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Was als liebevolle Beziehung begann, wurde zu einer Hölle aus Terror und Gewalt: Kerstin Wenzel und ihre vier Kinder haben am eigenen Leib erfahren, was es heißt, wenn der Ehemann und Vater sich zum aggressiven Fundamentalisten wandelt, der die vermeintlichen Gebote seines Glaubens über die Menschlichkeit stellt. Mehr als acht Jahre lang werden Mutter und Kinder von Mohamed M. in den Vereinigten Arabischen Emiraten festgehalten und sind dort massiven Misshandlungen ausgesetzt – bis Mutter und Kindern schließlich auf abenteuerlichen Wegen die Flucht gelingt …
Dieses Buch ist bereits im Hardcover-Format unter dem Titel "Abaya - Meine Kinder bekommst du nicht" im Heyne Verlag erschienen.
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Seitenzahl: 397
Veröffentlichungsjahr: 2017
Das Buch
Kurz vor Abschluss ihres Studiums lernt Kerstin Wenzel in Mohamed M. einen sympathischen und weltoffenen jungen Syrer kennen. Beide treten verliebt ins Leben, bald folgt die Heirat – das Glück liegt vor ihnen. Doch während Kerstin Wenzel glaubt, dass ihr Mann die Universität besucht, geht der in eine Moschee und gleitet immer tiefer in die fundamentalistische islamische Szene ab. Er entdeckt einen äußerst traditionsstrengen Islam für sich, wird Salafist. Anfangs kaum merklich, aber bald mit aller Härte zwingt er Frau und Kinder unter die ultrakonservtiven Lebensregeln seiner Glaubensdoktrin. Schließlich lockt er seine Familie unter einem Vorwand in die Vereinigten Arabischen Emirate – ein »Urlaub« ohne Rückkehr: Fortan wird eine Hochhauswohnung zum Gefängnis für Kerstin Wenzel und die Kinder. Trotz mehrfacher Appelle Kerstin Wenzels greifen deutsche Behörden nicht helfend ein. Mohamed M. nötigt Mutter wie Töchter unter den Schleier, misshandelt die Söhne in Allahs Namen. Mit den Kindern vor ihrem Peiniger kurzerhand nach Deutschland zu fliehen, käme nach dortigem Recht einer Entführung gleich. Um ihre Kinder zu schützen, bleibt Kerstin Wenzel vor Ort. Erst nach langen Jahren der Tyrannei gelingt mittels mutiger Helfer die Flucht nach Deutschland – doch Mohamed M. verfolgt auch hier Frau und Kinder …
Eine ergreifende Autobiografie – so aktuell wie erschütternd.
Die Autorin
Kerstin Wenzel, geboren 1968, studierte Sprach- und Literaturwissenschaft und bekam mit ihrem syrischen Ehemann vier Kinder. Im Jahr 2003 wurde die Familie vom Ehemann in die Vereinigten Arabischen Emirate gebracht. Nach acht Jahren gelang Kerstin Wenzel mit den Kindern die Flucht zurück nach Deutschland. Heute arbeitet sie als freie Lektorin sowie Fremdsprachenberaterin und lebt an einem sicheren, aber geheim gehaltenen Ort.
KERSTIN WENZEL
Mein Mann,
der Islamist
Terrorisiert, verschleppt, befreit –
Wie ich der Ehehölle entkam
und meine Kinder rettete
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
»Man kann in Kinder nichts hineinprügeln,
aber vieles herausstreicheln.«
ASTRID LINDGREN
Für Abdullah, Maryam, Hajar und Adnan
INHALT
Kapitel I
LANDUNG IM NEUEN LEBEN
Kapitel II
EIN KURZES GLÜCK
Kapitel III
MEIN MANN, DER SALAFIST
Kapitel IV
DIE URLAUBSFALLE
Kapitel V
VIER ZIMMER, KÜCHE, GOTTESSTAAT
Kapitel VI
DER VERRAT
Kapitel VII
AUF DER FLUCHT
Kapitel VIII
DER ANRUF
Kapitel IX
DER PROZESS
DANKSAGUNG
ANMERKUNGEN
Wehrt euch, Frauen!
Wenn ich in den letzten Jahren meine Geschichte erzählen musste, um die nötige Unterstützung bei Polizei, Ämtern, Gerichten, Notaren und Anwälten zu bekommen, habe ich meist bestürzte Gesichter gesehen. Oftmals habe ich dann gehört, über diese Geschichte könnte ich eigentlich ein Buch schreiben … Hier ist es.
Wichtig ist mir: Ich möchte mit meinem Buch keinesfalls Muslime angreifen oder gar den gesamten Islam in Bausch und Bogen als böse, als rückständige Religion anprangern. Dies ist absolut nicht mein Ziel und entspräche auch gar nicht meiner Überzeugung.
Obwohl unser Fall kein Einzelschicksal ist, möchte ich betonen, dass sich mein Bericht um einen Mann dreht, der durch die negativen Einflüsse einer Gruppe von Sektierern zu einem unbarmherzigen, grausamen Tyrannen seiner Familie wurde. Dieses Thema ist religionsübergreifend. Man denke nur an die Fälle fundamentalistisch-evangelikaler Bibelchristen. In Erinnerung ist mir der Lüneburger Axel H., der vor ein paar Jahren seine vier Töchter zu einer Radtour von der Ex-Frau abholte und die vier- bis achtjährigen blonden Mädchen über Ägypten in den Sudan entführte, um sie ausgerechnet dort, in einem islamischen Bürgerkriegsland, ungestört von Familie und Schulpflicht ganz nach seinen radikalen christlichen Glaubensvorstellungen erziehen zu können.
Typisch für solche Religionsfanatiker scheint mir zu sein, dass sie ihre Idee eines Gottesstaates mit aller Gewalt in der eigenen kleinen Familie – wo sonst? – zu verwirklichen suchen und dabei zerstören, was eigentlich Basis und Kern ihres angestrebten gottgefälligen Lebens in einer gleichgesinnten Gemeinschaft sein sollte.
In meinem Fall geht es um das folgenreiche Abdriften eines Mannes in den ultrakonservativen Salafismus, eine Strömung, die vermeintliche Ideale aus der Frühzeit des Islam propagiert und, wie wir durch den Islamischen Staat (IS) heute besser denn je wissen, bei der Durchsetzung ihrer kruden Ideen mit Gewalt und Terror jeder Art und gegen jeden, Kinder eingeschlossen, nicht zimperlich ist.
Lange habe ich überlegt, ob ich meine Geschichte wirklich aufschreiben und damit noch einmal alles durchleben möchte, was mir über zwanzig Jahre hinweg und meinen Kindern den Großteil ihres bisherigen Lebens angetan wurde. Oft habe ich mir die Frage gestellt, ob es nicht besser wäre, alles zu verdrängen und zu versuchen, das Geschehene zu vergessen. Ob es nicht auch für meine Kinder besser wäre, nie wieder davon zu sprechen.
Die Antwort gab und gibt mir der Alltag. Auch nach Jahren wache ich noch in mancher Nacht schweißgebadet auf, weil ich einen dieser schrecklichen Momente meiner Ehehölle im Traum wieder durchlebt habe. Bis heute zucke ich zusammen, wenn ich auf der Straße hinter mir jemanden Arabisch sprechen höre. Offenbar ist es mir bislang völlig unmöglich gewesen, den größten Teil eines qualvollen Lebens komplett auszublenden und zu vergessen. Man kann nicht ungeschehen machen, was meinen vier Kindern und mir an Gewalt und Erniedrigung widerfahren ist – und nur wenn ich alles aufgeschrieben, alles für mich verarbeitet habe, kann ich mit der Vergangenheit abschließen.
