Mein Leben war in seiner Hand - Morgane Seliman - E-Book

Mein Leben war in seiner Hand E-Book

Morgane Seliman

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Beschreibung

Morgane ist sich sicher, mit Yassine ihren Traummann gefunden zu haben. Der Halbägypter kocht für sie, er wäscht - und liest ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Doch dann wird sie schwanger, und Yassine verwandelt sich: Gemeine Demütigungen, brutale Misshandlungen und die wachsende Isolation von Familie und Freunde machen ihr Leben zur Hölle. Nur die Sorge um die Zukunft ihres Sohnes lässt Morgane lange stillhalten. Aber dann droht Yassine sie umzubringen, und Morgane muss endlich handeln ...


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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumHinweisWidmung1 – Countdown2 – »Morgane wird meine Frau werden!«3 – Niemals wird mich jemand lieben wie er4 – Verwandte Seelen5 – »Du warst nicht nett …«6 – Was hat er für eine Laune?7 – »Du bist diejenige, die entscheidet …«8 – Kalte Dusche9 – Bilal10 – Vaterschaftsurlaub11 – Der Alltag12 – Ein schlechter Tag13 – Nichts sagen, nichts zeigen …14 – Yassine, der Schmeichler15 – »Der Schrei in der Nacht«16 – Keine andere Lösung17 – Top 318 – Wie kann ich ihn meiner überdrüssig machen?19 – »Du Miststück!«20 – Vater und Sohn21 – »Das endet noch wie bei Bertrand Cantat«22 – Verrückte Ideen23 – Samuel24 – Der Arm des Gesetzes25 – »Frauensache«26 – Jener Tag27 – Der Aufschub28 – Engmaschige Überwachung29 – Belästigung30 – Mein Leben hinter mir lassen31 – Doppelt bestraft32 – Justiz33 – Und jetzt?EpilogDanksagungenAnhangAuszug aus einem Bericht der nationalen Beobachtungsstelle für Gewalt gegen Frauen (L’observatoire national des violences faites aux femmes) – Mai 2015Psychotraumatische Folgen sexueller Gewalt innerhalb der PaarbeziehungDeutschlandweites Hilfetelefon

Über dieses Buch

Morgane ist sich sicher, mit Yassine ihren Traummann gefunden zu haben. Der Halbägypter kocht für sie, er wäscht – und liest ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Doch dann wird sie schwanger, und Yassine verwandelt sich: Gemeine Demütigungen, brutale Misshandlungen und die wachsende Isolation von Familie und Freunde machen ihr Leben zur Hölle. Nur die Sorge um die Zukunft ihres Sohnes lässt Morgane lange stillhalten. Aber dann droht Yassine sie umzubringen, und Morgane muss endlich handeln …

Über die Autorin

Morgane Seliman, 1983 in Frankreich geboren, hat das Buch unter ihrem echten Namen veröffentlicht. Es soll all jenen Frauen eine Stimme geben, die wie sie unter körperlicher oder psychischer Gewalt leiden. In Frankreich gilt sie mittlerweile als wortgewandte Vertreterin misshandelter Frauen. Sie ist häufig in den Medien und gibt Vorträge in Universitäten und Hochschulen zum Thema. Zusammen mit ihrem Sohn lebt sie in der Normandie. Kontakt zu ihrem Ehemann hat sie …

MORGANE SELIMAN

Mein Leben war in seiner Hand

Geschlagen und gedemütigt. Wie mein Zuhause zum Albtraum wurde

Aus dem Französischen von Monika Buchgeister

Digitale Neuausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2015 by XO Édition, Paris

Titel der französischen Originalausgabe: »Il m’a volé ma vie«

Originalverlag: XO Édition, Paris

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2017/2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Matthias Auer, Bodmann-Ludwigshafen

Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.deunter Verwendung eines Motivs von © getty-images/CHARLY TRIBALLEAU

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-2037-3

luebbe.de

lesejury.de

Um die Identität der in diesem Erfahrungsbericht genannten Personen zu wahren, wurden mehrere Vornamen, Familiennamen und Ortsnamen geändert.

Für dich, du Atem meines Lebens,

meiner Vergangenheit, meiner Gegenwart,

meiner Zukunft.

Für dich, du Liebe meines Lebens,

für dich, mein Sohn, für den ich weiterlebe

und dem ich das Leben verdanke.

Für alle, die nicht begreifen, warum man nicht fortgeht

Für alle Frauen, die unter dem Einfluss eines

anderen Menschen stehen oder standen.

1

Countdown

»In drei Stunden bist du dran!«

Yassine sitzt vor dem Fernseher auf dem Sofa.

Heute Morgen habe ich nicht alles so erledigt, wie es ihm vorschwebte. Eines seiner beiden Frühstückseier war nicht richtig gekocht. Auf sein Butterbrot hatte ich zu viel Salz gestreut. Yassine hat den Teller durchs Zimmer geworfen.

