Mein Lebensweg vom Saulus zum Paulus - Helmut Feldmann - E-Book

Mein Lebensweg vom Saulus zum Paulus E-Book

Helmut Feldmann

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Beschreibung

Helmut Feldmann, geboren 1946, hat ein bewegtes Leben geführt. Seine Erlebnisse haben ihn dazu bewogen, dieses Buch zu schreiben. Seine Botschaft, die er vermitteln will, soll Mahnung und Ermutigung zugleich sein. Mahnen will er, sich durch sein Schicksal und seinen Lebensweg nicht auf ein falsches Gleis leiten zu lassen, sondern an der nächsten Weiche selbst die richtige Richtung zu bestimmen. Sein Anliegen ist es, dazu zu ermutigen, seinen Weg zu ändern und alles dafür zu tun, sein neues Lebensziel zu erreichen. So kann man vom Saulus zum Paulus werden. Es ist nie zu spät! Nach Abhängigkeit von Heroin und Alkohol, Absturz in die Kriminalität und Inhaftierung ganz unten gewesen zu sein und dann die Kraft und Willensstärke zu finden, ins Leben zurück zu kommen, ist sehr anstrengend, aber möglich. Feldmann hat es geschafft. Wie, das schildert er in diesem Buch. Gutes zu tun, sich sozial engagieren, politisch etwas bewirken, das kann man auch als "kleiner" Mann aus dem Volk. Helmut Feldmann hat das unter anderem mit seinem Feldzug gegen die Abschaffung des § 217 StGB erfolgreich unter Beweis gestellt und wurde damit bundesweit bekannt. Nun folgt seine Biografie, die sich fast wie ein Märchen liest. Aber es ist die pure Wahrheit. Dafür steht Helmut Feldmann.

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Helmut Feldmann, Klaus Belz

Mein Lebensweg vom Saulus zum Paulus

Eine (fast) unglaubliche Autobiographie

© 2021 Helmut Feldmann, Klaus Belz

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Hardcover:

978-3-7497-6795-3

e-Book:

978-3-7497-6796-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Über dieses Buch

Helmut Feldmann ist ein Kämpfer. Trotz oder gerade wegen seiner schweren, lebensbedrohlichen Erkrankung, hat er vier lange Jahre gegen das Verbot der Sterbehilfe für unheilbar Kranke vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe erfolgreich prozessiert.

Doch der Tausendsassa erlebte noch viel mehr und dokumentiert nun seine Geschichte in einer emotionalen, äußerst spannenden Biografie.

Helmut Feldmann hat so geschrieben, wie er es erlebt hat. Klaus Belz half ihm dabei, seine Erzählungen in eine lesbare Textform zu bringen. Dabei versuchte er, den verständlichen Erzählstil von Feldmann beizubehalten. Während der Aufarbeitung seines Lebens, sind bei Feldmann viele Emotionen hochgekommen, so dass er so manche Nacht sehr schlecht geschlafen hat. Heute sagt er dazu: „Das Schreiben war ein Stück Therapie für mich!“

Entstanden ist ein sehr bewegendes, gefühlvolles und spannendes Buch, das mit Feldmanns Geburt in Teufelsmoor in Niedersachsen beginnt und im April des Jahres 2020 endet.

Ein Buch, in dem die Lebensphilosophie und das Herzblut des Autors steckt!

Schon als Kind hatte er ein schwieriges Verhältnis zu seinen Eltern. Nach seiner Lehre als Elektriker wollte Helmut Feldmann eigentlich zur See fahren, doch die damals noch nötige Unterschrift der Eltern wurde ihm verwehrt und so kam er nach Marl. Hier wohnte bereits seine 21 Jahre ältere Schwester.

Viel zu früh heiratete er eine Frau aus Marl und zeugte mit ihr zwei Kinder. Aus dieser Ehe brach er aus, und geriet in einen Sumpf aus Alkohol und Rauschgift. Drogensüchtig beging er Straftaten und wurde zu 3 ½ Jahren Gefängnis verurteilt. Hier hatte Feldmann Zeit, über sein Leben nachzudenken, und er begann sich zu verändern.

Vorzeitig entlassen, gab ihm aber erst seine neue Lebensgefährtin Erika den Mut und die nötige Unterstützung, seinen zukünftigen Weg aus diesem Sumpf herauszufinden.

Dafür ist er ihr unendlich dankbar, genauso wie seiner Tochter. Beide haben ihn immer unterstützt.

Auch beruflich hat er sich weiterentwickelt und ist Elektrotechniker geworden, wodurch er viel im Ausland gearbeitet hat.

Zudem bereiste er auch privat zahlreiche Länder der Welt.

Heute ist er noch im Stadtverband der AWO und im SPD-Vorstand Marl-Hüls als Beisitzer aktiv.

Dahin gekommen ist er nach vielen ehrenamtlichen Stationen wie Parteivorsitz, AWO-Vorsitz, Suchthelfer und vielen weiteren sozialen Engagements.

Die Bewältigung der Corona Krise fällt ihm sehr schwer, weil er als Hochrisikopatient nicht mehr unter Menschen sein kann und keine Aktivitäten stattfinden. Noch nicht einmal seine Lebensgefährtin Erika, die inzwischen in einem Marler Heim lebt, darf er besuchen. Der Kontakt ist auf das Telefonieren beschränkt. Seine Tochter Manuela kommt aber so oft es geht, zu ihm.

Als offener und kommunikativer Mensch belasten ihn die Einschränkungen durch Corona enorm. Aber er hält die Maßnahmen für richtig und sinnvoll. Trotzdem wartet Feldmann sehnsüchtig auf das Ende der Pandemie bzw. auf einen wirksamen Impfstoff, um seine Pläne und sein Engagement weiterhin realisieren zu können.

Widmung

Dieses Buch widme ich den drei wichtigsten Personen in meinem Leben.

Allen voran meiner Lebensgefährtin Erika, der ich so unendlich viel zu verdanken habe und der meine ganze Liebe gehört.

Danke Erika!

Die beiden anderen Menschen sind meine beiden Kinder Manuela und Andreas.

Andreas habe ich leider viel zu früh im Jahre 2019 verloren.

Manuela ist mein ein und alles. Für meine Tochter würde ich alles tun.

Gemeinsam sind Erika und Manuela mein Halt und meine Stütze. Sie geben meinem Leben einen Sinn.

Beide bedeuten mir unglaublich viel, und ich liebe sie über alles.

Vorwort

Man glaubt, einen Menschen gut zu kennen. Aber man kann ihm immer nur vor den Kopf schauen und niemals hinein.

Man bezeichnet einen Menschen als (guten) Bekannten oder geht sogar noch weiter und nennt ihn einen, seinen Freund – egal, ob männlich oder weiblich.

Man denkt, man weiß alles über diese Person, kann ihr Verhalten einschätzen, weiß, wie sie reagiert und glaubt, sie in- und auswendig zu kennen.

Man vertraut ihr, erzählt ihr alles und ist sicher, dass sie sich auch selbst einem gegenüber offenbart.

Man kann sich nicht vorstellen, dass dieser Mensch etwas zu verbergen oder etwas zu verschweigen hat.

Aber gibt es vielleicht doch ein Vorleben dieser Person, von dem man nichts weiß und dass man sich absolut nicht vorstellen kann?

Genauso ist es bei mir. Ich habe ein Leben geführt, dass man sich kaum vorstellen kann. Ich habe Dinge erlebt und getan, die nicht richtig waren.

Aber ich habe mein Leben geändert!

Ich habe es geschafft, den richtigen Weg einzuschlagen und für andere Menschen da zu sein, ihnen zu helfen und ihr Leben damit ein wenig leichter zu machen.

Durch mein Engagement auf sozialer und politischer Ebene konnte ich Einfluss nehmen und als sogenannter „kleiner“ Mann aus dem Volke einiges bewirken.

Einer meiner größten Erfolge bestand sicherlich im erfolgreichen langen Kampf vor dem Bundesverfassungsgericht zur Sterbehilfe. Der § 217 StGB wurde gekippt und jeder Mensch darf wieder selbstbestimmt sterben.

In diesem Buch steckt mein ganzes Herzblut. Es spiegelt mein wahres Leben und meine Philosophie dazu wider. Inzwischen kann ich darüber reden und öffentlich dazu stehen. Ich habe Schuld auf mich geladen und versucht, sie durch mein „bürgerliches Leben“ ein wenig abzutragen.

Ich möchte mit diesem Buch Menschen allen Alters sagen, dass man sein Leben ändern kann, wenn man es nur will. Auch mit einer verkorksten Jugend hat man immer die Möglichkeiten, sich zu ändern.

Die Labilität lässt sich in Stabilität verändern, das ist eine Willenssache, die jeder selbst aufbauen kann.

Mein Ziel ist es – und das ist mir eigentlich wichtig, die Menschen zu erreichen, ihnen Mut zu machen und durch meine ganz persönliche Geschichte zu zeigen, dass es aus dem „Unten“ einen Ausweg gibt.

Mein Ziel ist es nicht, mit diesem Buch ein großes Werk zu veröffentlichen und bekannt oder gar reich zu werden.

