Mein Schmerz war allen egal - Celine Roberts - E-Book

Mein Schmerz war allen egal E-Book

Celine Roberts

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Beschreibung

"Niemand will dich" - diese Worte durchziehen die Kindheit von Celine Roberts wie ein roter Faden. Von der Mutter mit fünf Monaten weggegeben, wächst das Mädchen in einer Pflegefamilie in ärmlichen und von Gewalt geprägten Verhältnissen auf. Am Tag ihrer Erstkommunion wird Celine das erste Mal von einem Nachbarn vergewaltigt. Danach folgen viele weitere Jahre des Missbrauchs, in denen ihre Pflegemutter Männer ins Haus einlädt, damit sie sich an ihr vergehen.
Durch einen glücklichen Zufall entkommt Celine der Hölle, doch ein wirklich leichtes Leben lernt sie niemals kennen. Als sie von Irland nach England geht, um Krankenschwester zu werden, beginnt ein neuer Abschnitt. Zum ersten Mal fühlt sie sich frei und akzeptiert. Sie heiratet, bekommt zwei Söhne, die ihre ganze Freude sind. Und sie findet endlich die Kraft, nach ihren Eltern zu suchen. Doch das Schicksal holt sie immer wieder ein ...

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Dank …

Prolog Meine Erstkommunion

1 Meine Pflegefamilie

2 Allgemeingut

3 Die Befreiung

4 Gefangen, aber in Sicherheit

5 Schwierige Liebe

6 Das Wagnis, zu träumen

7 Neue Horizonte

8 … dann das Vergnügen

9 Ungebetene Gäste

10 Ein Wunder

11 Ein Ort namens Zuhause

12 Chancenverbesserung

13 Muttersorgen

14 Die Jagd beginnt

15 Meines Vaters Stimme

16 Königlicher Besuch

17 Geschwisterrivalität

18 Wie erkaufe ich mir Anerkennung?

19 Kein Grund zum Feiern

20 Der Verlust meines Lebens

21 Ein Seelengefährte und eine Hochzeit

22 Sein Abschied

23 Neue Antworten

Epilog Vorwärts, aufwärts

Über dieses Buch

»Niemand will dich« – diese Worte durchziehen die Kindheit von Celine Roberts wie ein roter Faden. Von der Mutter mit fünf Monaten weggegeben, wächst das Mädchen in einer Pflegefamilie in ärmlichen und von Gewalt geprägten Verhältnissen auf. Am Tag ihrer Erstkommunion wird Celine das erste Mal von einem Nachbarn vergewaltigt. Danach folgen viele weitere Jahre des Missbrauchs, in denen ihre Pflegemutter Männer ins Haus einlädt, damit sie sich an ihr vergehen.

Durch einen glücklichen Zufall entkommt Celine der Hölle, doch ein wirklich leichtes Leben lernt sie niemals kennen. Als sie von Irland nach England geht, um Krankenschwester zu werden, beginnt ein neuer Abschnitt. Zum ersten Mal fühlt sie sich frei und akzeptiert. Sie heiratet, bekommt zwei Söhne, die ihre ganze Freude sind. Und sie findet endlich die Kraft, nach ihren Eltern zu suchen. Doch das Schicksal holt sie immer wieder ein …

Über die Autorin

Celine Roberts schloss mit Ende Fünfzig ihren Master in Neurologie und Rehabilitation am Brookes College in Oxford ab. Nach einem Leben voller Rückschläge, fühlt sie sich endlich frei und glücklich. Sie sagt: »Mein Sohn, seine Frau und mein wunderschönes Enkelkind sind jetzt meine Familie.« Heute lebt Celine in Surrey.

Celine Roberts

Mein Schmerz war allen egal

Wie ich als Kind in die Prostitution gezwungen wurde

Aus dem Englischen von Ralph Sander

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2006, 2008 by Celine Roberts

First Published in Ireland by 2006

Published in 2008 by Ebury Press. Ebury Press is a part of the Penguin Random House group of comnpanies

Titel der Originalausgabe: »No One Wants You«

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Thomas Krämer

unter Verwendung von Motiven © Gladskikh Tatiana/shutterstock

E-Book-Erstellung:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978 – 3 – 7325 – 8929 – 6

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Widmung

Gewidmet all den stummen Überlebenden von Missbrauch aller Art, die das Gefühl haben, in der Falle zu sitzen, und die außerstande sind, ihre Stimme zu erheben und laut zu protestieren.

Dank …

… an meinen Agenten Gerry Ledwith, dessen literarisches Geschick und unendliche Geduld mein Bestreben am Leben gehalten haben, dieses Buch zu schreiben.

… an Chenile, Aoife und Julie bei Merlin, die an mich geglaubt haben und das Risiko eingegangen sind.

… an Charlotte und das Team von Ebury dafür, dass ihr meine Arbeit angenommen habt und so fürsorglich zu mir seid.

… an Peter Davin für meine PR-Fotos.

PrologMeine Erstkommunion

Meine emotionale Zukunft wurde durch ein Ereignis im Mai 1956 bestimmt, das mein Leben von Grund auf veränderte. Mit sieben Jahren sollte ich zur Erstkommunion gehen. In der Schule waren wir Kinder in den Wochen vor diesem wichtigen Ereignis alle sehr aufgeregt. Sogar meine Pflegemutter war darauf bedacht, dass ich diesen großen Tag in meinem Leben nicht versäumen würde. Wenigstens würde sie dann von anderen dabei gesehen, wie sie sich um meine religiöse Erziehung kümmerte.

Bis zu dem Tag mussten wir bestimmte neue Gedichte auswendig lernen. Was den praktischen Ablauf betraf, mussten wir uns in der Kirche einfinden und üben, wie man den Mittelgang entlangging, wie man sich vor dem Altar hinkniete und die Zunge rausstreckte, damit der Priester uns die Hostie in den Mund legen konnte.

Wir würden alle ganz fein angezogen sein.

Unter den Mädchen gab es aufgeregte Unterhaltungen darüber, welche Art von Kleid sie tragen sollten. Natürlich sollte an diesem Tag alles in Weiß gehalten sein. Aber mit Blick auf die Tatsache, dass meine Kleidung immer abgetragene Sachen aus zweiter Hand waren und ich auch noch nie eine Schuluniform besessen hatte, fragte ich meine Pflegemutter sehr zögerlich, ob ich denn wohl auch ein weißes Kleid bekommen würde. »Sicher kriegste das, Kind. Ganz sicher«, versicherte sie mir in ihrem trällernden Cork-Akzent. Ich glaubte trotzdem nicht daran. Normalerweise musste ich in einen Laden in Limerick gehen und mir da die von anderen abgelegten Sachen und Schuhe holen.

Ich hatte Angst davor, noch irgendetwas zu dem Thema zu sagen, und konnte nur beten, dass ich wirklich ein weißes Kleid bekam, damit ich mich nicht von den anderen Mädchen unterschied.

Die Erstkommunion sollte im Rahmen der Frühmesse an einem Sonntagmorgen stattfinden. Danach sollte es weitergehen in die Schule, wo wir frühstücken und anschließend ein paar Stunden auf dem Schulhof mit Spielen verbringen sollten. Auf das Frühstück freute ich mich auch, weil ich gehört hatte, dass es Speckschnitten und Würstchen geben sollte. Gegessen hatte ich das noch nie, aber schon gerochen, wenn meine Pflegemutter es zubereitet hatte, was allerdings nur selten vorkam.

Der Duft war so köstlich, dass mir das Wasser im Mund zusammenlief, wenn das Essen in der Pfanne brutzelte, aber ich bekam nie was davon ab. »Die sind Gift für dich, Kind«, bekam ich von ihr zu hören, während sie die ganze Portion runterschlang. Dazu gehörten immer ein paar Scheiben Brot, die ebenfalls in der Pfanne angebraten wurden. Wenn sie die aß, tropfte jedes Mal das Fett auf ihren üppigen Busen.

Ein paar Tage vor dem Weißen Sonntag kam der Priester unserer Pfarrei mit einem großen Karton zu uns nach Hause. Ich wurde dazugerufen, um ihn kennenzulernen. Vor meiner Pflegemutter und mir machte er den Karton auf und holte das wunderschönste, makellos weiße Kommunionkleid mitsamt Kopfschmuck heraus, das ich je gesehen hatte. Dann gab er es mir.

»Das ist von deinen Nonnentanten in Cork«, sagte er.

Ich hatte keine Ahnung, wen er mit meinen »Nonnentanten« meinte, weil ich keine anderen Nonnen kannte außer den Lehrerinnen in der Klosterschule, die ich nur unregelmäßig besuchte. Die Bemerkung war mir schlicht zu hoch. Das Kleid war brandneu. Noch nie hatte ich etwas so Schönes gesehen.

»Darf ich das behalten?«

»Das ist das Kleid für deine Erstkommunion. Es gehört dir.«

Ich war vor Freude völlig außer mir. An meinem großen Tag würde ich ein eigenes, ganz neues Kleid tragen.