»Weißt du was, du bist nicht einmal in der Lage, Eier richtig zu kochen! Dafür wirst du büßen!«

Bereits eine Stunde des Countdowns ist mittlerweile verstrichen. Ich wusste, dass die Eier heute Morgen nicht perfekt waren. Ich hätte noch einmal neue kochen sollen … Aber es war keine Zeit mehr. Er wollte sein Frühstück sofort haben. Und das Salz … Yassine will keine gesalzene Butter. Er will das Salz fein auf süße Butter gestreut bekommen.

Jetzt bleiben mir noch zwei Stunden, dann ist es so weit.

Ab 14 Uhr hält Bilal, unser Sohn, seinen Mittagsschlaf. Dann kommt der »Countdown« an sein Ende. Yassine will mich nicht im Beisein unseres Sohnes schlagen.

Ich beeile mich mit meiner Bügelwäsche. Danach werden meine Schmerzen zu groß sein. Ich habe gelernt, mir meine Zeit einzuteilen. Wenn er einen Countdown ankündigt, überlege ich sofort, was in der verbleibenden Zeit noch zu machen ist. Alles muss fertig sein, all meine Aufgaben müssen erledigt sein, dann bin ich beruhigt. Ich gehe durch, was noch zu tun ist. Ich habe bereits feucht gewischt, die Küche geschrubbt, die Waschmaschine angestellt. Ich wasche jeden Tag, damit auch nicht ein einziges schmutziges Kleidungsstück im Haus herumliegt.

»Viertel nach eins …«

Beinahe heiter hat Yassine diese Worte fallen lassen, ohne mich dabei anzusehen.

Ich lasse meinen Blick hierhin und dorthin schweifen und überlege, was ich vielleicht noch vergessen haben könnte. Bilal spielt, ohne Lärm dabei zu machen. Noch ist er ein Baby, aber er hat sehr schnell begriffen, wie er sich am besten aus der Schusslinie bringt.

Nichts. Es ist nichts mehr zu tun. Ich könnte mich jetzt auf das Sofa setzen, aber ich zögere. Wenn ich das mache, bekommt Yassine oft sofort einen Wutanfall.

»Was machst du da?«

»Äh, nichts … ich setze mich hin …«

»Hast du alles erledigt? Liegt nichts mehr herum? Bist du sicher? Du bist eine Schlampe, wenn du dich jetzt schon hinsetzen kannst!«

Wir haben ein Ecksofa. Mein Platz ist auf der schmaleren Seite ohne Lehne. Wenn er sich entscheidet, sofort zuzuschlagen, sitze ich dort in der Falle, und alles ist noch schlimmer als sonst. Dann schlägt er doppelt so stark zu. Endlos boxt er mit der Faust auf mich ein. Als wäre ich ein Kissen. Hinzukommt, dass ich schnell zittere, wenn ich neben ihm sitze, und das regt ihn zusätzlich auf.

Aber Bilal ist noch im Zimmer. Er ist erst ein paar Monate alt, und schon beschützt er mich …

Ich nehme eine neue Aufgabe in Angriff. Die Zeit für das Mittagessen naht. Ich werde damit beginnen, etwas vorzubereiten. Die Küche ist nicht vom Wohnzimmer getrennt, deshalb muss ich darauf achten, so leise wie möglich zu Werke zu gehen, um ihn nicht zu stören.

Gefüllte Eier mit Petersilie garniert als Vorspeise, dann Bœuf bourguignon und als Dessert Schokoladen-Eclairs. Yassine legt großen Wert darauf, dass alles ansprechend angerichtet ist. Es muss hübsch aussehen. Tut es das nicht, wird er den Teller wieder durchs Zimmer schleudern. Ich gebe mir Mühe. Ich habe große Fortschritte gemacht. Konnte ich am Anfang kaum etwas kochen, so bereite ich jetzt aufwendige Gerichte zu.

Yassine isst wortlos.

Als er fertig ist, wirft er einen Blick auf die Wanduhr.

»Dreißig Minuten!«

Mein Schädel schmerzt noch von den gestrigen Schlägen. Im Allgemeinen geht Yassine so vor, dass die Spuren nicht zu sehen sind. Der Kopf. Die von der Kleidung bedeckten Körperteile. Manchmal bekommt aber doch das Gesicht etwas ab.

Zwanzig Minuten. Ich tue so, als würde ich lediglich die Küche aufräumen, verstecke dabei aber die Messer und Gegenstände, die eine echte Gefahr darstellen könnten. Man weiß nie. Normalerweise setzt er seine Schläge sehr gezielt und wohldosiert. Darauf ist er sogar richtig stolz.

»Vergiss nicht, dass ich dich mit einem einzigen Fausthieb töten könnte! Ich habe alles unter Kontrolle!«

Selbst wenn ich ziemlich übel zugerichtet bin, sagt er noch zu mir: »Keine Sorge, davon stirbt man nicht …«

Ich beklage mich jedenfalls nie. Das würde ihn nur noch mehr aufregen. Ich beiße die Zähne zusammen und tue so, als sei nichts gewesen. Auch wegen des Kleinen. Ich will nicht, dass er begreift, was hier vor sich geht.