Sollte nur ein Mensch meine Geschichte zum Anlass nehmen, sein Leben zu verändern, habe ich mein Ziel erreicht und meine Arbeit hatte einen Sinn.

Aller Anfang ist schwer

Teufelsmoor, ein kleiner, aber nicht unbekannter Ort im Norden von Deutschland im Bundesland Niedersachsen gelegen, nicht weit von Bremen entfernt, trägt an sich schon etwas Diabolisches in seinem Namen.

Bekannt durch viele mysteriöse und unheimliche Geschichten, Filme und Dokumentationen, die sich hauptsächlich um das riesig große, gefährliche Moor dort ranken, ist diese Gegend berüchtigt. Wer sich nicht unbedingt dort aufhalten muss, versucht, dieses Gebiet möglichst zu meiden.

Kurz nach Ende des 2. Weltkriegs im Jahre 1945, es war genau im sogenannten Wonnemonat Mai 1946, als meine Lebensgeschichte in diesem Ort seinen Anfang nahm, und ich als letztes und damit jüngstes Kind meiner Eltern Meta und Hinrich Feldmann zur Welt kam.

Einen Namen für mich gab es bei meiner Geburt noch nicht. Man dachte über Franz nach, aber ich wurde dann doch ein Helmut. Wie es zu diesem Namen kam, werde ich später noch erzählen.

Viel schlimmer war es eigentlich, dass ich ein unerwünschtes und nicht gewolltes Baby war. Aber das war mir zu diesem Zeitpunkt völlig egal, denn ich wusste ja noch von nichts.

Viel wichtiger war es, mich erst einmal ins Leben zu kämpfen und vor allem tief durchzuatmen, um dann an meine erste Milch zu kommen und endlich nicht mehr schreien zu müssen. Damals ahnte ich noch nichts von dem, was in meinem zukünftigen Leben alles auf mich zukam.

Meine Erinnerungen gehen tatsächlich bis zu meinem vierten Lebensjahr zurück. Zunächst vielleicht noch ein wenig lückenhaft, aber mit steigendem Lebensalter wird die Erinnerung immer präziser und alle Mosaiksteinchen vervollständigen sich langsam zu einem kompletten Bild zurück auf mein Leben.

Wir wohnten weit außerhalb auf einem kleinen, ärmlich wirkenden Bauernhof, einsam und weitab vom Dorfkern gelegen. Ein großer stattlicher Hof lag als unser nächster Nachbar etwa 400 Meter Luftlinie entfernt. In mehr als einem Kilometer Entfernung stand noch ein weiteres Wohnhaus. Ansonsten gab es weit und breit über viele Kilometer hinweg nichts als Wiesen und Weiden.

Ich kann mich nur an eine Kindheit voller Ängste erinnern. Bereits mit 5 Jahren musste ich auf dem elterlichen Hof mithelfen, und ich hatte kaum mal Zeit, Kind zu sein und spielen zu dürfen.

Große Angst, ja, ich kann sagen, sogar Panik, hatte ich vor meiner Oma, die häufig mit dem Fahrrad zu uns kam. Sie entsprach so gar nicht dem Klischee einer liebevollen und vertrauten Großmutter. Doch die kann man sich nicht aussuchen. Am liebsten hätte ich sie umgetauscht. Aber wer wollte schon so eine Oma haben?

Der Schuppen des Nachbarn war nicht weit von uns entfernt. Ein idealer Platz für mich zum Spielen – sofern es die Zeit und meine Eltern überhaupt mal zuließen. Es gab dort so viel zu entdecken, großartige Verstecke, und man fand immer etwas Neues, mit dem sich etwas anfangen ließ. Besonders spannend war es, wenn auch die Nachbarkinder mit dabei waren und wir zusammen toben konnten.

Das Problem war nur, dass es allen Kindern eigentlich strengstens verboten war, diesen Schuppen überhaupt zu betreten.

Meine Oma versetze mich gern in Angst und Schrecken. Sie drohte damit, dass ein „böser schwarzer Mann“ in dem Gebäude hauste, der dort sein Unwesen trieb. Er wartete nur darauf, mich zu erwischen, in einen großen, dunklen Sack zu stecken und mitzunehmen, sobald ich darin spielen würde.

Als Fünfjähriger glaubte man so etwas natürlich, und man malte sich in seiner Fantasie ein grausames Bild des Schreckens aus, was dieser gruselige Kerl mit einem alles so anstellen würde. Bestimmt starrte er mich mit seinem einzigen Auge mitten auf der Stirn durchdringend an, dass ich sofort erstarren würde, und dann hatte er leichtes Spiel.

Mir war das so unheimlich, dass ich es zukünftig nicht mehr wagte, den Schuppen überhaupt noch einmal zu betreten. Seit Großmutter mich über diese enorme Gefahr aufgeklärt hatte, und ich nun darüber Bescheid wusste, was so alles in der Scheune vor sich ging, machte ich stets einen großen Bogen darum.

Auf die Nachbarskinder war ich äußerst neidisch, denn sie bekamen von ihrer Mutter das, wonach ich mich so sehr sehnte und was mir von meinen Eltern nicht gegeben wurde - körperliche Nähe.

Ich wurde brennend eifersüchtig auf die Töchter und Söhne, wenn ich zusehen musste, wie die Mütter der Nachbarskinder ihre Mädchen und Jungen umarmten, sie kräftig drückten und ihnen zärtlich und liebevoll über die Köpfe strichen.

Es tat mir fast körperlich weh, all diese Liebkosungen wahrnehmen zu müssen und zu sehen, wie wohl die Kinder sich dabei fühlten und die Nähe genossen, während ich allein und verloren danebenstehen musste.

Wie sehr hätte ich mir das damals auch gewünscht!

Wenn ich gerade schon so negativ von meiner Familie, insbesondere von Vater und Mutter berichte, ist es an dieser Stelle vielleicht sinnvoll, erst einmal meine Familie etwas genauer vorzustellen.

Mein Vater Hinrich, ein Bauernsohn, war zum Zeitpunkt meiner Geburt bereits 41 Jahre alt. Er hatte eine Lehre als E-Schweißer absolviert, das gängige Kürzel "E" steht für das Wort Elektro.

Mutter hieß mit Vornamen Meta und arbeitete im Torfwerk Neu Sankt Jürgen, das seinen Rohstoff natürlich aus dem Teufelsmoor bezog. Neu Sankt Jürgen muss man nicht unbedingt kennen. Es ist ein Ortsteil der Gemeinde Worpswede und liegt im niedersächsischen Landkreis Osterholz.

Die vier Geschwister hießen Anni, Heinz, Herrmann und Erika. Wir waren somit drei Brüder und zwei Schwestern.

Anni war 21 Jahre älter als ich. Sie hätte also rein theoretisch sogar meine Mutter sein können. Meine Brüder Heinz und Herrmann waren jeweils 19 und 17 Jahre älter und damit zu dieser Zeit im besten Teenager-Alter, wie man es heute nennen würde. Selbst meine jüngste Schwester Erika war bereits ganze 7 Jahre alt als ich zu unserer Familie dazugestoßen bin.

Die drei ältesten Geschwister wohnten zu der Zeit bereits nicht mehr im elterlichen Haus, so dass ich seit meiner Geburt nur mit meiner kleinen Schwester Erika und mit meinen Eltern zusammenlebte.

Anni und Heinz waren damals schon verheiratet. Herrmann wohnte in einer kleinen Wohnung, die er angemietet hatte.

Anni hatte einen Bergmann aus Marl bei Recklinghausen im nördlichen Ruhrgebiet geheiratet und lebte dort mit ihm in einem Mietshaus.

Heinz besaß schon sehr früh gemeinsam mit seiner Ehefrau ein eigenes Haus.

Mit meiner kleinen Schwester Erika verstand ich mich blendend. Direkt neben unserem Wohnhaus stand unser alter Stall, in dem unsere fünf Kühe und mehrere Schweine gehalten wurden.

An den Stall grenzte noch ein kleines Gehege, in dem sich Gänse und Hühner befanden.

Die Nachbarskinder, mit denen ich gelegentlich spielte, wenn ich es denn mal durfte (oder aber auch, wenn ich es nicht durfte, was allerdings dann aber regelmäßig zu Sanktionen führte, sofern es meine Eltern bemerkten), hießen Hinni und Helma und wohnten auf dem nächsten Bauernhof. Mit ihnen pflegte ich eine dicke Freundschaft, und sie waren die Kinder der dort ansässigen Bäuerin und des Bauern.

In diesem Bauernhof befand sich im Obergeschoss eine Einliegerwohnung, in der meine beiden weiteren Freunde Christa und Herbert ihr Zuhause hatten.

Hinni und Helma waren zum Zeitpunkt meiner Geburt mit etwa 7 Jahren genau so alt wie meine Schwester Erika.

Ich war also stets das Küken, stand aber trotzdem als solches nie im Mittelpunkt, wie man es vielleicht glauben könnte, und es sicher auch normal gewesen wäre, sondern lief irgendwie immer im Hintergrund einfach und ohne Bedeutung nebenbei so mit.

