Mein Pech war, dass ich so viel Glück hatte - Karl Maslo - E-Book

Mein Pech war, dass ich so viel Glück hatte E-Book

Karl Maslo

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Beschreibung

«When I put a spike into my vein and I'll tell ya, things aren't quite the same. When I'm rushing on my run and I feel just like Jesus' son …» (Velvet Underground) Jedes Individuum hat seinen eigenen Beat, beginnend mit dem Herzschlag im Mutterleib. Der von Karl Maslo war der des Rock 'n' Roll, er hat ihn bis an den Rand des Abgrunds gebracht – und beinahe darüber hinaus. Aufgewachsen in einer Bergbausiedlung im Essen der 50er Jahre, mit unkaputtbaren Überlebensgenen ausgestattet, trinkfest, verlässlich, immer gut drauf und hilfsbereit, lernt er schnell, dass als soziale Traumziele für ihn nur Bergmann, Schrotthändler, Alkoholiker oder Kleinkrimineller in Frage kommen. Bis auf Bergmann ist er alles geworden. Doch Maslo wollte mehr, er ging nach Berlin, wo sein schauspielerisches Talent entdeckt wurde. Eine Zeit wilder Intensität in der Schauspiel- und Musikszene begann – und mit ihr eine Zeit des exzessiven Drogenkonsums, die sein Leben nach und nach in eine psychedelische Geisterbahnfahrt verwandelte …

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Karlheinz Freynik

Karl Maslo

Mein Pech war, dass ich so viel Glück hatte

Ein extremes Leben

Inhaltsverzeichnis

Hinweis

Motto

Leben ohne Einladung

Purzin

Back in the wild, wild West

Ein bisschen Vater

Wiesbaden

Intermezzo: Zu Besuch in Altenessen

Delkenheim

Aull an der Lahn oder Am Arsch der Welt

Berlin

Jede schöne Ku’damm-Fassade hat auch ein Hinten

Einmal Schweiz – nicht nur für Reiche

Schweiz – 2. Teil

Heimat ist kein Ort – Heimat ist ein Gefühl

Zwischenzeit

«Wie es euch gefällt»

Das Jahr der Ratte

Alles Theater

Das unermesslich Traurige an der Provinz

Sylvester Stallone hat auch mit Sexfilmen angefangen

Global Player

Szene ist überall, wo ich bin

Süchtig will gelernt sein

DU BIST NICHT ALLEIN ...

Back in Berlin: Ein Termin mit Lady Heroin

Die T-Frage: Therapie oder tot?

Wenn das Rote Kreuz keine Blutspende von einem will ...

Ab in die Wüste!

Die Revolution fand in Stockholm statt

Shakespeare auf Butterfahrt

Die Heimkehr des verlorenen Sohns

Ab ins Kloster

Die Kapitulation

Epilog

Statt eines Personenregisters

Danksagungen

Quellen

Niemand lebt für sich allein, zumindest nicht bei uns im engen Mitteleuropa. Jeder Mensch wähnt sich im unübersichtlichen Ameisenhaufen der Gesellschaft als eine ganz besondere Ameise im Zusammenspiel mit unendlich vielen anderen besonderen Ameisen, deren Leben er begleitet, kreuzt, beeinflusst oder in einer anderen Weise tangiert. Die in diesem Buch auftauchenden Mitbürger sind, soweit möglich, um ihr Einverständnis gebeten worden. Wo das nicht möglich war, haben wir die Personen anonymisiert bzw. ihre footprints als Zeitdokument konserviert wie die in Zement gegossenen Namen auf dem Walk of Fame. In keinem Fall wollten die Autoren im Text genannte Personen diffamieren. Sie versichern vielmehr, dass alle Schilderungen aus Erinnerungen und Tagebuchaufzeichnungen rekonstruiert wurden. Zum Schutz sensibler Wegbegleiter haben wir dennoch eine fiktionale Ebene eingezogen, die auch jenen ungetrübte Lesefreude bereiten soll, die ihre Schleifspuren, die sie im geschilderten Leben hinterlassen haben, lieber für sich behalten.

«Sie nannten mich Heinemann, weil ich nicht Heini sein wollte – wie mein Vater. Wenn man nicht aus dem Ghetto kam, konnte man damals als Heinemann sogar Bundespräsident werden.»

Leben ohne Einladung

Was soll man von einem Vater denken, der, wenn Gäste da sind, ein altes Gurkenglas vom Schrank holt und als Kontrapunkt zur Einladung den sauer eingelegten Bandwurm vorführt, der ihm irgendwann aus dem Darm gekrochen kam?

Damit wir uns richtig verstehen: Mein Vater war ein Held! Gut, er hat nicht sehr viel dafür getan. Hat immer ein bisschen gefremdelt. Nicht so wie andere Väter, die alles daransetzen, ihre Söhne zu ihrem Ebenbild zu formen – doch das hätte ich sowieso nicht gewollt.

Jeder Bierkrug hat einen Henkel, aber wie fasst man ein Neugeborenes an, ohne dass es Schaden nimmt? Es hatte etwas unbeholfen Rührendes, wenn er mich zum Menschen bestimmten Frischling an sich presste und mit seinen Fünf-Tage-Bartstoppeln mein zartes Gesicht perforierte.

Angesichts solcher Früherfahrungen hätte ich als ersten Berufswunsch später eigentlich «Fakir» angeben müssen. Trotzdem war mein Vater ein Held. Er hat sich Mamas Kopf mit Nadeln in den Arm malen lassen, weil er sie so lieb hatte. Als Nixe, damit sie nicht ertrinkt, wenn er mit ihr baden geht. Und er hatte immer Durst. Was der trinken konnte! Mama sagte immer, alle in der Zeche müssten das machen, wegen des Kohlenstaubs unter Tage.

«Aus den Jungen wird ma wat, Gerdi», sagte er damals zu meiner Mutter, «sobald der weiß, wofür saine Beine da sind, nehm ich ihn mit zum Schrottsammeln!» Vielleicht tue ich ihm unrecht. Jedenfalls sagte er mal im Suff: «Wenn ich dich in ’nen Backofen gespritzt hätte, wär aus dir ’n schöner Stutenteig geworden!», was man auch dahingehend deuten kann, dass ihm ein Mädchen lieber gewesen wäre.

Meine Mutter hat sich zu alldem nicht geäußert. Jedenfalls nicht in meiner Gegenwart. Sie war mit dem Überleben und der Wäsche beschäftigt. Und sie hat viel geweint. Bei uns war immer die Bude voll. Unsere Nachbarn mochten Heini. Wenn einer ein Problem hatte, riefen sie ihn, und er ist sofort los. «Wenn er sich mal so um mich kümmern würde», stöhnte Mama dann.

Aus heutiger Sicht würde ich sagen, sie und ihre Essener Co-Leidensfrauen haben kein Mitleid verdient, und sie hätten es auch zurückgewiesen. Sie waren gleichermaßen verantwortlich und nicht verantwortlich für ihr beschissenes Schicksal. Sie hatten keinen Mut, sich scheiden zu lassen. Also passten sie sich an, bissen die Zähne zusammen und teilten ihren Frust in der Gemeinschaftswaschküche der Siedlung. Dort wurde über die Männer geschimpft, dort wurde über sie geweint. Und meine Mutter immer mittendrin. Nicht mal fremdgegangen ist sie. Wir waren meines Wissens nicht sehr religiös, aber man weiß ja nie… «Der liebe Gott sieht alles.»

Schäm dich, Heinemann! Was redest du für despektierlichen Mist, als ob du die ganze Abteilung nicht schon mit deinem Therapeuten abgearbeitet hättest? Man liebt seine Familie!

Darf ich fragen, warum?

Weil die Maslos ein exemplarisches Stück Essener Urschlamm waren! Rau, herzlich, mit unkaputtbaren Überlebensgenen ausgestattet, trinkfest, verlässlich, immer gut drauf und hilfsbereit. Ideale Nachbarn also.

Wer in eine solche Kleinbürgeridylle hineingeboren wird, der beschwert sich nicht. Er lernt schnell und wird auf seine sozialen Traumziele vorbereitet: Bergmann, Schrott- oder Autohändler, Frühalkoholiker oder Kleinkrimineller. Zukunft ist kein Nachbar, der in der Hömannstraße wohnt. Zukunft beschäftigt andere. Hier zählt das Jetzt. Hier zählt Familie.

Die einzige verlässliche Größe war die Hömannstraße 9–15, und wehe dem, der es sich mit einem der Bewohner verscherzte. Den traf die ganze Macht des machtlosen Clans.

Wunschkind? War ich ein Wunschkind? Keine Ahnung. Nicht ausgeschlossen, dass ich das Produkt einer ausgelassenen Wochenendfete war oder eines glücklichen Kantersiegs von Schalke. Vernünftig war es jedenfalls nicht, denn Deutschland lag noch in Trümmern, Gerda und Oma mussten für zwanzig Pfennig Plockwurst anstehen, was uns erwartete, war ungewiss, die Zukunft lag im Nebel, doch die wohnte – wie oben erwähnt – ja sowieso nicht hier.

