der Distriktsoffizier (heute würde man sagen Bezirkskommandeur) in Bingen war, und, da die lange Friedenszeit zwischen den Befreiungskriegen und 1866 keine Schlachten kannte, beim Schwimmen im Rhein ertrunken ist. Seine Leiche hat man niemals gefunden, so daß auch dieser Platz in unserem Mainzer Erbbegräbnis, das mein seliger Vater immer spöttisch ein Damenstift zu nennen pflegte, frei geblieben ist. Mein Urgroßvater muß irgendwo bei der Grenzfestung Badajoz, wo sein zum Rheinbundkontingent gehörendes (später mein) Regiment Groß- und Erbprinz nach vierjährigen Kämpfen unter den Fahnen Napoleons ein trauriges Ende fand, in spanischer Erde ruhen. Das Grab seines Bruders, eines Ingenieuroffiziers, der dem französischen Belagerungskorps vor Kolberg 1807 zugeteilt war und dort fiel, habe ich selbst auf dem Friedhof eines kleinen Dorfes in der Nähe der Ostseefestung gesehen. Die beiden einzigen Brüder meines Vaters sind in dem kurzen Main-Feldzug 1866 gefallen, der für das hessische Kontingent nur das wenige Stunden dauernde, aber außerordentlich blutige Gefecht von Aschaffenburg gegen die Westfalen des preußischen VII. Armeekorps brachte, bei denen übrigens der Bruder Hermann meines Großvaters (mütterlicherseits) v. Rudorff als Leutnant des Infanterie-Regiments Nr. 13 stand. Der Leutnant Ernst Ludwig des 4. Infanterie-Regiments Prinz Carl liegt mit den anderen Kameraden unseres Regiments auf dem kleinen hessischen Ehrenfriedhof bei Laufach, während der Verbleib des jungen Volontärkadetten im 2. Chevauxlégers-Regiment (später Leibdragoner-Regiment) Karl Friedrich, der mit seiner ganzen Patrouille spurlos verschwand, trotz aller Nachforschungen der Familie und der Behörden niemals festgestellt werden konnte. Wahrscheinlich sind sie im unwegsamen Spessart abgeschossen und viel später von Bauern oder Holzfällern gefunden und einfach verscharrt worden. So hat es also damals schon in diesem kurzen Kriege auf deutschem Boden Vermißte gegeben. Es läßt sich begreifen, daß meine Großmutter danach meinen Vater nicht Soldat werden lassen wollte, sondern ihn die juristische Laufbahn einschlagen ließ. Zu dienen brauchte man damals bei uns in Hessen noch nicht, sondern konnte einen Stellvertreter stellen, was 200 Gulden kostete. Ich selbst habe den braven Peter Seib, der aus dem Stellvertreten einen Lebensberuf gemacht hatte und für meinen Vater zum zweiten Male beim Garderegiment in Darmstadt auf 6 Jahre die Knarre schulterte, noch als uralten Mann in Auerbach an der Bergstraße gekannt und mich als Junge an seinen mit den Jahren immer farbiger werdenden Geschichten von seinen Heldentaten in zwei Kriegen erfreut. Aber das Schicksal war stärker als die mütterliche Fürsorge. Zwar zog mein Vater 1867 als krasser Fuchs des Corps Starkenburgia nach Gießen, von dort nach Marburg und dann nach Würzburg, aber ich glaube, daß Mensurboden und Kneipe ihn mehr angezogen haben als die hohe Jurisprudenz. Als er im Frühjahr 1870 sein Examen als großherzoglich hessischer Gerichtsakzessist (Referendar) erfolgreich abgelegt hatte, schmückten die Bänder dreier besonders angesehener Corps, der Gießener Starkenburger, der Marburger Teutonen und der Würzburger Rhenanen, seine Brust, und bis zum Grabe, in das ihm Freundeshand die gleichen verblichenen Bänder, die er in zwei Kriegen unter der Uniform getragen hatte, mitgab, ist mein Vater ein begeisterter Corpsstudent gewesen. Wenige Wochen, nachdem der Akzessist seinen Dienst beim