»Zehn Minuten!«

Ich werde meinen Sohn auf den Arm nehmen, um ihn schlafen zu legen. Diese Zeit bleibt mir. Ich harre an seiner Seite aus, bis er eingeschlafen ist. Yassine erträgt es nicht, ihn weinen zu hören. Während ich oben in unserem Schlafzimmer bin, in dem auch Bilal schläft, wird Yassine die Vorbereitungen für sein Vorhaben treffen. Er wird die Vorhänge zuziehen, die Tür abschließen und den Schlüssel in seine Hosentasche stecken, damit ich nicht auf die Idee komme zu fliehen.

Als ich mit meinem Sohn die Treppe hinaufsteige, versuche ich, mich so gut wie möglich zu kontrollieren. Ich will nicht, dass mein Baby meine Angst spürt. Ich will es schützen. Ich muss in seiner Gegenwart ruhig bleiben. Ich wechsle die Windel, ich schmuse ein wenig mit ihm und lege es dann ins Bett. Ich bleibe noch kurz bei ihm, aber ich weiß, dass Yassine unten schon ungeduldig wird. Dann gehe ich in Richtung Treppe. Ich koste jeden einzelnen Schritt die Treppe hinunter aus und versuche, nicht daran zu denken, was mich jetzt gleich erwartet. Der Druck und die Angst sind Teil der Folter.

Die Schlüssel befinden sich schon in seiner Tasche, und sogar die Fensterläden in der Küche sind geschlossen. Er hat Musik angemacht, um die Geräusche zu überdecken.

»Komm her!«

Noch drei Schritte.

»Nimm die Arme neben den Körper!«

Mir kommt es vor, als wollte mein Herz zerspringen. Ich presse meine Hände auf meine Oberschenkel, um mein Zittern in den Griff zu bekommen.

Er nähert sich mir wie ein Boxer, tänzelt von einem Fuß auf den anderen.

»Musstest du dich wieder aufspielen heute Morgen!«

»Es tut mir leid, mein Herzblatt. Wirklich, entschuldige bitte …«

Aber noch ist es zu früh für Entschuldigungen.

»Ach! … Jetzt hast du Angst! Jetzt tut es dir leid!«

Er schleicht um mich herum, ohne den Blick von mir zu wenden. Seine grünen Augen durchbohren mich förmlich. Es ist unglaublich, welche Härte sie verströmen können. Unglaublich, wie groß der Kontrast zu den Augenblicken ist, in denen er nett ist.

Dann plötzlich schießt sein Arm nach vorn. Einen Zentimeter vor meinem Gesicht stoppt er die Bewegung, aber ich konnte ein ausweichendes Zucken nicht unterdrücken. Er liebt es, einen Schlag anzutäuschen.

»Was habe ich dir gesagt? Du sollst keine Angst zeigen! Du sollst keine Angst zeigen, weil es mich noch mehr aufregt, wenn du solche reflexartigen Bewegungen vollführst!«

Nochmals holt er zu einigen fingierten Schlägen aus, aber nur wenig später beginnen die tätlichen Angriffe. Eine Ohrfeige, noch eine, dann die Faustschläge. Als ich falle, geht er zu Fußtritten über. Vollkommen erledigt stoße ich schließlich hervor: »Ich flehe dich an, hör auf!«

Er erträgt es nicht, wenn ich das sage, wenn ich spreche. Das sollte ich eigentlich wissen, aber daran habe ich gerade nicht gedacht. Jetzt kann ich einfach nur noch versuchen zu beteuern, dass ich nicht wieder anfangen werde, dass es mir leidtut. Die Schläge hageln weiter auf mich ein. Ich versuche, mich so gut wie möglich zu schützen, indem ich mich zusammenkauere.

Schließlich hört er auf.

Regungslos liege ich am Boden. Er packt mich an den Haaren, die ich sehr lang trage, weil er nicht duldet, dass ich sie abschneide, und schleift mich zum Sofa. Das tut höllisch weh, da ich ohnehin schon viele Hämatome am Schädel habe.

Jetzt steht die Moralpredigt an. Er hält mir Vorträge über das Leben. Er erklärt mir, dass ich nichts so mache, wie es sich gehöre. Ich hielte nicht genug Ordnung, nicht einmal die einfachsten Verrichtungen brächte ich zuwege. Ich müsse mich bessern, ich hörte ihm nicht richtig zu, ich würde immer wieder die gleichen Fehler machen. Er erklärt mir, wie sein perfektes Leben aussieht …

Dann geht er die Treppe zum Schlafzimmer nach oben. Nach ein paar Stufen wendet er sich um: »So, jetzt schaffst du hier unten wieder Ordnung. Ich gehe duschen. Wenn ich wiederkomme, hast du dir eine Entschuldigung überlegt!«

»He, Dickerchen«, so nennt er mich immer, wenn er mich ruft, »bring mir das Shampoo!«

Wenn Yassine unter der Dusche steht, kann er nicht selbst den Arm ausstrecken, um nach der Flasche zu greifen. Er ruft mich. Er will auch, dass ich sein Handtuch über die Heizung lege, damit es schön warm ist, wenn er die Dusche verlässt. Und ich muss seine Kleidung auf dem Bett bereitlegen, genau in der Reihenfolge, in der er sich anziehen wird. Alles muss schön aufeinandergestapelt daliegen, wie bei einem Kind. Mache ich dabei einen Fehler, regt er sich auch darüber auf.