Aber hätte man für ein Kuckucksei so viele Umstände gemacht?

Allein Heinis grässliche Weihnachtsgesänge! Da war weniger Musikalität als Leidenschaft im Spiel. Und wenn Mama dazu ihr Anneliese-Rothenberger-Lächeln aufsetzte und dem Karpfen in der Nirosta-Spüle langsam die Luft wegblieb, badete der kleine Heinemann glückselig in dieser vollendeten Familienharmonie.

«Wat’n süßes Frätzcken, der kleine Kerl», freute sich Oma, «aber Pipi macht er wie ’n Großer.»

Darauf sagte Mama: «Das hat er von sain Papa.»

Wenn Gerda träumte, dann war sie oft Zarah Leander und sang deren Lieder. «Wenn ich mir was wünschen dürfte». Also doch ein Wunschkind!

Mein Geburtsjahr, 1951, war das Jahr der Musik von Nat King Cole, Doris Day, Mario Lanza und Duke Ellington. In Essen hörte man das eher nicht. In den Plattenschränken in unserer Siedlung standen überall dieselben Killersounds. Als ich geboren wurde, hörte die Hömannstraße dies:

LONNY KELLNER UND RENÉ CAROL Im Hafen von Adano

RENÉE FRANKE UND HEINZ ERHARDT Baby, es regnet doch

FRED RAUCH Der Herr Skilehrer

RITA PAUL Bobby backt einen Kuchen

RENÉE FRANKE Winke, winke

HEINZ ERHARDT Bobby Schick hat ’nen Tick

WILLY SCHNEIDER Wenn das Wasser im Rhein gold’ner Wein wär

Nicht zu vergessen Dorle Rath mit «Barbara, Barbara, komm mit mir nach Afrika». Die ungekrönten Abräumer im Pott waren natürlich Friedel Hensch und die Cyprys. Sie trafen den Nerv der Gegend mit kostbarsten Miniaturen der Liedkunst wie «Holdrio, liebes Echo», «Opapa», «Kinder ist das Leben schön» und später mit der zeitlosen Hymne folkloristischen Liedguts «Der Mond von Wanne-Eickel».

Jeder hat die Stars, die er verdient.

Schlager sind die Placebos des kleinen Mannes. Sie spenden Trost durch Vernebelung und versprechen Besserung für chronische Beschwerden, die das richtige Leben selten heilen kann. Wieso besteht für die Droge Schlager eigentlich noch keine Beipackzettelpflicht? Wenn es eine Trostmedizin ohne Nebenwirkungen und Rezept gibt, ist es die Relativität der Wahrheit! Jeder webt sie sich so, wie er sie braucht.

Ich meine jetzt die berühmte Streitfrage: halb leer oder halb voll? Natürlich war die Hömannstr. 51 nicht gerade ein Startplatz in der ersten Reihe, andererseits kann so ein Pflaster auch ein Sprungbrett sein, eine Einladung zum Aussteigen, denn jede Ortsveränderung von dort ist ein Aufstieg. So oder so. Vielleicht sind meine Eltern deswegen achtzehnmal umgezogen. Immer auf der Suche nach neuen Chancen, immer auch in dem erfolglosen Versuch, die schlechten Erinnerungen zurückzulassen.

Die Hömannstraße war vielleicht nicht Versailles. Der Nabel der Welt war sie allemal. Vorn an der Straße ein langer, dreistöckiger Wohnriegel mit einem Außenklo pro Etage, Modell Zechensiedlung. Mit dem Schrottplatz gegenüber die perfekte Prekariatsromantik. Dahinter eine Reihe aneinandergelehnter Schuppen, in denen die Versorgungseinheiten untergebracht waren: Gemeinschaftswaschküche, Werkstätten, Kartoffel-, Kohlen- und Getränkekiepen. Oben auf dem Dach, an der höchsten Stelle, die Taubenschläge. Dazwischen lag das Himmelreich.

Der Hof war Marktplatz, gute Stube und Gemeinschaftsraum. Hier trafen sich die Frauen am Waschtag, tratschten über ihre kaputten Ehen und verziehen ihren Männern, wenn sie hörten, dass die Nachbarin noch viel mieser dran war als sie selbst. Es herrschte so etwas wie eine unausgesprochene Anwesenheitspflicht. Wer nicht erschien, fing sich schnell die Unterstellung ein, auf den Briefträger oder den Scherenschleifer zu warten.

Für uns Kinder war der Hof Leben an sich. Wir fühlten uns wie die Brieftauben, um die man sich allerdings mehr Sorgen machte als um uns, wenn sie an einem Flugtag mal nicht rechtzeitig landeten. Dafür wurden sie schwer gefeiert, wenn sie irgendwann doch zurück nach Hause gefunden hatten. Auch im Gegensatz zu uns: Wenn wir zu spät kamen, gab’s was hinter die Löffel. Gelobt wurden wir bloß dann, wenn die Männer uns zum Kiosk schickten, um Bier zu holen und Overstolz. Nur zum Kondome kaufen haben sie uns nicht geschickt. Und weil sie zu faul waren, selbst loszugehen, gab’s eben keine. Außer wenn in der Drogerie eine neue junge Verkäuferin angefangen hatte. Dann liefen sie wegen der dummen Sprüche hin. «Willsu uns dat nich ma vorführ’n?»

Die Hömannstraßen-Gang: Toxi, Fredy, Gusti und Heinemann

Alles heiße Luft und kalter Kaffee…

Ich will das fairerweise auch nicht so hochkochen. Mein Vater Karl-Heinz, oder vielmehr Heini, war damals Mitte zwanzig, Gerda, seine Frau und meine Mama, zwei Jahre jünger. Als ich geboren wurde, war der Krieg sechs Jahre vorbei. Alle waren sehr auf Normalität bedacht. Das ganze Elend um uns herum, die Trümmer, Wiederaufbau – alles normal. Die Erwachsenen palaverten unentwegt. Beim Kartenspielen im Hof, in der Kneipe. Meistens ging es um Schalke und Rot-Weiss Essen, manchmal um Entscheidungen der Gewerkschaft oder Ankündigungen der Zechenleitung. Alles normal. Konnte man eh nix machen. Heini war übrigens nie unter Tage, auch wenn seine Frau das heute gerne behauptet.

Die Verwandtschaftsverhältnisse schlummerten irgendwo in einem diffusen Nebel. Dass meine Mutter einen Bruder hatte, der im Krieg gefallen war, sollte ich erst mit vierzig erfahren. Ich fühlte mich als Kind zweier unreifer Kinder, die ihr Leben noch gar nicht kannten und die Welt wie eine Bildergeschichte von Wilhelm Busch betrachteten.

Der einzige Voll-Mensch, der mit allem ausgestattet war, was ein Kind so respektiert, war Emma. Sie war meine Oma, Heinis Mutter. Sie rackerte für die Junggesellen in der Siedlung, wusch und bügelte ihre Klamotten und lief kilometerweit, wenn es bei Woolworth etwas billiger gab als im Laden um die Ecke. Sie war der Kummerkasten ihrer drei Kinder, die inzwischen alle verheiratet waren. Wenn jemand in Geldnot war, schenkte sie ihr Erspartes her und lief selbst auf schiefen Absätzen.

Von Oma Emma und ihrer besten Freundin Tante Reni guckte ich mir das Talent ab, andere Leute zu parodieren. Wie schafften es die beiden, von ein paar Glas Wasser super lustig zu werden?, fragte ich mich mehr als einmal. Das Wasser war natürlich Klarer. Wenn die beiden beim Nachmittagsklön zwei Flaschen Korn drin hatten, konnten sie alle Nachbarn perfekt imitieren und ich kugelte mich vor Lachen am Boden.

Ich lernte also früh, Menschen zu beobachten. Ihre Körperhaltung, auch ihre Macken konnte ich bald mühelos nachmachen. Später in der Schule sollte ich mehr als einmal eine aufs Maul bekommen, weil meine Parodien von den Mitschülern einfach zu gut waren. Erste Erfahrungen zum Thema «Einsamkeit des Künstlers». Nicht wer schön ist, muss leiden, sondern wer Talent hat. Randy Newman brachte es später auf den Punkt mit «Oh, it’s lonely at the top».

Von meiner Tante Emmi, nicht zu verwechseln mit Oma Emma, lernte ich, mir beim Scheißen im Busch nicht die Sandalen zu versauen. Seit Tante Emmi zu mir gesagt hatte, ich solle auf dem Außenklo aufpassen, dass ich nicht von einer Schlange in den Arsch gebissen werde, erschien mir das Gebüsch sicherer.

Lustig fanden wir Kinder vor allem, wenn die Zuchttauben Luzi, Fränzcken und Lili vom Dach auf die frisch aufgehängte Wäsche machten oder Frau Asches Hund in den Hof schiss.