Amtsgericht Mainz angetreten hatte, brach der Krieg mit Frankreich aus. Kein Flehen der Mutter, gegen deren eigenes Vaterland es ja ging, konnte den Sprößling einer alten Soldatenfamilie abhalten, sich sofort als Kriegsfreiwilliger zu melden. Mit dem 3. Infanterie-Regiment Großherzogin rückte er nach kurzer Ausbildung ins Feld, wurde im Oktober bei einem Vorpostengefecht vor Metz durch den Pallaschhieb eines französischen Kürassiers, der den Helm durchschlug, nicht allzu schwer verwundet – mein schönster Schmiß, pflegte mein Vater zu sagen – und meldete sich nach seiner Genesung zum Übertritt in das aktive Offizierkorps, der ihm sofort bewilligt wurde. Als Leutnant kehrte mein Vater aus dem Kriege zurück, wurde einige Jahre später in das 1. Kurhessische Infanterie-Regiment Nr. 81 nach Frankfurt am Main versetzt und fand dort meine Mutter. Clara v. Rudorff war die Tochter eines Bankdirektors, eines, wie die alten Frankfurter gern zu sagen pflegten, »Hergeloffenen«, nämlich eines Preußen aus schwertadligem Hause, der erst 1865 nach vielen Schwierigkeiten das zur Ausübung seines Berufes notwendige und sehr teure Bürgerrecht der Freien Reichsstadt hatte erwerben können. Er war wegen einer angeborenen Augenschwäche der einzige von sechs Brüdern, der nicht hatte Offizier werden können. Seine Familie war unter Friedrich dem Großen geadelt worden, als sein Ahne sich mit dem von ihm aufgestellten Frei-Husarenregiment besonders ausgezeichnet hatte. Dies Husarenregiment war eines der wenigen Freikorps, die der gegen diese provisorischen Truppenkörper bekanntlich sehr kritisch eingestellte König nach dem Hubertusburger Frieden in die aktive Armee übernahm, wo es als Husarenregiment v. Rudorff noch bis zur Heeresreorganisation des Jahres 1808 bestand. Es ist das Stammregiment des bis 1914 in Stolp in Pommern stehenden Husarenregiments Fürst Blücher Nr. 5. Aber meine Großmutter Rudorff kam aus ganz anderen Sphären. Sie gehörte dem ratsfähigen alten Geschlecht der Textor an, und Frau Aja Goethe, die Mutter des Dichterfürsten, war ihre Großtante. So darf ich mit tiefer Ehrfurcht sagen, daß in meinen Adern doch eine Spur des gleichen Blutes pocht, das auch in Goethes Weltherzen strömte.

Bei Studium der hervorragenden Goethe-Biographie von Dr. A. Bielschowsky entdeckte ich jetzt (1952) eine weitere, wenn auch lose Beziehung meiner mütterlichen Familie zu dem Dichterfürsten.

Dort heißt es auf Seite 269 des I. Bandes:

»Geschätzte Kolleginnen hatte sie (Corona Schröter) in der Frau des Kapellmeisters Wolff, an der Frau Steinhardt und an Demoiselle Neuhauss, zu denen nach einigen Jahren noch Fräulein von Rudorff (die Rudel) trat, die den weisen Grämling Knebel entführte.«

Da der Ahnherr der Familie erst 1758 durch König Friedrich den Großen wegen seines tapferen Verhaltens und seiner Leistung in der Schlacht bei Zorndorf in den Adelsstand erhoben worden war, kann es sich nur um eine seiner Tochter handeln, denn andere von Rudorffs als diese Familie gab es 1776 noch nicht. Immerhin interessant, dass die Tochter eines preußischen Regimentschefs sich dem damals im Allgemeinen sehr wenig angesehenen Beruf einer Schauspielerin zugewandt hatte, wenn auch die Bühnenkünstler (vor allem die Künstlerinnen) am Musenhof von Weimar eine wesentlich gehobenere gesellschaftliche Stellung einnahmen als in anderen deutschen Städten. Die »Rudel« heiratete ja dann auch den Großherzoglichen Flügeladjutanten und Hauptmann v. Knebel.