An die ersten 5 Jahre meines Lebens gibt es nur lückenhafte und verschwommene Erinnerungen.

Aber an die Zeit seit meiner Einschulung kann ich gut zurückdenken.

Ich wurde mit 5 Jahren am 2. April 1952 in die erste Klasse der Volksschule in Teufelsmoor eingeschult.

Bereits den ersten Schultag musste ich völlig allein und auf mich selbst gestellt meistern. Meine Eltern hatten keine Zeit für mich. Ich hatte keine Begleitung, keine Unterstützung, es gab nicht einmal eine Schultüte für mich. Lediglich ein paar wenige Bauernkinder, deren Eltern etwas reicher waren, trugen so etwas Luxuriöses bei sich.

Auch den langen Schulweg musste ich einsam und allein ohne jede Vorbereitung bewältigen. Das bedeutete, wie zukünftig jeden Tag, eine halbe Stunde Fußmarsch bei Wind und Wetter nahezu ungeschützt und ohne bequeme und vernünftige Schuhe. Es gab für mich nur ein paar harte, schlecht passende Holzschuhe, in denen man sich schnell die Füße wund laufen konnte.

In der Dorfschule befanden sich lediglich zwei Klassen. Die erste Klasse umfasste die Jahrgänge 1 bis 4, die zweite die von 5 bis 8.

Mein erster Lehrer, dem ich begegnete, hieß Herr Minde. Der Lehrer der zweiten Klasse hatte den Namen Herr Steffens, von dem ich aber erst später unterrichtet worden bin.

Er war gleichzeitig der Eigentümer unseres kleinen, von ihm gepachteten Bauernhofs und auch des großen Bauernhofs, in dem meine Freunde lebten. Einen eigenen Hof konnten wir uns nicht leisten. Daran war nicht einmal zu denken.

Am kurz danach folgenden 24. Mai feierte ich dann meinen 6. Geburtstag.

Bis dahin war meine Kindheit nicht so sehr zufriedenstellend verlaufen. Natürlich wurde mir erst sehr viel später klar, was nicht in Ordnung gewesen ist. Damals war mir das gar nicht so bewusst gewesen.

Niemand hatte mir bis dahin (auch später in meiner Kindheit nicht) das Gefühl gegeben, geliebt zu werden. Nahezu alles, was ich gern getan hätte, wurde mir ständig verboten. Ich erhielt nur Zurückweisung und Druck von meinen Eltern! So entwickelte sich langsam das Bewusstsein, völlig unnütz auf dieser Welt zu sein und alles falsch zu machen.

Nun war ich aber ein Schulkind geworden und erhoffte und wünschte mir ein besseres Leben. Ich wollte nun viel lernen und zeigen, dass ich auch etwas konnte.

Anfangs machte mir die Schule großen Spaß und ich hatte meine ersten Erfolge. Meine Noten waren mehr als zufriedenstellend. Ich glaubte fest daran, in eine neue und bessere Zukunft starten zu können.

Doch auch diese Hoffnungen und Motivationen wurden in relativ kurzer Zeit zunichte gemacht.

Stattdessen wurde mein Leben noch viel anstrengender und schwieriger.

Schüler Helmut Feldmann, 7 Jahre

Eine Kindheit voller Arbeit, aber (fast) ohne Liebe

Ich bekam nun nach und nach immer mehr Aufgaben von meinen Eltern zugeteilt und musste bereits in voller Verantwortung kräftig auf unserem Hof mitarbeiten.

Bisher hatte ich zwar immer schon einige Tätigkeiten erledigen müssen, aber das war bis jetzt immer noch gut zu bewältigen gewesen. Zumindest hatte ich diese Arbeiten bisher noch nicht als so schlimm empfunden.

Ein bisschen Futter sammeln für die Kaninchen, fiel mir als Kind nicht so schwer, zumal es mir Freude machte, zusehen zu können, wie die Tiere genussvoll ihr frisches Grün, den Löwenzahn und knackige Möhrchen mümmelten und sich sichtlich wohl dabei fühlten.

Besonders „Langohr“ hatte es mir angetan. Ich liebte dieses Kaninchen, das ich so genannt hatte, weil es besonders lange Ohren besaß und wunderschön war. Es hatte ein schneeweißes Fell mit schwarzen Punkten darauf. Sein Fell war so weich und kuschelig. Mit ihm konnte ich sogar gelegentlich schmusen, so zutraulich war es.

Ich kann mich aber auch noch an eine ganz schreckliche Situation erinnern, die dazu führte, dass ich bis heute kein Kaninchenfleisch mehr zu mir nehmen kann.

Nur sonntags gab es bei uns Fleisch. Eines Sonntags kam ich wie immer zum Mittagessen in die große Küche. Das Essen mit Kartoffeln, Soße, Gemüse, Fleisch und einen Pudding zum Nachtisch war bereits fertig und stand auf dem Tisch.

Es gab Kaninchen, wie schon öfter. Das war auch grundsätzlich kein Problem für mich. Während des Essens erzählte Mutter mir dann ganz beiläufig, dass das Kaninchen, was ich da gerade verspeisen würde, mein geliebtes „Langohr“ war. Mir blieb darauf der Bissen im Hals stecken. Ich war so schockiert, dass ich alles habe fallen und stehen lassen und sofort zum Stall gerannt bin. Tatsächlich, mein geliebtes „Langohr“ war verschwunden. Ich war sehr traurig und gleichzeitig unglaublich wütend auf Mutter. Anschließend konnte ich nichts mehr essen - selbst nicht mehr den leckeren Pudding.

Meinen Eltern war ich sehr böse, dass sie mir das angetan hatten. Ich war mit dem Tier so verbunden gewesen, dass ich lange Zeit brauchte, um darüber hinwegzukommen.

Zukünftig waren nun aber erstmal weitere regelmäßige und schwere Arbeiten für mich angesagt – und das im Alter von 6 Jahren!

Zwischendurch tauchte dann auch immer wieder unregelmäßig meine Oma auf, die weiterhin noch ständig mit dem „schwarzen“ Mann drohte, wenn sie das, was ich tat, nicht in Ordnung fand und verhindern wollte. Wirklich lieben konnte ich sie nicht, aber ich respektierte sie, wenn es mir auch manchmal schwerfiel, und ich große Angst vor ihr hatte. Neben den Drohungen schlug sie mich auch hin und wieder mal. Sie war mir irgendwie unheimlich, und es kam jedes Mal Erleichterung in mir auf, wenn sie sich endlich wieder auf ihr klappriges Fahrrad setzte und uns verließ, um zurück nach Hause zu strampeln.

Wenn die Schule aus war, war es nun meist meine Aufgabe, mich um unsere Kühe zu kümmern, sie zu hüten und auf sie zu achten. Eine langweilige und stumpfsinnige Verpflichtung, die ich bei Wind und Wetter zu leisten hatte. Für Hausaufgaben hatte ich somit keine Zeit, die wurden dann abends nach der Arbeit noch eben schnell nebenbei erledigt. Klar, dass die nicht immer ganz in Ordnung und vollständig waren.

Oft hatte ich keine Lust auf das Kühe hüten. Lieber wollte ich mit meinen Freunden Christa und Herbert und den anderen Kindern toben und spielen.

Manchmal hatte ich die Nase so voll und wollte einfach nicht mehr auf diese blökenden und nervigen Rinder aufpassen, dass ich einfach meine Pflicht habe Pflicht sein lassen und verschwunden bin. Ich überließ leichtsinnigerweise die Tiere sich selbst. Zum Glück ist nie etwas passiert.

Der Drang in mir, mal etwas anderes tun zu wollen als andauernd stumpfsinnig bei den langweiligen Viechern herumzusitzen, war so groß, dass mir das Zusammensein mit meinen Freunden viel wichtiger war als mein Auftrag, die Kühe zu hüten.

Manchmal hatte ich Glück und meine Nachlässigkeit wurde gar nicht bemerkt. Wenn ich mit meinen Freunden verbotenerweise zusammen war, vergaß ich meist die Zeit, denn sie verging dann wie im Fluge. Irgendwann kam mein schlechtes Gewissen wieder zum Vorschein, und dann kehrte ich reumütig wieder zu den Tieren zurück.

Doch häufig war es ein riesiger Fehler gewesen, meinen Platz zu verlassen. Meist bemerkte meine Mutter mein Vergehen zuerst, weil sie früh von der Arbeit kam.

Die Konsequenzen folgten auf dem Fuß. Vorwürfe und Drohungen, die ich erhielt, waren noch das Harmloseste.

Ich bekam kräftige Schläge mit der Hand von meiner Mutter, wenn ich dann nach Hause kam. Geweint habe ich in diesen Momenten nie. Das tat ich erst später heimlich in der Scheune, wenn ich allein war. Dann konnte ich meine Tränen laufen lassen, mir meine Wunden voller Wut und Schmerz ansehen und mich langsam beruhigen.