Mit meiner Geschichte möchte ich jede Frau – insbesondere all jene, die mit einem scheinbar in die westliche Gesellschaft integrierten Mann aus einer anderen Kultur verheiratet sind (oder das planen) – dazu ermahnen, mit offenen Augen durchs Leben zu gehen und jede noch so kleine Veränderung in den religiösen Auffassungen ihres Mannes genau zu registrieren und entsprechend konsequent zu handeln. Setzt Grenzen, holt euch Hilfe, bringt euch notfalls in Sicherheit. Lasst es gar nicht erst so weit kommen, dass euer Leben von Gewalt, Drohungen und Erpressungen bestimmt ist – so wie es meines anfangs aus Scham, später aus Angst um meine Kinder viel zu lange war. Wehret den Anfängen, sagten die Römer.
Trotz des anfänglichen Verliebtseins darf Gewalt kein Thema in einer Beziehung darstellen. Die Angst vor dem Alleinsein mag eine Frau gerade in einer jungen Liebe vor einer Trennung zurückschrecken lassen. Aber dieser erste Schmerz, wenn man trotz Liebe geht, ist ganz gewiss einem Leben vorzuziehen, das von Grausamkeiten und Erniedrigungen geprägt ist.
Ihr tut euch keinen Gefallen damit, wenn ihr alles duldet und über euch ergehen lasst – in dem irrigen Glauben, dass eure Liebe die Pein schon überstehen oder gar besiegen wird. Oder in dem Glauben, dass Gott oder Allah euch dafür im Jenseits belohnen würde. Dem ist sicher nicht so.
Keine Beziehung lässt sich auf Gewalt und Unterdrückung aufbauen. Es ist keineswegs eine Schande, sich Hilfe zu suchen. Denn ganz gleich, was sie euch erzählen: Rohe Gewalt gegen Frauen und Kinder ist nicht mit dem Islam und auch mit keiner anderen Religion vereinbar.
Der echte Islam propagiert keine Gewalt gegen Schwache.
In den Vereinigten Arabischen Emiraten lief seit 2012 eine Aufklärungskampagne zu der berühmt-berüchtigten Koransure Al-Nisa, die Frauen. »Ermahnt diejenigen, von denen ihr Widerspenstigkeit befürchtet, und entfernt euch von ihnen in den Schlafgemächern und schlagt sie«,1 heißt es in Vers 34. Viele radikale Muslime leiten daraus das Recht ab, Frauen zu züchtigen. In einem Zeitungsartikel der Journalistin Ola Salem in »The National« (Emirate) hieß es unter dem Titel »Der Koran befürwortet kein Schlagen«: »Die Falschinterpretation eines Koranverses hat es Männern ermöglicht, ihre Frauen nach freiem Belieben zu schlagen und dabei zu behaupten, das religiöse Gesetz des Islam, die Scharia, würde ihnen das Recht hierzu geben …«2 Die emiratische Islamwissenschaftlerin Dr. Jamila Khanji stellt fest, dass die falsche Auslegung des arabischen Wortes idrobohun, das unter anderem als »leichtes Klapsen«, »ignorieren«, »sich fernhalten« oder »verlassen« übersetzt werden kann, dazu geführt hat, dass viele Frauen »gebrochen und zerstört« wurden und werden. Und sie fährt fort: »Eine Frau zu schlagen ist zutiefst verletzend, es zerstört die Beziehung irreparabel.«3
In derselben Tageszeitung stand unter der Überschrift »Empörung über Fatwa zur häuslichen Gewalt« folgender Bericht: »Kairo. Diese Woche entschied Sheikh Abdel Hamid Al Atrash, Leiter der Kommission für Religiöse Urteile (Fatwas) und religiöse Erlässe an der Al Azhar University in Kairo, dem höchsten islamischen Institut der Sunniten, dass Frauen das Recht haben, Gewalt zu gebrauchen, um sich vor gewalttätigen Ehemännern zu schützen. Eine Frau hat das legitime Recht, ihren Mann zu schlagen, um sich zu verteidigen. Jeder hat das Recht, sich zu verteidigen, sei er nun Mann oder Frau … weil alle Menschen vor Gott gleich sind.«4 Auch der saudische Sheikh Abdel Mohsen Al Abyakan forderte Frauen auf, zu derselben Art von Gewalt zu greifen, die ihre Ehemänner gegen sie gebrauchen, sei es nun mit einem Lederriemen oder einem Stromkabel. Sheikh Abyakan bestätigte seine Ansichten auf einer bekannten muslimischen Website. »Die Frau kann Gewalt gebrauchen, um sich gegen die Gewalttätigkeit ihres Ehemannes zur Wehr zu setzen. Wenn ihr Ehemann sie schlägt, kann sie ihn zurückschlagen, und wenn er versucht, sie zu töten, kann sie ihn töten, um sich selbst zu verteidigen, wenn dies für sie die einzige Möglichkeit ist, um ihr Leben zu retten.«5
Keine Sorge, dies soll kein Aufruf zum ehelichen Blutbad sein, sondern nur ein sehr plakatives Beispiel, wie weit das gleiche Recht nach Ansicht eines Religionsexperten schlimmstenfalls gehen dürfe.
Die Botschaft aus all dem lautet für mich vielmehr: Bitte habt Mut und kämpft gewaltlos gegen Gewalt in eurer Familie. Gewalt ist keine Option. Gebt niemals auf, denn damit stärkt ihr nur die Verbrecher, egal welchen Glaubens, die euch und euren Kindern das antun. Wenn ihr in eurem Umfeld auf Gewalt gegen Frauen und Kinder aufmerksam werdet, schaut nicht weg! Es könnte sein, dass eure Hilfe gebraucht wird. Leistet die Unterstützung, die mir leider oft verwehrt blieb.
Oft ist Außenstehenden auch nicht klar, in welcher Verfassung sich Gewaltopfer befinden. Der Pädagoge Martin R. Textor schreibt über geschlagene Frauen: »Zumeist brechen sie nicht aus der Ehe aus, da sie von ihren Partnern abhängig sind und sich selbst als unselbständig und unfähig erleben. Sie haben oft Alpträume, schlafen schlecht, leiden unter psychosomatischen Beschwerden, sind energielos und verzweifelt.« Textor weiter: »Geschlagene Frauen akzeptieren in der Regel ihre Männer als Familienoberhäupter, ordnen sich ihnen unter, sind unterwürfig und versuchen zumeist, deren Wünsche zu erfüllen. Oft erleben sie sich als inkompetent, wertlos oder nicht liebenswert und leiden unter negativen Selbstwertgefühlen.«
Textors wichtigste Feststellung über geschlagene Frauen ist für mich: »Sie halten sich vielfach für schuldig, wenn sie von ihren Partnern geschlagen werden.«6 Diesen Satz muss man wirklich mehrmals lesen. Er beschreibt, wie tägliche Gewalt das Erleben und Empfinden der Frau auf den Kopf stellt. Denn selbstverständlich gilt, was der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotruf jedem Opfer zu vermitteln versucht: »Sie haben keine Schuld. Auch wenn Sie sich nicht gewehrt haben!«7
Gewalt ist ein Gefängnis ohne Gitterstäbe. Ohne fremde Hilfe ist ihm schwer zu entkommen oder, anders gesagt: Einem Ertrinkenden lediglich »Schwimm doch!« zuzurufen hilft wenig.
In meiner Geschichte kommen Menschen vor, die nichts, aber auch gar nichts mit uns zu tun hatten und uns halfen, ihren Kopf riskierten, während andere, die schon von Amts wegen allen Grund gehabt hätten einzuschreiten, rein gar nichts zu unserer Flucht beitrugen – obgleich sie allenfalls eine vorzeitige Versetzung an eine andere Botschaft oder einen unangenehmen Anruf aus Berlin riskiert hätten. An dieser Stelle geht mein spezieller Gruß an das Deutsche Generalkonsulat in Dubai.