Dann war der Sonntag gekommen. Ich war schon früh auf und wusch mich, so gut das irgendwie möglich war. Das Wasser, das ich aus einem Krug in eine Schüssel gießen musste, war eiskalt, und es trieben Insekten darin. Dann trocknete ich mich mit dem Lappen ab, der in der Küche an einem Nagel in der Wand hing.

Bis zur Kommunion mussten wir fasten, also gab es kein Frühstück, und meine Pflegeeltern blieben im Bett.

Einen Tag nach dem Kleid war auch noch ein Paar weiße Schuhe für mich abgegeben worden. Sie waren wirklich schön, aber für meine Füße zwei Nummern zu groß. Ich stopfte sie so mit Papier aus, dass sie mir wie angegossen passten. Das war ich von all meinen anderen Schuhen gewöhnt, die ich immer alle gebraucht bekam und die deshalb sowieso nie richtig passten.

Als ich fertig angezogen war, kam ich mir wie eine Prinzessin vor.

Mit meiner Pflegemutter ging ich zur Kirche, wo ich mich dann zu den anderen Kindern begeben durfte, die in den vorderen Reihen saßen.

Die Zeremonie lief genauso ab wie geplant, und anschließend ging es zur Schule, wo wir alle zusammen frühstückten. Als es endlich Frühstück gab, fühlte ich mich zwar wie ausgehungert, aber ich war ohnehin daran gewöhnt, mit leerem Magen zur Schule zu gehen. Wenn ich an den Tag zurückdenke, habe ich direkt wieder den herrlichen Geschmack von Speckschnitten und Würstchen im Mund. Die Nonnen hatten alles gedeckt, und der Saal sah strahlend weiß und wirklich schön aus. Auf allen Tischen lagen weiße Decken. Bis heute liebe ich das Aroma von gebratenem Speck.

Nach dem Frühstück ging es zum Spielen nach draußen auf den Schulhof. Nach einer Weile ertönte die Klingel, und jeder von uns ging zu seinen Familienangehörigen, die gekommen waren, um uns abzuholen. Ich weiß noch, wie mir durch den Kopf ging, dass alle anderen einen Vater hatten, nur ich nicht. Mir wurde gesagt, ich solle allein nach Hause gehen, weil niemand gekommen war, um mich abzuholen. Das war für mich völlig normal, weshalb es mich auch nicht störte.

Bis nach Hause waren es zwei Meilen zu gehen, und unterwegs begegneten mir ein paar Leute, die mir alle sagten, wie reizend ich aussah. Ein paar von ihnen drückten mir Geld in die Hand. Von einem bekam ich einen Sixpence, andere gaben mir einen Threepence. Ein Mann hatte eine Kamera und bat mich darum, mich neben dem Eingang zu seinem Haus hinzustellen, damit er ein Foto von mir machen konnte. Er versprach, mir einen Abzug zu schenken, wenn er das Bild entwickelt hatte. Ich war total begeistert.

Als ich zu Hause ankam, war ich rundum glücklich. Die Sonne schien, es war ein wunderschöner Tag im Mai. Ein paar von den üblichen Besuchern waren gekommen, vorwiegend erwachsene Männer. Es waren drei oder vier. Zwei von ihnen hatte ich kennengelernt, als ich auf dem Acker gearbeitet und Kartoffeln geerntet hatte. Ich arbeitete nicht gern mit ihnen, weil sie sich über mich lustig machten und weil sie mich immer piksten. Sie sagten ständig, ich würde aussehen wie ein kleiner Lausebengel. Sie erzählten, dass sie extra vorbeigekommen seien, um mir zur Erstkommunion ein Geldgeschenk zu machen. Manche wollten mir einen Sixpence oder sogar einen Shilling geben, aber als meine Pflegemutter die Münzen sah, redete sie ihnen energisch ins Gewissen, mehr zu geben.

»Ach, du elender Geizkragen. Gib ihr wenigstens einen Halfcrown«, forderte sie und sah zu, wie die Männer noch einmal ihre Taschen durchwühlten.

Nachdem sie mir das Geld gegeben hatten, das ich dann meiner Pflegemutter geben musste, wurden die Flaschen Stout auf den Tisch gestellt. Am helllichten Tag wurde dann an einem Sonntag Party gefeiert.

Ein Mann sagte mir, dass er kein Geschenk für mich mitgebracht hätte. Der Halfcrown für mich lag noch bei ihm zu Hause, aber dafür musste ich mit ihm quer über den Acker gehen, damit er mir das Geld geben konnte. Ich wollte das nicht, doch meine Pflegemutter gab ihren Segen, und ich machte mich mit dem Mann auf den Weg. Er hielt meine Hand fest, während wir die Felder überquerten, damit ich mein Kommuniongeschenk bekam.

Als wir an diesem sonnigen Nachmittag im Mai zu ihm nach Hause gingen, packte er mich auf einmal und stieß mich zu Boden. Während er mich auf die Erde drückte und eine Hand so auf meinen Mund presste, dass ich kaum noch Luft bekam, fauchte er mich an: »Du dreckiger kleiner Lausebengel, du. Das brauchst du jetzt nicht mehr.« Gleichzeitig riss er mir mein Kommunionkleid vom Leib. Bis heute werde ich von diesen Worten verfolgt.

Ich röchelte stumm, während ich versuchte, durch die Ritzen zwischen seinen rauen, stinkenden Fingern hindurch irgendwie Luft zu schnappen. Ich spürte, wie ein Stich durch meine Hand ging, und wollte vor Schmerzen schreien. Meine Hand tat unglaublich weh, und ich konnte sie nicht bewegen.

Mit seiner freien Hand riss er mir den Schlüpfer runter, dann knöpfte er seine Hose auf und schob sie ein Stück runter. Er drückte meine Beine auseinander und versuchte, mit irgendetwas Hartem in mich einzudringen. Immer wieder presste und presste er sich gegen mich. Es war die reinste Qual. Er hing da über mich gebeugt, redete vor sich hin und ächzte immer wieder. Ich versuchte, von den Schmerzen in meinem Unterleib nichts wahrzunehmen, doch er drang mit immer festeren Stößen immer weiter in mich ein. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis er endlich laut stöhnend zusammenbrach und auf mir niedersank. Er war so schwer.

Ich fühlte mich in diesem Moment innerlich tot, weil ich einfach meine Gefühle abschaltete, und ich war dem Erstickungstod nahe.

Als er wieder zu Atem gekommen war, stand er auf, knöpfte die Hose zu und ging wortlos weg. Mich ließ er einfach auf dem Boden liegen.

Ich war sieben Jahre alt.

Ich war blutverschmiert.

Als ich mich verletzt und ganz allein aufrappelte und nach Hause zurückging, zitterte ich am ganzen Leib. Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten und schaffte es nicht, mehr als ein paar Schritte zu machen, ohne gleich wieder stehen zu bleiben. Die Schmerzen waren brutal, und durch den Blutverlust fühlte ich mich schwach, und mir war schwindlig.

Ich schaffte es bis zum Teich, und da versuchte ich dann, den Dreck und das Blut und das klebrige Zeugs abzuwaschen. Ich war in Tränen aufgelöst, weil mein wunderschönes Erstkommunionkleid, das mir meine Nonnentanten geschickt hatten, völlig ruiniert war. Es war zerrissen und mit Blut und Matsch beschmiert. Ich war überzeugt, dass meine Pflegemutter mich dafür umbringen würde.

Ich taumelte weiter zum Haus und versuchte, die Tür aufzumachen, doch ich stand so unter Schock, dass ich bewusstlos zusammensank.

Irgendwann wachte ich auf und lag im Bett meiner Pflegemutter. Ich hatte keine Ahnung, wie ich dorthin gelangt war und wie lange ich erst noch bewusstlos vor der Haustür gelegen hatte. Die nächsten fünf Tage verbrachte ich dort. Die meiste Zeit über fühlte ich mich benommen, aber ich nahm sehr wohl eine schöne, große und elegant gekleidete Dame wahr, die sich mit im Zimmer aufhielt und mit allen anderen redete, nur nicht mit mir.

Meine Verletzungen wurden versorgt, und dann überließ man mich für die Genesung mir selbst. Niemand kam mit einem Wort darauf zu sprechen, was geschehen war. Ich hatte zu große Angst, um etwas zu sagen, und außerdem fühlte ich mich viel zu elend, als dass ich etwas hätte sagen können. Dann entzündeten sich die Verletzungen auch noch, und mir ging es wochenlang sehr schlecht.

Die Haut verheilte schließlich.

Aber mein Verstand erholte sich niemals davon.