«Scheiße am Schuh bringt Glück», trösteten unsere Mütter uns, wenn wieder mal einer mitten in die Wonne getreten war. Daraufhin steppten wir Kinder ausdauernd in den Haufen. Was tut man nicht alles für ein bißchen Glück…

Die Beschäftigung mit Fäkalien hatte einen festen Platz in unserem Alltag. Bei uns wurde wenig Substanzielles geredet, dafür umso mehr gefurzt. Dafür brauchten wir keinen Anlass und auch keinen besonderen Speiseplan. Es war ein natürliches Lebenszeichen: Ich furze, also bin ich!

Wir betrieben es mit entwaffnendem Selbstverständnis. Wenn meine Familie religiös gewesen wäre, hätte sie selbst in der Kirche geknallt.

Meine erste bewusste Begegnung mit meinem Opa hatte ich mit vier oder fünf. Gerda fuhr mit mir zu ihrem Vater nach Bredeney, was das vornehmere Essen war, mit den Krupps und anderen Größen, ohne Schilder an der Klingel. Höchstens Initialen. Gerda fand ja immer, dort gehöre sie hin, weil sie was Besseres sei. Ihr Geburtsname war Gerda von Siegmund, vermutlich in direkter Linie eine Nachfahrin der Nibelungen. Verarmter Adel. Rittergeschlecht. Jedenfalls blaues Blut. Später musste ich jedes Mal an sie denken, wenn ich in einer Bar eine Flasche Blue Curaçao sah.

Immerhin war ihr Standesdünkel das Trittbrett in eine Phantasiewelt, aus der sie bis heute nicht mehr ausgestiegen ist. «Eine ganz andere Welt», seufzte sie, wenn sie sich daran erinnerte. Auch Bredeney war für sie eine andere Welt. Warum sie sich ausgerechnet für die meines Vaters entschieden hat, ist bis heute unklar. Wenn ich sie danach fragte, beließ sie es bei: «Weil er so witzig war.» Gerda hatte ihren Karl-Heinz im Circus kennengelernt. Auch das war eine ganz andere Welt, wie sie betonte. Heini arbeitete damals als Pferdepfleger und Bereiter.

Übrigens, so wie Bredeney war alles außerhalb von Essen für meine Mutter eine ganz andere Welt. Gerda lebt bis heute in vielen unterschiedlichen Welten, und ich hoffe, dass sie sich daraus ein Förmchen Glück hat backen können. Als ich sie damals fragte, welche Welt denn wohl für mich zuständig sei, antwortete sie: «Immer die, in der dein Bettchen steht.»

Gerda und Heinemann besuchen Opa in Bredeney

Jetzt waren wir also in Opas Welt, und der kam mit einer Flasche Wodka und zwei Schnapsgläsern ins Wohnzimmer und sagte: «Wenn aus unserem kleinen Heinemann mal ein großer Heinemann werden soll, muss er lernen, dass man im Leben was vertragen muss. Hau weg, mein Junge, das erste Glas ist das schlimmste.»

Mir blieb die Luft weg, und ich hustete mir die Lunge fransig.

Opa goss mir gleich noch einen Wodka ein. «Auf einem Bein kann keiner nicht steh’n.»

Meine Mutter beschloss, sich später nicht mehr an diesen Nachmittag zu erinnern.

Alkohol war ein mächtiger Kommunikator! Was Plato und Aristoteles in der Antike waren, das war für die Bewohner unserer Siedlung die Dortmunder Actien-Brauerei. Die andere kulturelle Säule – oder wie Opa sagen würde, «das zweite Bein» – des Ruhrgebiets ist der Fußball. Eine Allianz, die so verlässlich ist wie Ebbe und Flut.

In Essen sind damals alle Jungs mit Helmut Rahn zur Schule gegangen. So auch Heini. Der Rechtsaußen von Rot-Weiss hat nicht nur Deutschland in Bern zum Weltmeisterschaft geschossen, er hat auch den Pott zum Rodeo Drive des Proletariats gemacht. Zwischen Schalke und Dortmund zählte weniger, was einer sagte, sondern vielmehr, was er in den Füßen hatte. Hochgerechnet waren knapp zwanzigtausend Essener Väter mit «dem Boss» in einer Klasse. Heute gibt es so große Klassen nicht mehr.

Mein Vater hat nie Fußball gespielt. Wenn ich dreckig nach Hause kam und Mama mir mit dem Waschlappen übers Gesicht fuhr, rieb ich mich an Papas speckiger Schlosserhose, bis ich wieder so dreckig war, wie er. Er strich mir dann über die Locken und lachte.

Heini hatte einen Tempo-Dreiradwagen, doch keinen Führerschein. Damit fuhr er morgens weg und kam abends ziemlich dreckig wieder. Ich glaube, er sammelte Schrott, kann aber auch sein, dass er für die Zeche fuhr. Jemand hat mal gesagt, Heini mache «in Obst und Gemüse», aber damit war wohl etwas gemeint, das weder mit Birnen noch mit Salat zu tun hat. Irgendwann kaufte er sich dann einen Matador. Und einen Führerschein gleich dazu. Damit war er ein Geschäftsmann ohne Geschäft. Obwohl er, wie gesagt, nie unter Tage gearbeitet hat, sah er oft aus wie die Bergleute, die in der Siedlung wohnten. Auch wenn die Männer sich extensiv duschten, nach einer gewissen Zeit ließ sich der Ruß nicht mehr ausschwemmen. Sie sahen aus wie sizilianische Mafiosi, die ihre Schmauchspuren im Gesicht wie Ehrenzeichen tragen. Find ich auch viel besser als Kerben im Revolvergriff, muss ich ganz ehrlich sagen.

Schmutz war irgendwie männlich. Ich war gern dreckig. Dann fühlte ich mich größer, und es war die wirkungsvollste Art, nicht mit einem Mädchen verwechselt zu werden.

Was war das Drachenblut, das Siegfried unverwundbar gemacht hat, anderes als Dreck? Er hat sich nach dem Bad im Blut schließlich nie mehr gewaschen. Nur genützt hat ihm das letztlich auch nichts…

Mein Lebenspraktikum, mein außerschulisches Lernrefugium war unser Hof. Hier brachte mir Heini das Zocken bei. Wir Kinder wurden nicht nur geliebt, wir wurden auch gebraucht. Als Alkohol- und Nikotinbeschaffer waren wir täglich unterwegs, auch wenn wir lieber Fußball gespielt hätten. Das war aber nur möglich, wenn keine Wäsche im Hof hing. Da quasi jeden Tag Waschtag war, hing auch jeden Tag Wäsche auf der Leine – außer sonntags. Doch da hatten wir unser gutes weißes Nyltest-Hemd an, und in dem durften wir nicht Fußball spielen. Dafür lernte ich früh, den Pferdewagen zu lenken. Mit acht konnte ich alleine Auto fahren. Und ich entdeckte die Kunst von Lügen und Verdrängung.

Eines Tages fuhren meine Mutter und ich mit der Bahn in den Knast, um meinen Vater zu besuchen. Ich weiß heute nicht mehr, warum er saß, sicherlich eine Bagatelle. Gerda flüsterte mir zu, ich müsse mich jünger machen, damit ich zum Babytarif und damit kostenlos Bahn fahren konnte. «Babytarif», wenn ich das schon hörte! Wie jeder Junge war ich froh, dass ich fünf geworden war, obwohl sich die ersten vier Jahre dahinhingeschleppt hatten wie ein ganzes Schneckenleben. Und nach so viel Stress sollte ich verleugnen, worauf ich so stolz war?

Da kam der Schaffner. «Wie alt ist denn das Kind?»

Ich beeilte mich, die Pflichtlüge gewissenhaft hinter mich zu bringen: «Ich bin vier… Aber wenn du gleich weg bist, bin ich wieder fünf!»

Langweilig war unser Leben nicht. Wer bekam damals schon einfach so ein Fahrrad geschenkt? Die Jungs aus der Nachbarschaft kriegten auch alle eins. Keiner hatte Geburtstag, Weihnachten war auch nicht. Wie Beutestücke luden unsere Väter die Räder von Heinis Matador. Unter großem Bohei brachten sie uns im Hof das Radfahren bei. Ich war stolz wie Oskar, weil ich der Erste war, der ohne Stützräder fahren konnte.

Langweilig war es wirklich nie, jedenfalls nicht für mich. Manchmal durfte ich bei Tante Inge schlafen. In ihrem Bett. Tante Inge war sechzehn. Erst seifte sie mich in einer alten Zinkwanne fast rituell ab, dann ging es zu ihr unter die Decke, wo ich mit ihren Nippeln Hupe spielen durfte. Sie hat derweil meinen Pillermann zwischen ihren Finger gerieben.

Purzin

Kaum hatte ich das Rad bekommen, wurde es auch schon wieder verkauft. Keiner sagte, warum. Ich sollte morgens auch nicht mehr zur Schule gehen. Keiner erklärte, wieso. Plötzlich saßen wir im Tempo Matador und «zogen um». Keiner verriet, wohin. Ich hörte heraus, dass Heini mal wieder Scheiße gebaut hatte. Also war es genau genommen gar kein Umzug, sondern eine Flucht!