Die Frankfurter Verwandtschaft war übrigens wenig entzückt, daß meine Mutter einen Offizier heiratete, denn dieser Stand galt damals in der stolzen alten Reichsstadt, die den Verlust ihrer Selbständigkeit niemals verwunden hat, nicht eben viel. Der einzige Trost war noch, daß es wenigstens kein Preuße war, auf den die Wahl der Tochter Frankfurts gefallen war. Später haben wir uns mit der sehr ausgebreiteten Verwandtschaft in Frankfurt, das mir fast zu einer zweiten Heimat wurde, außerordentlich gut verstanden. Mein Urgroßvater Textor war, was vielleicht auch nicht uninteressant zu wissen ist, der letzte Fürstlich Thurn und Taxissche Generalpostmeister in Frankfurt am Main. Sein Ölbild in einem gelben, mit Silberstickerei überladenen Uniformfrack ist mir noch deutlich erinnerlich.

Ehe ich den Lebensweg meiner Eltern weiterverfolge, will ich nun das Gedächtnis an die beiden fremden Lebensstämme noch einmal erwecken, die sich aus der fernen, glühenden Provence hinüber an den Rhein gerankt haben. Schon mein Urgroßvater Fell hatte eine Tochter der angesehenen Familie de Rigaud aus Nîmes heimgeführt. Die näheren Umstände, wie er sie fand, sind mir nicht bekannt geworden. In der Napoleonischen Zeit aber, in der ja Mainz zum französischen Departement Du-Mont-Tonnerre gehörte und die hessischen Truppen als Rheinbundkontingent im Rahmen der Grande Armée standen, mag ein hessischer Offizier sicherlich viele dienstliche und private Beziehungen zum inneren Frankreich angeknüpft haben. Die Rigauds gehörten zu der sogenannten Noblesse de Robe, waren also seit Generationen Gerichtsbeamte und. Advokaten gewesen, Berufsstände, die sich unter allen wechselnden Regimen in Frankreich seit Jahrhunderten besonderen Ansehens erfreuten. Ich weiß von meiner Urgroßmutter so gut wie nichts und kenne nur ein ziemlich mäßiges Bild von ihr, auf dem sie einen sehr hochmütigen und verdrießlichen Ausdruck auf ihrem von langen Korkzieherlocken umwallten hageren Gesicht zur Schau trägt. Sie ist, im Gegensatz zu den anderen, sehr langlebigen Frauen meiner Familie, Ausgangs der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts ziemlich früh gestorben. Daß mein Großvater dann auch ein Mädchen aus der gleichen französischen Landschaft zur Gattin wählte, ist auf Grund der ja bereits bestehenden Familienbeziehungen dorthin nicht weiter verwunderlich. Caroline Isabelle de Champion brachte den dritten militärischen Strom in unsere Blutbahn. Schon ihr Großvater hatte der königlichen Armee angehört, und ihr Vater war, fast noch als Knabe, in die Revolutionsheere eingetreten und verhältnismäßig schnell avanciert, so daß er bereits Capitaine war, als die Kaiserlichen Adler ihren siegreichen Flug über Europa antraten. Sein Kürassierregiment hatte die alte Römerstadt Arles zur Garnison, die der napoleonische Offizier freilich nur immer in den kurzen Zwischenräumen zwischen den unaufhörlichen Feldzügen betrat. Seine Familie mag wenig genug von ihm gesehen haben, aber er hinterließ trotzdem zwei Töchter und vier oder fünf Söhne, die, soweit mir bekannt ist, sämtlich die militärische Laufbahn ergriffen. Die Champions waren immer glühende Bonapartisten, und daraus erklärt sich auch wohl, daß dieser Urgroßvater es nachher in der Restaurationszeit nicht über den Colonel auf Halbsold hinausgebracht hat. Immerhin hatte ihn der Kaiser noch während des unglücklichen Feldzuges 1812, datiert aus Moskau, für besondere Waffentaten in der Schlacht von Smolensk zum Comte de l’Empire ernannt, was damals auch mit einer hohen Gelddotation verbunden war. Die Familie hat den Titel später nicht weiter geführt, vielleicht gerade, weil er mit der Katastrophe des Kaiserreiches zu eng