Oftmals versuchen Frauen in meiner Situation, eine Ausrede fürs Bleiben zu finden – aus Scham, aus Angst, die Kinder zu verlieren, um nicht öffentlich als Opfer dazustehen, oder weil sie die Rache ihrer grausamen Ehemänner mehr als deren tägliche Gewalt fürchten. Dennoch: Lasst euch nicht aufhalten. Ruft die Polizei, holt Hilfe. Das ist leichter gesagt als getan. Kaum ein Opfer kann sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen, in den es immer tiefer geraten ist. Man kann Gewalt, Schmerz, Leid, Erniedrigung, alles ausblenden, um nicht verrückt zu werden. Das ist eine Art Selbstschutz der Seele, die oft bei Gewaltopfern auftritt, aber es ist definitiv der falsche Weg. Ich weiß aus eigener jahrelanger Erfahrung, wovon ich spreche.
Kapitel I
LANDUNG IM NEUEN LEBEN
Flughafen Frankfurt, 14. April 2011
GF 0017. Ich werde dieses Kürzel nie vergessen. Gulf Air Flug 0017 brachte mich und meine Kinder in die Freiheit. Aus den Vereinigten Arabischen Emiraten nach Frankfurt. Zwanzig Jahre Familienhölle endeten, als die Maschine am 14. April 2011 um 6:40 Uhr auf deutschem Boden aufsetzte. Eine zweitägige Reise lag hinter uns, eine lange geplante Flucht über mehr als 6 000 Kilometer durch drei Länder. Diese Flucht hatte uns viel Kraft gekostet, sehr viel Kraft – und noch mehr Mut. Es war eine Reise ohne Abschied, ohne Rückkehr. Dennoch fühlte ich eine unendliche Erleichterung und war voller Hoffnung auf das, was kommen würde. Ein Neuanfang, ein selbstbestimmtes Leben. Keine Schläge mehr, keine Gewalt, keine Erniedrigungen, kein Schleier – einfach nur frei und Frau sein …
Während des Fluges fühlte ich mich zeitweise leicht wie ein Vogel, schaute abwechselnd aus dem Fenster der Boeing in die heraufziehende Dämmerung und auf meine Kinder Abdullah (damals fünfzehn Jahre), Maryam (dreizehn), Hajar (elf) und Adnan (neun), die in der Reihe neben mir saßen, das Bordprogramm schauten oder sich mit dem Gameboy ablenkten. Sie hatten ihre Schulfreunde zurückgelassen und auch das Land, in dem sie den größten Teil ihres Lebens verbracht hatten – ihre Heimat.
Zugleich hatte ich Angst, und meine Gedanken kreisten um das, was Mohamed, mein damaliger Ehemann und Grund für diese Flucht, mir jahrelang angedroht hatte. In der Schule in den Emiraten hatte man das gleichzeitige Fehlen meiner Kinder sicher schon bemerkt, sich womöglich nicht weiter gewundert, bis dann, alarmiert von meinem Mann, zivile Ermittler der Polizei kamen, um die Mitschüler zu befragen, ob einer von ihnen etwas von unserer Flucht wusste. Mohamed hatte gewiss die Polizei alarmiert und mich als mehrfache Kindesentführerin angezeigt. Die Polizei würde als Erstes die Passagierlisten überprüft haben, um herauszufinden, mit welchem Flug wir wann genau wohin verschwunden waren. Unser Fluchthelfer aber hatte auf geniale Weise falsche Spuren gelegt, sonst hätten wir es nie nach Deutschland geschafft.
Der letzte Flug unserer Flucht von Bahrain nach Frankfurt dauerte sechs Stunden. Unsere Stimmung wechselte zwischen Hoffnung, Angst, Beklemmung und Verfolgungsfantasien. Keiner von uns hatte in den letzten zwei Tagen ein Auge zugemacht. Dennoch waren wir nicht müde, wir fühlten uns nicht erschöpft, sondern aufgedreht, so als hätten wir literweise Kaffee getrunken. 33 000 Fuß über der Erde fand in meinem Kopf jedes Mal, wenn ich ein wenig zu dösen begann, ein ganz anderer Flug statt. In Gedanken reiste ich durch mein Eheleben und sprang in diesem Kopfkino von der Vergangenheit in die Zukunft und wieder zurück.
Ich sah mich mit dem Staubsaugerrohr blau und blutig geprügelt am Boden kauern, hörte meinen Mann brüllen, was für eine dreckige Deutsche ich sei. Meine Tränen machten ihn noch wütender. Ich sah die hilflosen Kinder, denen er zur Strafe tagelang zum Essen nur eine Brühe aus abgeschabten Schafsknochen erlaubte. Dann wiederum saßen wir, eindeutig in der Zukunft, als Familie ohne Mohamed irgendwo glücklich und heiter im Grünen oder irgendwo am Meer. Doch schon in der nächsten Szene sah ich Mohamed wieder vor mir, wie er unserer dreizehnjährigen Tochter ankündigte, sie zu verheiraten, und zwar mit einem Mann, der sie so richtig prügle, wenn sie nicht pariere.
»Was kommt jetzt? Was ist, wenn …? Wohin gehen wir …?« Ab und an setzten meine beiden älteren Kinder während unseres Fluges zu Fragen wie diesen an, brachen dann aber meist noch im selben Satz ab. Ich konnte sie so gut verstehen. Was hätte ich denn auch antworten sollen? Immer wieder drückte ich ihre Hände, strich über ihre Köpfe und beruhigte sie.
»Wir werden eine Lösung finden. Erst einmal müssen wir in Sicherheit sein, dann sehen wir weiter.« Das Ziel unserer Reise war ja noch ungewiss, es würde sich durch die Umstände ergeben. Optionen hatten wir einige, um in mehreren Ländern Europas unterzutauchen. Mein Beruf als Übersetzerin mit Kunden in aller Welt erlaubt es mir, von jedem Platz auf der Erde aus zu arbeiten, wenn es nur einen Computeranschluss und Internet gibt. Doch so weit traute ich mich noch nicht zu denken. Ich musste einen Schritt nach dem anderen tun.
Kurz vor der Landung in Frankfurt kam die nackte Angst zurück. Als es bei der Bordansage hieß: »Rückenlehnen gerade stellen, Tische hochklappen«, ergriff mich die reine Panik. Mein Puls schoss hoch, ich atmete wie eingeschnürt. Seit zwei Tagen waren wir auf der Flucht. Flughäfen, Transitbereiche, Warten im Hotelzimmer, Weiterflug. Wir waren abgeschnitten von all den Informationen darüber, was Mohamed inzwischen unternommen hatte. Klar war nur, dass er Himmel und – naheliegender in seinem Fall – Hölle in Bewegung setzen würde, um mich aufzuspüren und zu stoppen.
War er über Polizei und Fluggesellschaft an unsere Reisedaten gekommen, war er uns in den zwei Tagen gefolgt oder gar nach Frankfurt vorausgeeilt? Was wäre, wenn er uns da draußen in der Ankunftshalle bereits erwarten und zurück in die Emirate zwingen würde? Was, wenn er mich längst bei den deutschen Behörden angezeigt hatte? Immerhin hatten wir ihn, den Sorgeberechtigten der Kinder, und die Emirate ohne die dort nötige Erlaubnis verlassen. Ein guter Schauspieler war er schon immer gewesen, wenn es um das Verdrehen von Tatsachen gegangen war. Wir trauten ihm wirklich alles zu. Am Ende, so fürchtete ich, würde er mit Polizei und Jugendamt an der Passkontrolle stehen, die Kinder in seine Obhut bekommen und mit ihnen zurück in die Emirate reisen, während ich allein in Deutschland zurückbleiben müsste und angeklagt werden würde …
Es gab keinen Gedanken, kein Schreckensszenario, das ich mir nicht ausmalte.