Drei-, vier-, fünfmal werde ich die Treppe hinauflaufen, um ihm zu bringen, was er verlangt. Und ich beseitige im Wohnzimmer alle Hinterlassenschaften der »Lektion«. Es darf nicht die geringste Spur davon zu sehen sein, wenn er wieder ins Zimmer kommt. Ich unterdrücke den Schmerz, will ihn auf Distanz halten. Ich muss alles aufräumen, also darf ich nicht auf meinen Körper hören. Ich versuche, mir immer wieder einzureden, dass der Geist den Körper beherrschen kann.

Wenn er wieder herunterkommt, muss ich ein Lächeln an den Tag legen. Er fängt dann wieder an, auf mich einzureden, und die Moralpredigt geht weiter. Manchmal eine halbe Stunde lang …

Und dann bin ich schließlich an der Reihe.

»Entschuldige, dass ich mich so verhalten habe. Dass du dich über mich ärgern musstest.«

Das muss ich dann weiter ausführen. Es muss aufrichtig wirken. Irgendwann akzeptiert er meine Entschuldigungen.

Bilal wird gleich aufwachen. Der Tag geht weiter. Mein Körper schmerzt überall, jede Bewegung kostet mich eine ungeheure Anstrengung. Und mir ist klar, dass es morgen von Neuem losgehen wird, und an allen folgenden Tagen auch …

Ich weiß nicht, wie ich da herauskommen soll. Yassine ist zu stark. Zu verrückt.

2

»Morgane wird meine Frau werden!«

Ich kannte Yassine dem Namen nach, da ihm ein gewisser Ruf vorauseilte, und ich war ihm ein paarmal auf der Straße begegnet, ohne mit ihm zu sprechen. Er war mit dem Bruder meines damaligen Freundes Franck befreundet. »Yassine der Schreckliche«, so wurde er unter anderem genannt, bezeichnenderweise. Yassine war zu allem fähig. Yassine widersprach man nicht. Alle hatten ein wenig Angst vor ihm, weil bekannt war, dass er sich nichts gefallen ließ, dass er mit jedem abrechnete, und zwar nicht immer auf anständige Art und Weise.

An dem Tag, als er mich zum ersten Mal ansprach, besuchte ich mit meinem Freund ein Fußballspiel.

Wir saßen mit unserer Clique ganz zufrieden am Rand des Spielfeldes. Da tauchte Yassine mit dem für ihn typischen Gehabe auf, wenn er irgendwo in Erscheinung treten wollte. Eine etwas lässige Gangart, den Kopf stolz nach hinten geworfen. Eine richtige Eroberungshaltung. Wohl wissend, dass er Eindruck macht. In seinen Mundwinkeln spielt ein kleines, selbstzufriedenes Lächeln …

Mit seinen funkelnden grünen Augen tritt er näher, und ohne unsere Gruppe zu begrüßen, lässt er Folgendes vom Stapel:

»Franck, ich muss dir jetzt mal etwas sagen. Ich wollte nur, dass du weißt, dass Morgane irgendwann meine Frau werden wird. Und wir werden viele Kinder zusammen haben. Damit einen schönen Abend, Kumpel!«

Er wendet sich zu mir, wirft mir einen bohrenden Blick zu und fährt fort: »Bis später, Morgane …«

Dann vollführt er eine leichte Verbeugung, wobei er uns stets fest im Blick behält, und dreht ab. Mit hoheitsvollem Schritt zieht er von dannen, ohne sich noch einmal umzuwenden.

Mein Freund blafft ihm nach: »Verschwinde, Yassine, verschwinde! Mach schon, hau ab!«

Aber seine Worte sind nur Schall und Rauch für Yassine.

So lauteten die ersten Worte, die er an mich richtete, und ich fand es wirklich dreist, so daherzukommen und meinem Freund diese Worte an den Kopf zu knallen. Ich war ganz schön verblüfft über seine Frechheit, sein Interesse für mich schmeichelte mir wohl zugleich aber auch, was ich mir allerdings nicht wirklich klarmachte. In meiner Beziehung zu Franck herrschte damals bereits leichte Flaute, er schenkte mir eigentlich keine wirkliche Aufmerksamkeit mehr. Als sich der Blick aus Yassines grünen Augen auf mich richtete, hat das etwas in mir aufgeweckt.

In der Folgezeit bin ich ihm manchmal zufällig am Sonntag über den Weg gelaufen. Ganz der Charmeur, der er sein konnte, lächelte er mir jedes Mal zu und sagte: »Du solltest mit mir zusammen sein. Ich, ich bin wie du. Ich bin Ägypter … Ich bin wie du.«

Von Anfang an lag etwas Beschwörendes in seinen Worten. Immer wieder betonte er unsere gemeinsame Herkunft. Und immer wieder mit diesen funkelnden Augen, die mich so verwirrten. Nie zuvor hatte ein Mann mich so angesehen und mir so deutlich zu verstehen gegeben, dass er mich schön fand. Sobald sich unsere Blicke trafen, fühlte ich mich wie elektrisiert.