Mutter geriet immer wieder beim Schlagen so in Rage, dass ihr die Hände zum Prügeln nicht mehr ausreichten. An der Wand im Kuhstall hingen die Stricke, die den Kühen um den Hals gelegt wurden, um sie zu führen. Sie waren wie eine Schlinge geformt und als Verbindung zwischen den beiden Enden diente ein Stock. Diese riss sie in ihrer Wut von der Wand und schlug damit auf mich ein. Ihr Ziel war mein Rücken und meine Beine. Natürlich versuchte ich mich zu schützen und den Schlägen auszuweichen, indem ich mich wegduckte. Aber dann trafen die Prügel ihr Ziel nicht mehr, und es gab auch schon mal ein paar Hiebe auf den Kopf. Noch tagelang danach waren rote Striemen auf meinem Körper zu sehen, die kräftig brannten.

Mein Vater konnte es noch besser, so dass ich vor ihm große Angst hatte, wenn er ärgerlich auf mich war. Oft zog er dann den Gürtel aus seiner Hose und verprügelte mich gnadenlos mit dem Riemen. Ich muss zugeben, dass ich insgeheim hoffte, dass er seine Hose dabei verlieren und sie ihm runterrutschen würde. Das wäre nämlich ein Grund gewesen, mit dem Schlagen kurz aufzuhören, um sie wieder hochzuziehen. Diese kurze Zeitspanne hätte ich dann vielleicht zur Flucht nutzen können. Aber leider hielt sie immer auch ohne Gürtel und blieb oben. In seinem Zorn war es ihm dabei sichtlich egal, ob er mein Gesicht traf oder nicht.

Gemeinsam mit meiner Schwester Erika hatten wir beide auch nach der Schule unser Vieh zu versorgen. Wir mussten es füttern, und Erika musste sogar die Kühe melken.

Ich war unter anderem nicht nur für das Füttern zuständig, sondern auch verantwortlich dafür, dass immer ausreichend Grünfutter und Futterrüben vorhanden waren.

Dafür musste ich raus auf unsere Wiese und mit der Sense das Gras mähen. Für einen kleinen Jungen eine nicht ganz ungefährliche Arbeit. Besonders beim Schärfen mit dem Dengel musste ich aufpassen, da man sich leicht dabei verletzen konnte. In der Regel befand sich niemand in der Nähe, der mir hätte im Notfall helfen können. Aber darum kümmerte sich damals niemand.

Mit der Schubkarre fuhr ich die Rüben in den Stall, die ich vorher aus dem Boden gezogen hatte. Sie wurden dann in den Häcksler gekippt, und so zerkleinert, dass ich sie an die Tiere verfüttern konnte. Der funktionierte damals natürlich ohne Strom und musste von mir mit der Hand durch Drehen einer Kurbel mühselig angetrieben werden

Ich musste auch hier gut aufpassen, dass man nicht mit den Händen, Haaren oder sonst irgendwie in das Häckselwerk geriet. Auch hier wäre niemand da gewesen, der mir hätte helfen können.

Die Arbeiten fielen mir als kleines Kind besonders schwer. Manchmal füllte ich die Schubkarre nur zur Hälfte, damit ich sie überhaupt bewegen konnte. Dafür musste ich aber dann alles zweimal machen, um auf dieselbe Menge zu kommen.

Weiterhin gehörte es einmal in der Woche jeden Mittwoch zu meinen Aufgaben, unseren Hühnerstall auszumisten. Eine Arbeit, die mich anwiderte und die ich als ekelig empfand. Ich wünschte mir in Gedanken, dass direkt auf den Dienstag der Donnerstag folgen sollte, damit ich mich vor dieser unangenehmen Tätigkeit drücken konnte. Das Tragen von Gummistiefeln war dabei unbedingt erforderlich, weil man sonst mit den Schuhen im Mist versank, dieser über deren Rand in die Schuhe schwappte und fürchterlich stank. Aber auch die Stiefel mussten anschließend wieder mühevoll von Hand gereinigt werden. Fließend Wasser gab es nicht. Also musste frisches Wasser anstrengend mit einem Eimer vorher aus dem Brunnen gezogen werden, um damit die Stiefel kräftig abzuwischen.

Natürlich musste ich mich auch weiterhin wie schon seit langer Zeit um unsere 10 Kaninchen kümmern, sie mit Futter versorgen und auch deren Ställe reinigen.

Ich war über meine vielen Pflichten sehr unglücklich und unzufrieden. Meine Kindheit wurde mir genommen!

Die anderen Schulkinder, selbst wenn es Bauernkinder waren, brauchten nicht auf dem Hof mitzuhelfen. Sie hatten Freizeit und konnten miteinander spielen und die Welt entdecken. Ich bedauerte mich selbst und ärgerte mich immer mehr über meine Situation.

So entstand nach und nach das Gefühl von Neid und Eifersucht auf alle, die es besser hatten als ich. Ich fühlte mich wertlos und immer mehr von den anderen ausgeschlossen und an den Rand gedrängt.

Daraus hatte sich dann Frust und eine gewisse Bockigkeit entwickelt, die, je älter ich wurde, immer öfter dazu führte, dass ich die mir zugeteilte Arbeit nicht erledigte, sondern lieber Dinge tat, die mir mehr Freude machten.

Der Fluss Hamme durchzog ganz in der Nähe die Wiesen und Felder und verführte mich bei schönem Wetter dazu, darin zu schwimmen.

Wenn es nicht ganz so heiß war, dann ging ich auch schon mal zum Angeln zum Fluss. Das machte mir großen Spaß. Die Angel hatte ich mir selbst aus einem passenden Stock gebaut. Die Schnur und den Schwimmer sowie die Haken schenkte mir mein Bruder Herrmann, mit dem ich oft zusammen zum Angeln gegangen bin. Der Fluss war sehr fischreich, so dass wir immer einen guten Fang mit nach Hause bringen konnten.

Ich weiß noch, ich hatte mich einmal von meinem siebzehn Jahre älteren Bruder getrennt, weil dann jeder von uns bessere Chancen auf einen guten und reichen Fang hatte, als wenn wir beide zusammen hocken würden.

Deshalb angelte ich einige hundert Meter weiter flussabwärts als er. Ich hatte schon reichlich Beute gemacht und bereits zwei Rotaugen sowie zwei Plötze aus dem Wasser ziehen können. Darauf war ich sehr stolz und freute mich unbändig. Das sollte mir mein Bruder erst mal nachmachen! Trotzdem wollte ich es noch einmal versuchen. Es lief heute einfach zu gut. Ich warf erneut die Angelschnur weit aus und wartete ein Weilchen. Plötzlich zog die Angelrute kräftig an. Der Schwimmer verschwand unter der Wasseroberfläche. Ich musste mich kräftig anstrengen, um mit meinen damals acht Jahren die Angel hochzuziehen.

Was ich da sah, erschrak mich so sehr, dass ich alles habe fallen lassen und einfach weggelaufen bin hin zu meinem Bruder. Ich hatte doch tatsächlich eine dicke, lange Schlange am Haken. Herrmann hörte sich meine aufgeregte Schilderung genau an, und er ging dann mit mir zurück zu meiner Angelstelle, um sich das Untier anzuschauen.

An meinem Angelplatz angekommen hat er erst das Monster, dann mich angesehen. Lobend stieß er hervor: „Petri heil, Helmut! Herzlichen Glückwunsch, da hast du einen wunderschönen Aal erwischt!“ Ich hatte vorher noch nie in meinem Leben einen so großen lebenden Aal gesehen. Ich wurde rot vor Stolz.

Das waren zwischendurch immer mal wieder kleine Erlebnisse, die mir mein Leben ein wenig erträglicher machten, und mir zeigten, dass ich ja doch auch mal etwas richtig machte und Erfolg hatte.

Abends bereitete meine Mutter den Aal zu, und ich bekam dann auch ein Stückchen davon ab. Er schmeckte mir ausgezeichnet.

Aber weil ich ja mit dem Angeln etwas getan hatte, was ich eigentlich nicht durfte, wurde trotz der üppigen Beute kräftig mit mir geschimpft. Manchmal gab es auch Schläge oder zusätzliche Verbote, wie zum Beispiel nicht spielen zu dürfen, wenn ich trotz des Verbotes angeln war. Dennoch aßen alle den Fisch dann gerne zum Abend.

Durch all diese Umstände, die harte Arbeit, wenig Freizeit, all die Misshandlungen und keinerlei liebevolle Zuwendungen, begann ich immer mehr zu rebellieren, wurde zunehmend sturer und bockiger.

So wollte ich trotz Verbotes unbedingt einmal ins Moor gehen und mir ansehen, wo, wie und was meine Mutter dort arbeitete. Ich wollte mit meinen eigenen Augen wahrnehmen und erleben, wie die Umgebung aussah und ob wirklich alles so gefährlich war, wie man hier erzählte.

Meine Mutter fragte mich: „Was meinst du wohl, warum das Moor den Namen Teufelsmoor trägt?“ Ich kannte zwar viele Geschichten von diesem mysteriösen Gebiet, aber zuckte nichtwissend die Schultern. „Im Moor treibt der leibhaftige Teufel sein Unwesen. Deshalb heißt unser Dorf ja auch Teufelsmoor“, verriet sie mir geheimnisvoll.

Weiter warnte sie mich eindringlich: „Der Teufel holt im Moor nur Kinder!“

So schürte sie meine Angst vor dem Teufelsmoor. Sie wollte mich unbedingt daran hindern, jemals einen Fuß in dieses Gebiet zu setzen.