Endlich öffnete eine Stewardess die wuchtige Flugzeugtür. Frische Luft drückte herein, ein kalter, trockener Frühlingswind. Wir froren im Nu, unsere dünnen arabischen Übergewänder waren für diese Jahreszeit nicht warm genug, die Jungen hatten nur T-Shirts an. Wo wir herkamen, war es zu dieser Jahreszeit schon warm, sehr warm, um nicht zu sagen heiß.
Wir verließen das Flugzeug und folgten den anderen Reisenden zur Passkontrolle. Der Beamte legte unsere deutschen Reisepässe kurz auf den Scanner, wünschte einen schönen Tag. Ich konnte es kaum fassen. Aufgeregt holten wir unser Gepäck ab, das nur aus einer einzigen Reisetasche bestand. Wie Luxusschmuggler aus Dubai sahen wir in der Tat nicht aus. Unbehelligt passierten wir die Zollkontrolle.
In der Ankunftshalle standen dicht gedrängt Leute. Abholer hielten Schilder mit Namen hoch, andere umarmten ankommende Freunde und Verwandte. Voller Angst und innerer Anspannung, nach außen hin aber völlig ruhig, konzentrierte ich mich auf die Menschen, die da warteten. Ich suchte in der Menge nach Mohamed. Er war nicht da. Damit hatte ich, ehrlich gesagt, am wenigsten gerechnet. Also kramten wir erst einmal ein paar Strickjacken und zwei Kinderanoraks aus der Reisetasche und zogen sie hastig über. Dann kauften wir in einer Boutique eine Jacke für meinen Ältesten, der vor Kälte zitterte. Der Preis für die Daunenjacke war happig, aber das spielte in dem Moment keine Rolle. Abdullah war glücklich und unheimlich stolz auf das edle, kuschelige Teil. So etwas Schönes hatte er noch nie besessen – und bisher auch nicht gebraucht.
Nun ging es schnurstracks zur Polizei. Man schickte uns weiter zu einem Revier einen halben Kilometer außerhalb des Flughafengeländes, um Anzeige zu erstatten gegen den Mann, vor dem wir geflohen waren, den Mann, der unser Leben und meinen Kindern die Kindheit zerstört hatte. Auf dem Weg dorthin wurde uns allmählich klar, dass der Albtraum, in dem wir jahrelang gelebt hatten, nun tatsächlich zu Ende sein könnte.
In arabischer Kleidung kamen wir bei dem Revier an. Meine Töchter und ich trugen dunkle Kopftücher und waren in schwarze Abayas gehüllt, die traditionellen islamischen Umhänge, ohne die wir uns jahrelang weder in der Wohnung bewegen noch schlafen oder gar in die Öffentlichkeit gehen durften. Als wir sagten, wir wollten Anzeige erstatten, wurden wir von einem älteren Polizeibeamten freundlich in einen Nebenraum gebeten. Er holte Stühle für uns heran. Dann erzählten wir, dass wir gemeinsam aus den Vereinigten Arabischen Emiraten geflohen waren. Ein Kollege tippte das Protokoll direkt in den Computer. Andere Beamte, die immer wieder dazukamen und still zuhörten, brachten uns Wasser und Snacks.
Die Männer waren ungewöhnlich fürsorglich, fragten immer wieder, ob wir noch Kraft zu erzählen hätten, ob die Kinder lieber draußen spielen wollten, ob wir Hunger hätten. Aber die Kinder wollten sich an der Aussage beteiligen. Wir haben unsere Aussagen gegenseitig ergänzt, und so wurden sie auch schlüssiger. Es kamen wenige Zwischenfragen, zwischendurch wurde mein USB-Stick mit meinen Beweisfotos, die ich über Jahre heimlich gespeichert hatte, kopiert. Je länger wir erzählten, je mehr Fotos von Verletzungen, Prellungen, Blutergüssen und blauen Flecken wir zeigten, umso mehr Bestürzung zeichnete sich auf den Gesichtern der Polizisten ab.
Schließlich fragte mein fünfzehnjähriger Sohn Abdullah, ob man uns denn beschützen und den Verbrecher, seinen Vater, fangen würde, falls er uns nach Deutschland folgen sollte. Die Beamten nickten.
Auch ich hatte Angst. Ich wusste von einem deutschen Konsulatsmitarbeiter in Dubai, dass das, was ich getan hatte, um meine Kinder aus der Hölle zu befreien, juristisch durchaus als Entführung gewertet werden konnte – zumindest nach dem Recht der Emirate.
Einer der Beamten beruhigte mich: »Mit Ihrer umgehenden Anzeige und Ihrem Erscheinen bei den Behörden mit allen Kindern haben Sie sich vor diesem Vorwurf geschützt. Sie sind keine Entführerin, das bestätigen wir Ihnen.« Zumindest nach deutschem Recht stimmte das, nach islamischem Recht aber sah es anders aus, da hätte man mich wegen Kindesentführung anklagen können. Der Beamte versprach, uns nach der Aussage zu einem gemeinnützigen Verein zu bringen, wo wir erst einmal bleiben, uns ausruhen und unsere Weiterreise planen könnten.
Die Aussage dauerte Stunden. Noch auf dem Revier begann ich, mein ebenfalls auf dem USB-Stick gespeichertes Tagebuch in einer Kurzfassung ins Deutsche zu übersetzen. Ich hatte über Jahre hinweg alles, was Mohamed uns angetan hat, dokumentiert – auf Englisch. Er sprach kein Englisch. Wäre ihm die Datei in die Hände gefallen, hätte er ihr deswegen auch keine Beachtung geschenkt und den Text für eine meiner Übersetzungen gehalten, mit denen ich mein Geld verdiente.
Diese Chronik des täglichen Horrors, so hoffte ich damals, würde genügend Beweise enthalten, um Mohamed eines fernen Tages für lange Zeit ins Gefängnis zu bringen. Aber dazu musste er erst einmal wieder in Deutschland auftauchen. Ein Prozess in den Emiraten hätte meine Anwesenheit erfordert, worauf ich mich sicher nicht eingelassen hätte, und es war obendrein damit zu rechnen, dass Mohamed dort mit einem blauen Auge davonkommen würde.
Kapitel II
EIN KURZES GLÜCK
Eine Studentenliebe
Mohamed und ich lernten uns 1991 an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald kennen. Ich war gerade von einem einjährigen Auslandsstudium aus Russland zurückgekehrt. Auch wenn es dieselbe Stadt war, die ich zwölf Monate zuvor verlassen hatte, lag sie nun in einem völlig fremden Land. Aus zwei grundverschiedenen deutschen Staaten war gerade einer geworden. Nichts war mehr so, wie ich es vor der Wiedervereinigung gewohnt gewesen war. Ich war in der damaligen DDR sehr behütet aufgewachsen. Wir bewohnten auf der beschaulichen Insel Usedom ein hübsches Reihenhaus mit Garten am Waldrand, nur wenige Minuten vom weißen Sandstrand entfernt. Mein Leben war in geregelten Bahnen verlaufen, mindestens einmal im Jahr fuhren meine Eltern mit uns Kindern in den Urlaub, und die meisten meiner Wünsche erfüllten sich wie von selbst.