An diesem Tag, am Tag meiner ersten heiligen Kommunion, wurde mein Körper auf das Schwerste verletzt. Alle anderen Mädchen, die an diesem Tag im Jahr 1956 ihre Erstkommunion gehabt hatten, waren von ihren Eltern und Verwandten beschenkt worden, von Menschen, die sie liebten. Und was hatte ich an diesem so besonderen Tag geschenkt bekommen? Ich war von einem Ungeheuer brutal vergewaltigt worden, das mich mit gebrochenem Handgelenk und drei gebrochenen Fingern auf einem Acker zurückgelassen hatte. Ich werde nie diesen Tag vergessen, der eigentlich einer der schönsten meines Lebens hätte werden sollen, nur dass er das genaue Gegenteil geworden war.

Das Kommunionkleid habe ich danach nie wiedergesehen.

Es muss viele Monate später gewesen sein, als meine Pflegemutter mit mir nach der Sonntagsmesse aus der Klimallock Church kam. Auf dem Platz davor wimmelte es von Menschen, aber ich sah, wie sie einen Mann am Arm packte. Als er sich umdrehte und sah, wer ihn da festhielt, versuchte er zu entkommen, aber sie hielt ihn nur noch fester. Ich stellte mich hinter meine Pflegemutter und klammerte mich an ihrem langen Wollmantel fest, als sollte der mich beschützen. Dann sah ich um meine Pflegemutter herum und starrte den Mann voller Entsetzen an.

Es war der Mann, der mich vergewaltigt hatte.

»Du hast diesem kleinen Mädchen nie das Geld gegeben, das du ihm zur Erstkommunion versprochen hattest.«

»Ich … ähm, ich hab im Moment kein Kleingeld. Meine letzten Kupfermünzen hab ich in den Klingelbeutel geworfen.«

»Sie will kein Kleingeld von dir!«, herrschte sie ihn giftig an und hielt seinen Arm noch fester umklammert.

»Ich hab nur ein Pfund dabei«, gab er zurück und verzog schmerzhaft das Gesicht. »Ich wollte später noch ein paar Bier trinken.«

»Ein Pfund passt doch gut«, sagte sie und beugte sich bedrohlich über den Mann.

»Ach, scheiß drauf. Hier ist das Geld«, knurrte er wutentbrannt, während er ihr den zerknitterten Geldschein überließ und sich dann endlich aus ihrem unerbittlichen Griff befreite. Er tauchte gleich darauf in der Menge unter, während sie die Finger um das Geld schloss und zufrieden lächelte.

»Lass uns nach Hause gehen, Kind«, sagte sie zu mir und ging los. Ich blieb dicht hinter ihr.

Das war der Tag, an dem ich für eine Pfundnote verkauft wurde.

1Meine Pflegefamilie

Geboren wurde ich am 14. November 1948 gegen 18 Uhr im Sacred Heart Home for Unmarried Mothers im irischen Bessboro, Blackrock, County Cork. Ich kam drei Wochen zu früh zur Welt und wog bei meiner Geburt rund 2200 Gramm. Registriert wurde ich unter dem Namen Celine Clifford.

Wenn sich herausstellte, dass eine junge unverheiratete Frau im Irland der Vierzigerjahre schwanger war, konnte sie unmöglich ihr normales Leben weiterleben – das verhinderte schon die Kultur jener Zeit. Eine Schwangerschaft galt für jede junge ledige Frau als Schande. Für eine anständige katholische Familie kam ein solches Ereignis einer so tiefen Schmach gleich, dass man die eigene Tochter vor die Tür setzte, wollte man nicht bei allen anderen in Ungnade fallen.

Im Land der Heiligen und der Gelehrten, als das Irland galt, gab es für solche Fälle Unterkünfte für ledige Schwangere. In diesen Einrichtungen blieben die Frauen bis zur Niederkunft, danach wurden die Kinder entweder in Pflegefamilien gegeben oder adoptiert, wobei es sich bei den Adoptiveltern meistens um amerikanische Familien handelte. Anschließend konnte die betreffende Frau wieder in die irische Gesellschaft zurückkehren, als sei gar nichts geschehen. Allerdings konnte die ledige junge Frau normalerweise nicht wieder den Platz einnehmen, den sie zuvor innegehabt hatte. Diese Heime für Schwangere waren aber weniger ein vorübergehendes zweites Zuhause, sondern glichen mehr einem Gefängnis. Für den Orden der Nonnen, die auch dort lebten, stellten die Unterbringung der Frauen und die Betreuung der Neugeborenen eine willkommene Einnahmequelle dar.

In meinem Fall zahlte die Cork Corporation der Einrichtung eine Aufwandsentschädigung von einem Pfund, zwei Shilling und sechs Sixpence pro Baby und pro Woche. Bessboro gehörte den Nonnen des englischen Order of the Sacred Heart of Jesus and Mary. Die meisten irischen Frauen wandten sich an diesen Orden, der voller Stolz prahlte, dass man sich »sehr für das spirituelle Leben der jungen Frauen und für die Zukunft ihrer Babys« engagierte. Ich war eines dieser Babys, aber für meine Zukunft hat sich dort niemand zuständig gefühlt.

Die Aufnahme in diese Einrichtung wurde üblicherweise durch den Geistlichen arrangiert, an den sich die Mutter einer Schwangeren wandte. Hatten sich die Türen der Einrichtung erst einmal hinter der jungen Frau geschlossen, durfte sie erst wieder von dort weggehen, wenn diverse strenge Auflagen erfüllt worden waren. Nach der Geburt des Kindes musste jede Frau noch drei Jahre dort bleiben und beim Unterhalt des Hauses und bei der Bewirtschaftung des Bauernhofs mitarbeiten, der den Orden mit allem Notwendigen versorgte. In dieser Zeit wurden die Babys zwölf Monate lang gestillt. Nach drei Jahren wurden die Babys dann in Pflegefamilien, Waisenhäuser und an Adoptiveltern abgegeben.

Blieb ein Baby die vollen drei Jahre in der Einrichtung, war das für den Orden ein einträgliches Geschäft. War eine junge Frau in der Lage, den Nonnen hundert Pfund zu zahlen – was zu dieser Zeit ein enormer Betrag war –, konnte sie zehn Tage nach der Geburt das Haus verlassen. Ihr Baby wurde dann sofort zur Adoption freigegeben.

Wahlweise konnte sich eine Frau auch freikaufen, wenn ihre Familie eine Summe von fünfzig Pfund aufbrachte. Dann wurde das Baby zu einer Pflegefamilie in der Stadt weggegeben, und die Frau konnte nach Hause zurückkehren. Es war jedoch grundsätzlich nicht möglich, dass eine Frau ihr Neugeborenes nach Hause mitnahm, auch wenn ihre Familie noch so viel zu zahlen bereit gewesen wäre.

Als ich Nachforschungen über meine Vergangenheit anstellte, erzählte mir eine Nonne, meine Mutter habe mich in ihren Armen gehalten, als sie am 18. April 1949 die Einrichtung verließ. Das widerspricht aber dem Grundsatz, dass keine Mutter ihr Kind mitnehmen durfte. Daher muss ich die Aussage so hinnehmen, auch wenn ich nicht weiß, inwieweit sie der Wahrheit entspricht. Es ist sogar heute noch äußerst schwierig, von diesen Einrichtungen irgendwelche belegbaren Angaben zu erhalten.

Zu der Zeit wäre ich demnach fast fünf Monate alt gewesen. Ich habe keine Ahnung, wer dafür bezahlt haben könnte, damit meine Mutter in Freiheit entlassen wurde. Am gleichen Tag wurde ich in eine Pflegefamilie gegeben. An jenem Tag wurde ich von meiner Mutter, die mich fünf Monate lang gestillt hatte, an fremde Leute übergeben.

Als sie wegging, schloss sie mich für immer aus ihrem Herzen aus. Jedes Baby lächelt glücklich, wenn es von seiner Mutter in den Armen gehalten wird. Ich frage mich, ob sich meine Mutter jemals mit mir verbunden gefühlt hat.

Wie der Zufall es wollte, brachte an diesem 14. November 1948 eine andere junge Frau ihr erstes Kind zur Welt, wenngleich unter etwas besseren Bedingungen – im Buckingham Palace in London. Der Name der jungen Frau war Princess Elizabeth Windsor, ihren neugeborenen Sohn nannte sie Charles Philip Arthur George.

Zwei Menschen kamen am gleichen Tag zur Welt, aber das war auch die einzige Gemeinsamkeit, denn grundverschiedener hätten beide wohl kaum aufwachsen können. Er in einer Welt voller Privilegien, ich in einer Welt voller Entbehrungen.

Ein extrem armes, kinderloses und altes Ehepaar, das in einer entlegenen Gegend im County Limerick lebte, nahm mich zur Pflege auf. In die Wege geleitet wurde das durch den Limerick County Council, da meine Pflegeeltern schon früher in der Richtung aktiv gewesen waren. Ich hatte einen Pflegebruder, der mit im Haus lebte; als ich dort ankam, hatte ich keine Ahnung, wie alt er war. Ich wusste nur, es erging ihm dort ganz übel. Mein Pflegevater prügelte immer wieder auf ihn ein, obwohl es keinen nachvollziehbaren Grund dafür gab. Außerdem wurde er tagelang in einem Zimmer eingesperrt. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich versuchte, Brot für ihn beiseitezuschaffen und es ihm zu bringen, weil er regelrecht ausgehungert wurde. Er tat mir so schrecklich leid. Als ich etwas älter war, sah ich ihn nicht mehr so oft, weil er arbeiten ging.