Mein Vater ist Ägypter und meine Mutter Französin, und bei Yassines Eltern verhält es sich genauso. Das war für unsere Geschichte ein entscheidender Faktor. Anfangs besaß diese gemeinsame Herkunft für mich allerdings keinerlei Bedeutung. Ein Zufall. Aber Yassine würde mich schließlich davon überzeugen, dass dieser Umstand uns mehr als alles andere verbinde.

Meine Eltern haben sich in Kairo kennengelernt, wo mein Vater lebte. Meine Mutter arbeitete damals für eine Werbeagentur und hielt sich mehrere Monate dort auf, um einen Vertrag zum Abschluss zu bringen. Sie verliebten sich ineinander, und mein Vater hat dann alles aufgegeben, um ihr nach Frankreich zu folgen, als ihre Rückreise anstand. Seine Familie hieß das nicht gut, aber er ließ sich durch nichts von seinem Entschluss abbringen. Er war – und ist immer noch – Musiker und gab eine vielversprechende Karriere in Ägypten auf, während ihn in Frankreich lediglich unsichere Engagements erwarteten.

Ich wurde recht schnell nach ihrer Ankunft in Villecresnes in der Region Val-de-Marne geboren. Das war am 21. Juli 1983. Lange habe ich mit meinen Eltern bei meiner Großmutter gelebt, in einer kleinen, ruhigen Vorstadt südöstlich von Paris. In den Wohnblöcken der dortigen Hochhausviertel gab es kleine Schiebereien, und man hörte alle möglichen Geschichten. Insgesamt war es jedoch ein eher friedliches Miteinander, auch wenn man lernte, sich zu verteidigen. Besondere Ereignisse blieben hier nicht lange verborgen, denn irgendwie kannte beinahe jeder jeden.

Was den Vater von Yassine angeht, so ist er also ebenfalls Ägypter, und seine Familie stammt aus Kairo wie die meines Vaters. Allerdings aus einem anderen sozialen Milieu: Er ist Geschäftsmann und hat einen ganz anderen Lebenswandel als wir. Seine Mutter ist Französin, aber Yassines Eltern haben sich schon vor Jahren getrennt. Yassine ist in Seine-et-Marne aufgewachsen, bevor er den nördlichen Vorstadtgürtel kennenlernte, wo seine Mutter hinzog. Sein Vater seinerseits pendelt bis heute zwischen Frankreich und Ägypten.

Diese beiden Länder, die Vorstadt, die Hochhaussiedlungen … wir haben gemeinsame Bezugspunkte, und auch wenn wir nicht genau dieselben Freunde besitzen, so finden sich doch immer irgendwelche freundschaftlichen Verbindungen: Jemand aus dem Freundeskreis des einen kennt jemanden aus dem Freundeskreis des anderen. Die Neuigkeiten verbreiten sich rasch, Klatsch und Tratsch genauso. Letztlich ist es eine kleine Welt. Vor allem für Yassine, der genau weiß, wie er an die Informationen gelangt, die er benötigt, wenn ihm einmal ein Gedanke durch den Kopf spukt.

Ich begegne ihm also hin und wieder, aber ich rede nicht mit ihm. Mehr und mehr zieht er mich jedoch in seinen Bann. Ich finde ihn hübsch, seinen Blick vergisst man nicht so schnell. Seine geschmeidigen, beinahe katzenhaften Bewegungen und seine Selbstsicherheit beeindrucken mich. Gleichzeitig stimmt mich sein Auftreten misstrauisch. Er ist einfach zu selbstsicher. Und außerdem ist da sein Ruf … »Yassine der Schreckliche«. Man erzählt sich so manches über ihn und seine Brüder. Yassine hat einen älteren Bruder, Stéphane, der im Grunde sein Halbbruder ist. Und außerdem einen jüngeren Bruder, Karim.

Man sagt Yassine nach, dass er mit seinem großen Bruder zu Strafaktionen ausschwärmt, wenn jemand ihnen nicht den gebührenden Respekt gezollt hat.

Ob es stimmt? Das lässt sich nicht herausfinden. Aber man munkelt es auf jeden Fall auf der Straße, und alle haben Respekt vor Yassine und Stéphane. Man nennt sie die »Daltons«. Als mir das alles zu Ohren kommt, nehme ich es relativ gleichgültig hin. Ich sage mir, dass vielleicht alles ein wenig übertrieben ist. Gleichzeitig weiß ich aber, dass Yassine sich zu verteidigen versteht … Letztlich denke ich jedoch nicht mehr an all diese Gerüchte, als ich ihm nun immer öfter begegne. Mehr noch, ich gewinne einen anderen Blick darauf. Zunächst einmal hat man die Dinge gewiss übertrieben: Je öfter Gerüchte weitergetragen werden, desto wilder werden sie. Am Ende steht dann das reinste Ammenmärchen. Außerdem habe ich ihn tief in meinem Innern wohl um diese Stärke beneidet, die er verströmt. Ich musste mich immer allein zurechtfinden, und oft hat mir jemand gefehlt, der mich hätte beschützen können. Und er, nun, er schien mir sehr stark zu sein.