Warum das so war, weiß ich bis heute nicht. Ob es einen besonderen Grund dafür gab, den ich nie herausgefunden habe oder ob sie sich wirklich ernsthaft Sorgen um mich gemacht hatte, konnte ich nie ganz klären.

Ich war ja schon immer ein kleiner Rebell und habe mir wenig sagen lassen. So habe ich trotz des Verbotes im Alter von etwa 9 Jahren einfach einmal den Versuch gemacht, allein ins Teufelsmoor zu gehen. Schließlich arbeiteten meine Mutter und meine Schwägerin Wilma dort. Das konnte doch wohl so gefährlich nicht sein! Im Moor angekommen, traf ich bereits schnell auf die ersten Arbeiter. Ich fragte sie nach meiner Mutter und wollte wissen, wo sie denn arbeitet. Sie haben mir den Weg dorthin beschrieben und mich gewarnt, davon abzuweichen, weil es wirklich richtig gefährlich werden konnte. Daran habe ich mich gehalten und bin vorsichtig den genannten Weg zu meiner Mutter gegangen. Wie oft habe ich mich umgeschaut, um so früh wie möglich den Teufel zu entdecken, falls er irgendwo auftauchen sollte. Etwas mulmig war mir schon. Ich hatte, ehrlich gesagt, viel mehr Angst davor, dem leibhaftigen Teufel zu begegnen als irgendwo einzusinken, wenn ich vom festen Untergrund abkam. Aber ich war jederzeit bereit, sofort die Flucht zu ergreifen. Bestimmt konnte dieser schreckliche Teufel mit seinem langen Dreizack in der Hand, dem Sack auf dem Rücken, den er dafür mit sich trug, um die eingefangenen Kinder darein zu stecken und den zwei Hörnern auf dem Kopf nicht so schnell laufen wie ich. So war ich sicher, ihm rechtzeitig entkommen zu können. Das stellte ich mir jedenfalls damals in meiner kindlichen Fantasie so vor.

Ich erinnere mich noch gut, es war ein sehr heißer Tag mitten im Sommer. Es war so warm, dass ich mich zwischendurch erst einmal auf einen Torfstapel setzte, der neben dem Weg aufgeschichtet war, um ein wenig auszuruhen. Auf einmal spürte ich unten an der rechten Wade einen heftigen stechenden Schmerz. Da ich ja eine kurze Hose trug, konnte ich sofort einen Blick auf die schmerzende Stelle werfen. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, wie eine Kreuzotter davonschlich. Sie schlängelte sich in schnellem Tempo in das Gebüsch und war auch schon wieder aus meinem Blickfeld verschwunden. Aus der Schule kannte ich die Kreuzotter, dort haben wir sie im Fach Naturkunde ausführlich behandelt. Daher wusste ich auch, dass ihr Biss giftig ist. Mich überkam eine furchtbare Angst, und ich lief panisch den Weg, so schnell ich konnte, zurück. Bald schon sah ich wieder die Arbeiter, die ich vorher nach dem Weg gefragt hatte. Laut weinend rannte ich zu ihnen und erzählte von meinem Unglück. Ich hatte inzwischen Todesangst, denn die Wunde brannte ganz fürchterlich. Ein Arbeiter nahm mich sofort an die Hand und befahl mir: „Komm schnell!“ Er eilte mit mir zu einem Schuppen. Dort hatte er sein Motorrad abgestellt. Er ließ den Motor an, setzte mich auf den Sozius, natürlich ohne einen Helm, das war damals noch nicht vorgeschrieben und raste mit mir so schnell los, dass ich fast das Gleichgewicht verlor und hintenüber zu kippen drohte. Bereits im Fahren rief er mir laut zu: „Ich fahre dich jetzt zu Dr. Bock nach Hüttenbusch. Der wird dir sicherlich helfen können!“ Obwohl die Fahrt nicht allzu lange dauerte, kam sie mir dennoch ewig vor. Der Arzt spritzte mir sofort ein Gegenmittel. Diese Spritze hat mir sehr weh getan, aber ich habe die Zähne zusammengebissen, denn ich wollte noch nicht sterben. Anschließend versorgte der Herr Doktor dann die Bisswunde. Er hat mir noch Tabletten mitgegeben und mir gesagt, wie ich mich weiter verhalten sollte. Der nette Arbeiter hatte so lange draußen auf mich gewartet und mich dann mit seinem Motorrad wieder zurück nach Teufelsmoor gebracht. Ich war ihm so unendlich dankbar für das, was er für mich getan hatte.

Wieder zurück zu Hause angekommen, hatte mich meine Schwester Erika bereits vermisst und bei den Nachbarn nach mir gefragt, weil sie sich schon Sorgen um mich machte. Sichtlich erleichtert, weil ich wieder da war, nahm sie mich dann in den Arm und sprach mir Trost zu, weil ich ja noch immer Angst davor hatte, vielleicht doch noch sterben zu müssen. Am Nachmittag kam meine Mutter von der Arbeit, und da brach es aus mir heraus. Ich habe ihr alles erzählt. Sie wurde sehr böse, weil sie mir ja das Betreten des Moores verboten hatte und schimpfte kräftig mit mir. Aber ich habe diesmal keine Schläge bekommen!

Unser Haus stand in etwa 400 Metern Entfernung zur nächsten Straße. Hinter dieser führte vom Moor bis nach Neu Sankt Jürgen eine kleine Bahnstrecke her, die sogenannte Moorbahn. Die Lokomotive, die ganz viele Waggons voll mit Torf beladen hinter sich herzog, hatte ausschließlich die Aufgabe den im Moor gewonnenen Torf zur weiteren Verarbeitung ins Werk zu transportieren. Personen durften und konnten damit nicht befördert werden! In Neu Sankt Jürgen wurde der Torf, den man in Weiß- und Schwarztorf trennte, weiterbehandelt, verpackt und mit der großen Eisenbahn zum Güterbahnhof gebracht. Von dort aus wurde er dann weiter in alle Richtungen verteilt.

Wenn die Moorbahn auf ihren Gleisen ins Moor fuhr, war sie unbeladen. Alle Waggons waren leer. Aber wenn sie vom Moor ins Torfwerk nach Neu Sankt Jürgen unterwegs war, dann war sie schwerbeladen. Alle angehängten Wagen waren voll mit Brenntorf und Schwarztorf.

Mein Freund Herbert und ich fuhren hin und wieder unerlaubter Weise mit der Moorbahn vom Flüsschen Hamme zurück nach Hause. Das Mitfahren für Personen war strengstens verboten und ziemlich gefährlich. Wir taten es trotzdem und versuchten, uns nicht erwischen zu lassen. So sind wir dann auf der Rückfahrt auf irgendeinen der Gitterwagen aufgesprungen. Wir achteten darauf, keinen Wagen zu nehmen, der sich zu dicht hinter der ziehenden Lokomotive befand, damit uns der Lokomotivführer nicht sehen konnte. So brauchten wir nicht zu Fuß nach Hause zu gehen, sondern konnten uns bequem fahren lassen. Kurz vor unserem Haus bremste der Zug einmal plötzlich aus irgendeinem Grund stark ab, den ich bis heute nicht kenne. Durch diesen abrupten Stopp verlor ich mein Gleichgewicht und stürzte mit dem Kopf auf eine Ecke des Waggons. Ein starker Schmerz durchfuhr mich. Ich wusste gar nicht, was mit mir genau geschehen war. Ich fasste an meinen Kopf an die Stelle, die mir am meisten weh tat. Als ich die Hand zurückzog war sie voller Blut. Nun spürte ich auch, wie das Blut vom Kopf herunter auf meine Kleidung tropfte. Wir sprangen sofort vom Zug hinunter. Voller Panik lief ich weinend zu Fuß das letzte Stück nachhause zu meiner Mutter. Ich erzählte ihr, was passiert war, und natürlich fing sie wieder an, mit mir kräftig und laut zu schimpfen. Wie konnten wir nur auf die Bahn springen! Ich bekam Schläge auf den Po. Das war für sie alles wichtiger als mir zu helfen oder sich, um mich zu sorgen. Aber irgendwann hatte sie sich dann doch endlich mal dazu entschlossen, meine Stirnwunde zu versorgen.

Ich war sehr traurig und enttäuscht über das Verhalten meiner Mutter. Wie sehr hätte ich mir gewünscht, dass sie mich mal in den Arm genommen und getröstet hätte, oder wie ich es bei meinen Freunden gesehen hatte, mir mal über den Kopf gestreichelt und etwas Liebes zu mir gesagt hätte. Aber wieder erhielt ich keinerlei Zuwendungen oder Liebkosungen von ihr. Sie war einfach hart und gefühllos zu mir.

Später fiel mir dann auf, wie viel Pech ich jedes Mal hatte, wenn ich irgendwie mit dem Moor Kontakt hatte. Vielleicht gab es ja doch diesen furchtbaren Teufel, der Einfluss auf dieses Gebiet und das Geschehen rundherum nehmen konnte.