Wir lebten in einem Gebäude, das damals noch als Cottage bezeichnet wurde, auf das aber die Bezeichnung baufälliger Schuppen besser zutraf. Es gab dort zwei Zimmer: ein großes, das als Wohnzimmer diente, und am anderen Ende dieses Raums ein kleines Zimmer, das als Schlafzimmer benutzt wurde. Es gab noch eine winzige Veranda auf der Rückseite des Hauses, wo Torf für den Ofen gelagert wurde. Über diese Veranda gelangte man auch in den Garten dahinter. Das Dach des Cottages war mit rauen Schieferziegeln gedeckt, und von drinnen konnte man die grob behauenen Dachbalken sowie die von ihnen an Ort und Stelle gehaltenen Tonklumpen sehen, die als Lärmschutz vor dem monotonen Dröhnen dienten, das durch den unablässigen irischen Regen erzeugt wurde. Im großen Zimmer gab es einen großzügig bemessenen Ofen, um den herum sich fast den ganzen Tag und den ganzen Abend über das Familienleben abspielte. Das Haus stand auf ungefähr vierzig Ar Land.

Später fand ich heraus, dass ein katholischer Priester, eine Nonne und ein Arzt – allesamt enge Freunde meiner Großmutter mütterlicherseits – sich dafür eingesetzt hatten, dass ich bei dieser speziellen Pflegefamilie unterkam. Ich wurde nun Celine O'Brien genannt.

Als ich zu dieser Familie kam, war meine Pflegemutter bereits deutlich über sechzig, ihr Ehemann war bestimmt zehn Jahre älter. Für ein fünf Monate altes Baby waren die beiden ein denkbar ungeeignetes Paar. Aber das kümmerte niemanden. Hätte die Möglichkeit einer Abtreibung bestanden, wäre ich dafür der Spitzenkandidat gewesen. Niemand wollte mich in seinem Leben haben. Lebend stellte ich für alle nur eine Peinlichkeit dar.

Ich war noch sehr jung, als meine Pflegemutter mir sagte, dass man ihr dreihundert Pfund gegeben hatte, damit meine Identität nicht bekannt wurde. Im Jahr 1949 waren dreihundert Pfund eine große Summe, mit der man sich ein ziemlich weitreichendes Schweigen erkaufen konnte. Der Grund für diesen Wunsch nach Diskretion wurde mir später anvertraut, als ich erfuhr, dass mein leiblicher Vater zwei Schwestern hatte, die beide als Nonnen in einem Kloster lebten. Da das Bekanntwerden meiner Existenz für diese sehr wichtige Familie, aber auch für die Nonnen und die katholische Kirche einen schweren Skandal nach sich gezogen hätte, war mein Schicksal vom ersten Tag an besiegelt.

Eine meiner frühesten Erinnerungen ist der Spruch: »Niemand will dich.« Es kam mir immer so vor, dass diese Feststellung bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr in so gut wie jede Unterhaltung mit meinen Pflegeeltern einfloss. Ich hatte den Inhalt dieser Worte schon früh begriffen, und ich glaubte auch, dass es stimmen musste. Ich dachte, was Erwachsene sagen, ist immer die Wahrheit. Daher hielt ich es auch für ganz normal, dass mich niemand haben wollte. Mir war bloß nie der Grund dafür klar.

Deshalb hatte ich immer Angst.

Meine Pflegemutter hatte im Haus das Sagen. Von der Statur her war sie von mittlerer Größe, und sie sah aus wie ein Mann. Sie war stark übergewichtig, und sie hatte ein Doppelkinn, das auf ihrer Brust zu ruhen schien. Wenn sie redete, schaukelte das Kinn wie Wackelpudding hin und her. Sie ging sogar wie ein Mann.

Zu meinen frühesten Erinnerungen gehört, dass ich mich versteckte, sobald ich sie kommen hörte. Ich konnte ihr Eintreffen immer vorausahnen, da ich sie stets hörte, lange bevor ich sie zu Gesicht bekam. War sie guter Laune, dann flötete oder summte sie eine fröhliche Melodie. Bei schlechter Laune gab sie keinen Ton von sich. Wenn sie ging, dann traf ihre Hacke zuerst auf dem Boden auf, die Sohle folgte erstaunlich schnell. Für mich hörte es sich immer wie ein energisches Klatschen an. Sie ging immer zügig, immer mit schnellen, kurzen Schritten, als sei sie in Eile, weil sie jemandem etwas Wichtiges zu erzählen hatte.

Sobald ich sie flöten oder summen hörte oder sobald ich das schnelle »Schlapp-schlapp« ihrer Schuhe hörte, lief es mir eiskalt den Rücken runter.

Sie war keine intelligente Frau, aber sie schlug sich mit Raffinesse durchs Leben. Als unsere Nachbarn – ein altes Geschwisterpaar – starben, schickte sie mich zu deren Haus, weil ich ihnen die Kissen vom Bett klauen sollte. Ich fürchtete mich davor, in das Haus zu gehen, aber noch viel mehr machte mir die Vorstellung Angst, was alles passieren könnte, wenn ich nicht mit den Kissen zurückkäme. Also holte ich die Kissen und gab sie meiner Pflegemutter, die sie packte und aufriss. Sie dachte, die beiden hätten in den Kissen ihr Geld versteckt, aber das war nicht der Fall. Daraufhin gab sie mir eine Ohrfeige.

Angeblich ist es die Vernunft, die die Menschen von der Tierwelt unterscheidet. Aber meine Pflegemutter konnte in keiner Hinsicht als vernünftig beschrieben werden. Ich glaube nicht, dass sie auch nur eine graue Zelle besaß. Sie konnte nicht denken und war nur in der Lage, auf eine Situation zu reagieren. Aber gerade weil sie ein so dummer Mensch war, hielt sie sich für intelligent.

Sie war auch eine Tyrannin, und sie merkte anderen Leuten immer an, an welchen Stellen sie verwundbar waren. Zu Hause schikanierte sie immer uns alle, doch sogar wenn sie einem völlig fremden Menschen gegenüberstand, wusste sie auf Anhieb, ob er sich von ihr schikanieren lassen würde oder nicht. Trat jemand selbstsicher und bestimmt auf, zeigte sie sich sehr höflich und über alle Maßen hilfsbereit. Ich glaube, diese Leute hielten sie für eine Arschkriecherin, aber sie gaben sich mit ihr ab, weil sie für diese Leute von Nutzen sein konnte.

Da sie keine Schulbildung erfahren hatte, war sie praktisch eine Analphabetin. Ich sah sie nie lesen, weder ein Buch noch eine Zeitung. Das Einzige, was sie wirklich beherrschte, war Geld zu zählen. Sie buckelte jedoch vor nichts und niemandem, außer sie war der Ansicht, dass ihr Gegenüber »Schulweisheit« besaß. Hielt sie jemanden für gebildet, machte sie einen Bogen um denjenigen. Sie nahm es weder mit Lehrern noch Bankern auf, weil sie wusste, dass die ihr überlegen waren. Der Priester der örtlichen Pfarrei stellte für sie ebenfalls eine Herausforderung dar, doch auch wenn er gebildet war, hatte er in einem gewissen Maß Angst vor ihr. Sie war eine dickleibige Frau mit einer lauten Stimme, vor deren Einsatz sie nicht zurückschreckte. Sie hatte ein Problem mit der Größe eines Menschen. Ihr Ehemann war von schmächtiger Statur, und auch der Priester war kein Riese. Sie konnte beim besten Willen nicht verstehen, wie ein Mann, der kleiner als sie war, intelligenter als sie sein sollte. Das war für sie unvorstellbar und bot oft Anlass für Streitigkeiten. Wenn sie ihre Version von einem Ereignis erzählen wollte oder wenn sie wollte, dass etwas erledigt wurde, und wenn mein Pflegevater eine Frage dazu hatte oder etwas anderes vorschlug, führte das normalerweise dazu, dass er von ihr einen Schlag gegen den Kopf bekam. Gleich darauf folgte dann von ihr eine abfällige Bemerkung: »Ach, um Himmels willen, Junge! Du bist doch nur ein kleiner Trottel, wie willst du von irgendetwas eine Ahnung haben?«

Sie redete niemanden jemals mit seinem Namen an, zu jedem sagte sie »Junge«, ganz ohne Rücksicht auf das Geschlecht.