Ich bin zwar noch mit Franck zusammen, aber unsere Beziehung läuft nicht mehr gut. Genauer gesagt, ich habe allmählich genug davon. Franck verbringt seine Tage auf dem Sofa. Er tut nichts, während ich in einem Restaurant arbeite.

Ich bin ihm begegnet, als ich fünfzehn Jahre alt war. Er ist sieben Jahre älter als ich. Franck war meine erste große Liebe. Jedenfalls bin ich wegen ihm von zu Hause ausgezogen. Ich war sehr jung und brannte darauf, die Leidenschaft kennenzulernen. Ich war bereit zu heiraten … die ganz große Nummer! Als Franck mich bat, mit ihm zu gehen, habe ich deshalb nicht gezögert! Ich wollte erwachsen sein, das Leben eines Erwachsenen führen. Ich dachte, dass ich meine Familie nicht mehr brauchen würde.

Die Beziehungen innerhalb meiner Familie sind nie einfach gewesen. Geldsorgen waren immer ein beherrschendes Thema. Meine Mutter arbeitete als Verwaltungsangestellte in einer Schule, und mein Vater war wie bereits erwähnt Musiker. Seine Einkünfte unregelmäßig. Ich erinnere mich noch gut, wie oft ich als Kind Abstriche machen musste und in frustrierende Situationen geriet. Die Scham war eine alte Bekannte. In der Schule vermied ich den Gang an die Tafel, wo es nur ging – auch wenn ich die Antwort wusste. Schließlich sollte niemand meine hässlichen No-Name-Schuhe sehen. In der Grundschule lief alles gut. Wir trugen Cordhosen und scheußliche Pullover, aber alle hatten das Gleiche an. Diese Äußerlichkeiten spielten keine Rolle. In der weiterführenden Schule ändert sich dann alles. Man wird gemustert, unsere Kleidung wird gewissermaßen auseinandergenommen und analysiert. Trägst du keine Nike-Schuhe oder nicht die angesagte Hosenmarke, wirst du auf der Stelle verortet. Du wirst Opfer von Mitleid, Spott und Hohn. Dein Schamgefühl keimt und gedeiht. Es ist schrecklich.

Ich entwickelte meine Techniken, um nicht weiter in diese Spirale hineinzugeraten. Ich lieh mir hier und da Klamotten aus, nur um nicht achtlos gekleidet herumzulaufen. Ich erinnere mich noch heute an mein erstes Paar Schuhe von Nike. Das bedeutete ein großes Glück für mich. Ich hegte und pflegte sie, um sie möglichst lange tragen zu können. Eine Schuluniform hätte mir wirklich viel erspart. Die vielen Augenblicke der Scham, die ich in meiner Kindheit erlebt habe, lassen mich heute voller Überzeugung für eine Schuluniform eintreten.

Mit dem Übergang in die weiterführende Schule verlor ich dann ganz allmählich den Anschluss. Die Beziehung zu meinem Vater war sehr schwierig, und etwa zu diesem Zeitpunkt machte ich auch eine Entdeckung, die mein Leben durcheinanderwirbeln sollte.

Wir hatten die Aufgabe erhalten, genealogische Nachforschungen über unsere Familien anzustellen. Ich begann, meinen Eltern viele Fragen zu stellen. Über ihre Eltern, ihre Großeltern … Warum habe ich das mit so großer Hartnäckigkeit betrieben? Vielleicht, weil ich spürte, dass sie bei ihren Antworten etwas zurückhielten. Dass sie um den heißen Brei herumredeten. Ich ließ nicht locker, und am Ende hatte ich begriffen, warum sie sich so schwertaten: Derjenige, den ich von Geburt an meinen Vater nannte, war gar nicht mein Vater. Als er meine Mutter kennenlernte, war sie bereits schwanger. Von einem anderen Ägypter. Ich bin also Halbägypterin, aber nicht so, wie ich es bis dahin glaubte. Derjenige, den ich von da an nur noch meinen »Stiefvater« nannte, wusste darüber Bescheid. Für ihn war es keine Neuigkeit. Für mich hingegen war es ein furchtbarer Schock. Gleichzeitig bedeutete es aber auch eine Erleichterung. Ich begriff jetzt, warum er sich mir gegenüber nie wie ein Vater verhalten hatte.

Ich beginne daraufhin, die Schule zu schwänzen, und gehe nur noch in den Unterricht, der mich interessiert. In der übrigen Zeit treibe ich mich herum, lebe mein Leben, hänge mit Freundinnen und Freunden auf der Straße ab. Vielleicht hatte man mich als Kind zu sehr zu Hause eingesperrt. Ich weiß es nicht, aber auf jeden Fall gewährt mir die weiterführende Schule nun einen Freiraum, den ich reichlich ausnutze.

Meine Mutter tobt. Es ist mir gleich.

Mein Stiefvater sagt nichts dazu.

Er hält sich die meiste Zeit hinter verschlossener Tür in seinem Zimmer auf. Da er nachts arbeitet, schläft er tagsüber viel.