verbunden war. Meine Großmama nun, die das jüngste Kind war, ist noch heute völlig lebendig in meiner dankbaren Erinnerung. Ich sehe die kleine, behende Frau mit ihrem vollen, silberweißen Lockenhaar und den fast unnatürlich großen schwarzglühenden Augen noch jetzt vor mir, obwohl es nun auch schon 30 Jahre her sind, seit sie im Alter von fast 93 Jahren heimging. Was hat diese Frau in ihrem langen Leben nicht alles gesehen und durchgemacht! Sie mußte, nachdem sie ihre beiden älteren Söhne für ein Land, das nicht das ihre war, geopfert hatte, ihren letzten Sohn in zwei Kriege gegen ihr eigenes, immer heiß geliebtes Vaterland ziehen lassen und es dann am Schlusse ihres Erdenweges noch erleben, daß dieser Sohn von französischer Kugel fiel. Trotzdem ist sie eigentlich immer fröhlich und guter Dinge gewesen, was wohl nicht zum mindesten auf ihre tief gläubige katholische Frömmigkeit zurückzuführen ist. Vielleicht leben im Kirchensprengel zu St. Stephan in Mainz noch heute ein paar alte Menschen, die sich dieses durch viele Jahrzehnte hindurch eifrigsten Gemeindemitgliedes entsinnen, vielleicht enthält der Schatz der Stephanskirche, wenn ihn nicht eine amerikanische Bombe vernichtet hat, noch die wundervollen Altardecken, Stolen usw., die die nimmermüden geschickten Hände meiner Großmutter in der Einsamkeit einer Witwenschaft von über einem halben Jahrhundert gestickt haben. Meine Großmutter hat Deutschland und das schöne Land am Rhein, in dem sie den weitaus größten Teil ihres Lebens verbrachte, sehr geliebt, mit Ausnahme der Preußen, von denen sie freilich wohl nur wenige Exemplare kennen gelernt hat, und die sie unbeirrbar für eine Art wilder Völkerschaft hielt. Solange mein Vater in Berlin in Garnison stand, hat sie sich nicht ein einziges Mal zu einem Besuch überreden lassen. Insofern war Großmama auch eine echte Französin, als sie niemals richtig deutsch über die notwendigsten Verkehrsphrasen hinaus sprechen gelernt hat. Mein Bruder und ich verdanken dem eine sehr gute französische Aussprache und haben als kleine Buben geläufiger französisch sprechen können als heute. Soldatisches Wesen liebte meine Großmutter sehr, und sie hat jede Beförderung meines Vaters, und von uns Jungens, mit Freude begrüßt und immer durch ein schönes Geschenk gefeiert. Sie konnte es auch gar nicht leiden, wenn einer von uns ihr, was vor dem Ersten Weltkrieg ja auf Urlaub üblich geworden war, in Zivil einen Besuch abstattete, denn nach ihrer Ansicht durfte man die Uniform überhaupt niemals freiwillig ablegen. (Darin unterschied sie sich sehr von der Frankfurter Verwandtschaft, die es uns geradezu nahelegte, bei Familienfesten möglichst doch im Frack oder Smoking zu erscheinen.) Der Feldzug 1870-71 führte zu der eigenartigen Konstellation, daß mein Vater bei der Belagerungsarmee vor Metz stand, während in der Festung sein Onkel, der französische General de Champion, als Kommandeur der Gardezuavenbrigade zur Armee Bazaine gehörte. Nach der Kapitulation von Metz geriet der General in Gefangenschaft, durfte sich aber, nach damaliger ritterlicher Sitte, seinen Wohnort in Deutschland selbst aussuchen. Da Mainz als Festung dafür nicht in Frage kam, ließ er sich möglichst nahe, also in Frankfurt am Main, internieren. Diese Internierung aber glich einer fast vollkommenen Freiheit, und von irgendeiner Art von Zwang war überhaupt nicht die Rede. Nach Kriegsende ließ der General seine Gattin aus Frankreich nach Frankfurt kommen und blieb dort ständig bis zu seinem Tode anfangs dieses Jahrhunderts wohnen. In diesen langen Jahren ist er ein regelmäßiger und hochverehrter Verkehrsgast im Frankfurter Offizierkasino gewesen, und auf besonderen Befehl des Kaisers