Das alles war mir eine große Lehre. Ich betrat nach all diesen Vorfällen jedenfalls nie wieder das Moor – bis heute nicht! Der Schock war zu groß und saß einfach zu tief.

So wuchs ich langsam heran, wurde immer selbständiger und machte mir meine eigenen Gedanken über mein Leben und meine Welt, in der ich lebte.

Gern hätte ich mir auch mal etwas gegönnt und selbst eingekauft, wie die anderen Kinder in meinem Alter das so taten. Sie verfügten über ein kleines Taschengeld und konnten sich davon Kleinigkeiten wie Bonbons oder andere Süßigkeiten leisten. Manchmal gaben mir meine Schulfreunde gönnerhaft etwas ab. Denn natürlich erhielt ich kein Taschengeld von meinen Eltern, nicht einen Pfennig. Obwohl ich so viele und schwere Aufgaben zu erledigen hatte, bekam ich nie eigenes Geld in die Hände. Meine Eltern konnten sich das nicht leisten. Wir waren einfach zu arm und mussten irgendwie über die Runden kommen. Meine Schulfreunde verstanden das nicht und hänselten mich noch zusätzlich zu meinem Kummer und meiner Scham, dass ich über kein Geld verfügte, als „armer“ Helmut. Das tat mir sehr weh und verletzte mich zutiefst.

Ich begann darüber nachzudenken, wie ich zu Geld kommen könnte, denn ich wollte nicht immer als der Außenseiter und Habenichts dastehen, der nicht zu den anderen passte. Mir wollte aber so recht nichts einfallen.

Ich erinnere mich noch daran, als eines Tages mein Freund Heinz zu mir kam und mir einen entscheidenden Vorschlag machte, wie wir an ein wenig Bargeld kommen könnten.

„Du Helmut,“ riet er mir gutgemeint, „ihr haltet doch auch Hühner im Stall! Lass uns doch einfach ein paar Eier von ihnen nehmen, und die verkaufen wir dann beim Krämerladen in Hüttenbusch!“ Die Idee fand ich super. Endlich ein paar Groschen eigenes Geld! „Ich mache das schon seit ein paar Monaten so!“, gestand Heinz mir offen. Ich zögerte nicht, das Gleiche fortan nun auch zu tun und hatte nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei.

So stahl ich dann heimlich jede Woche 10 Eier aus unserem Hühnerstall und machte mir keine Gedanken darüber, was ich da eigentlich gerade tat.

Gemeinsam mit Heinz zusammen verkaufte jeder von uns beiden die gerade geklauten Eier in Hüttenbusch beim Krämer. Das Geld, das wir dafür erhielten, setzten wir sofort an Ort und Stelle meist in Süßigkeiten um. Die wurden natürlich mit größtem Genuss sofort in den Mund gesteckt und aufgegessen, bis nichts mehr da war. So hatte jeder eine „Win-Win-Situation“, wie man es heute nennen würde. Der Kaufmann gleich doppelt, weil er die Ausgaben für die von uns erworbenen Eier gleich wieder als Umsatz zurückerhielt.

Ich wusste, dass ich etwas Unrechtes tat und bekam dann auch mit der Zeit doch ein schlechtes Gewissen. Aber dennoch freuten wir uns, wie gut das System funktionierte und waren richtig stolz auf uns. Wir hatten eine Lösung gefunden, wie wir uns Geld beschaffen konnten.

Natürlich ist das dann irgendwann aufgefallen. Schließlich konnte ich in der Zeit viel weniger Eier sammeln und meinen Eltern geben als bisher.

Und nach einigen Monaten passierte es dann. Meine Mutter erwischte mich auf frischer Tat beim Eierklauen als sie einmal etwas früher von der Arbeit heimkam. Ich bekam von ihr wieder heftige Schläge. Als mein Vater am Abend nach Hause kam, erhielt ich dann von ihm für meine Untaten gleich nochmals Prügel. Zweimal für dieselbe Tat bestraft zu werden, fand ich sehr ungerecht.

Ich habe danach aber niemals wieder Eier aus unserem Hühnerstall weggenommen und verkauft!

Allerdings hatten meine Eltern dann ein Einsehen, und ich bekam hin und wieder auch mal Süßigkeiten von ihnen.

Später, im Alter von etwa 11 Jahren, hörte ich zufällig ein Gespräch zwischen meiner Mutter und unserer Nachbarin Hilde mit. Die beiden bemerkten mich aber nicht. Sie nahmen an, sie seien allein und keiner würde ihnen zuhören.

Mutter sprach zu Hilde: „Den Helmut wollten wir ja gar nicht mehr!“ „Ich habe alles versucht, damit er erst gar nicht geboren wird“, verriet sie weiter. Sie gestand leise: „Sogar vom Heuwagen bin ich gesprungen, damit der Fötus abgeht!“

Ich war fassungslos. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ich war zugleich wütend und unendlich traurig. Es dauerte einige Zeit, bis ich überhaupt richtig verstand, was Mutter da gerade gesagt hatte. Meine Eltern wollten mich nicht! Ich war ihnen eine Last! Deshalb also bekam ich keine Zärtlichkeiten und keine Liebe. Das war der Grund für die vielen Schläge und Misshandlungen. Ich fiel in ein tiefes Loch. Das musste ich erst einmal verarbeiten, was mir bis heute noch nicht ganz gelungen ist. Meine Eltern wollten mich nicht! Meine Eltern liebten mich nicht! Es war ihnen egal, was mit mir passierte! Ich war ihnen egal! Unfassbar, wie sollte ich jetzt bloß weiterleben? Was sollte ich jetzt tun? Mit einem Schlag war ich um Jahre älter und reifer geworden.

Ich begriff, ich war allein auf dieser Welt. Gott sei Dank, gab es da noch meine Schwester Erika, die ich über alles liebte und die mir auch Liebe und Sympathie zurückgab. Nur so habe ich es ausgehalten, weiter zu leben.

Das, was ich da zufällig mitbekommen hatte, hat mich mein ganzes Leben bis zum heutigen Tage geprägt. Wie oft habe ich heimlich und allein in der Scheune bitterlich und verzweifelt geweint.

Seitdem habe ich auch nie mehr meine Eltern mit Mama und Papa angesprochen, sondern ich habe die direkte Ansprache immer vermieden. Es waren nicht mehr meine Eltern!

Meine Eltern konnte ich nach diesem Zwischenfall einfach nicht mehr lieben. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt – so weiß ich heute – die Liebe und das Lieben verloren. Niemals mehr habe ich damals wirkliche Liebe zu meinen Eltern in meinem Herzen spüren können. Wirklich niemals mehr!

1957 wurde in Teufelsmoor ein Fußballverein, der SV Teufelsmoor, gegründet, dem auch eine eigene Abteilung für Kinder angegliedert war. Ich wollte gern dort im Verein mitspielen. Meine Mutter war jedoch absolut dagegen. Aber diesmal setzte mein Vater sich durch, weil er das gut fand. So wurde ich Mitglied und Spieler im SV Teufelsmoor. Die Spiele waren immer ein kleiner Höhepunkt in meinem Leben.

Ich hatte schon als 6-jähriger mit meinen Freunden Heinz und Herbert Fußball gespielt. Dabei hatte ich erste Erfahrungen gesammelt. Den Ball hatten wir selbst aus Stroh gebastelt und mit Schnüren zusammengebunden. Wir hatten riesigen Spaß damit gehabt.

Auch in der Schule hatten wir in den Pausen die Möglichkeit, Fußball zu spielen. Dort konnten wir uns sogar mit einem richtigen Ball austoben.

Im Verein spielte ich in der Position des Mittelstürmers. Ich war ein ganz guter Spieler, möchte ich behaupten. Das konnte man an meiner Torbilanz sehen. Viele Tore wurden von mir geschossen. Ich setzte mich meist gegen meine Gegner durch, obwohl die körperlich fast immer viel größer waren als ich. Durch meine Schnelligkeit und mein Geschick gewann ich viele Zweikämpfe. Auch war ich sehr kopfballstark und erzielte das ein und andere Tor per Kopfstoß. So schafften wir es, in unserer Liga sogar einmal Kreismeister zu werden. Das war unser größter Erfolg, auf den wir ziemlich stolz waren.

Eines Tages rief mich mein Vater in die Scheune. Ich bekam einen Schreck und überlegte, was ich nun schon wieder angestellt haben könnte. Mir fiel nichts ein. Ich war mir keiner Schuld bewusst, und ich befürchtete, wieder verprügelt zu werden. Doch die Überraschung war groß. Als ich die Scheune betrat, sah ich sofort das Fahrrad, das dort an der Wand lehnte. Vater trat zu mir und versprach mir: „Damit kannst du ab jetzt zur Schule fahren und musst nicht mehr laufen!“

Ich konnte es nicht fassen. Ein Fahrrad für mich, ein eigenes Fahrrad! Spontan umarmte ich meinen Vater vor lauter Freude. Das war allerdings auch die erste und letzte, und damit einzige Umarmung, die ich je in meiner Kindheit habe erleben dürfen.