Als ich noch kleiner war, untersagte er mir, nach draußen zu gehen. Abgesehen von der Schule, musste ich die ganze Zeit über zu Hause sein. »Du gehst nicht nach draußen, und mit einem Jungen schon gar nicht!« Einmal hat ein Schulkamerad bei uns geklingelt. Er war auf der Suche nach meiner Freundin Roseline. Mein Stiefvater sagte nur kurz angebunden: »Hier gibt es keine Roseline, und Morgane ist auch nicht da!« Als ich nach Hause kam, hielt er mir eine ordentliche Strafpredigt. Und verpasste mir zwei Ohrfeigen. Es waren die einzigen, die ich je von ihm bekommen habe. Danach haben wir nicht mehr miteinander gesprochen. Ich hatte ihn ja ohnehin aus meinem Leben gestrichen.

Meine Mutter stand meinem Freiheitsdrang einigermaßen ohnmächtig gegenüber. Sie untersagte mir auszugehen, aber ich hatte meine Techniken, sie zum Nachgeben zu bewegen. Sie wollte, dass ich am schulfreien Nachmittag zu Hause bliebe. Alle paar Minuten bedrängte ich sie dann aufs Neue: »Ich will jetzt raus!«

»Nein! Du bleibst hier! Du gehst nicht raus!«

»Ich will raus, ich will nicht hier verschimmeln!«

»Nein, du bleibst hier!«

Ich ließ nie locker. Ich bettelte in einem fort, dass ich rauswolle, ohne ihr eine Atempause zu gönnen. Ich konnte den gleichen Satz hundertmal wiederholen, ohne müde zu werden. »Mama, kann ich raus? Mama, kann ich raus? Mama, kann ich raus? Mama kann ich raus? Mama, kann ich raus?«

Eine Endlosschleife.

Nach zwei Stunden gab sie notgedrungen klein bei.

»Hau ab! Verschwinde endlich!«

War sie bei der Arbeit, rief ich immer wieder an, um ihr den Kopf schwindlig zu reden. Ich war geradezu davon besessen davon, sie dazu zu bringen, ihr Verbot aufzuheben. Respekt war ein Fremdwort für mich. Ich war unausstehlich. Ich dachte einzig und allein an mich.

Mit dem Unterricht war es genauso. Nach der Mittelstufe wechselte ich auf eine Berufsschule für Rechnungswesen. Zahlen mochte ich sehr. Da war alles klar und logisch. In diesem Bereich zählte ich zu den Besten. In jeder Arbeit erreichte ich achtzehn oder neunzehn von zwanzig Punkten. Da ich mich auf mein Können verlassen konnte, trieb ich einen schwunghaften Handel damit: Ich verkaufte gute Noten an diejenigen, die welche benötigten. Es war ganz einfach. Da ich in höchstens zwanzig Minuten alle Aufgaben gelöst hatte, rechnete ich in der verbleibenden Zeit für eine Mitschülerin weiter. Mehr als fünfzehn Punkte garantierte ich jedoch nicht. Die beste Note wollte ich stets selbst haben. Das klappte immer, und ich verschaffte mir auf diesem Wege Taschengeld. Zehn Euro für fünfzehn Punkte, die Hälfte davon musste vor der Arbeit bezahlt werden, der Rest bei Erhalt der guten Note.

In den anderen Fächern war ich eine Niete. Ich bewegte mich im Bereich von zwei oder drei Punkten. Es interessierte mich einfach nicht, nicht das geringste bisschen. In meinen Zeugnissen standen Bemerkungen wie »Schade …« Aber damals, da sah ich keinen Sinn darin, mich für Fächer anzustrengen, die mir nichts bedeuteten.

Ich hatte meine Vorlieben. Vor allem die Musik. Fast zehn Jahre ging ich zur Musikschule, wo ich vor allem Geige spielte. Es lag irgendwie auf der Hand, denn zu Hause saß mein Stiefvater ständig am Klavier und komponierte oder spielte. Der Strenge und Genauigkeit, die das Spielen eines Instruments verlangt, konnte ich durchaus etwas abgewinnen, und natürlich genauso der Magie der Noten, die man spielt. Die Musik gehört zur Welt meiner Kindheit, denn zu Hause war immer Musik zu hören.

Und als ich kein Instrument mehr spielte, las ich. Schon als kleines Kind bedeuteten Bücher eine Zuflucht für mich. Sie boten mir die Möglichkeit, andere Welten und Lebensformen als meine eigene kennenzulernen. Sie gewährten einen Rückzugsort, der nur mir gehörte und an dem, wann immer ich es wollte, Welten in meinem Kopf erstanden, von denen niemand etwas wusste. Sogar im Unterricht träumte ich mich in diese Welten aus den Büchern, die so fern und vor allem fern der Schule waren. So bin ich immer gewesen: leidenschaftlich, aber manchmal auch starrköpfig.

Ich erinnere mich an ein Buch, das mich sehr beeindruckt hat: Le jour du chien von Caroline Lamarche. Ein Hund läuft allein und verlassen an der Autobahn entlang. Nach und nach halten ein paar Autofahrer an, und jeder wird mit seiner eigenen Geschichte konfrontiert. Ein einsamer Lastwagenfahrer, ein Priester, eine verliebte Frau, ein junger Homosexueller, eine Mutter mit ihrer Tochter … Die Begegnung mit dem herumirrenden Hund bringt alle dazu, darüber nachzudenken, wer sie sind und was sie suchen. Auch mich veranlasst dieses Buch zu existenziellen Grübeleien.