stellte die Garnison bei seiner Beerdigung auf dem alten Frankfurter Hauptfriedhof die Leichenparade wie für einen deutschen General. (In diesem Jahre des Unheils 1945 wagt man das kaum noch zu schreiben. Wenn man die vornehme und edle Ritterlichkeit, wie sie damals zwischen Gegnern herrschte, die anständig den Degen gekreuzt hatten, mit den heutigen Manieren vergleicht, so muß man wirklich sagen, daß es die sogenannten europäischen Kulturnationen herrlich weit gebracht haben!) Der alte französische General mit seinem schneeweißen Knebelbart, der kleinen, untersetzten, aber straffen Figur, der immer die blutrote Rosette der Ehrenlegion im Knopfloch trug, hatte nicht in das republikanische Frankreich zurückkehren wollen, da er ein fanatischer Anhänger des Hauses Bonaparte war und noch lange Zeit an eine Restauration der Kaiserkrone in Frankreich glaubte. Er und seine Gattin, meine Tante Berthe, die ihn um viele Jahre überlebte, sind untrennbar mit meinen schönsten Jugenderinnerungen verknüpft. Es war mir immer eine besondere Freude, wenn ich den alten Herrschaften in ihrer bescheidenen, aber hübschen Villa am Kettenhofweg, die nicht weit vom Hause meiner Großeltern Rudorff entfernt lag, einen Besuch abstatten durfte. Diese Freude wurde noch vermehrt durch die regelmäßige Gewohnheit des Generals und der Tante Berthe, den Neffen, wenn sie, worauf der alte Soldat besonderen Wert legte, stramm salutierend aufmarschierten, ein kleines Lederportemonnaie mit einem Goldstück zwischen die Uniformknöpfe zu schieben. Als Kadett und Fähnrich war es ein 10 Mark-Stück, als Leutnant erhöhte sich der Betrag auf 20 Mark, und beim ersten Besuch nach meiner Beförderung zum Offizier fand sich sogar ein zusammengefalteter Hundertmarkschein in der kleinen Börse, von denen meine Tante einen ganzen Stapel besessen haben muß. In weitaus bedeutungsvollerer Erinnerung aber sind mir die Erzählungen des greisen Generals und seiner Gattin aus ihrem wildbewegten Soldatenleben unter dem Zweiten Kaiserreich, denn ich lernte dadurch einen Typ von Kriegern kennen, der sich in seiner unbekümmerten Romantik sehr erheblich von dem etwas nüchternen Soldatentum unterschied, für das wir erzogen wurden und dem wir später angehörten. Mein Großonkel hatte in den italienischen Feldzügen im Krimkrieg und in Mexiko gekämpft und vorher an der unerhört blutigen Niederwerfung des kommunistischen Arbeiteraufstandes in Paris unter General Cavaignac 1848 teilgenommen, was ihm aber offensichtlich eine peinliche und bedrückende Erinnerung war, von der er nur ungern sprach. Immerhin kam er gelegentlich darauf, weil er das Ansteigen der sozialistischen Flut in ganz Europa mit größter Sorge beobachtete, und voraussah, daß eines Tages ähnliche Ereignisse in allen Industriestaaten sich abspielen würden. Nach einer für uns deutsche Offiziere etwas fremdartig erscheinenden Gewohnheit hatte meine Tante ihren Gatten auf fast allen seinen Feldzügen begleitet, da die höheren französischen Offiziere, besonders die der Kaisergarde, das Recht hatten, ihre Frauen mit ins Feld zu nehmen. Hier pflegte Tante Berthe, wenn die Rede darauf kam, ein kleines Kästchen aus ihrem Sekretär zu holen, um uns das Offizierskreuz der Ehrenlegion bewundern zu lassen, und zu erzählen, wie sie sich diese damals sonst wohl nie an eine Frau verliehene Auszeichnung erworben hatte. Es war nach der ungeheuer verlustreichen Schlacht von Solferino, als sie, wie die übrigen Offizierdamen, auf einem Verbandplatz nicht weit hinter der Kampffront half, die Unmassen von Verwundeten zu versorgen. In unmittelbarer Nähe ritt Kaiser Napoleon der Dritte mit seiner Suite vorbei. Als er meine Tante, die ihm als Hofdame der Kaiserin Eugenie bekannt war, sah, hielt er sein Pferd an, begrüßte sie und rief ihr, doppelsinnig im Hinblick auf den glühendheißen Tag und die Härte der Kämpfe, zu: »Ça fait très chaud aujourd’hui, Madame!