Ehemalige Nachbarn, die Familie Prätzel, die einige Zeit vor uns (aus ähnlichen Gründen?) geflohen waren, schrieben meinen Eltern einen Brief, in dem sie begeistert von ihrer neuen Heimat in Brandenburg schwärmten. Also machten wir uns im Herbst 1959 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion auf in die DDR, die damals noch «Zone» hieß. Die ganze Fahrt bis zum Grenzübergang Helmstedt quälte meine Mutter die bange Frage, ob die Grenzer Heini wohl nach seinem nicht vorhandenen Führerschein fragen würde. Taten sie dann aber nicht.

Die sich vorsichtig und neugierig entwickelnde Deutsche Demokratische Republik war für uns ein Zugewinn in jeder Beziehung. Die Prätzels hatten nicht zu viel versprochen. Das kleine brandenburgische Purzin, in der Nähe von Potsdam, war eine ländliche Idylle. Es schien, als hätte man dort nur auf uns gewartet. Wir bekamen ein eigenes kleines Haus, Heini fand einen Job in der soeben gegründeten landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG), und Gerda wurde «die Kükenmutter» oder «Broiler-Gerda».

Nach der Einzimmerwohnung in Essen waren wir im Paradies gelandet. Alles war anders. Der Leistungsdruck war weg. Gerda steigerte sich in ein Gefühl, das man beinahe fröhlich nennen konnte. Das Klo war im Haus, also richtig in der Wohnung und damit überdacht, nicht mehr «halbe Treppe» und auch nicht «Freiluft in der Pampa».

Das Einzige, was sich nicht veränderte, war Heinis Alkoholkonsum. Der stieg eher noch, weil der Schnaps hier billiger war und wenn man von Ostmark in D-Mark umrechnete, kostete er fast überhaupt nichts mehr.

Das Schulgebäude war direkt gegenüber von unserem Haus. Es gab vier Jahrgänge in einer Klasse, ich kam in die 2b.

Erstaunlicherweise ging ich auch später noch trotz der vielen Umzüge immer gern zur Schule, obwohl Bildung bei uns nicht unbedingt zu den wichtigsten Themen gehörte. Als ich sehr viel später einmal laut über den zweiten Bildungsweg nachdachte, stieß das bei meinen Eltern auf blankes Unverständnis, und mein Vater kommentierte mein Vorhaben kryptisch, aber beinahe poetisch: «Mensch, Junge, du hast doch nicht mal einen Radiergummi!»

Die neue Umgebung wirkte irgendwie ordentlich, und alles hatte einen geregelten Rhythmus. Manchmal blieb ich länger in der Schule, als ich musste, und bekam so schon früh den Stoff der nächsten Jahrgänge mit. Ich war bald Primus, achtete aber sehr darauf, das nicht an die große Glocke zu hängen. Instinktiv wusste ich schon damals, dass ein bisschen Schurke immer besser kommt als der gelackte Klugscheißer. Stolz war ich auch auf das blaue Halstuch der Jungpioniere. Die anderen Pioniere zeigten mich herum wie eine seltene Briefmarke: der Macker aus dem Westen! Wenn ich eine Extrawurst wollte, bekam ich sie meistens für ein paar Brocken Ruhrplatt. «Tu ma die Oma winken, du Döskopp!» – ein preiswerter Einsatz für gepflegte Sonderbehandlungen.

Das galt auch für Gundula Prätzel, die sozusagen meine erste Frauenerfahrung war. Natürlich harmlos, aber dennoch sexy. Ich machohafte neun, sie etwas jünger. Hinter dem Kasperletheater, das sie zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, ließ sich mich ran. Mit ornithologischer Neugier machte ich mich über sie her, durfte überall mal anfassen, bohrte hier und bohrte da. Die Sache wäre auch ganz diskret abgehakt worden, wenn ich zu Hause nicht die süßlichen Düfte meines Fingers inhaliert hätte. Meine Mutter nahm eine Prise, starrte mich an, als hätte sie eine Erscheinung und wusch mir ruppig die Hände. «Versprich mir, dass du das nie, nie wieder tust!» Sie meinte nicht das Händewaschen…

Wir sind dann im Sommer noch mal erwischt worden, nackt auf dem Heuschober von unserem Dorflehrer. Dabei stotterte er doppelt so schnell, als er es im Unterricht tat: «W-w-wenn das no-noch mal pa-pa-passiert: P-p-p-p-pimmel a-a-ab!», entschied er unsinnlich. Das war’s dann aber auch schon mit meinen erotischen Früherfahrungen.

Gerda, «Smiley» Heinemann und Heini

Meine Lust orientierte sich vorerst noch an Süßigkeiten. Leider war das klebrige Zeug aus dem einzigen Konsum im ganzen Dorf selbst für meinen eher anspruchslosen Geschmack eine Zumutung. «Der Kaffee schmeckt auch wie Negerpisse», maulte Heini, dem es ähnlich ging wie mir.

Da wir nicht viel hatten, gab es auch nicht viel, worüber wir uns hätten beschweren können. Trotzdem waren wir immer ganz aufgeregt, wenn von Emmi aus Essen wieder mal eines der heißersehnten Pakete «von drüben» ankamen. Für Leute, die auf Mangelwirtschaft standen, war der Sozialismus das konterkarierte Schlaraffenland, für Masochisten sowieso. Aber das Nichtstattfinden von öffentlich zur Schau getragenem Reichtum, von Überfluss und überflüssigen Statussymbolen ermöglichte ein lässiges Leben. Ein bisschen so wie später in den Kinowestern, die ich mir am Sonntagmittag so gern angesehen habe. Der Sheriff angelt seinen Stetson vom Haken, tritt vor seinem Office auf die Holzveranda und blinzelt erst mal cool und entspannt in die Sonne von Arizona. Das Leben ist ein gleichmäßiger ruhiger Fluss. Der Puls steigt nur, wenn eine Staubwolke am Horizont die Postkutsche ankündigt oder wenn ein schwarz maskierter Bandit die Bank überfällt.

Der Westen konnte sich so viel Gleichstrom nicht leisten. Wer nicht schnell genug die Straßenseite wechselte, kam unter die Räder. Die DDR wollte etwas ganz anderes, aber eigentlich war sie ein Plädoyer für die Philosophie der Amish People. Ernähre dich von dem wenigen, was der Boden hergibt, auf dem du stehst, neide nicht des anderen Hab und Gut, sei genügsam und zufrieden mit dem, was du mit deinen Händen schaffen kannst. In Brandenburg wuchsen nun mal keine Bananen!

Nach der strengen, oft missverstandenen Definition lebten wir eigentlich makrobiotisch. Wir ernährten uns von dem, was der märkische Boden hergab. Wenn ich heute erklären sollte, wie sich der Sozialismus damals für mich angefühlt hat, würde ich sagen: kuschelig.

Davon hatten die Küken, die meiner Mutter anvertraut waren, nur wenig, weil sie in großer Zahl eingingen, bevor sie ihr erstes Ei legen konnten. Mangelnde Sorgfalt, eine Epidemie – ich weiß nicht, warum. Jedenfalls wurde der Kükenmama die Obhut entzogen, und sie bekam eine Rüge von der LPG. Mein Vater gleich mit, weil er auf dem Dachboden einen Räucherofen entdeckt hatte, den er selbstverständlich in Betrieb nahm. Nur leider vergaß er den Ofen und ging mit Gerda in die HO-Gaststätte. Bevor der Dachstuhl ein Raub der Flammen werden konnte, war die Freiwillige Feuerwehr zur Stelle und holte mich mit einer Rauchvergiftung aus dem Bett.

Der erfolgreiche Löscheinsatz wurde anschließend natürlich ausführlich begossen. Manchmal sind Ereignisse so organisch wie Kettenreaktionen chemischer Elemente.

Im Gegensatz zu meinem damaligen Empfinden lief es für uns nicht so richtig rund. Die Küken, der Alkohol, das meist damit verbundene Theater. So langsam kamen wir ins Gerede, und nach nur zehn Monaten zog unsere kleine Karawane weiter. Ich begann etwas zu tun, das ich von nun an bei jedem Umzug tun sollte: Ich nahm intensiv Abschied von jenen Orten, an denen ich während meiner «Wanderjahre», wie ich sie rückblickend nenne, Station gemacht hatte und die sich fotografisch in das Gedächtnis meines kleinen Lebens eingegraben hatten. In Purzin waren es das Schulhaus, die Weite der Felder und Wiesen, die alten Trauerweiden am Dorfteich und der Duft von Gundula, den ich auch heute noch abrufen kann, wenn ich an meinem Mittelfinger schnüffele.

Das nächste Etappenziel hieß Annaburg, eine kleine oder vielmehr sehr kleine Kleinstadt in Sachsen-Anhalt mit drei- bis viertausend Einwohnern. Wir bekamen eine winzige Dachwohnung, und meine Eltern fanden einen Job in der ortsansässigen Porzellanfabrik.