Das Jahr der Wende, in dem ich aus dem Ausland heimkehrte, zehrte stark an meinen Nerven. Mehrere Bekannte aus unserem Umfeld hatten sich das Leben genommen oder dem Alkohol zugewandt. Überall herrschten Unsicherheit und Beklemmung. Meine langjährige Beziehung war zudem kurz vor der geplanten Hochzeit in die Brüche gegangen, und so stürzte ich mich in mein Studium und meine Arbeit als freiberufliche Dolmetscherin für ein Reisebüro, für das ich alle drei bis sechs Monate mit einer Reisegruppe quer durch Ostdeutschland unterwegs war. Nebenher ging ich regelmäßig schwimmen, nahm an einem Aerobic-Kurs teil, und hin und wieder überredete mich meine Zimmernachbarin Sabine, mit ihr einen der vielen Studentenclubs zu besuchen. Das kam nicht oft vor, aber ab und zu ging ich mit. Die meisten Wochenenden verbrachte ich bei meinen Eltern in unserem Haus am Waldrand. Mein unaufgeregtes Leben war so, wie es war, für mich in Ordnung.
Eines Tages brachte Sabine ihren neuen Freund Hanif mit, einen Marokkaner, der von seinem syrischen Freund Mohamed begleitet wurde, wie ich zweiundzwanzig Jahre alt. Am Anfang nahm ich die beiden kaum wahr, sie interessierten mich nicht. Ich war mit so vielen Dingen beschäftigt, dass ich nicht das Gefühl hatte, in meinem Leben wäre noch Platz für neue Freunde. Schließlich fragte mich Sabine eines Tages: »Sag mal, bist du eigentlich blind? Hast du immer noch nicht gemerkt, wie verliebt dich Mohamed mit seinen großen Augen anschaut?«
Wenn Sabine mich nicht darauf aufmerksam gemacht hätte, wäre aus dem damals so scheuen Mohamed und mir vielleicht nie ein Paar geworden. Anfangs tat ich ihre Bemerkung einfach ab. Irgendwann aber beschlich mich das Gefühl, dass er uns abpasste. Mohamed tauchte immer gerade da auf, wo wir waren. Er kam uns entgegen, strahlte mich an, murmelte schüchtern irgendetwas von wegen »Zufall« und ging schnell weiter, aber so viele Zufälle konnte es gar nicht geben. Ich musste jedes Mal schmunzeln. Mohamed, fand ich, sah sehr gut aus, er wirkte auf mich wie ein Italiener. Er hatte einen hellen Teint, war nicht sehr groß, aber schlank, hatte glattes, dunkelbraun glänzendes Haar, das er modisch nach oben gestylt trug, und große, grüne Augen mit dichten, dunklen Augenbrauen darüber. Er war immer gut angezogen, trug Jeansanzüge und italienische Schuhe und lächelte mich an, wann immer wir uns begegneten.
Im Sommer 1991, ob ich nun wollte oder nicht, hatte mich Mohamed in seinen Bann gezogen. An einem Wochenende, als mich Sabine wieder einmal überredet hatte, in einen der Studentenclubs mitzugehen, suchte er zum ersten Mal das Gespräch mit mir. Ich war sehr vorsichtig damals, wollte keine neue Beziehung, die Wunden der vorigen waren noch zu frisch. Dennoch konnte ich mich dem Charme, mit dem mir Mohamed begegnete, kaum noch entziehen. In den folgenden Wochen lud er Sabine und mich des Öfteren zu einem Kaffee oder Eis ein. Später verabredeten wir uns zu gemeinsamen Kino- und Discobesuchen und waren bald Stammgäste in einem der Studentenclubs. An den Wochenenden tanzten wir bis zum Morgen durch. Manchmal kochte Mohamed für mich. Ich lernte seine exotischen, würzigen Nudelgerichte kennen, wie jenes mit Thunfisch-Tomaten-Bohnen-Sauce.
Ich fühlte mich in seiner Nähe geborgen, beschützt und behütet. Mohamed füllte mein Leben voll und ganz aus. Die Welt, die er mir vormachte, wirkte wie ein orientalisches Märchen auf mich.
Der Kontakt zu Sabine erlahmte allerdings nach und nach, auch weil Mohamed mich geschickt von ihr fernhielt und später den Kontakt ganz unterband.
Wer uns zu jener Zeit sah, hielt uns garantiert für ein Paar. Als mir Mohamed gestand, er hätte sich in mich verliebt, gab ich ihm zunächst keine Antwort. Ich hatte gerade erst in einen normalen Alltag ohne festen Freund zurückgefunden, fühlte mich zunehmend wohler in meinem Leben und brauchte bestimmt keine neuen Probleme. Erst nach Wochen wurde mir klar, dass mein Herz längst an ihm hing, und ich öffnete mich ihm. Es begann eine wunderbare Zeit der Verliebtheit. Wir unternahmen sehr viel zusammen, verbrachten schließlich unsere gesamte Freizeit miteinander, gingen zusammen joggen oder unternahmen Ausflüge. Er war sehr aufmerksam, kochte jetzt häufiger für mich und erklärte mir mit Begeisterung noch mehr Geheimnisse der syrischen Küche. Ich hörte ihm gern zu, denn er kam aus einem Land, von dem ich eigentlich nichts wusste und mit dem ich allenfalls die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht in Verbindung brachte. Wie blauäugig ich doch damals war. Wie schnell ich ihm alles glaubte, was er mir wortreich erzählte. Ich ahnte nicht, wie trügerisch und kurz dieses Glück sein würde.
Vielleicht hätte ich bei so mancher Begebenheit schon viel früher aufhorchen und den Blender an meiner Seite erkennen müssen. Als Liebesbeweis, wie er es nannte, schenkte mir Mohamed in den ersten Wochen unserer Liebe eine schwarzgoldene Citizen-Armbanduhr. Ich freute mich über das Geschenk, da es wirklich eine außergewöhnlich schöne Uhr war. Er wies mich extra darauf hin, dass es sich um ein wertvolles Original handle. Oft wurde ich für dieses schöne Stück bewundert.
Erst als die Uhr Jahre später kaputt ging und ich sie zum Reparieren brachte, machte mich der Uhrmacher auf den Betrug aufmerksam. Die Uhr sei eine ganz billige Fälschung und nicht einmal so viel wert, einen Batteriewechsel zu rechtfertigen. Wie unglaublich hintergangen ich mich damals fühlte – wie musste Mohamed über meine Dummheit innerlich gelacht haben.
Es folgten noch viele weitere Lügen, die ich erst Jahre später aufdeckte, vor allem über die finanzielle Situation und die Lebensumstände seiner angeblich gut situierten Familie in Syrien. Sobald man mit der orientalischen Kultur ein wenig vertraut ist, neigt man dazu, innerlich gut und gern ein Drittel an Glaubwürdigkeit abzuziehen, was Schilderungen und Beteuerungen betrifft. Hier aber erwarteten mich einige erschütternde Erkenntnisse, die weit über die orientalische Lust am blumigen Ausschmücken und Protzen hinausgingen.
Eheschließung auf Islamisch
In den nächsten Semesterferien fuhren Mohamed und ich zusammen nach Köln, in die Stadt, in der sein »Abenteuer Deutschland« begonnen hatte. Aufgewachsen in der DDR, kannte ich den Westen Deutschlands nicht. So war ich sehr aufgeregt und wissbegierig, als wir uns auf den Weg machten. Wir kamen in einer Studenten-WG unter, in der ausschließlich arabische und marokkanische Studenten wohnten, Jungen und Mädchen zusammen. Mohamed besorgte mir ein Bett in einem der Mädchenzimmer und schlief selbst in einem der Jungenzimmer. Das sei der Umstände halber nicht anders möglich, erklärte er mir.
