Mein Vater Joachim von Ribbentrop - Rudolf von Ribbentrop - E-Book

Mein Vater Joachim von Ribbentrop E-Book

Rudolf von Ribbentrop

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Beschreibung

Am 16. Oktober 1946 wurde der deutsche Außenminister, Joachim von Ribbentrop, im Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher wegen "Vorbereitung eines Angriffskrieges" zum Tode durch den Strang verurteilt, hingerichtet. Bis heute wird seine Rolle im Dritten Reich generell negativ beurteilt; schon als Botschafter in London soll er Hitler angeblich dahingehend beraten haben, daß England im Konfliktfalle nicht kämpfen werde. Der Autor, ältester Sohn Joachim von Ribbentrops und im Zweiten Weltkrieg selbst als Offizier an allen Fronten eingesetzt, schildert in diesem zeitgeschichtlichen Werk seinen Vater aus eigenem Erleben, insbesondere aufgrund der häuslichen Gespräche im Laufe der 1930er Jahre. Weshalb stellte sich dieser durchaus erfolgreiche Kaufmann Adolf Hitler zuerst als außenpolitischer Sonderbeauftragter, dann als Botschafter und schließlich als Minister zur Verfügung? Rudolf von Ribbentrop versucht auch unter Berücksichtigung aktueller Forschungsergebnisse aufzuzeigen, daß die Politik seines Vaters ursprünglich auf die Herstellung eines Ausgleiches mit den Westmächten ausgerichtet war, und arbeitet die Gründe, die zum Hitler-Stalin-Pakt und schließlich zum Angriff auf Polen führten, nachdrücklich heraus. Auch die Rolle von prominenten Vertretern des "Widerstands" im Außenamt, wie des Staatssekretärs von Weizsäcker in den Jahren 1938/39, wird detailliert behandelt. Es ist kein unkritisches Buch, das der Sohn Joachim von Ribbentrops hier vorlegt, und kein Werk, das die Geschichte des Dritten Reiches glätten oder beschönigen will. Man merkt dem Text an, daß der mittlerweile über 90 Jahre alte Autor Jahre an diesem Werk gearbeitet hat, um seine persönlichen Erinnerungen mit den aus den vorliegenden Akten bekannten Vorgängen und Hintergründen in ein fruchtbares Spannungsverhältnis zu setzen.

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Seitenzahl: 920

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RUDOLF VON RIBBENTROP

Mein Vater Joachim von Ribbentrop

Rudolf von Ribbentrop

Mein Vater

Joachim vonRibbentrop

Erlebnisse und Erinnerungen

Umschlaggestaltung: Digitalstudio Rypka/Thomas HoferUmschlagfoto Vorderseite: Ullstein BilderdienstUmschlagfotos Rückseite: Archiv des Autors

Umschlagrückseite:Bild links: Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes am 23. August 1939; im Vordergrund Molotow, im Hintergrund Joachim von Ribbentrop (Mitte) und Stalin (rechts). Bild Mitte: Ribbentrop mit Hitler vor Sonderzug (1941). Bild rechts: Ribbentrop im Gespräch mit dem Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Ernst von Weizsäcker (Mitte), und Freiherr Steengracht von Moyland (alle Bilder Rückseite: Archiv des Autors).

Bildnachweis:Archiv des Autors; Ullstein (Bildteil S. IV unten, S. VIII oben/unten; S. XIV oben, S. XV rechts unten)

Wir haben uns bemüht, bei den hier verwendeten Bildern die Rechteinhaber ausfindig zu machen. Falls es dessenungeachtet Bildrechte geben sollte, die wir nicht recherchieren konnten, bitten wir um Nachricht an den Verlag.

Bibliographische Information Der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-902475-42-8

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.

© Copyright by Ares Verlag, Graz 2008

Layout: Ecotext-Verlag, Mag. G. Schneeweiß-Arnoldstein, Wien Gesamtherstellung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Einleitung

Zeitzeuge

Schicksalhafte Verhandlungen

Versailles und das mitteleuropäische Machtvakuum

Das Dilemma

Flottenabkommen mit England

London

Eine Krönung und ein Bericht

Warnung vor England – das Fazit einer Mission

Das Ende der „zweiten deutschen Teilung“

Die „Maikrise“ 1938

Konspiration

Polens Entscheidung

„Die Rochade“

Polen und der Kriegsausbruch

Roosevelt

Deutsche Planungen für die Fortführung des Krieges – „Optionen“

„Mittelmeer“

Der Angriff auf die Sowjetunion

„Unternehmen Zitadelle“

Hitler

Vater

Der Weg in die Politik

Nachwehen

Freiheit

Register [in Auswahl]

Dieses Buch ist dem Andenken meiner Mutter gewidmet, die mich bereits sehr früh hinter die Kulissen der Weltgeschichte hat blicken lassen, meiner lieben Frau, die mit unendlicher Geduld die Arbeit an diesem Buch begleitet hat, und meinen braven Soldaten, den lebenden und den toten, die im Kriege zu führen ich die Ehre hatte.