Im West-Radio hörten die Leute damals:

CATERINA VALENTE Tschau, Tschau, Bambina

CHRIS BARBER Petite Fleur

DALIDA Am Tag, als der Regen kam

FREDDY Die Gitarre und das Meer

HEIDI BRÜHL Chico Chico Charlie

IVO ROBIĆ Morgen

NILSEN BROTHERS Tom Dooley

PETER ALEXANDER Mandolinen und Mondschein

PETER KRAUS Sugar Baby

ROCCO GRANATA Marina

TOM UND TOMMY Eine Handvoll Heimaterde

Und Chris Howland hatte irgendwas «In Paris gelernt». Außerdem war Rock ’n’ Roll angesagt: Elvis, Little Richard, Jerry Lee Lewis, Buddy Holly, Conway Twitty.

Gegen diese dekadente «Beatmusik» setzte das sozialistische Lager den Lipsi. Das klang irgendwie nach Karibikromantik und Calypso, sollte es aber gar nicht. Der Tanz hieß so1, weil Leipzig bei den alten Lateinern Lipsia war. Dort kam die Antwort auf Elvis «the Pelvis» nämlich her.

Ausgerechnet in Annaburg wehte ein Hauch von großer Welt in mein kleines, zehnjähriges Leben, und zwar in Gestalt der dort stationierten russischen Garnison. Die meist schäbig gekleideten, schlechternährten Soldaten symbolisierten das Brudervolk und große Vorbild.

Da meine Eltern erst spät von der Schicht heimkamen, übernahm ich die Rolle des Hausmanns und kümmerte mich um unsere Wohnung, die so klein war, dass das Aufräumen nicht lange dauerte. So hatte ich genügend Zeit, nachmittags in die Stadt zu gehen, wo wir Kinder Minijobs für die Soldaten erledigten: Schnaps und Zigaretten kaufen. Wer konnte, der dolmetschte außerdem. Bezahlt haben sie uns mit Militaria. Meistens mit Ehrenzeichen, die sie für irgendetwas Heroisches bekommen hatten, vermutlich als Ersatz für den ausbleibenden Sold. Ich mochte diese bunten Blechspangen. Sie sahen lustig aus, und man konnte sich damit in aufregende andere Identitäten träumen. In einem meiner Träume erklärte ich als siegreicher Feldherr Purzin zur Hauptstadt der Welt, in der alle Bürger mir und Gundula einmal im Jahr Opfergaben bringen mussten.

Ich bin auch heute unverdächtig, in vorderer Reihe unter den atemlosen Trendsettern zu stehen, die das wöchentliche Erscheinen von Mode-, Pop- oder Zeitgeistzeitschriften rechtfertigen. Aber rückblickend muss man schon sagen: Lange bevor Andy Warhol und die Pop-Art-Szene den Kulturbetrieb aufmischten, bereicherte die Sozialistische Einheitspartei der DDR die Stadtbilder des Ostens mit großflächigen Gigapostern von Walter Ulbricht, Lenin, Karl Marx, Nikita Chruschtschow und anderen sozialistischen Superstars. Quietschbunte Spruchbänder und Transparente zierten die ganze Republik. Manchmal waren die Botschaften recht einfach: «Freundschaft!» oder «Solidarität». Manchmal waren sie intellektuell anspruchsvoller, wie «Ohne Gott und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein». Werbung als westliches Dekorationselement war ja unerwünscht. Aber so konnte man die ersten Plattenbauten wenigstens anhand der Transparente unterscheiden.

Annaburg machte zunächst einen friedlichen Eindruck. Nach knapp zehn Monaten lernten wir den Ort allerdings von seiner anderen Seite kennen. Heini hatte am Zahltag in der Kneipe wohl mal wieder einen über den Durst getrunken, jedenfalls bekamen wir am Wochenende Besuch von einem freundlichen Herrn, der etwas von einer «letzten Warnung im Guten» faselte. Ich hatte keinen blassen Schimmer, was er meinte. Ich ahnte nur, dass sich wieder mal ein Ende anbahnte. «Alle Macht dem Volk!», sollte Heini im Suff schwadroniert haben. Ist doch korrekt, dachte ich. Das salbadert der Ulbricht doch selbst als Endlosschleife im Radio. Und nur weil Heini das sagt, ist es schlimm? Aber denen da oben war eben auch wichtig, wie man etwas sagte und vor allem meinte.

Dabei war das «Reagenzglas Deutschland», in dem wir alle wie Versuchstiere für die Weltmächte tanzten, logischerweise Gesprächsstoff für uns Laborratten. Nachkriegsdeutschland war ein Parallelexperiment, das von innen heraus kaum objektiv betrachtet werden konnte. Die Besatzer taten ein Übriges, mit flächendeckender Propaganda die Gehirne zu verkleben und eine realistische Wahrnehmung unmöglich zu machen.

Die Sache war ja so: Die Amis taten das, was sie immer tun. Sie schufen neue, abgängige Märkte und schenkten den Besiegten Coca-Cola, als ginge es um die Reinkarnation des Jesukindes. Die Russen machten es auf ihre Art. Traditionell bäuerlich ernteten sie aus der verbrannten Erde, was herauszuholen war, und zogen den Ostdeutschen auch noch den letzten Hochofen unterm Arsch weg. Eine eher kurzsichtige Politik, die sogar mein Vater verstand. «Wenn die Flasche leer ist, der Durst aber nicht weg, fangen die Probleme an», sagte er.

Die letzte Warnung im Guten verschlug uns nach Kliestow, ein Winzdorf bei Luckenwalde. «Es geht vorwärts», sagte Gerda. Dabei war es nur ein Abstieg mehr.

Über unser Leben in Kliestow zu berichten hieße, die letzten Seiten noch einmal zu schreiben, vielleicht mit Variationen, was die Größe des Hauses betrifft, meinen Schulweg oder die Hektoliter Alkohol, die vernichtet wurden. Mama und ich machten anfangs noch Witze darüber. «Wenn Papa wieder Scheiße baut, landen wir bald alle in Sibirien.» Eines war in Kliestow tatsächlich anders: Nirgendwo war der Weg zwischen Wohnung und Kneipe kürzer als hier.

Immerhin kann das Örtchen für sich in Anspruch nehmen, anno 1961 meinen allerersten Bühnenauftritt erlebt zu haben, bei dem ich im Rahmen einer FDJ-Feier ein gefühlt abendfüllendes sozialistisches Poem zum Vortrag brachte. «Kennst du unser großes Ziel? Wer viel lernt, der kann auch viel», lautete mein Text. Mir war ziemlich egal, was ich da aufsagte. Ich fand es total aufregend, ganz allein vor so vielen Menschen in einer großen Aula auf der Bühne zu stehen. Alle starrten mich an und bewunderten mich, vermutlich weil sie sich so viel Text niemals merken könnten. Da war die Aufmerksamkeit wichtiger als der Inhalt.

Manchmal kann Inhalt aber auch zum Verhängnis werden!

Kurz nach meinem Bühnendebüt gab Heini Maslo eine weitere seiner routinierten Vorstellungen. Wieder in der Kneipe. Wieder an einem Freitag. Wieder machte er seinem Herzen Luft und sagte das, was alle dachten. Leider am falschen Ort. Leider vor ein paar Leuten, die – rein dienstlich – so gar nicht seiner Meinung waren.

Zwei Tage nachdem mein Vater verhaftet wurde, kam die Polizei in meine Zwergenschule und holte mich aus dem Unterricht. Am liebsten wär ich vor Scham im Boden versunken, weil alle dachten, ich hätte etwas ausgefressen. Man wolle verhindern, dass meine Mitschüler durch meine Gegenwart in ihrer sozialistischen Entwicklung behindert würden, hieß es. Hä? Hatte ich den bösen Blick oder einen Totenkopf auf der Stirn?

Es kam zu einer Gerichtsverhandlung, in der Heini eine ganze Reihe von Bagatellvergehen vorgeworfen wurden, samt und sonders Straftatbestände, die angeblich «die Ordnung des Arbeiter-und-Bauern-Staats» gefährden. Ich wusste nicht, ob ich stolz auf ihn sein sollte, weil er jetzt ein gefürchteter Feind des Staates war, sozusagen ein Robin Hood oder Kohlhaas, oder ob… Ja, was dann?

Es ist erstaunlich, wie belastbar Familienbande sind. Natürlich hielten wir zu ihm.

Das Urteil lautete: Abschiebung!

Niemand sagte, wann. Mein Vater kam in den Knast, Gerda und ich wurden unter Arrest gestellt und durften das Haus nicht verlassen. Selbst beim Einkaufen im Konsum begleitete uns ein Stasibeamter.

Eines Abends im Bett hörte ich laute Schritte und fremde Stimmen vor dem Fenster. Ich kroch zu Mama unter die Decke, doch das beruhigte mich nicht. Was war eigentlich passiert? Wenn in der Bundesrepublik alle Männer, die am Freitagabend in der Kneipe ihren Lohn versoffen und ein paar spacke, ahnungslose Politparolen grölten, ausgewiesen worden wären, gäbe es im ganzen Ruhrgebiet keine Männer mehr!