« Worauf Berthe de Champion schlagfertig und ebenso doppelsinnig erwiderte: »Non, Sire, au contraire, il pleut«, dabei lachend auf die zahlreichen in nächster Nähe einschlagenden österreichischen Gewehrgeschosse deutend. Der Kaiser stieg ab und überreichte ihr persönlich das Kreuz der Ehrenlegion. Die Dritte Republik hat sich übrigens meiner Tante gegenüber außerordentlich anständig gezeigt, indem sie ihr bis zu ihrem Tode die nicht unbeträchtliche Pension als Hofdame auszahlte, und zwar in Gestalt eines staatlichen Tabakladens in Lyon, dessen Einkünfte ihr zuflossen, und den sie natürlich durch einen Angestellten verwalten ließ. Die einzige Bedingung war, daß sie sich jährlich mindestens drei Monate in Frankreich aufhalten mußte, was sie sehr gern tat, da ihr so die jedem Franzosen teure Gelegenheit gegeben wurde, die ausgebreitete Verwandtschaft zu besuchen. Die Villa der Champions in Frankfurt war natürlich ein wahres Museum, in dem wir bei unseren Besuchen immer neue interessante Dinge entdeckten, seien es die zahlreichen Schlachtenbilder aus dem Ersten und Zweiten Empire, seien es die vielen europäischen und exotischen Waffen, die Beutestücke aus Mexiko usw. Wenn es zwischen 1870 und 1914 viele Franzosen gegeben hätte, die so dachten und fühlten wie mein Großonkel, so hätte die Geschichte unseres unglücklichen Kontinents einen anderen Verlauf genommen. Es ist selbstverständlich, daß diesen alten kaiserlichen Troupier, der vorher in einem langen Soldatenleben die Trikolore nur immer siegreich gesehen hatte, die schwere Niederlage seiner Armee und seines Landes aufs tiefste schmerzte. Aber er war fern von allen Revancheideen, sondern sprach es immer wieder aus, daß es für Frankreich wie für Deutschland auf die Dauer zum Untergang führen müsse, wenn nicht endlich den immer wiederholten blutigen Auseinandersetzungen zwischen diesen beiden alten Kulturvölkern ein Ende gemacht werde. Er pries die Weisheit Bismarcks, die die Ehre der besiegten Nation sorglich geschont und dann ihre koloniale Ausbreitung nach Kräften unterstützt hatte. General de Champion verfolgte mit brennendem Interesse die von reichem Erfolg gekrönten Bemühungen Frankreichs, sich ein koloniales Imperium in Afrika, Asien und der Südsee zu schaffen, und gab sich der Hoffnung hin, daß die leidige Elsaß-Lothringische Frage darüber allmählich in Vergessenheit geraten würde. Er hatte überhaupt in seiner ganzen Art große Ähnlichkeit mit dem Schöpfer des modernen Marokko, dem hochbedeutenden Marschall Lyautey, der ja bekanntlich gleiche Auffassungen vertrat und mit dem mein Großonkel übrigens auch nach der Richtung übereinstimmte, daß er häufig zu betonen liebte, ein deutscher Offizier stehe ihm doch eigentlich seelisch sehr viel näher als ein Pariser Proletarier. Das Ehepaar de Champion hatte nur einen spät geborenen Sohn, Louis, mit dem ich jedoch nur ein- oder zweimal persönlich zusammengetroffen bin, als er seine Eltern in Frankfurt besuchte. Er war begreiflicherweise auf französische Schulen geschickt worden, hatte seiner Dienstpflicht beim 5. Kürassierregiment in Lyon genügt und war dann unter offenbar etwas dunklen Umständen nach Südamerika gegangen, wo ihn in Venezuela ein früher Tod ereilte. Er hat seinen Eltern wohl wenig Freude gemacht, denn sie sprachen selten von ihm. Mir hat eigentlich nur seine große Photographie in der prunkvollen Galauniform des französischen Kürassiers mit Panzer und roßschweifgeschmücktem Römerhelm einen Eindruck hinterlassen.