Mit dem Fahrrad hatte ich anfangs große Probleme. Es war überhaupt nicht auf meine Größe abgestimmt und eher für größere und ältere Fahrer ausgelegt. Zudem handelte es sich um ein Herrenfahrrad, das als solches natürlich eine Querstange hatte. Eigentlich war ich viel zu klein dafür. Ich kam mit meinen kurzen Beinen gar nicht über die Querstange und damit an die Pedale heran. Aber ich fand eine Lösung für das Problem. Ich stieg mit einem Bein unter die Querstange hindurch und versuchte so, in die Pedale zu treten. Das war nicht so ganz einfach, denn der Schwerpunkt verschob sich dadurch, und das Fahrrad war immer in einer Schräglage. Aber mit einiger Übung und nach etlichen, zum Teil auch schlimmen Stürzen, schaffte ich es dann so einigermaßen damit zurecht zu kommen.

Hauptsache, ich hatte ein Fahrrad! Ich war selig!

So manches Mal bin ich später, als ich ganz gut mit dem Rad umgehen konnte, an die Hamme gefahren. Ich setzte mich dort auf die Uferböschung und genoss den herrlichen Ausblick. Dort hielt ich mich sehr gern auf, denn ich konnte hier alles vergessen und die Seele baumeln lassen. Das Wasser hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. Die Hamme wurde auch von der Schifffahrt genutzt. Gedankenverloren schaute ich den vielen Torfkähnen zu, wie sie ihre wertvolle Fracht an ihre Ziele transportierten und gemächlich an mir vorbeizogen. Immer wieder war etwas Neues zu entdecken.

Gelegentlich begleitete mich mein Bruder Herrmann, der auch gern diesen Ausblick genoss. Wenn es sehr warm war, haben wir uns ausgezogen und nur in Unterhemd und kurzer Hose am Uferrand die wenige Zeit, die uns zur Verfügung stand, gemeinsam verbracht. Ich ahnte vorher nichts, als er mich einmal fasste, hochhob und einfach in den Fluss warf. Ich bekam einen Riesenschreck und Panik, denn ich konnte doch noch gar nicht schwimmen. Ich prustete, paddelte und ruderte panikartig mit den Armen, um nicht unterzugehen und schnappte verzweifelt nach Luft. Wie konnte Herrmann das nur tun? Er wusste doch, dass ich Nichtschwimmer war! Mein Bruder grinste nur und sprang sofort hinter mir her ins Wasser. Er riet mir: „Schwimm einfach weiter! Ich passe schon auf dich auf. Keine Angst, es wird nichts passieren!“

Oje, ich hätte ihn in dem Moment umbringen können, so verzweifelt und wütend war ich! Prustend und viel Wasser schluckend, gelang es mir dann doch an der Wasseroberfläche zu bleiben. Wütend und stolz zugleich schaffte ich es, ans Ufer zu kommen – immer begleitet von meinem Bruder, der mir jederzeit hätte helfen können, wenn es nötig gewesen wäre. Erschöpft krabbelte ich mit letzter Kraft bis ans Ufer und ließ mich einfach auf den Boden fallen. Hechelnd und nach Luft schnappend erholte ich mich nur langsam von diesem Schrecken. Die Angst und Wut verwandelten sich in Stolz, dass ich es geschafft hatte. Nun war ich ihm sogar dankbar, dass er mir auf diese Art und Weise das Schwimmen beigebracht hatte. Nach und nach wurde ich mit der Zeit immer besser und entwickelte mich so zum leidlich guten Schwimmer.

Ich liebte schon immer die Natur und hielt mich gern draußen auf. Mit meinem Freund Heinz war ich hin und wieder zu Fuß oder mit dem Rad im Wald unterwegs. Wir haben dort die Vögel beobachtet. Fasziniert sahen wir ihnen zu, wie sie Futter suchten und Baumaterial für ihren Nestbau sammelten. Geschickt schichteten sie daraus Lage für Lage aufeinander, bis das Nest fertig war. Wir kannten auch die Bezeichnungen für die Vögel, weil wir uns dafür interessierten. Wir haben eine Liste geführt und die Vogelarten, die wir gekannt haben, mit Namen notiert. In der Schule haben Heinz und ich im Unterricht dann ganz stolz darüber berichtet.

Wir waren noch in die Volksschule gegangen, eine Schulform, die es heute nicht mehr gibt. Heute würde das der Grundschule entsprechen. Allerdings gab es damals viele Fächer noch gar nicht, wie zum Beispiel Englisch. Stattdessen gab es andere Schulfächer als heute. Sport hieß damals Turnen oder Leibesübungen. Es gab Schulfächer, die hießen „Naturlehre“ oder „Heimatkunde“. Wie ich anfangs schon einmal erwähnt hatte, gab es an dieser Volksschule zwei Lehrer. Das waren der Herr Lehrer Minde und der Herr Lehrer Steffens. Die ersten Jahre wurde ich von Herrn Minde unterrichtet und erst später, in der zweiten Klasse (Jahrgänge 5-8), von Herrn Steffens. Deshalb habe ich auch nie in meinem Leben die englische Sprache erlernt, ein Manko, unter dem ich später immer wieder gelitten habe.

Zwar versuchte ich viel später das in der Volkshochschule nachzuholen und habe auch einige Seminare durchgehalten. Gut sprechen und verstehen kann ich aber diese Sprache nicht wirklich. Es war einfach zu spät dafür. Der richtige Zeitpunkt wäre jetzt hier in der Schule gewesen, aber englisch wurde leider nur in den weiterführenden Schulen unterrichtet.

Herr Steffens war ein sehr strenger Lehrer, vor dem wir Kinder allen Respekt und Angst hatten. Wenn nach seiner Meinung ein Schüler oder eine Schülerin seinen Unterricht störte, in dem er beispielsweise mit seinem Nachbarn leise tuschelte oder es sogar wagte zu kichern, rastete er aus.

Der betreffende Sünder musste dann allein in den nahegelegenen Wald gehen und so lange nach einem passenden abgebrochenen Zweig suchen, bis er einen geeigneten gefunden hatte. Zu lange durfte das aber auch nicht dauernd, denn dann wurde Herr Steffens noch viel wütender. Diesen Stock musste der Schüler dann im Unterrichtsraum vor allen anderen Klassenkameraden an den Lehrer übergeben. Anschließend hatte sich der arme Schüler tief zu bücken. Lehrer Steffens schlug dann mehrmals mit dem Stock kräftig auf den Po des Kameraden und hatte offensichtlich noch Spaß daran, ihn so zu quälen und vor allen zu demütigen, was eigentlich das Schlimmste war. Natürlich war dieser Lehrer bei den Kindern äußerst unbeliebt.

Mein Freund Heinz, der in der Schule neben mir saß, wohnte ganz einsam und ziemlich weit draußen irgendwo in den Wiesen. Auch er hatte genauso wie ich häufig Ärger mit seinen Eltern. Er wurde ebenfalls von ihnen geschlagen – nur vielleicht nicht so oft wie ich. Vielleicht verstanden wir uns ja auch deshalb so gut, weil wir ein ähnliches Schicksal durchleben mussten? Wir erzählten uns unsere Erlebnisse im Unterricht vom Fußball und anderen Dingen leise flüsternd. Natürlich bekam unser Lehrer das mit. So kam es dann, dass wir beide auch bei Lehrer Steffens in Ungnade fielen, und er uns besonders beobachtete. Diesmal musste Heinz den Stock aus den Büschen holen. Wir mussten uns bücken und jeder bekam zehn Stockschläge auf den Po. Das hatte schrecklich weh getan, aber wir haben uns nicht die Blöße gegeben und geweint. Das haben wir heldenhaft mit zusammengepressten Lippen ausgehalten, und damit die anderen Schüler sehr beeindruckt.

Herr Steffens erwischte uns dann immer wieder mal und hat uns dann als Konsequenz daraus, nicht mehr zusammensitzen lassen. Jeder bekam einen anderen Platz und damit einen anderen Nachbarn zugewiesen – jeweils weit auseinander. Das fanden wir beide nicht gut und haben uns sehr darüber geärgert. Ändern konnten wir letztendlich aber nichts daran. Unseren Eltern haben wir aus lauter Angst vor deren Reaktionen nichts von diesen Vorkommnissen erzählt.

Auch ich musste das Prügeln von Herrn Steffens noch einige Male allein am eigenen Leib erleben. Mein Ego war stets zutiefst verletzt. Bei meinen Eltern habe ich mich über Herrn Steffens bitterlich beschwert. Ich bat sie dringend, dem Lehrer das Schlagen zu verbieten.

Aber meine Eltern waren wohl der Auffassung, dass ich die Prügel völlig zu Recht bekommen hatte, und dass es vielleicht noch gar nicht genug gewesen war. Obwohl sie gar nicht den Grund dafür kannten. Der interessierte sie auch nicht. Wenn der Lehrer der Meinung war, dass solch eine Maßnahme erforderlich gewesen ist, dann hatte er auch wohl das Richtige getan. Ich fühlte mich von meinen Eltern nicht ernst genommen und im Stich gelassen.

Heute wäre so etwas sicher nicht mehr möglich. Der Lehrer würde sich strafbar machen, und er müsste im Extremfall sogar damit rechnen, vom Schüler zurückgeschlagen zu werden.