»Komm her, Junge.«

»Hör gut zu, Junge. Du tust, was ich dir sage, sonst setzt es was.«

»Das ist doch alles Stuss, Junge.«

»Es ist zehn nach sieben, Junge. Du solltest schon seit ’ner Ewigkeit auf sein.«

Sie hatte einen Vorteil, was den Priester anging: Sie wusste über die ganze örtliche Sexszene Bescheid. Alles, was in der Gegend geschah und in irgendeiner Weise mit Sex zu tun hatte, war ihr bekannt. Die Personen, die in diese Ereignisse verstrickt waren, wurden von ihr förmlich angezogen. Ich weiß noch, dass ich noch sehr klein war, als ich einmal in dem kleineren Zimmer stand und das Bett meiner Pflegemutter anstarrte, das auf mich den Eindruck machte, als würde es sich bewegen. Sie sagte dazu bloß, dass sich »Füchse ins Bett geschlichen« hatten. Der Priester bediente sich ihres Wissens, um an Informationen über bestimmte Personen zu gelangen. Es war eine Frage der Kontrolle über andere, denn solange er wusste, wer es mit wem trieb, war er bereit, meine Pflegemutter so agieren zu lassen, wie sie es für richtig hielt.

Außerdem wusste sie genau, wo der Priester angreifbar war. Wenn sie sich mit jemandem unterhielt und der Priester kam des Weges, sagte sie laut genug, dass es jeder mitbekam: »Rücken an die Wand, Jungs, der Bus aus Mallow fährt ein.« Auf diese Weise ließ sie den Priester wissen, dass sie seiner Homosexualität auf die Schliche gekommen war.

Jemand fragte sie mal, was sie damit meinte, woraufhin sie erklärte: »All die gebildeten Jungs in Mallow sind schwul, musst du wissen.«

So wie sie das Ganze verstand, verhielt sich jeder Mann, der gebildet war und der für die Kirche arbeitete, als wäre er homosexuell, weil die immer »gewisse Allüren« an sich hatten.

Ich sollte noch herausfinden, dass sie auch noch unbarmherzig und bösartig war.

Mein Pflegevater war ein mürrischer kleiner Mann. Hin und wieder arbeitete er auf den umliegenden Bauernhöfen. Er stand völlig unter dem Pantoffel seiner Frau und war ebenfalls ein Analphabet. Sein Status im Leben bestimmte sich völlig nach dem, was seine Frau ihm zugestand. Als ich älter war, begann ich zu vermuten, dass er sich deshalb so oft wie möglich betrank.

Wenn er betrunken war, erwachte in ihm ein falscher Mut, und er versuchte jeden zu verprügeln, der schwächer war als er selbst. In diesem Teil des Landes war es üblich, dass man einen Blasebalg im Haus hatte, mit dem das Feuer im Ofen angefacht wurde. An diesem Balg befand sich ein Riemen, den mein Pflegevater benutzte, um mich damit zu schlagen, sobald er zu viel getrunken hatte. Nachdem er seiner Wut freien Lauf gelassen hatte, ging er meistens geradewegs ins Bett und schlief ein.

So weit ich zurückdenken kann, habe ich mich in diesem Haus immer gefürchtet. Zuerst waren es nur kleine Dinge gewesen, zum Beispiel, wenn die Gemeindeschwester vorbeikam und mir Vitamintabletten brachte. Dann wurde ich angewiesen, ihr zu sagen, dass ich in meinem eigenen Zimmer schlief. Es behagte mir nicht, der Schwester Lügen zu erzählen, denn in Wahrheit hatte ich kein eigenes Zimmer, ja, nicht mal ein eigenes richtiges Bett. Meine Pflegeeltern schliefen in dem kleinen, separaten Zimmer.

Mein Bett oder besser gesagt meine Schlafstätte war vom ersten Tag an eine alte Teekiste gewesen, die in einer Ecke des angebauten Raums auf der rückwärtigen Seite des Hauses platziert worden war. Sie bestand aus leichtem Balsaholz und war gut sechzig Zentimeter breit und fünfundsiebzig Zentimeter lang. Vor der Kiste lag ein Holzklotz, der ungefähr dreißig Zentimeter hoch war. Als ich alt genug war, um zu gehen und zu rennen, konnte ich einen Fuß auf den Klotz setzen, Schwung holen und einen Purzelbaum schlagen, um dann auf dem weichen Torfboden zu landen.

Wenn ich in meiner Teekiste lag, ließ man mich normalerweise in Ruhe, weil man annahm, ich würde schlafen. Selbst wenn es nicht der Fall, tat ich so, als wäre ich eingeschlafen.

Aus den Augen, aus dem Sinn.

Unsere Familie hatte einen kleinen Hund namens Spot. Er war eine Art Jack Russell Terrier. Er war süß. Ich teilte meine Teekiste mit ihm, und wir beide wurden gute Freunde. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, ob ich ihn in meinem Bett schlafen ließ oder ob er mich in seinem Hundekörbchen schlafen ließ.

In diesem Haus teilten wir ein sehr ähnliches Schicksal. Wenn sich jemand über ihn ärgerte oder wenn er im Weg stand, wurde er getreten oder mit einem Stock oder irgendetwas anderem geschlagen, was gerade greifbar war. Benahm ich mich nicht richtig oder stand ich jemandem im Weg, erging es mir ganz genauso.

Wenn ich morgens aufwachte, lag Spot meistens bei mir in unserer Kiste. Praktisch immer, wenn mir gesagt wurde, ich solle ins Bett gehen, machte ich mich auf den Weg zu meiner Kiste, nahm meine Decke mit, kletterte hinein und legte mich schlafen. Das war für mich das Normalste auf der Welt. Wenn ich nicht in die Kiste ging, wurde ich einfach da liegen gelassen, wo ich eingeschlafen war.

Essen schien immer knapp bemessen zu sein, und ich hatte immer Hunger. Zum Frühstück gab es jeden Morgen Porridge. Wenn sich meine Pflegemutter am Abend zuvor betrunken hatte, gab es am Morgen kein Frühstück. War sie nüchtern, dann war eine Schüssel mit kaltem Porridge alles, was es für den Tag gab, denn das Feuer war meistens über Nacht erloschen und hätte erst neu entfacht werden müssen, um am Morgen Wasser oder Milch zu erwärmen. Ich aß mein Porridge an jedem Morgen, an dem es auf dem Tisch stand. Aber es gab immer wieder mal andere Sorten Porridge, und manchmal war es eine ungenießbare gelbe Pampe, die nicht mal Spot anrühren wollte. Wenn weder ich noch der Hund das essen wollten, was mir hingestellt worden war, wurden wir beide zur Strafe aus dem Haus geschickt.

Ich hatte in diesem Haushalt den gleichen Status wie Spot.

Hin und wieder verbrachten Spot und ich einen langen regnerischen oder eiskalten Tag oder eine finstere Nacht draußen, immer abhängig davon, wie gnädig die Elemente uns gegenüber eingestellt waren. Wenn wir nach Anbruch der Nacht aus dem Haus geschickt wurden, zogen wir uns in einen kleinen, windschiefen Schuppen zurück, der gut zwanzig Meter vom Haus entfernt war. Der Schuppen war auch das Zuhause von etwa zehn Hennen. In dem Schuppen wurden auch Heu und Stroh aufbewahrt, und wenn ich mich mit Spot ins Heu legte, dann konnten wir die Nacht im Warmen und Trockenen verbringen. Die Hennen schliefen hoch über uns auf ihren Sitzstangen, sie protestierten nie gegen unsere Anwesenheit. Vermutlich dachten sie, dass wir ihre Bewacher waren.

An einem Morgen sah uns ein Nachbar aus dem Hühnerstall kommen. Ich sah ihm an, dass er sich darüber sehr wunderte. Ehe er jedoch eine Frage stellen konnte, kam meine Pflegemutter nach draußen und rief ihm im Spaß zu: »Wir lassen sie und den Hund da drin übernachten, damit die Hennen vor Füchsen sicher sind.«

Da war ich noch keine vier Jahre alt.

Ich kann mich daran erinnern, dass ich den Steinboden schrubbte und darauf achtete, dass das Feuer im Ofen brannte. Wenn das Wasser im Kessel nicht kochen wollte, geriet ich in Panik, weil ich wusste, es ist meine Schuld. Wenn die Hennen nicht zeitig ihre Eier legten, wusste ich nicht, was ich tun sollte. Einmal, da war ich sechs, ging mir ein Ei kaputt. Ich wagte es nicht, ihnen ein Wort davon zu sagen. Ich wusste nur, ich musste von irgendwoher ein Ei beschaffen. Also bin ich über die Felder gerannt und habe eines bei den Nachbarn gestohlen. Ich hatte solche Angst, dass man mich erwischen würde, aber das passierte zum Glück nicht.