Von meinen übrigen Verwandten ist kaum etwas Besonderes zu berichten. Fells gab es recht wenige, die in einem ziemlich entfernten Verwandtschaftsverhältnis standen. Sie waren durchweg hessische Beamte, Kreisräte oder Amtsrichter. Ich hätte beinahe vergessen, die einzige Schwester meines Vaters, die gute Tante Josel, zu erwähnen, ein stilles, altjüngferliches Wesen, die wie ein sorgliches Hausgeistchen meine Großmutter umsorgte und hegte, ohne daß man eigentlich etwas von ihrer Anwesenheit merkte. Wir haben sie alle sehr lieb gehabt, denn sie hat sich immer bemüht, jedem seine Wünsche an den Augen abzulesen, aber die Vorgänge der Außenwelt interessierten sie überhaupt nicht, obwohl sie einen gesunden hausbackenen Menschenverstand hatte, und so war eine Unterhaltung mit ihr eigentlich ziemlich schwierig. Die Brüder meines Großvaters v. Rudorff sind durchschnittliche preußische Offiziere gewesen, von denen es nur einer, der vorhin erwähnte Onkel Hermann, bis zum Range eines Obersten brachte, während die anderen, die ich gar nicht alle gekannt habe, an der berüchtigten Majorsecke scheiterten und dann in irgendeiner Pensionopolis allmählich eintrockneten. Onkel Hermann war 15 Jahre, also weit über die normale Zeit hinaus, Bezirkskommandeur in Düsseldorf gewesen, und hatte dort mit Tante Marie, seiner Gattin, die ein Kind dieser fröhlichen Kunststadt am Niederrhein war, eine sehr große gesellschaftliche Rolle gespielt. In seiner Familie war er ein wahrer Tyrann, und Frau und Kinder zitterten vor ihm. Er und seine Gattin haben leider ein sehr schweres Ende gehabt, indem erst Tante Marie und kurz danach Onkel Hermann einen Zungen- und Gaumenkrebs bekamen, an dem sie lange und qualvoll dahinsiechten, bis der Tod sie erlöste. Die beiden Töchter, Else und Lene, waren in der ganzen Familie der Begriff unleidlicher alter Jungfern. Man kann ihnen ihr Wesen vielleicht nicht einmal so sehr verübeln, denn zweifellos hat sich mancher Bewerber um die Hand dieser in ihrer Jugend recht hübschen und auch wohlhabenden Mädchen durch die eisenfresserische Art des künftigen Schwiegervaters abschrecken lassen, so daß sie eben einfach sitzen blieben. Der Sohn Franz hat die Eigenschaften seines Erzeugers reichlich geerbt, wenn er auch jetzt als Oberst a.D. in Potsdam etwas mildere Umgangsformen angenommen hat. Ich hatte das Pech, daß er als Oberleutnant Erzieher an der Hauptkadettenanstalt in Groß-Lichterfelde war, gerade als ich dort meine mehr oder weniger erfolgreichen Studien absolvierte. Er hat das Verhältnis von Onkel zu Neffe nur dazu benutzt, um mich noch ruppiger zu behandeln, als er es auch sonst seinen Untergebenen gegenüber zu tun pflegte. Ich habe daher, als unsere Wohnsitze Berlin und Potsdam nach dem Ersten Weltkriege einander sehr nahe lagen, keine engere Verbindung zu ihm und seiner Familie aufgenommen. Seine Frau ist eine ebenso reizende wie reiche Bremerin aus einer Senatorenfamilie, und ihrem Einfluß ist es wohl zu verdanken, wenn dieser rauhe Krieger jetzt etwas gezähmt worden ist. Unvermuteterweise bin ich hier in Portugal eines Tages wieder an die Potsdamer Familie v. Rudorff erinnert worden, als der sehr nette Konsul Krause-Wichmann auftauchte, der mit einer der beiden Töchter verheiratet ist. Die andere Tochter hat sich erst als Modezeichnerin in unserem Verlage Scherl betätigt und lebt jetzt in Madrid, wo sie bei der Botschaft bis zu deren Auflösung tätig war.