Tagsüber verbrachten wir jede freie Minute miteinander, machten Ausflüge in die Stadt, auf den Kölner Dom, zum grünen Gürtel der Stadt, in den Zoo, gingen italienisches Eis essen und in die angesagten Restaurants. Fast jeder Schritt war Neuland für mich, und ich genoss die täglichen Entdeckungen und vor allem die Zeit, die ich mit diesem lustigen syrischen Studenten verbrachte, der mir einen Teil seines Lebens zeigte. Nebenher arbeiteten wir ein wenig, um diese gemeinsame Zeit in Köln zu finanzieren. Nach ein paar Wochen kehrten wir nach Hause zurück.
In den folgenden Semesterferien, wir waren nun ein Jahr zusammen, fuhren wir wieder nach Köln. Kurz davor hatte mir Mohamed mit einem wirklich grandiosen Auftritt einen Heiratsantrag gemacht und ganz altmodisch meinen Vater um meine Hand angehalten: »Bist du damit einverstanden, dass ich deine Tochter heirate?«, hatte er gefragt. Das hatte mich und erst recht meine Eltern sehr beeindruckt. Sie vermuteten hinter diesem traditionell-stilvollen Auftreten eine gute Erziehung und ein bürgerliches Elternhaus. Ich fühlte mich bestärkt darin, mein Leben mit Mohamed zu teilen.
»Nur eine Bedingung habe ich«, sagte mein Vater damals, »tu meiner Tochter niemals weh, sonst hast du mich zum Gegner.«
In Köln bat Mohamed ein paar Freunde, eine islamische Eheschließung in einer Moschee zu organisieren, mit einem Imam, dem Vorsteher der Moschee, Trauzeugen und seinen alten Freunden. Obwohl ich damals sehr wenig über den Islam und die Araber wusste, willigte ich in diese Art der Eheschließung ein. Ich hatte auch gar keinen Grund, dieser traditionellen islamischen Zeremonie – und als mehr betrachte ich sie nicht – mit Misstrauen zu begegnen. Hätte ich einen Christen geheiratet, wäre ich als damalige Atheistin ihm zuliebe in Weiß vor den Traualter einer Kirche getreten. Warum also sollte ich Mohamed dies verweigern? Er war der erste arabische Mann, den ich kannte, und war nicht anders als jeder andere Student auch, er aß nur kein Schweinefleisch. Das war aber nichts Besonderes, schließlich hatte ich eine Tante, die auch keines aß. Ansonsten war er völlig unauffällig. Erkundigte sich jemand aus meiner Familie bei ihm nach seiner Religion, sagte er immer, das hätte ihn nie sehr interessiert und er hätte wenig Ahnung davon. Er betete nicht, er fastete nicht, er tat damals nichts, was mich hätte stutzig machen können. Das entwickelte sich erst viel später und vor allem schrittweise. Jeder, der ihn damals kennenlernte, empfand Mohamed als einen Mann orientalischer Herkunft, der in Deutschland völlig integriert und in unserer Kultur angekommen war. Anfangs nahm er mich überall mit hin, auch zu türkischen und arabischen Freunden und Familien. War ich nicht eingeladen, ging er ebenfalls nicht hin. Kurzum: Ich vertraute Mohamed blind. Warum hätte ich es auch nicht tun sollen?
Leider war die Sache mit der Ehezeremonie nicht so einfach. Aziza, eine marokkanische Freundin, die ich in Köln kennengelernt hatte, erklärte mir, dass ich zuerst eine Buchreligion annehmen müsse. Meine Eltern waren, kein Wunder in der DDR, Atheisten, und einem Muslim ist die Heirat mit einer Ungläubigen nicht erlaubt.
»Du bist eine Ungläubige«, sagte Mohamed traurig. »Damit wir heiraten können, musst du dich für eine der drei Buchreligionen entscheiden. Islam, Christentum, Judentum, welche Religion du wählst, ist deine Sache. Für mich wäre es natürlich am schönsten, wenn du dich für den Islam entscheiden würdest.«
Das war eine Herausforderung. Ich ging in mich und fing an, mich über alle drei Religionen eingehend zu informieren. Einige meiner Kommilitoninnen waren zum Glück mit Theologiestudenten befreundet. Mir wurde bald klar, dass ich mit der christlichen Dreifaltigkeit wenig anfangen konnte und Altes und Neues Testament in mir mehr Fragen aufwarfen als beantworteten. Als hilfreicher erwiesen sich meine neuen Freundinnen, die allesamt Musliminnen waren. Sie brachten mir Bücher, nahmen mich zu Vorträgen in Moscheen und Studentenclubs mit, wo Islamwissenschaftler referierten und neue wissenschaftliche Erkenntnisse mit Aussagen aus dem Koran verglichen, die belegten, dass heutiges Wissen im heiligen Buch der Muslime bereits ausgiebig beschrieben worden war. Das überzeugte mich: Wenn moderne Erkenntnisse bereits im Koran dokumentiert und ausgiebig erläutert waren, dann musste dieses Wissen offenbar von einer höheren Macht kommen. So schilderte ein Referent unter anderem, belegt durch bildliche Darstellungen, die Entwicklung eines Embryos im Mutterleib und erklärte, wie naturgetreu diese bereits im siebten Jahrhundert im Koran beschrieben worden wäre, lange bevor die einzelnen Phasen der Entstehung durch moderne Wissenschaftler erkannt und belegt wurden.
Ich entschloss mich also, zum Islam zu konvertieren. Aziza begleitete mich zu einer Moschee in der Nähe des Kölner Chlodwigplatzes. Es war ein unauffälliges Wohngebäude, dessen untere Etage zu Gebetsräumen umgestaltet worden war. Von außen war gar nicht zu erkennen, dass sich hier eine Moschee befand. Im Flur standen hohe Schuhregale, die ganze Etage war mit weichem Teppichboden ausgelegt, die Wände waren mit Holz getäfelt.
Der Imam war sehr freundlich, als ich ihm mein Anliegen vortrug.
»Den einen Wunsch können wir dir sofort erfüllen«, erklärte er mir. »Du kannst heute hier zum Islam konvertieren. Was den anderen Wunsch betrifft, deine Heirat, musst du dich noch ein wenig gedulden.« Dann forderte er mich auf: »Bitte sprich mir nach, was ich dir sage.«
In kurzen Abschnitten rezitierte er auf Arabisch die Schahada, das islamische Glaubensbekenntnis: »Ash-hadu Allah illaha illallah wa ash-shadu ana Mohammadan rasul Allah«, übersetzt: Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Allah und dass Mohamed der Gesandte Allahs ist.
Ich sprach die Worte nach und wunderte mich insgeheim, wie unkompliziert alles war.
»Damit bist du zum Islam konvertiert, und ich gratuliere dir dazu«, meinte der Imam.
»Das war alles?«, fragte ich.
»Ja, mehr braucht es nicht.«
»Gut, und wie sieht es mit der islamischen Eheschließung aus?«, wollte ich wissen.
»Die können wir hier erst durchführen, wenn ihr standesamtlich verheiratet seid.«
Jetzt war ich wirklich enttäuscht. Wieso denn das? Wieso konnten wir nicht einfach erst islamisch heiraten und ein halbes Jahr später standesamtlich?
Aziza beruhigte mich: »Nicht hier, das machen wir woanders. Ich kenne da einen Studenten-Imam, der wird es euch bestimmt ermöglichen.« Noch am selben Tag bekamen Mohamed und ich die Nachricht, dass wir schon am nächsten Tag die islamische Eheschließung vollziehen könnten. Allerdings war ich überhaupt nicht darauf vorbereitet, was mir bei einer Eheschließung nach islamischem Recht alles zustand und was üblich war.