Das Abendessen bestand immer aus gekochtem Speck, Kohl und Kartoffeln. Irgendwie lernte ich, das alles zuzubereiten, auch wenn ich mich daran nicht erinnern kann. Ich wurde zum Laden geschickt, um ein Viertelpfund Speck und vielleicht noch vier Würstchen zu holen. Wenn ich Glück hatte, bekam ich die Kruste zu essen. Es gab nur einen Laden in der Stadt, in dem sie Geld ausgab, und dahin musste ich gehen, um das Essen zu holen.

Im Haus meiner Pflegeeltern gab es kein fließendes Wasser, keinen Strom, und natürlich waren die sanitären Bedingungen eine Katastrophe. Mir wurde nie beigebracht, wie ich mich waschen musste. Ich war immer dreckig, aber Sauberkeit war für meine Pflegemutter kein Thema – außer sonntags. An einem Sonntagmorgen tauchte wie aus dem Nichts eine große Schüssel mit heißem Wasser im Haus auf. Meine Pflegemutter wusch sich mit dem Wasser das Gesicht und noch ein paar andere Stellen an ihrem Körper. Mein Pflegevater benutzte anschließend dieses Wasser, um sich zu rasieren, was er nur einmal in der Woche machte.

Manchmal, also vielleicht einmal im Monat, packte mich meine Pflegemutter an den Haaren und sagte etwas in der Art wie: »Komm her, du dreckige kleine Fotze, ich werde dich sauber schrubben.« Dann wurde mein Gesicht in das ausgiebig benutzte Wasser getaucht und gründlich abgewischt. Das war das gesamte Ausmaß meiner persönlichen Hygiene, als ich zur Familie O'Brien gehörte.

Nach diesem Ritual am Sonntagmorgen gingen wir gemeinsam zur zwei Meilen entfernten katholischen Kirche, um an der Messe teilzunehmen. Ganz gleich, was sich die Woche über ereignet hatte, am Sonntagmorgen stand der Besuch des Gottesdienstes auf dem Programm, selbst wenn es stürmte und hagelte. Die Kirche gab vor, dass der Besuch am Sonntag eine Pflicht war, weil man ansonsten eine Todsünde beging. Wenn jemand starb, der kurz zuvor noch eine Todsünde begangen hatte, dann wurde seine Seele auf direktem Weg in die Hölle geschickt.

Um meine religiöse Bildung wurde sich jeden Sonntag gekümmert, meine übrige Bildung wurde zum Thema, als ich vier Jahre alt war. Ab da ging ich zur Schule. An diesem Tag trug ich einen roten Pullover, einen karierten Rock und braune Stiefel. Alles war gebraucht und uns von einer wohltätigen Organisation mit dem Namen St Vincent de Paul Charitable Trust überlassen worden.

Vom ersten Tag an liebte ich die Schule. Das Erste, was mir auffiel, waren die vielen Kinder, die alle an diesem Ort zusammenkamen. Vor meinem ersten Schultag hatte ich zu anderen Kindern keinen Kontakt gehabt. Sonntags beim Gottesdienst hatte ich Kinder gesehen und auch bei den gelegentlichen Besuchen in der benachbarten Stadt. Aber ich war noch nie Kindern in meinem Alter begegnet.

Am Anfang war ich schüchtern, und ich fühlte mich auch anders als die anderen, die fast alle eine Schuluniform trugen. Außer mir gab es noch fünf Kinder, die keine Uniform hatten. Einmal bat ich meine Pflegemutter, auch eine solche Uniform tragen zu dürfen, doch sie erwiderte, dass man sie nicht dafür bezahlte, dass sie mich bei sich leben ließ. Wie wollte ich da erwarten, dass sie Geld ausgibt, um mich zu ernähren und auch noch einzukleiden?

Die Schule brachte unerwartete Freude mit sich. Jedes Mal zur Mittagszeit kam eine Nonne namens Schwester Claude zu uns und nahm uns sechs Kinder, die keine Schuluniform besaßen, mit in die rückwärtige Küche des Klosters. Dort bekamen wir heißen Kakao, dazu Brot mit Butter oder Brot mit Marmelade. Ich war so froh, etwas Essbares vorgesetzt zu bekommen, dass es mir in diesem Moment gar nichts ausmachte, nicht zu denen zu gehören, die eine Schuluniform trugen. Ich kippte den Kakao hinunter, und dann verputzte ich im Eiltempo so viel Brot, wie ich nur kriegen konnte. Bevor ich zur Schule gegangen war, hatte ich noch nie Marmelade zu essen bekommen. Wenn also Marmeladenbrot auf dem Speiseplan stand, war das für mich was ganz Besonderes. Ich dachte oft darüber nach, dass ich gern wie eines von den Kindern gewesen wäre, die ihre Flasche Kakao von zu Hause mitbrachten und in die Nähe des Ofens stellten, damit der Inhalt warm blieb. Ich hatte nie so eine Flasche.

Zwar freundete ich mich mit den anderen Mädchen an, die so wie ich auch keine Uniform trugen. Aber die übrigen Mädchen gaben mir schon zu verstehen, dass ich nicht so war wie sie. Ich brauchte nicht lange, um zu begreifen, worin wir uns unterschieden. So gut wie alle hatten sie etwas, das ich nicht hatte: Eltern. Praktisch alle Kinder hatten Mutter und Vater.

Ich dachte zwar, dass ich auch Eltern hatte, doch dann begannen die anderen mich aufzuziehen, weil ich weder Mutter noch Vater hatte. Sie nannten mich einen »dreckigen Bastard«.

Das Wort »Bastard« hatten meine Pflegeeltern und ihre Freunde auch schon benutzt, wenn sie über mich redeten, aber ich wusste nicht, was es bedeutete. Ich dachte, es würde etwas Gutes bedeuten, bis die anderen Kinder mir erklärten, was damit tatsächlich gemeint war. In dem Moment beschloss ich, irgendwie und irgendwann zum »Nicht-Bastard« zu werden, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie ich das hinkriegen sollte.

Da ich mich nicht wusch, roch ich nicht sehr angenehm. Ich wurde deswegen oft von den anderen Kindern gehänselt, die mich mit allen möglichen gemeinen Spitznamen beschimpften. Aber eines Tages mitten im Unterricht hörte unsere Lehrerin – eine Nonne – mitten im Satz auf zu reden, kam zu meinem Platz, packte mich am Ohr und zog mich hinter sich her bis ans Lehrerpult. Da stand ich vor all meinen Klassenkameraden, und sie zeigte ihnen, wie dreckig ich tatsächlich war. Als sie damit fertig war, stand ich in Tränen aufgelöst da. Sie schickte mich aus dem Klassenzimmer und von der Schule. Ich sollte erst zurückkommen, wenn ich gelernt hatte, wie ich mich richtig wasche. Für mich bedeutete das, dass mich sogar die Nonne für einen »dreckigen Bastard« hielt, was somit auch stimmen musste. Als ich zu Hause ankam, wiederholte ich vor meiner Pflegemutter die Aufforderung der Nonne. Gleich darauf packte sie mich an den Haaren und schleifte mich aus dem Haus. Von einem Schwall übelster Flüche begleitet gab sie mir zu verstehen, wenn ich mich so unbedingt waschen wollte, dann sollte ich das in dem verdreckten Tümpel neben dem Haus machen.

Bis heute achte ich extrem bewusst auf meine Körperhygiene. Zum Beispiel wasche ich mir die Hände jeden Tag so oft, dass einige Leute bereits bemerkt haben, ich hätte wohl irgendwelche Schuldgefühle. Ich bestreite das zwar permanent, insgeheim denke ich allerdings: »Wenn ihr wüsstet.«

An manchen Abenden wurde ich nach der Rückkehr aus der Schule von meiner Pflegemutter zu einem benachbarten Bauernhof – »zu den Bauern«, wie sie sie nannte – geschickt, um von dort Milch zu holen. Um dort hinzukommen, musste ich das Feld überqueren, auf dem der Bauer Kohl, Kartoffeln, Zwiebeln und anderes für den Eigenverbrauch anbaute. Meine Pflegemutter verlangte so gut wie immer von mir, dass ich auf dem Rückweg Kohl klauen sollte. Nach einer Weile hatte ich Angst davor, zum Milchholen geschickt zu werden. Manchmal war der Kohl so fest im Untergrund verwurzelt, dass ich ihn nicht aus der Erde ziehen konnte. Ich schaffte es nur, ein paar Blätter abzureißen, aber selbst diese Blätter waren kaum größer als meine Hand. Wenn ich damit zu Hause ankam, wurde ich von meiner Pflegemutter angebrüllt, dann folgte eine Ohrfeige.