Meine Mutter hatte nur einen Bruder, Ludwig, nach einer wenig empfehlenswerten Frankfurter Sitte grundsätzlich Louis genannt. Er war in seiner Jugend leider ein beträchtliches Früchtchen, so daß mein Großvater ihn bereits als jungen Mann über das große Wasser schickte, aber nicht, wie üblich, nach Amerika, sondern auf Grund irgendwelcher Geschäftsverbindungen nach Südafrika. Dort hat er sich weidlich herumgetrieben, war jahrelang verschollen, hat dann den Burenkrieg (den ersten) mitgemacht und schließlich in Capstadt eine Fremdenpension in der Strand Street eröffnet. Sein Partner bei diesem Geschäft war merkwürdigerweise der Vater meines späteren Regimentskameraden Scharfscheer, genannt Johnnie aus Johannesburg, der, als er als Fahnenjunker bei uns eintrat, ein erstaunliches Gemisch von deutsch, englisch und kapholländisch sprach. In den neunziger Jahren kehrte Onkel Louis dann nach Deutschland zurück und erwarb ein großes Hotel in Wiesbaden, das Astoria-Hotel in der Sonnenbergerstraße, das er allmählich zu einem Riesenpalast ausbaute. Er ist aber ein verschrobener Kerl mit den merkwürdigsten und keineswegs seiner Herkunft entsprechenden politischen und sonstigen Ansichten bis zu seinem Tode im Jahre 1917 geblieben. Er hatte eine Mecklenburgerin aus Wismar, die er in Südafrika kennen gelernt hatte, geheiratet, die ihm zwei Töchter erster Ehe, Hede und Else, mitbrachte. Tante Jenny, die noch jetzt (wahrscheinlich) als uralte Frau und fast völlig erblindet, in Langenschwalbach lebt, war ein geradezu rührendes Wesen und dabei eine klassische Schönheit, die wahre Verheerungen in den Leutnantsherzen anrichtete, wenn sie bei den Bällen in Offizierkasinos der Regimenter meines Vaters erschien, wozu sie oft eingeladen wurde. Hede starb als Backfisch an der Diphteritis, und Else heiratete, da es in unserer Familie offenbar ohne Exotismus nicht geht, ausgerechnet einen Finnen, den Chefredakteur des größten Helsingforser Blattes »Uusi Suomi«, was damals unter russischer Herrschaft ein recht unsicheres Brot war, denn der verantwortliche Schriftleiter einer scharf nationalistisch eingestellten finnischen Zeitung befand sich natürlich recht häufig, wie er höhnisch zu sagen pflegte, in »Kronspension«, also hinter Schloß und Riegel. Der gute Savolainen, ein ungeschlachter Riese, war ein ebenso gewaltiger Säufer vor dem Herrn, und ein Abend mit ihm in den Nachtlokalen von Wiesbaden oder Frankfurt endete immer mit einer entsetzlichen Betrunkenheit. Er hat sich dann aber während des Ersten Weltkrieges in hervorragend tapferer Weise bei der Aufstellung des bekannten preußischen Jägerbataillons Nr. 25, der finnischen Freiwilligentruppe und Keimzelle der späteren finnischen Armee, eingesetzt. Meine Kusine hat ihn dabei tatkräftig unterstützt und ist mehr als einmal heimlich über das Eis des Finnischen Meerbusens hinübergewechselt. Heute sind sie beide tot. Als Else nach ihrer Heirat ihren Wohnsitz in Helsingfors nahm, mußte sie zu ihrem Schrecken drei vollkommen neue und besonders schwierige Sprachen erlernen: russisch für alle behördlichen Angelegenheiten, schwedisch für den gesellschaftlichen Verkehr und finnisch für die Unterhaltung mit dem »Volk«. Während des ersten Winters in der finnischen Hauptstadt hatte das junge Paar, wie fast alle irgendwie politisch tätigen nationalgesinnten Finnen, »Strafeinquartierung« von einem Offizier und zehn russischen Kosaken. Sie ist, nachdem die erste Bestürzung überwunden war, mit diesen im Grunde gutmütigen halbwilden Kindern ganz gut fertig geworden, aber ihre späteren Erzählungen über das Benehmen und die Sitten ihrer Zwangsgäste waren äußerst pittoresk.