Freundinnen, die ich über unsere WG kennengelernt hatte, erklärten mir, dass ich Bedingungen stellen könnte. Zum Beispiel wäre es möglich, zur Absicherung bei einer Scheidung eine bestimmte Summe Geldes oder die entsprechende Menge Goldes von seinem zukünftigen Ehemann und dessen Familie zu verlangen. Staunend hörte ich ihnen zu. Mein Verlobter besaß ja nichts, wie ich bereits festgestellt hatte, er lebte ganz allein viele Tausend Kilometer von seiner Heimat entfernt – wie hätte ich da von ihm solche Dinge verlangen sollen?
Ich kannte Mohameds Familie nicht und wusste damals auch nicht, wie deren wirtschaftliche Verhältnisse tatsächlich aussahen. Er hatte mir zwar erzählt, dass sein Vater ein Taxiunternehmer sei (ein sehr dehnbarer Begriff, wie sich zeigen sollte), ein eigenes Gemüsegeschäft habe und ein Haus, aber es war mir nie aufgefallen, dass Mohamed besonders extravagant lebte. Ich ging nicht wirklich davon aus, dass er aus einem übermäßig wohlhabenden Elternhaus kam, das solche Geldforderungen im Rahmen einer Eheschließung erfüllen könnte. Also entschied ich mich, im Ehevertrag nichts dergleichen von meinem zukünftigen Mann zu verlangen.
Allerdings stellte ich dann doch eine Bedingung, die mir wichtiger als alles Geld und Gold der Welt war. Neben einem billigen Gold- und einem eher symbolischen Schmuckring gestand mir mein Ehevertrag zu, dass Mohamed nicht, wie sonst im Islam üblich, bis zu vier Frauen heiraten konnte. Ich hätte es nie ertragen, meinen geliebten Mann mit einer anderen Frau oder gar mehreren zu teilen.
Später sollte ich mein Entgegenkommen noch oft bereuen. Denn so billig, wie Mohamed mich bekommen hatte, so geringschätzig wurde ich in den folgenden Jahren behandelt. Faktisch hatte ich gar keine islamische Brautgabe bekommen, die mich bei einer Scheidung, Trennung oder seinem Ableben in irgendeiner Weise abgesichert hätte. Meine Großzügigkeit empfand er früher oder später als Schwäche. Selbst seine Familie wunderte sich, dass ich kein Vermögen als Brautgabe verlangt hatte. Eine Araberin aus gutem Hause hätte er ohne finanzielle Absicherung für den Fall der Trennung jedenfalls nicht bekommen. Ich war offenbar eine Frau ohne dickes Preisschild.
*
Unsere Eheschließung fand in derselben Moschee statt, in der ich auch das Glaubensbekenntnis abgelegt hatte. Viele junge Männer, vermutlich größtenteils Studenten, und Frauen, außer mir alle mit Kopftüchern, waren bei der Zeremonie und dem anschließenden gemeinsamen Festessen anwesend. Sie hatten alles organisiert und bezahlt, obwohl sie uns gar nicht kannten. Ich war sprachlos und überwältigt angesichts der Herzlichkeit meiner neuen Glaubensbrüder und -schwestern. Auch einen hübsch gebundenen Brautstrauß aus fünfzehn rosafarbenen Rosen hatte man nicht vergessen. Da ich auf die Schnelle kein Hochzeitskleid hatte, begnügte ich mich an diesem Tag mit einem schlichten schwarzen Hosenanzug aus Satin und passenden Schuhen, die ich, wie alle anderen Anwesenden auch, in der Moschee ausgezogen hatte.
Die anwesenden Frauen bestätigten mir, dass das vollkommen in Ordnung sei. Das Haar trug ich wie gewohnt offen, niemand nahm Anstoß daran. Alles in allem verlief diese Eheschließung für mich sehr angenehm. Ich freute mich über die vielen Menschen, die sich mit uns freuten und alles so wundervoll für uns vorbereitet hatten. Über fünfzig Leute hörten zu, wie der islamische Ehevertrag besprochen, niedergeschrieben und dann verlesen wurde, zwei Zeugen unterschrieben ihn. Für den Paragrafen, der einvernehmlich die Mehrehe ausschloss, sollte ich später noch viel erleiden müssen, so als hätte ich meinen Mann gezwungen, mich zu heiraten.
Mein kurzes Glück
Wieder zu Hause, gingen wir gemeinsam zur Verwaltung des Studentenwohnheims, in dem wir beide in verschiedenen WGs wohnten, und beantragten ein gemeinsames Zimmer. Für ein Jahr war dies nun unser erstes Zuhause. Wir beschlossen, zum Standesamt zu gehen, um auch mit meiner Familie die amtliche Eheschließung zu feiern. Eine islamische Eheschließung allein gilt ebenso wenig als legale Ehe wie eine rein kirchliche Trauung.
Es gab einige Papiere zu besorgen, aber das ging relativ schnell, und schon im Frühjahr 1992 heirateten wir. Es war eine kleine Hochzeit im Kreise meiner Familie und unserer engsten Freunde. Wir feierten im Haus meiner Eltern auf Usedom, mein Onkel wurde mein Trauzeuge. Mein Mann hatte seinen damals besten Freund Ahmed, einen in Kuwait aufgewachsenen Syrer, als Trauzeugen bestimmt. Mohamed und mir war das alles gar nicht so wichtig. Das Wichtigste für uns war, nun endlich auch nach deutschem Recht verheiratet zu sein.
Mohamed erhielt auf diesem Weg eine längerfristige, später sogar unbefristete Aufenthaltserlaubnis, im Studentenheim hatten wir nun offiziell Anspruch auf eine größere »eheliche Wohnung«, und später konnte er durch die Heirat mit mir überhaupt erst die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen.
Wir waren so unendlich glücklich. Zumindest glaubte ich, dass mein Mann es auch war. Mein einziger Wunsch zur Hochzeit war ein weißes Brautkleid mit weit abstehendem bodenlangen Rock und engem gerafften Oberteil aus weiß schillerndem Satin, wie aus einem Märchen. So hatte ich es mir immer erträumt, dazu ein kleiner, nur angedeuteter Schleier auf dem hochgesteckten Haar.
Zum Einkaufen fuhren wir bis nach Berlin ins KaDeWe, weil ich sonst nirgends ein solches Kleid in Größe vierunddreißig bekommen konnte. Es war unbeschreiblich teuer, aber da mir diese Heirat so wichtig war, kauften wir es trotzdem. Ich sah traumhaft darin aus, sagten mir alle, vor allem mein Mann, dessen Augen glänzten, als ich vor ihm darin erschien: »Du siehst aus wie eine Prinzessin.« Er selbst trug einen deutlich einfacheren mintgrünen Anzug aus Mikrofaser.
Ein professioneller Fotograf wurde bestellt. Die Bilder von der Trauungszeremonie, den Gästen, den üblichen Hochzeitsüberraschungen, wie dem Baumstamm-Durchsägen, dem Über-die-Schwelle-Tragen der Braut, der Feier und von Mohamed und mir als Brautpaar füllten ein dickes Album.
Wir schwammen damals im Glück, konnten es kaum fassen, dass wir jetzt wirklich verheiratet waren. Wir sprachen über Kinder und unsere Zukunft nach dem Studium. Alles war wunderbar.
Mein Mann war sehr aufmerksam und las mir jeden Wunsch von den Augen ab. Es war eine Zeit der Zärtlichkeit.