Ich war zwar schon zwölf, aber nicht gewohnt, dass man mich für voll nahm. Von dem Stasibeamten, der mich aus dem Unterricht geholt hatte, fühlte ich mich umso mehr geschmeichelt, als er mich fragte, ob ich es nicht vorziehen würde, allein im Sonnenstaat DDR zu bleiben und bei der Gestaltung der sozialistischen Zukunft zu helfen. Ich könne diese Entscheidung durchaus alleine treffen, der Staat werde mir jede Unterstützung geben und mich nicht beeinflussen. Aus moralischer Verantwortung lehnte ich ab – wie Gerda übrigens auch, der sie das gleiche Angebot gemacht hatten.

Einen Tag später holten uns drei schwerbewaffnete Bullen und ein Schäferhund ab, chauffierten uns in die Nähe der Zonengrenze und setzten uns in einen Zug nach Helmstedt. Mitnehmen durften wir nichts. Es gab auch nichts, woran unsere Herzen hätten hängen können. Außer meinen strubbeligen Teddy vielleicht. Der mit dem ausgerissenen Auge…

Back in the wild, wild West

Die Flüchtlingsbaracke im Durchgangslager war eng und schmutzig. Ungefähr einhundertfünfzig Menschen lebten hier und warteten auf eine Zukunft oder irgendetwas, das nach Leben aussah. Die Stimmung im Camp war eine Mischung aus Lethargie und Gereiztheit. Die Leute wirkten fragil, wie Bäume, die ihre Wurzeln verloren hatten. Fast alle sprachen sehr leise, als ob sie sich dafür entschuldigen wollten, der Bundesrepublik zur Last zu fallen. Einige saßen nur da und wackelten stundenlang mit den Köpfen. Richtig optimistisch sah das alles nicht aus.

Hier wollten Heini, Gerda und ich auf keinen Fall bleiben.

Vier Tage nach unserer Abschiebung standen wir daher an einem Autobahnrastplatz. Wir hatten kein Geld. Wir wussten nicht, wohin. Und wir hatten Hunger. «Haste ma ’ne Mark?», ist erst viel später zum geflügelten Wort geworden. Ich wollte damals auch gar keinen Beitrag zur Kulturgeschichte leisten. Ich bettelte einfach ein paar Autofahrer an, weil meine Mutter mir erklärt hatte, dass schnorrende Kinder die Herzen schneller erweichen als schnorrende Erwachsene.

Eine Dame gab sich besonders echauffiert und zog ungeniert über uns her. Natürlich hätten wir ihr den Unterschied zwischen Dieben und Flüchtlingen näherbringen können. Aber das war Heini zu aufwendig. Er wählte die direkte Kommunikation und hätte beinahe den edlen Pelz der feinen Dame zerrupft.

Schließlich erbarmte sich ein Trucker, der auf Tour nach Friedberg in Hessen war. «Wo wollt ihr denn hin?», fragte er.

«Friedberg in Hessen», sagten wir.

Das gehört zu den angenehmen Seiten des Wanderlebens. Man hat mehr als ein Zuhause – oder anders gesagt: Weil man nirgendwo zu Hause ist, gibt es überall ein Ziel.

In unserem Fall das Arbeitsamt in Friedberg. Von dort verschlug es uns nach Wolferborn im Kreis Hohenstein. Hier bekam Heini einen Job als Melker, und Gerda verschwand in einer Nähmaschinenfabrik. Ich trug zum Aktivvermögen der Familie bei, indem ich einmal im Monat unserer Nachbarin Oma Sojak die Zehennägel schnitt. Dafür bekam ich eine ganze Mark, die ich stolz in den Haushalt investierte.

Es war mein dritter Schulwechsel in kürzester Zeit. Das sollte nicht ohne Auswirkung auf meine Leistungen bleiben. Ich war noch nicht bereit, mich am Standard meiner Vorbilder, sprich Eltern, zu orientieren. Dann hätte ich meinen Lebensplan schon jetzt beinahe übererfüllt. Verdammt noch mal, ich war ehrgeizig und schämte mich, weil ich einmal mehr glaubte: Heinemann ist an allem mal wieder selbst schuld.

Mein Religionslehrer tröstete mich. In der DDR gab es keinen Religionsunterricht, deshalb empfing ich seine Botschaft eins zu eins. «Sei fleißig, dann wird alles gut. Deine Schuld trägt der, der für dich am Kreuz gestorben ist.»

Hallo? Hab ich da was verpasst oder etwa wieder mal Scheiße gebaut? Ich will nicht, dass jemand meinetwegen stirbt! Schon gar nicht, wenn er so einen megamäßigen Übervater hat. Ich musste der Sache unbedingt nachgehen…

«Gibbet nich», sagte Heini, als ich ihn fragte, wie er die Sache mit Gott sehe.

Irgendwie hatte ich die Faustformel verinnerlicht: «Alles, was es gibt, kannst du auch sehen und anfassen.» Eine mehr als schlichte These für das Wesen des Seins. Im Laufe meines Lebens sollte ich ihr noch etliche Nebensätze und Fußnoten hinzuzufügen haben.

Wolferborn gehört zu den Orten, für die man im Heimatkundeunterricht keine schlechte Note bekommt, wenn man sie nicht kennt. Vielleicht kennt das Kaff nicht mal der liebe Gott? Väter sind der Boss und haben außerdem immer recht. Nur war Heini nicht unbedingt einer von den Vätern, denen man jedes Wort vergoldet. Also gibt es Gott doch!, schlussfolgerte ich. Wäre durchaus möglich. Das Sternenzelt kann man nicht im Quelle-Katalog bestellen, also muss es wer gemacht haben, der es nicht verkaufen will. Aber wer nichts verkaufen will, kann kein Mensch sein. Also… Nur: Wenn es Gott tatsächlich gibt, woher kennt er mich dann? Und wieso hat er mich lieb, wie der Pfarrer im Kindergottesdienst immer behauptet?

Versetzen wir uns doch mal kurz in die Lage des Herrn: Wenn wir auf einen Turm steigen oder einen Berg, werden die Menschen immer kleiner, wie Ameisen. Gucken wir von einem ganz hohen Berg oder aus einem Flugzeug, können wir zwar noch Straßen und Häuser erkennen, doch Menschen sehen wir keine mehr. Gott guckt ja nun von noch höher. Höher als ein Flugzeug, höher als die höchsten Wolken, höher als der Himmel. Von da oben sieht er die Erde als bunten Ball auf dem Spielplatz der Sterne, aber Details erkennt er nicht, selbst wenn er Adleraugen hätte. Ich wage mal die Vermutung: «Der Typ weiß gar nicht, dass es uns gibt, Herr Pfarrer!»

Zum Kommunionsunterricht schickten meine Eltern mich – zumindest glaube ich das – nur als kleine, späte Rache an der DDR. So, das haben die drüben jetzt davon! Für mich war die Aussicht auf eine schöne Feier Anlass genug, ein bisschen zu beten, dem Schöpfer für alles Mögliche zu danken und den Herrn und sein ganzes Team zu preisen.

Meine Mühen wurden belohnt: Ich bekam von Oma Emma aus Essen zur Kommunion ein neues Fahrrad! Dann wurde drei Tage gefeiert. Oma, Tante Asche, Hörstcken, ihr Sohn und Tante Emmi – alle waren sie da und ließen es krachen. «Familienfest» ist eine schamhafte Untertreibung. Hoffen wir mal, dass der liebe Gott nicht allzu viel davon mitbekommen hat.

Eins hatte der Allmächtige in jedem Fall übersehen (oder es interessierte ihn nicht): das Zähneputzen! Sonst hätte er sicher verhindert, dass meiner Mutter kurz darauf zwei Vorderzähne gezogen werden mussten. Wenn sie lachte, sah sie nun aus wie eine kaputte, grinsende Gartenharke.

Für Zahnersatz hatten wir kein Geld. Aber im Kuhstall wohnte ein Kriegsheimkehrer, der behauptete, vor dem Krieg Dentist gewesen zu sein. Gegen eine Flasche Schnaps verpasste er Gerda eine provisorische Zahnprothese aus ausgelutschtem, hartem Kaugummi. Das Tollste daran war: Das Zeug hielt wirklich. Zum Essen nahm sie die Mensch-ärgere-dich-nicht-Figürchen aus dem Mund. Zum Repräsentieren tat sie sie wieder rein und erstrahlte in ihrer begrenzten natürlichen Schönheit. Wir waren dem Spätheimkehrer in jeder Beziehung dankbar, denn beim Anblick der Zahnlücke hatte jeder Gesprächspartner erst mal vorsichtig meinen Vater angesehen. Der erläuterte dann stets verschmitzt: «Kleine Auseinandersetzung über das Haushaltsgeld» – was die Situation nicht wirklich entspannte.

Ein bisschen Vater

Im darauffolgenden Sommer zog unsere Karawane wieder mal eine Oase weiter. Auf Hof Georgental begann für mich eine vorübergehend glückliche Kindheit.