Je nach Jahreszeit war es mir möglich, ein paar Kohlköpfe aus dem Boden zu ziehen, aber dann wurde ich vom Bauern oder von den Leuten erwischt, die für ihn arbeiteten. Ich wurde als »dreckige kleine Diebin« und noch übler beschimpft. Ich habe heute den Eindruck, dass sie mich jedes Mal beobachtet und so lange gewartet haben, bis ich das Gemüse aus dem Boden geholt hatte. Dann erst brüllten sie mir etwas zu. In meiner Erinnerung kann ich sie noch immer ganz genau hören, wie sie wütend brüllten: »Verschwinde, du kleine Diebin.« Sofort rannte ich weg. Ich weiß noch gut, wie ich an den endlosen Reihen von Kartoffelpflanzen entlangrannte, an diesen langen grünen Stielen mit den hübschen weißen Blüten. Ich weiß auch noch genau, wie die Knollen gerochen haben. Aber ich hatte keine Zeit, um mich an irgendwelchen schönen Blumen zu erfreuen, schließlich lief ich um mein Leben. Ich hatte panische Angst davor, von den Leuten verprügelt zu werden. Ich war gerade mal so groß wie die Kartoffelpflanzen. Während ich rannte, spürte ich, dass mein kleines Herz so wild schlug, als wollte es aus meiner Brust herausplatzen.

Immer holten sie mich ein. Meistens bekamen sie mich am Arm zu packen, dann folgte ein heftiger Schlag auf mein Hinterteil, üblicherweise mit einem Hurlingschläger. Es machte ihnen Spaß, mich zu bestrafen, und danach lachten sie mich aus, wenn ich vor Angst weglaufen wollte, aber vor Schmerzen nur davonhumpeln konnte.

Zu dieser Zeit war ich gegen körperliche Schmerzen praktisch immun.

Mein Pflegevater war älter als seine Frau, und ab und zu kam er mir etwas netter vor, als sie es war. Jedenfalls war er in nüchternem Zustand mir gegenüber weder aggressiv noch gewalttätig. Er ignorierte viele meiner vermeintlichen Verfehlungen. Hätte meine Pflegemutter davon gewusst, wäre ich von ihr bestraft worden.

Im Sommer 1955, als ich gerade sechs Jahre alt war, wurde mein Pflegevater krank. Sein Zustand war so ernst, dass er ins Krankenhaus musste. Ich hatte keine Ahnung, was genau ihm fehlte, aber meine Pflegemutter wies mich an, für seine baldige Genesung zu beten.

Ein paar Tage später mussten wir uns alle in der Küche hinknien und gemeinsam den Rosenkranz beten, was wir als Familie noch nie gemacht hatten. Am Tag darauf starb mein Pflegevater, und danach beteten wir nie wieder den Rosenkranz.

Sein Tod machte mich traurig, aber während der Totenwache wurde so viel getrunken und gejohlt, dass ich völlig verwirrt war. Zwei Tage lang herrschte ausgelassene Freude, und niemand schien zu trauern. Ich war weiterhin vollkommen durcheinander. Als er zur Kirche und später zu seinem Grab gebracht wurde, herrschte von dem Moment an eine düstere, traurige Stimmung, sobald wir uns in die Öffentlichkeit begaben.

Zu seinen Lebzeiten hatte er auf eine Weise für meinen Schutz gesorgt, die nur schwer zu verstehen war. Als mir bewusst wurde, was die Endgültigkeit seines Todes bedeutete, nahm meine Angst vor einem Leben in diesem Haus ein unvorstellbares Ausmaß an.

Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie sich sein Tod auf mein Leben auswirken würde.

2Allgemeingut

In den Monaten nach dem Tod meines Pflegevaters kamen Männer aus der Nachbarschaft vorbei und besuchten meine Pflegemutter. Mein Pflegebruder begann für die Bauern am Ort zu arbeiten, daher sah ich ihn kaum noch. Im Februar wählten die Bauern ihre Arbeiter aus und gaben ihnen einen Vertrag für sechs Monate. Die jungen und auch die älteren Männer wurden am ersten Tag abgeholt und lebten die ganze Zeit über auf dem Hof, wo sie genau genommen wie Sklaven behandelt wurden. Im Jahr darauf fand er in einer anderen Ecke des Landes eine Anstellung, und dann lebte er dort und schlief auf dem Dachboden des Nebengebäudes. Danach sah ich ihn nur noch einmal.

Anfangs kamen nur wenige Männer vorbei, und das auch nur sporadisch, aber nach einer Weile hatte ich das Gefühl, dass sich jeden Abend Männer im Haus aufhielten. Für gewöhnlich waren auch andere Frauen anwesend, von denen ich aber keine kannte. Sie kamen ins Haus, um »ceílídh« zu feiern, was nichts anderes als das gälische Wort für Feier oder Party ist.

Es waren immer nur wenige Leute, oft nur zwei und selten einmal mehr als vier. Wenn zu viele Leute zum Haus kamen, vereinbarte sie mit ihnen, an einem anderen Tag wiederzukommen. Sie sagte den Leuten immer, sie wolle »keine Aufmerksamkeit erregen«.

Kartenspiele, Gesang und der Genuss von Stout, Porter und regulärem sowie schwarzgebranntem Whiskey waren die wichtigsten Zutaten für eine »ceílídh«. Es gab aber auch noch ein anderes Element bei diesen Partys, das ich erst später begriff.

Meine Pflegemutter und einige der anderen Frauen erbrachten für die anwesenden Männer irgendwelche sexuellen Dienstleistungen, die sie sich bezahlen ließen. Das konnte an diesen Abenden jederzeit vorkommen. Irgendwann verzogen sich ein Mann und eine Frau nach draußen, und wenn sie nach einer Weile wieder ins Haus kamen, waren sie beide gut gelaunt, machten Witze und lachten ausgelassen. Das Geld gaben sie dann immer meiner Pflegemutter.

An manchen Abenden, wenn die Männer bereits gegangen waren, sagte meine Pflegemutter zu mir, ich solle mich zu ihr ins Bett legen. Dann forderte sie mich auf, ihre »Musch« anzufassen. Ich erinnere mich deutlich daran, dass ich genau das tat, was sie sagte. Wir kuschelten nicht, ich bekam keinen Kuss. Darum ging es ihr nicht. Ich befolgte lediglich ihre Anweisungen, weil ich Angst davor hatte, was kommen könnte, wenn ich nicht gehorchte. Ich tat immer, was mir gesagt wurde, weil ich nicht die Nacht im Freien verbringen wollte.

Mit der Zeit kamen mehr und mehr Männer, und die Besuche fanden auch immer regelmäßiger statt. Die bevorzugte Besuchszeit dieser Männer aus allen Altersklassen reichte von spätabends bis in den frühen Morgen.

Ich war inzwischen sieben Jahre alt.

Ich wurde zum Gegenstand der Belustigung und Unterhaltung dieser Männer. Ich war schon lange daran gewöhnt, von Männern aus dem Ort angefasst zu werden. Sie berührten mich immer auf eine Weise, die bei mir Unbehagen auslöste, aber solange mein Pflegevater gelebt hatte, war das immer nur in verstohlenen Ecken passiert. Jetzt, da er tot war, verwandelte sich mein Leben in ein Trauerspiel.

Als meine Pflegemutter damit begann, diese Bauern aus der Umgebung einzuladen, schickte sie mich zu Meade's Pub, damit ich Whiskey, Porter und Brot holte. Den Männern erzählte sie, dass sie mich bei sich aufgenommen hatte, weil niemand sonst mich haben wollte. Wenn die Männer dann Karten spielten, musste ich ihnen die Getränke bringen. Bei der Gelegenheit legte der eine mal den Arm um mich, der andere berührte mich an der Brust, und wieder ein anderer fasste mir zwischen die Beine. Ich hatte das Gefühl, mich immer in Sicherheit bringen zu müssen, weil mich irgendwer unbedingt irgendwo anfassen wollte. Ich wurde von diesen Männern einfach begrapscht und befummelt. Manchmal hob mich einer von ihnen so hoch, dass sie mir alle unter mein Kleid und zwischen meine Beine sehen konnten. Immer war ich damit beschäftigt, irgendwelchen gierigen Händen aus dem Weg zu gehen.

Sie ärgerten mich, indem sie mich zwangen, meine Existenz zu rechtfertigen. Sie stellten Fragen, von denen sie wussten, dass ich sie beantworten musste. Es war so etwas wie ein Test.

»Wie heißt du?«

»Celine.«

»Was soll denn das für'n Name sein?«

»Den hamm wir hier ja noch nie gehört.«

»Du kommst wohl aus England.«

»Tu ich nicht.«

»Dann musst du eine Amerikanerin sein.«

»Ich bin keine Amerikanerin.«

»Kommst du etwa aus Russland?«

»Ich komme nicht aus Russland.«

»Du musst ein Junge sein!«

»Ich bin kein Junge!«

»Was bist du dann?«

»Ich bin ein Mädchen!«

»Mädchen tragen keine Hosen.«

»Ich trage keine Hose.«

»Tust du wohl!«

»Tu ich nicht. Das ist ein Schlüpfer!«

Diese Frage-und-Antwort-Spiele führten immer dazu, dass mich irgendwer schnappte und begrapschte. Manchmal fingen sie mit den Fragen auch erst an, wenn mich einer von ihnen bereits zu fassen bekommen hatte und ich versuchte, den unerbittlichen Griff dieser großen, starken und von Kuhmist fleckigen Bauernhände abzuwehren.