Aber dieses Glück währte nicht lange. Mohameds jüngerer Bruder Hassan war unangekündigt aus Syrien zum Studium nach Deutschland gekommen, sollte zunächst die deutsche Sprache lernen und dann sehen, an welcher Universität er Medizin studieren könnte. Mein Mann blieb eine Zeit lang bei Hassan in Köln, den er jahrelang nicht gesehen hatte, um ihm bei den ersten Schritten im fremden Land zu helfen.
Ich weiß bis heute nicht, was in diesen wenigen Wochen passiert ist. Als mein Mann zurückkehrte, war er ein anderer. Plötzlich fand er es unpassend, dass ich die freien Nachmittage mit meinen Freundinnen verbrachte, dass ich allein in einem Café saß oder durch die Stadt bummelte, um einzukaufen. Er sagte mir immer wieder, das schicke sich nicht für eine verheiratete Frau. Um Streit zu vermeiden, fügte ich mich schweren Herzens und blieb erst einmal bei ihm zu Hause. Nur zur Uni ging ich nach wie vor täglich. Ich dachte damals, das würde sich alles bald wieder legen, ich sprach viel mit ihm, erklärte ihm meine Lebensweise, beruhigte ihn. Nach langen Diskussionen durfte ich schließlich wieder allein raus und auch Freundinnen besuchen. Er wollte aber immer wissen, wo ich mit wem war und wie lange. Das kannte ich auch von zu Hause nicht anders, dass man Bescheid sagt, wo man hingeht, insofern war es für mich absolut in Ordnung.
Als ich mit meinem Studium fertig war und Mohamed mit seinem Studienkolleg, räumten wir unser Zimmer im Studentenwohnheim, um für den Anfang zu meinen Eltern zu ziehen. Da tauchte plötzlich – und wie üblich unangemeldet – Hassan auf. Ich war etwas ratlos, denn mein Mann hatte ihm in meinem Beisein am Telefon erklärt, was wir vorhatten, und ihn gebeten, uns in dieser Zeit nicht zu besuchen, bis wir eine eigene Wohnung hätten. Mit ein paar Telefonaten brachte Mohamed seinen Bruder vorläufig bei Freunden unter, anschließend nahmen wir ihn einfach zu meinen Eltern mit. Die staunten nicht schlecht, denn wir hatten sein Kommen nicht angemeldet. Da Hassan als mein Schwager nun quasi zur Familie gehörte, luden meine Eltern ihn ein, im Zimmer meines Bruders zu übernachten, der sowieso gerade nicht daheim war. Hassan blieb zwei oder drei Tage, dann fuhr er zurück nach Köln. Wir wohnten noch eine Weile bei meinen Eltern, genossen die ersten Ferienwochen, schrieben Bewerbungen für meinen Mann. Da wir so schnell nicht mit Antworten rechnen konnten, schlug Mohamed vor, dass wir doch ein paar Wochen in Köln verbringen könnten, ein bisschen jobben, Urlaub machen, und ich war einverstanden.
Die Hinterhofmoschee
In Köln empfing uns Hassan mit der Nachricht, er hätte eine Wohnung für uns besorgt. Die Freude darüber sollte nicht lange währen. Wir fuhren zusammen dorthin. Es war aber gar keine Wohnung, vielmehr handelte es sich um zwei Hinterzimmer in einer türkischen Hinterhofmoschee in Köln-Nippes. Ich hatte so eine Moschee noch nie gesehen. Ein Eisentor, so groß, dass man mit einem LKW hindurchfahren konnte, wenn es geöffnet war, schützte sie vor den Blicken Neugieriger. Das Tor war meistens geschlossen, und die Leute gingen durch eine Seitentür in die Moschee. Links hinter dem Tor befand sich ein kleiner Laden, in dem es Misabahas, die islamischen Rosenkränze, Perlenschnüre, Parfümöle, Häkelmützen und anderen Kleinkram zu kaufen gab. Dahinter lag ein Raum für Frauen, in dem man die rituelle Gebetswaschung durchführen konnte. Muslime beten fünfmal am Tag. Davor werden zuerst die Hände und das Gesicht gewaschen, dann werden Mund, Nase und Ohren ausgespült, mit feuchten Händen wird über den Kopf gestrichen, und anschließend werden die Oberarme und die Füße zwischen den Zehen und bis zu den Knöcheln dreimal gewaschen.
Hinter dem Frauenraum gab es einen riesigen Waschraum und Toiletten für die Männer, und daran schloss sich der noch größere, mit dicken Teppichen ausgelegte Gebetssaal für die Männer an. Vor diesem befanden sich unter einer Art Vordach Holzregale für die Schuhe, denn es ist verboten, eine Moschee mit Schuhen zu betreten.
Die beiden Zimmer, die mein Schwager als Wohnung bezeichnete, waren wohl eine Art Bibliothek, sie hatten jedoch weder ein Badezimmer noch eine Küche, noch einen Kühlschrank. Wer hier zur Toilette musste, ging über den langen Flur des Gebäudes, in dem strenggläubige muslimische Männer, hauptsächlich wohl Studenten, lebten und in dem es für eine Frau allein unmöglich war, sich zu bewegen.
Als wir in unsere Zimmer traten, sagte Mohamed mir, ich solle mich ausruhen und dort auf ihn warten, er würde kurz mit seinem Bruder weggehen.
Der Raum war dunkel, da die Fenster mit einer bunten Folie dick beklebt waren, sodass sie anmuteten wie die Butzenfenster einer Kirche. An den Fenstern hingen außerdem schwere Vorhänge, die halb zugezogen waren. Ich war nach der langen Autofahrt sehr erschöpft und schlief wohl einige Stunden. Als ich aufwachte, war es Abend geworden, aber mein Mann war immer noch nicht aufgetaucht. Draußen im Flur waren laute Männerstimmen zu hören, es wurde in einer Sprache gesprochen, die ich nicht verstand, und der Gedanke an die vielen bärtigen Männer in den langen Gewändern, die dort herumliefen, machte mir Angst und hinderte mich daran, den Raum zu verlassen. So fing ich schließlich an, mich in den großen, hölzernen Bücherregalen umzusehen und einige der teilweise auch deutschen Broschüren über den Islam zu lesen, in denen das Gebet und einige Gebote und Verbote im Islam erklärt wurden.
Spätabends kehrte schließlich mein Mann zurück – aber er kam nicht allein, sondern mit seinem Bruder. Sie unterhielten sich die ganze Zeit auf Arabisch, sodass ich weder etwas verstehen, geschweige denn an der Unterhaltung teilnehmen konnte. Ich fühlte mich ausgeschlossen, war hungrig, unglaublich müde und konnte mich nicht schlafen legen, da meine Sachen immer noch im Auto waren. Schließlich unterbrach ich das Gespräch der beiden.
»Ich brauche meine Sachen aus dem Auto, außerdem habe ich seit zwölf Stunden nichts gegessen, mein Magen knurrt.«
Unwirsch antwortete mein Mann: »Kannst du es denn nicht mal eine Nacht ohne Essen und Schlafanzug aushalten?«
»Ich habe Hunger und brauche meine Sachen. Ich will endlich aus diesen verschwitzten Klamotten raus. Außerdem möchte ich vor dem Schlafen duschen.«
Nach langem Hin und Her gab Mohamed klein bei. »Ich gehe jetzt mit meinem Bruder und hole paar Sachen aus dem Auto. Du bleibst hier und wartest auf uns.«
»Warum soll ich denn hierbleiben? Ich war schon den ganzen Tag allein. Ich will hier raus.«
»Nein, das geht nicht, es sind jetzt zu viele Männer in der Moschee. Du kannst nicht vor denen hin- und herlaufen. Die müssen nicht unbedingt wissen, dass du hier bist.«
»Aber ich will mich duschen, und ich muss auf die Toilette.«