Ich fand das aber auch damals schon sehr ungerecht. Tiefe Enttäuschung machte sich bei mir breit, dass meine Eltern nicht zu mir standen und mir geholfen haben. Für mich passte alles zusammen. Meine Eltern liebten mich nicht, also war es ihnen völlig gleich, wie man mit mir umging und was mir passierte. Diese Gefühle brannten sich tief in mir ein und zehrten an meinem Selbstbewusstsein.

Eines Tages stand in der Schule ein Tagesausflug an. Wir wollten mit dem Bus in die Lüneburger Heide fahren. Alle Schüler freuten sich sehr darauf, aus dem täglichen Schulalltag herauszukommen und mal etwas anderes zu erleben. Natürlich kostete dieser Ausflug Geld. Allerdings weiß ich heute nicht mehr den Preis dafür. Nur wer den bezahlte, durfte auch mitfahren. Meine Eltern gaben mir das Geld dafür aber nicht, sondern meinten zu mir, dass sie dafür kein Geld übrighätten. Tief enttäuscht und unendlich traurig schämte ich mich den anderen Schülern gegenüber, dass meine Eltern so arm waren und sich das nicht leisten konnten. Ich war der einzige aller Schulkameraden, der deswegen nicht mitfahren durfte. Große Wut kam in mir auf, weil ich wusste, dass das nicht stimmte und unsere vorgetäuschte Armut nur ein Vorwand war. Ich war ihnen das Geld einfach nicht wert gewesen. Sie wollten es einsparen. Mit meinen 12 Jahren war mir klar, dass es nur am Willen meiner Eltern lag, denn beide arbeiteten den ganzen Tag und der kleine Bauernhof warf auch noch etwas ab. Sie wollten den Betrag nicht für mich ausgeben!

Am nächsten Tag traf mein Bruder Hermann wieder mal mit seinem Moped zu einem kurzen Besuch bei uns ein. Wie in letzter Zeit nahezu fast immer, war er auch heute wieder stark betrunken. Ich fasste ein wenig Mut und fragte ihn, ob er mir vielleicht die Klassenfahrt bezahlen könnte. Aber auch er lehnte ab und teilte mir mit, dass er dafür kein Geld hätte. Ich war echt sauer. Heimlich dachte ich trotzig, für seinen Bruder hat er kein Geld, aber für seinen dämlichen Alkohol reicht es immer!

Wutentbrannt rannte ich dann auf unsere Weide zu unseren Kühen, und beklagte mich bei ihnen über diese Ungerechtigkeiten. Meinen ganzen Kummer redete ich mir bei ihnen von der Seele. Sie verstanden mich zwar nicht und glotzten mich nur blöd an, aber mir tat es gut, all meinen aufgestauten Frust einmal herauslassen zu können.

Mit der Zeit ließen leider auch meine schulischen Leistungen nach. Meine Schulnoten gingen nach unten. Der Grund dafür lag sicher auch darin, dass ich immer zuerst meine Arbeiten auf dem Hof und bei den Tieren erledigen musste, bevor die Hausaufgaben an der Reihe waren. Aber mit diesen wurde ich immer nachlässiger, denn nach den anstrengenden Tätigkeiten war ich müde und erschöpft und wollte lieber herumhängen, spielen oder angeln. Lust zum Hausaufgaben machen hatte ich immer weniger.

Zwar half mir meine Schwester Erika abends immer wieder dabei, und sie erklärte mir auch die Fragen, aber oft hörte ich gar nicht richtig hin. Auch vormittags in der Schule wurde ich zunehmend lustloser und unaufmerksamer. Ich war nicht wirklich ausgeruht und fit, um neue Dinge zu lernen.

Das ging dann so weit, dass irgendwann sogar meine Versetzung gefährdet war. Nur durch den Einfluss meiner Schwester Erika schaffte ich es so gerade doch noch, in die nächste Klasse versetzt zu werden.

Im Spätherbst regnete es sehr viel. Der kleine Fluss Hamme konnte die Unmengen an Wasser nicht komplett aufnehmen, und trat über seine Ufer und wurde zum reißenden Strom. Dabei überschwemmte er die Wiesen und Weiden. Im Winter froren die überschwemmten Wiesen und Weiden regelmäßig zu. Bei anhaltender Kälte mit Temperaturen weit unter null Grad bildete sich selbst auf der Hamme eine dicke Eisschicht. Die Schifffahrt musste eingestellt werden. Das war für das Torfwerk bitter, aber wir Kinder freuten uns darüber. Nun konnten wir nämlich unsere Schlittschuhe auspacken und auf dem Eis Schlittschuhlaufen. Mir gehörten ein paar holländische Schlittschuhe, die ich bereits mit meinem sechsten Lebensjahr bekommen hatte. Damals lernte ich auch schon, auf dem Eis zu laufen.

Manchmal war es auf der Hamme richtig voll, da viele von meinen Schulkameraden ebenfalls die riesige Eisfläche nutzten.

Heinz, Herbert und ich haben dann öfter längere Touren von der Brücke am Teufelsmoor bis hin nach Worpswede und zurück gemacht. Das war eine einfache Entfernung von etwa 6 Kilometern. Wir waren danach zwar erschöpft aber glücklich.

Der Winter war für mich überhaupt eine willkommene Jahreszeit. Es gab weniger Arbeit auf dem Hof, und ich hatte mehr Zeit für mich. Die Arbeit wurde weniger, mein Pflichtbewusstsein allerdings auch! Immer öfter habe ich es „vergessen“, die Kaninchen zu versorgen oder andere Arbeiten zu erledigen. Ich muss zugeben, dass ich es manchmal auch vergessen wollte, weil ich einfach keine Lust dazu hatte. Natürlich gab es dann wieder Prügel. Ich muss zugeben, dass ich kein braves Kind war und langsam immer fauler wurde. Mir war die Arbeit inzwischen egal. Ich wurde immer aufsässiger. Meine Freizeit war mir wichtiger als alles andere.

Ab und zu besuchte uns – vor allem aber meine Eltern – mein Bruder Heinz, der ja 17 Jahre älter war als ich. Er war mit Marga verheiratet. Sie lebten zusammen im eigenen Haus. Er war Beamter bei der Bundesbahn. Damit war man damals sehr angesehen und hatte eine sichere Arbeitsstelle mit gutem Einkommen und war eigentlich sozial für seine gesamte Zukunft abgesichert. Jedoch trank Heinz übermäßig viel Alkohol, was mir als Kind schon auffiel. Ich hatte allerdings keinerlei gefühlte emotionale Beziehung zu ihm. Er war mir fremd und völlig egal. Umgekehrt schien er wohl genauso zu empfinden. Er beachtete mich nicht und ließ mich einfach links liegen.

Etwas häufiger kam Herrmann, mein anderer Bruder, zu Besuch zu uns. Man hörte ihn meist schon von Weitem mit seinem Moped herankrachen. Er kam oft direkt von seiner Arbeitsstelle, wo er als gelernter Schuster tätig war, zu uns. Auch er sprach dem Alkohol reichlich zu und war fast immer betrunken. Inzwischen war er mit Wilma verheiratet.

Seltener war meine älteste Schwester Anni mit ihrem Mann Helmut bei uns zu Gast. Wir sahen sie nur etwa zwei- bis dreimal im Jahr. Ihre zwei Kinder, die sie inzwischen schon hatten, Petra und Hartmut, brachten sie oft mit. Dann hatte ich immer große Freude. Ich liebte meine Schwester Anni sehr und mochte auch meinen Schwager Helmut herzlich gut leiden. Mit meiner Nichte Petra und meinem Neffen Hartmut konnte ich immer gut zusammenspielen. Wenn sie da waren, war für Abwechslung gesorgt. Das fand ich großartig. Sie hatten immer eine ziemlich weite Anreise, denn sie wohnten in dem kleinen, aufstrebenden Städtchen Marl im nördlichen Ruhrgebiet.

Nur meinem Schwager Helmut hatte ich es zu verdanken, dass ich auf den Namen „Helmut“ getauft worden bin. Er drängte darauf, weil ihm der Name so gut gefiel. Ursprünglich sollte ich Fritz heißen, ein Name, den ich gar nicht mochte. Mit „Helmut“ war ich aber sehr zufrieden und ihm dafür dankbar, dass er sich mit dem Namen bei meinen Eltern für mich so durchgesetzt hat.

Mit meiner zweiten Schwester Erika verstand ich mich bestens. Wenn ich jemanden auf meine Art und Weise geliebt habe, dann sie! Aber sie war immerhin sieben Jahre älter als ich und hatte somit natürlich ganz andere Interessen als ich. Mit ihrer guten Freundin Annegret, die an dem Fluss Hamme in der Nähe der Schleuse wohnte, unternahm sie in ihrer Freizeit meist gemeinsam etwas.

Manchmal war auch unsere Cousine Henny bei uns, die zwei Jahre älter war als ich. Außer der Schule und die Arbeiten auf dem kleinen Hof hatten wir aber keine Gemeinsamkeiten. Wir waren uns mehr oder weniger fremd und auch egal.