Diesmal bekamen wir sogar ein eigenes Häuschen auf dem Gutshof. Dort gab es einen großen Kuhstall und schöne Pferde, die der Sohn des Hauses züchtete. Mein erstes bourgeoises Missverständnis war die Annahme, «Gutshof» habe etwas mit «Gutmensch» zu tun, denn die Herrschaften waren gut zu uns. Ich durfte mit dem Trecker fahren und den Milchwagen kutschieren. Der Sohn machte für mich einen ausrangierten Volkswagen wieder flott, der in einem der Schuppen vor sich hin gammelte, und ließ mit damit auf dem weitläufigen Anwesen umherkurven. Ich fühlte mich sehr erwachsen! An meinem elften Geburtstag wünschte ich mir fünf Liter Benzin. Aber ich war auch viel im Stall bei den Tieren. Bodo, die Promenadenmischung, die den Hof bewachte und sich als Boss über Kühe und Briefträger fühlte, wurde mein erster bester Freund.

Eines Tages nahm mich Peter, der Sohn des Chefs, mit ins Herrenhaus, und zum ersten Mal sah ich eine private Bibliothek. Ganze Wände voller Bücher. Alte, neue, in allen Farben, einige in Schweinsleder gebunden. Imposant. Als ich später meine Mutter fragte, warum wir keine Bücher hatten, verstand sie meine Frage gar nicht und schüttelte nur den Kopf. Ich glaube, sie sagte so was wie «Staubfänger».

Dass mein Vater besser drauf war als sonst, merkte man daran, dass er weniger trank. Er arbeitete als Melker und verbrachte seine Freizeit bei den Pferden. Ein richtiger Circus-Flashback. Auf einmal sah ich ihn Kunststücke machen, die ich ihm nie zugetraut hätte: Schulterstand im leichten Galopp auf Basko, dem Haflinger! Dazu war nicht mal Hoppalong Cassidy in der Lage, der Kino-Cowboy, der immerhin freihändig reiten und dabei mit zwei Pistolen gleichzeitig Indianer abschießen konnte.

Eines Nachmittags hob Heini mich aufs Pferd und brachte mir an der Longe das Reiten bei. Ich war stolz wie Bolle. Wenn ich mich ungeschickt anstellte oder ängstlich war, sagte er, im Circus habe er das mit einem Schimpansen gemacht. «Was der Affe kann, kannst du auch!»

In diesen kurzen Momenten hatte er wohl selbst Spaß an seiner Vaterrolle und versuchte einiges von dem nachzuholen, was er mir die letzten elf Jahre vorenthalten hatte. Er konnte ganz cool sein und im nächsten Moment konnten wir sogar ausgelassen miteinander lachen. Vielleicht war es auch ein Versuch, sein eigenes Jugendtrauma zu verarbeiten? Welches, weiß ich nicht. Er hat nie darüber gesprochen. War er noch als Pimpf im Krieg oder nicht? Hat er irgendwelche Bombenangriffe erlebt oder gar überlebt? Hat er Familie verloren? Wie hat er Gerda kennengelernt? Waren die beiden mal verliebt oder scharf aufeinander? Etwas, das ich mir bis heute überhaupt nicht vorstellen kann, dabei wünscht man das doch jedem Paar für eine gewisse Phase ihres Lebens. Sogar seinen Eltern.

«Lass das alte Zeug. Jetzt is jetzt!», sagte er, wenn ich ihn danach fragte. Und das war das.

Vergangenheit war für den kleinen Heinemann damals noch etwas Abstraktes. Ich hatte noch keine und machte mir deshalb auch keine Gedanken über gestern. Ob und was mein Vater mal gelernt hatte, interessierte mich nicht. Für mich war er der perfekte Selfmademan, der aus Kuchenkrümeln Geld zu machen verstand. Ob auf Zeche, im Schrotthandel oder bei Schwarzmarktkungeleien mit den Zigeunern. Er konnte alles, und was er nicht konnte, das brachte er sich selbst bei. Okay, manchmal ging dabei etwas kaputt und dann sagte er: «Deutsche Wertarbeit ist scheiße!»

«Scheiße», wiederholte ich, und wir mussten beide lachen.

Ohne meinen Papa durfte ich nicht «Scheiße» sagen.

Manchmal oder vielmehr eher selten kam Familie. Dann blitzte für kurze Zeit die alte Herzlichkeit der Hömannstraße auf. Gern erinnere ich mich an einen Besuch von Tante Emmi. Sie hatte Stress mit ihrem Mann, der in Duisburg ein Binnenschiff besaß.

«Gebt mir ein Bier. Wenn ich Wasser bloß seh, muss ich schon pullern!», sagte sie, kaum dass sie im Wohnzimmer stand. Sie war laut und witzig wie früher und unterhielt die ganze Gesellschaft.

Als sie einen im Tee hatte – und das ging wie immer schnell–, drehte sie richtig auf und gab eine Zote nach der anderen von sich, von denen ich nicht mal die Hälfte verstand. Aber alle Erwachsenen brüllten und schlugen sich auf die Schenkel. Mich begeisterten ihre neuen Zähne, die sie mit der Zunge über die Lippen schieben konnte wie die ausgezogene Schublade einer Registrierkasse. Ich war stolz auf Tante Emmi, und ich hatte sie sehr lieb.

Umso verstörender erlebte ich die Kirmes im Nachbarort, bei der die Dorfjugend, die Tante Emmi eben noch mit ihren Sprüchen bestens unterhalten hatte, sie hänselte und sich über sie lustig machte. Weil sie für den Weg nach Hause Stunden brauchte. Weil sie, besoffen, wie sie war, im Wald ständig hinfiel oder gegen Bäume rannte. Als ob Alkohol etwas Witziges wäre.

Ich kann mich nicht erinnern – auch nicht später im Leben–, je einen Alkoholiker gesehen zu haben, der über sich lacht.

Bei uns zu Hause wurde der Begriff «Alkoholismus» oft mit «Geselligkeit» gleichgesetzt, war also etwas Gutes. Das galt es zu pflegen und nicht zu verteufeln. Was Geselligkeit anging, war Heini ganz vorne dabei. Er kannte alle Schnapssorten, die er je getrunken hat, auswendig. Das imponierte mir! Ich musste mich stattdessen mit Physik und Chemie herumschlagen. Da war nichts mit «gesellig». Wozu sollte ich das brauchen? Schließlich wollte ich später Polizist werden, damit ich meinen Vater aus der Kneipe holen konnte, bevor er sich wieder in die Scheiße ritt.

Meine glückliche Kindheit dauerte zwei Jahre – knapp.

Wiesbaden

1963: wieder mal umziehen. Wieder mal wusste ich nicht, warum.

Mobilität ist so eine Sache. Ein Baum steht ein Leben lang am selben Ort. Das stelle ich mir ziemlich langweilig vor. Tiere ziehen den Jahreszeiten und der Vegetation hinterher. Menschen bewegen sich wegen anderer Menschen. Entweder ziehen sie vor anderen weg oder sie ziehen irgendwo hin, wo schon viele andere sind. Egal in welche Richtung sie unterwegs sind, meistens folgen sie einer Sehnsucht, die allzu oft unerfüllt bleibt. Das schafft der Baum mit deutlich weniger Energieaufwand auch. Wenn er nicht sowieso schlauer ist und sich erst gar nicht mit Träumen beschäftigt, die niemals in Erfüllung gehen können…

Ich hatte jedenfalls keine Ahnung, welche Hoffnungen mal wieder auf der Strecke bleiben sollten. Vielleicht war ich ja gut dran und hatte gar keine.

Unser Matador war kein Lkw. Eine Umzugsfirma konnten wir uns sowieso nicht leisten. Also mussten wir wie schon unzählige Male zuvor ungefähr ein Viertel unserer Sachen wegwerfen. Klingt paradox, ist aber so: Wer nur wenig hat, der hat irre viel Zeug! Bei uns war das Fernsehen schuld. Wir guckten oft und viel – auch Werbung. Jeden Mist, der da schöngeschrien wurde, mussten wir natürlich haben. Wir wollten ja dazugehören. Gerda und Heini können übrigens heute noch nicht mit Geld umgehen.

Wir waren daran gewöhnt, von der Hand in den Mund zu leben. Ob Kohle da war oder nicht, es wurde gezockt – und gesoffen wurde sowieso immer. Von dem, was übrig blieb, kauften sie wie ferngesteuert den Schrott, der im Werbefernsehen zu sehen war. Der Besitz, den sie dabei anhäufelten, war das Gegenteil von werthaltig. Tand und Plunder, auf dem wir hinterher sogar auf dem Flohmarkt sitzenblieben.

Der Abschied von Hof Georgental, wo ich mich so wohl gefühlt hatte wie noch nie, fiel mir schwer. Nicht der erneute Schulwechsel, den war ich inzwischen gewohnt. Aber auf die Idee, mich zu fragen, kam sowieso niemand. Meine Befindlichkeit war kein Thema. Mein einziger geäußerter Wunsch war, den einäugigen Teddy einzupacken, weil er zu bedürftig war, um für sich selbst zu sorgen, und außerdem nicht wusste, wohin es ging. Genauso wenig wie ich.