Ich bin in einem Alter, in dem man voller Ungeduld ist und Fragen über Fragen aufwirft.

Schon mit drei Jahren habe ich angefangen, Kurse in zeitgenössischem Tanz zu besuchen. Das habe ich fortgesetzt, bis ich siebzehn Jahre alt war. Ich mochte die Körperbeherrschung, die dieser Tanz erfordert, und zugleich das Gefühl der Befreiung, des Schwebens, der Körperlosigkeit, das eine Bewegungsabfolge hervorrufen kann, wenn man sich ihr ganz hingibt. Auch hier fand ich eine Möglichkeit, den Wirren des Alltaglebens zu entkommen. Ähnlich wie bei der Musik spielten auch hier Disziplin und Freiheit zugleich eine Rolle …

Mit dreizehn oder vierzehn Jahren lebte ich bei meiner Großmutter, und an den Wochenenden war ich allein in ihrer Wohnung. Ich hatte dreißig oder vierzig Francs für die beiden Tage. Es war das reinste Fest. Wir trafen uns alle bei mir, wir waren frei. In diesem Alter bedeutet das unglaublich viel. Ein Vorgeschmack auf das Leben der Erwachsenen. Niemandem Rechenschaft ablegen müssen, das Beisammensein mit Freunden, ein wunderbares Leben …

In dieser Zeit bin ich meiner ersten Liebe begegnet: Samuel.

Er besuchte für kurze Zeit unsere Schule, flog dort dann aber rasch wieder raus. Ich habe ihn durch Freunde kennengelernt. Es war Liebe auf den ersten Blick. Damals bekannte ich mich sehr stark zu meiner muslimischen Herkunft. Ich war fast so weit, den Ramadan einzuhalten. Die Religion bot einen Weg, sich zu integrieren, einer Gruppe anzugehören – noch dazu der größten in der Hochhaussiedlung. Als Jugendlicher braucht man so etwas; jedenfalls war das bei mir so. Ich war Muslima, er war Jude. Diese verbotene Liebe beflügelte uns: Wir sind Gesetzlose, scheren uns nicht um Vorschriften. Wir fühlen uns stark zusammen, haben Spaß und machen viel Unsinn.

Das Ganze dauert acht Monate. Und dann, ganz plötzlich, verlässt er Frankreich mit seiner Familie und zieht in die Vereinigten Staaten. Lange Zeit werde ich nichts mehr von ihm hören.

Aber als ich dann wieder etwas höre, wird es mir das Leben retten.

3

Niemals wird mich jemand lieben wie er

Als ich Yassine kennenlernte, lebten Franck und ich bereits seit einiger Zeit bei meiner Großmutter. Meine Eltern waren umgezogen.

Zunächst hatten Franck und ich in einem kleinen Appartement in einer Siedlung für junge Arbeiter gewohnt. Das war ganz leicht gewesen, da Franck damals gerade eine Arbeit gefunden hatte, bei der er Bücher von Haustür zu Haustür verkaufte. Allerdings übte er diese Tätigkeit nur ein paar Monate aus, dann gab er alles wieder auf.

Ich habe nach der Berufsschule – wobei ich die Prüfung allerdings in den Sand setzte – sofort eine Arbeit in der Gastronomie gefunden. Das mochte ich sehr: Es ist immer irgendetwas los, man langweilt sich nie. Beim Bedienen bewegt man sich ein wenig wie auf einer Theaterbühne: Man spielt eine Rolle, und außerdem verdient man auch noch Geld dabei. Ich konnte endlich leben, wie ich wollte. Es lief gut, und Trinkgeld gab es noch dazu. Ich sagte mir: Meine Freundinnen, die geben Geld aus fürs Essen, und ich, ich bekomme nicht nur Speis und Trank bei der Arbeit, sondern werde obendrein auch noch bezahlt. Es war großartig. Ich bediente in einem kleinen Restaurant im Pariser Geschäftsviertel La Défense. So hatte ich jedes Wochenende frei.

Ich arbeitete, wirtschaftete vernünftig und war nicht mehr von meinen Eltern abhängig: Endlich hatte ich, so sah ich es zumindest, jenes Erwachsenenalter erreicht, das ich schon seit so langer Zeit herbeisehnte. Ich konnte meine eigenen Entscheidungen treffen, mein Leben leben, meine Zukunft gestalten …

Während dieser Zeit lag Franck auf dem Sofa herum und ließ den lieben Gott einen guten Mann sein. Seine Trägheit brachte mich irgendwann zur Verzweiflung, aber es dauerte eine ganze Weile, bis ich tatsächlich an einen Punkt gelangte, an dem es kein Zurück mehr für mich gab.

Zunächst mussten wir unsere Wohnung räumen. Ich brachte jeden Monat das Geld für die Miete nach Hause, überließ es aber Franck, sie zu bezahlen. Eines Tages klingelte es an der Tür. Er war nicht da. Ich öffne: Muskelbepackte Gerichtsvollzieher stehen vor mir.