Wenn sie mit mir auf diese eigentlich sehr offensichtliche Weise beschäftigt waren, ging meine Pflegemutter nie dazwischen, um dem Treiben ein Ende zu setzen. Folglich mussten sie davon ausgehen, dass an ihrem Verhalten nichts auszusetzen war, auch wenn ich noch so sehr dagegen protestierte. Wenn ich Widerworte gab und weglief, lachten sie mich aus. Wenn ich mich später wieder in ihre Nähe begeben musste, machten sie weiter und gingen dabei mit einem Mal aggressiver vor, indem sie mich noch beharrlicher betatschten oder mit einem Finger in meinen Körper eindrangen. Falls ich erneut widersprach, ging meine Pflegemutter dazwischen und gab dem Verhalten der Männer ihren Segen, indem sie sagte: »Ach, er macht doch bloß Spaß.« Das sagte sie, während mich einer dieser großen, groben Bauern festhielt.

Durch die Besuche spät am Abend bekam ich nachts keinen Schlaf mehr. Ich hatte Angst zu schlafen, aber ich wurde auch von meiner Pflegemutter zum Wachbleiben aufgefordert, um für die Wünsche dieser betrunkenen nächtlichen Besucher bereit zu sein. Folglich war ich morgens nicht immer in der Lage, zeitig genug aufzustehen und in die Schule zu gehen.

Ich musste auch feststellen, dass mein Ruf sich nicht auf mein Zuhause beschränkte. Als ich an einem Nachmittag von der Schule nach Hause ging, fiel mir plötzlich auf, dass auf der Straße ein Wagen fuhr, der sich immer ein Stück weit hinter mir hielt. Da auf diesem Straßenabschnitt nur selten Autos zu sehen waren, drehte ich mich nach ihm um. Der Wagen wurde schneller und fuhr an mir vorbei, ungefähr zehn Meter vor mir hielt er an.

Ein Mann aus dem Ort, den ich kannte, stieg aus und kam auf mich zu. »Willst du mit mir auf das Feld da gehen?«

»Warum?«, fragte ich.

Daraufhin fasste er mir zwischen die Beine und sagte nur: »Darum.«

Ich drehte mich von ihm weg, weil ich davonlaufen wollte, doch sein Griff wurde nur noch schmerzhafter, zudem versuchte er mich hochzuheben. In nächsten Moment näherte sich uns ein Mann mit Pferdekutsche. Der Mann war dadurch irritiert und ließ mich los. Ich fiel auf den Fußweg, während er zum Wagen lief, die Tür aufriss und hastig einstieg, den Motor anließ und dann mit Vollgas davonfuhr.

Kaum konnte ich mich wieder frei bewegen, sprang ich auf und rannte zu einem der umliegenden Häuser. Dort lebten drei Schwestern, die O'Mahonys. Oft grüßten sie mich, wenn ich auf dem Weg zur Schule oder nach Hause dort vorbeikam. Wieder und wieder klopfte ich an ihrer Tür. Ich dachte, sie würden verstehen, was mir zugestoßen war, und mir helfen. Alle drei kamen sie zur Tür, um herauszufinden, wer da so hartnäckig klopfte. Sie baten mich nicht ins Haus, während ich ihnen schilderte, was mir angetan worden war. Als ich fertig war, lachten sie fast gleichzeitig von Herzen kommend. Dann antwortete eine von ihnen: »Aber Kind, Mr Murphy ist unser Freund.«

Die beiden anderen Ladys nickten bestätigend, und damit war das Thema für sie erledigt. Sie verabschiedeten sich, drehten sich weg und zogen sich eine nach der anderen mit diesen kleinen Trippelschritten nach drinnen zurück. Ich stand allein und verlassen vor der Tür. Niedergeschlagen, aber wachsam ging ich nach Hause, da ich nun wusste, dass ich auf Bedrohungen achten musste, mit denen ich zuvor nicht gerechnet hatte, weil mir von ihrer Existenz nichts bekannt gewesen war.

In der Schule begannen einige Kinder mich als »Hure« zu bezeichnen, aber mit der Zeit gewöhnte ich mich an die Schmähgesänge.

Mittlerweile kamen auch Männer Anfang zwanzig ins Haus, die tagsüber eintrafen und sich lange bei uns aufhielten. Sie verwickelten meine Pflegemutter immer wieder in fröhliche Wortklaubereien, die meistens eine sexuelle Doppelbedeutung hatten. Sie hielt sie von diesen Besuchen nicht ab.

Auch wenn sie noch relativ jung waren, handelte es sich bei diesen Männern um Erwachsene, die mich ständig anfassten und mir schreckliche Dinge antaten, die mir Angst machten. Immer wieder schnappten sie mich, drückten mich auf den Boden und schoben mir die Hände zwischen meine Beine, manchmal nahmen sie dafür auch Bierflaschen, Stöcke oder irgendwas anderes, was sich irgendwie in Reichweite befand. Ich beschwerte mich bei meiner Pflegemutter über das Verhalten der Männer, doch sie erwiderte bloß: »Ich werde nicht dafür bezahlt, dass ich auf dich aufpasse. Darum musst du dich schon selbst bemühen.«

In dieser Zeit ging ich nur selten zur Schule. Zu Hause gab es jeden Tag bestimmte Arbeiten zu erledigen. Eine dieser Aufgaben bestand darin, die kalte Asche vom Abend zuvor aus dem Ofen zu holen. Die schüttete ich dann in einen Metalleimer, den ich an der Wand am Ende des Gartens auskippen musste. Das war die gleiche Ecke, in der auch sämtliche Abfälle aus dem Haushalt landeten. Die Ecke galt als unansehnlich und konnte vom Haus aus nicht eingesehen werden.

Am 4. September 1956 war ich auch im Garten und kippte die Asche aus. Als ich mich vorbeugte, um den Eimer zu leeren, merkte ich, dass jemand auf mich zugerannt kam.

Es war ein Mann.

Einer aus der Gruppe der jüngeren Männer, die bei uns den ganzen Tag herumlungerten.

Er drückte mich gegen die Wand.

Er vergewaltigte mich.

Er verging sich brutal an mir.

Es ging so unfassbar schnell. Und es geschah so völlig unerwartet. Eben noch kippte ich den Eimer aus, und in der nächsten Sekunde hatte er mich schon überwältigt.

Mir blieb keine Zeit zu reagieren.

Mir blieb auch keine Zeit, um irgendeinen Gedanken zu fassen.

Mit seinem schweren Stiefel drückte er meine rechte Hand auf den Boden. Er riss mir den Schlüpfer vom Leib. Er presste mein Gesicht auf den Boden. Dann versuchte er, mit seinem erigierten Penis in mich einzudringen.

Blut spritzte umher.

Er ächzte und stöhnte, und schließlich zog er sich zurück.

Meine Nase war gebrochen, außerdem zwei Finger an meiner rechten Hand. Ich hatte hören und spüren können, wie die Knochen brachen. Es war äußerst schmerzhaft gewesen. Ich erduldete den Schmerz und beklagte mich nicht, da ich Angst vor den Folgen hatte.

Meine Nase bereitet mir bis heute immer wieder Schmerzen. Dass sie gebrochen war, ist allzu deutlich zu sehen, denn sie wurde nie gerichtet, und die Knochen wuchsen in einem seltsamen Winkel zusammen.

Als ich älter wurde, sorgte die Last der angesammelten abfälligen Äußerungen über meine gesamte Existenz dazu, dass ich begann, mich in jeder Hinsicht für abgrundtief hässlich zu halten. Die gebrochenen Finger wurden so wie meine Nase niemals gerichtet oder von einem Arzt angesehen. Niemand untersuchte je diese Brüche, sodass die Knochen aufs Geratewohl zusammenwuchsen.

Die offensichtlichen Brüche haben mich in große Verlegenheit gebracht, da ich mittlerweile in einem medizinischen Beruf tätig bin und meine Kollegen oft mit Erschrecken auf meine heute noch sichtbaren Verletzungen reagieren, die keinen Zweifel daran lassen, dass sie nie ärztlich versorgt worden waren. Meine Ausreden, bei denen es sich immer nur um Lügen handelt, können meine Kollegen nie ganz zufrieden stellen. Sie sind zwar sehr mitfühlend, aber sie haken mit ihren Fragen nicht weiter nach. Ich glaube, sie wissen, dass ich ihnen nicht die Wahrheit sage.

Als er aufstand und mich auf dem Boden liegen ließ, hörte ich ihn sagen: »Du kannst niemandem etwas davon sagen, weil dir keiner glauben wird und weil dich sowieso niemand will.«

Ich stand unter Schock.

Ich konnte mich nicht rühren.

Es kann sein, dass ich eine Zeit lang bewusstlos gewesen war.