Wiesbaden empfing mich mit einer trostlosen Leere. Hier gab es keine Stinkefinger-Gundula wie in Purzin. Ich vermisste Basko, das Pferd, meinen Kumpel Bodo, den Hund, ebenso den Wind in den Wipfeln, den würzigen Duft der Frühlingswiesen und meinen «Mutraum» in der Scheune. Dort war ich aus dem Dachstuhl immer fünf Meter tief ins Heu gesprungen. Meine zurückgelassenen Freunde fehlten mir auch. Bei jedem Umzug wurden es mehr.

Heini bemerkte sogar meine Trauer. «Eines Tages besuchen wir sie alle auf einen Rutsch oder laden sie zu Weihnachten zu uns ein», tröstete er mich, und ich glaubte ihm.

Unser neues Zuhause war ein zugiger Taubenschlag in einem Sägewerk, in dem Heini an der Kreissäge arbeite, während meine Mutter im Büro die Dielen schrubbte. Das bedeutete Krach den ganzen Tag. Lärmschutz war ein Fremdwort. «Solange die Säge kreischt, rollt der Rubel!», sagte mein Vater. Er verbündete sich wieder etwas enger mit seinem besten Freund, dem Alkohol, und trank bald so viel, dass ich ihn im Traum besoffen in die Sägeblätter fallen sah.

Zum Wohle der Nachbarn und Karl-Heinz Maslos wurde die Sägebude bald abgerissen, und wir kamen bei Kohlen-Schmidt unter. Hatte mein Vater nach der Holzspalterei abends wie ein gerupftes Huhn ausgesehen, kam er jetzt als geteerter Postkutschenräuber nach Hause.

Damit passte er perfekt in die von mir gerade entdeckte Welt der Comics: Piccolo-Streifenheftchen. Sigurd und Akim. Der eine ein blonder arischer Gutmensch, der mit dem singenden Schwert ebenso blonde Frauen befreite und schwarzhaarige Zicken sowie Raubritter aus Osteuropa einen Kopf kürzer machte. Der andere ein Tarzan für Arme mit seiner Freundin Rita. Rita sah so scharf aus, dass fast alle Jungen aus dem Fußballclub auf sie wichsten, obwohl der Pfarrer im Firmunterricht nicht müde wurde, uns darauf hinzuweisen, dass man «beim Onanieren sein Rückenmark mit rausspritzt». Ich wusste sowieso nicht, wozu das Rückenmark gut sein soll.

Noch ein Comic: Eines Tages hielten zwei Zeugen Jehovas meinem Vater eine miserabel gezeichnete Bildergeschichte unter die Nase und fragten, was Jesus am See Genezareth unter seinen Anhängern verteilt habe. Heini entschlüsselte das Bild unfreiwillig komisch: «Zwei Bücklinge und ’ne Zigarre!»

Zeugen Jehovas haben keinen Humor, stellte ich fest. Wieder was gelernt.

Dabei hätte ich, statt stumm daneben zu stehen, die «Hausierer des Herrn», wie wir sie nannten, gern gefragt, ob in ihrer Bibel auch ein Rezept gegen das Gefühl stehe, das in mir von Umzug zu Umzug wuchs. Es war eine Art Dauerfrösteln, wie wenn man mit Ledersohlen über einen zugefrorenen Teich eiert. Ich ließ es, weil sie wahrscheinlich darauf erwidert hätten, Jesus sei immer barfuß gegangen.

Mein Vater war jung und belastbar, dennoch ging ihm die Arbeit auf die Knochen. Zum Glück durften wir noch eine Weile bei Kohlen-Schmidt wohnen bleiben, nachdem er gekündigt hatte und wir längst wieder in Schrott unterwegs waren. Zwölf bis vierzehn Stunden am Tag on the road, im Schnitt zweihundert Kilometer, frei nach dem Dagobert-Prinzip: möglichst viel für möglichst wenig einsacken und für ganz viel verkaufen! Was bei den Touren außer Schrott so anfiel, vertickten meine Mutter und ich auf dem Flohmarkt in Heinerberg an die amerikanischen Besatzer, die in Wiesbaden stationiert waren. Wirtschaftlich ging’s uns damals gar nicht mal so schlecht. Wenn Geld nur nicht so abstrakt wäre und keine Flügel hätte…

In diese Zeit fiel auch mein erster Kaufhausdiebstahl: ein Portemonnaie und eine Beach-Boys-LP. Natürlich wurde ich erwischt. Meine Eltern hielten mir ätzende Vorträge über Ehre und Gewissen. Ausgerechnet! So erfuhr ich, was Doppelmoral ist. Weil ich mit zwölf noch nicht strafmündig war, brummte mir der Jugendrichter zehn Sozialstunden in einem Kindergarten auf. Zum Abschied schenkten mir die reizenden Kinderhüterinnen meinen ersten Schlips.

Die Mauer in Berlin war damals zwei Jahre alt und weit weg. Nicht nur bei uns meinten einige Leute, man hätte die Mauer nicht um Berlin, sondern um den Balkan bauen sollen. Dann kämen jetzt weniger Zigeuner, hieß es oft. Die Gastarbeiter aus Spanien und Italien dagegen waren politisch erwünscht, weil es im Wirtschaftswunderland Deutschland viel Arbeit gab, die den Einheimischen zu schwer und zu schmutzig war. Trotzdem wucherten die Vorurteile. Es herrschte ein Jahrmarkts-Multikulti vor, in dem die Romantik nur so durch die Pastasoße spritzte. «Kollega gut. Hauptsache, du lassen deutsche Frau in Ruhe und gehen nach Feierabend zurück nach Tomatien oder Parmesan!»

Wie entwicklungsbedürftig die Deutschen damals waren, spiegelt sich perfekt in den Top Ten von 1963:

ROCCO GRANATA Buona Notte

KYU SAKAMOTO Sukiyaki

CONNY FRANCIS Barcarole in der Nacht

JACQUELINE BOYER Mitsou

HAZY-OSTERWALD-SEXTETT Schuld war nur der Bossa Nova

GITTE Ich will ’nen Cowboy als Mann

VITTORIO Cuando calienta el sol

CONNY FROBOESS Skip-du-bi-du

RALF PAULSEN Bonanza

DIE POLYNESIER Wini-Wini

In diesem unerträglichen Fernwehschmalz nahm sich Rex Gildo wie der Gralshüter der deutschen Eiche aus!

Ich dagegen hatte mit den «dunkelhaarigen Finstermännern» immer Spaß. Sie waren freundlich zu mir, oft freundlicher als deutsche Männer, machten Faxen, tanzten, liebten das Leben und brachten mich zum Lachen.

Intermezzo: Zu Besuch in Altenessen

EIN KAMMERSPIEL IN ZWEI TAGEN

Ort: Essen, Hömannstraße

Sprechrollen: Kalle, Oma, Gerda, Heini, diverse Nachbarn

Auf der Fahrt zu unserer Familie ist uns die Zylinderkopfdichtung hochgegangen. Wir können gerade noch bis in die Hömannstraße zuckeln, dann ist Feierabend.

OMA: «Habter auf’m Wech hierher tatsächlich das Auto zerlecht, Mann, Mann…»

GERDA: «Nich das Auto, bloß ’en Motor, Oma.»

OMA: «Denn is ja nich so schlimm. Schrottplazz is ja glaich gegenüba.»

HEINI: «’n paar Zweimarkfuffzich sin dat trotzdem.»

GERDA: «Gez mach doch ma Tante Lisbeth nach, Oma!»

OMA (ziert sich): «Nee, da hab ich noch nich genuch für getrunken. Wo bleibt denn dat Schnäpsken?»

Den Schnaps bringen die Nachbarn mit, die nun zahlreich erscheinen. In kürzester Zeit ist die Bude rappelvoll. Es wird viel getrunken, und die Party kommt auf niedrigstem Niveau in Schwung.

NACHBAR 1: «Guck ma, der Heinemann is gewachsen und sieht aus wie aus’m Ei jepellt.»

GERDA: «Hab ihn bei Quelle ja von oben bis zu de Füße neu einjekleidet.»

OMA: «Unser Jung sieht so propper aus wie einer von de Krupps.»

NACHBAR 2: «Heinemann, weißte noch, wie bei uns inne Straße der Bürgersteig geteert wurde, wa? Un du und der Hörstgen de Küken von de Romanek mit Teer einjeschmiert hatten, wa? Ich seh dat noch vor mia, wie daine Mama den Teer aus daine schöne Schillerlock’n gerieben hat.»

KALLE: «Gez lass ma die ollen Kamellen. Wie seh’n denn eure Träume aus?»

NACHBAR 1: «Och, lass ma, Heinemann. Nee, Essen is, wie et is. Dat Leben wird nich grade schöner…»

OMA: «Dafür aba immer kürzer.»

NACHBAR 2: «Zum Glück!»