Prolog

Nach der „Ardennen-Offensive“ wurde ich im Januar 1945 beauftragt, die Panzerabteilung, deren Führung ich nach dem Tod ihres Kommandeurs während der Schlacht zu übernehmen hatte, auf dem Truppenübungsplatz Fallingbostel „aufzufrischen“. So nannte man es damals, wenn nach einem Einsatz Mannschaften, Waffen und Gerät ersetzt werden mußten. Die Abteilung hatte schwere Verluste erlitten. Die Division war bereits wieder nach Ungarn verlegt worden, um an der bevorstehenden Plattensee-Offensive teilzunehmen. Ich unterstand aus diesem Grunde unmittelbar einem Amt, das in Ausweichquartieren ostwärts von Berlin untergebracht gewesen war. Von dieser Stelle sollten mir der Ersatz an Mannschaften, Waffen und Gerät zugewiesen werden.

Wegen einer Fahrt zu dieser Dienststelle ergab es sich, daß ich am 3. Februar 1945 abends mit meinem VW-Kübelwagen bei den Eltern in Berlin eintraf, wo ich behelfsmäßig untergebracht wurde, da das zum Auswärtigem Amt gehörende Gebäude, in dem sich die offizielle „Wohnung des Reichsaußenministers“ befand, bereits weitgehend zerstört war. Am nächsten Morgen stand ich im Begriff abzufahren, als „starke Bomberverbände im Anflug auf die Reichshauptstadt“ gemeldet wurden. Zeitlich war ich nicht festgelegt, daher blieb ich in Berlin, um mir gegebenenfalls einen Eindruck von den berüchtigten „Terrorangriffen“ auf die Zivilbevölkerung zu verschaffen, die man bei der Truppe in Form dieser Flächenbombardements kaum erlebte. Ich konnte nicht ahnen, was mir beschieden sein würde, allerdings in einem ganz anderen Sinne!

Der Angriff galt dem Regierungsviertel, das Dröhnen der Einschläge in nächster Nähe machte es nur zu deutlich erkennbar. Mein Volkswagen stand geparkt vor dem Gebäude auf der Wilhelmstraße. Wie sollte ich wieder zu meiner Truppe in Fallingbostel gelangen, wenn er zerstört werden würde? Bahnen fuhren längst nicht mehr!

Nach Abklingen des Bombardements konnte ich feststellen, daß er wie durch ein Wunder unbeschädigt geblieben war. Jetzt erst ging mein Blick die vertraute Wilhelmstraße hinunter in Richtung Reichskanzlei, die wenige hundert Meter entfernt am Wilhelmplatz lag. Überall brannte es, die Fahrbahn war mit Trümmern übersäht. Vater kam – in Uniform und Mütze – über den Hof vor dem Gebäude zu mir und forderte mich auf, mit ihm zu Fuß zur Reichskanzlei zu gehen. Es kam ihm wohl darauf an, angesichts der Brände und Trümmer den allmählich aus den Kellern an das Tageslicht tretenden Menschen ein Beispiel von Gelassenheit zu vermitteln.

Nach wenigen Schritten stand auf einmal der japanische Botschafter General Oshima vor uns, auch er in Uniform. Er begrüßte mich herzlich, kannten wir uns doch seit vielen Jahren. Die beiden Herren bestätigten sich förmlich, „man befände sich in einer Krise, die aber selbstverständlich durchgestanden würde!“. Eine gespenstische Szenerie, die sich abrupt veränderte, als sich eine offenbar verstörte Frau rüde mit ihrem Kinderwagen zwischen den beiden Herren durchdrängte und sie dabei unsanft auseinanderstieß, was beide mit Gleichmut hinnahmen. Freundlich lächelnd, wie es die Sitte seines Landes auch angesichts schwerer Katastrophen verlangte, verabschiedete sich der General.

Als Soldat waren mir brennende oder zerstörte Städte nach fünf Jahren Krieg nichts Fremdes mehr, hier aber sank die deutsche Geschichte – ich empfand es intensiv – sichtbar in Trümmer. Als kleine Kinder bereits waren wir darauf hingewiesen worden, daß in dem Gebäude, vor dem ich nun mit Vater stand, der Reichspräsident, damals der alte Paul von Hindenburg, residierte.

Die Wilhelmstraße, in der Bismarck die deutsche Politik bestimmt hatte, war ein feststehender Begriff, wie Downing Street No. 10 in London, der Quai d’Orsay in Paris, der „Ballhausplatz“ in Wien, das Weiße Haus in Washington oder der Kreml in Moskau. Hier war Politik und damit „Geschichte gemacht“ worden. Ich konnte damals nicht ahnen, wie nachhaltig ihre Geschichte in den kommenden Jahrzehnten im Bewußtsein der Deutschen ausgelöscht werden würde, und zwar nicht nur durch die Zerstörung historischer Gebäude.

Im Weitergehen fragte mich Vater ganz unvermittelt: „Was hältst Du davon? Goebbels hat dem Führer vorgeschlagen, die Genfer Konvention mit dem Argument zu kündigen, die Truppe würde sich dann auch im Westen härter schlagen, wenn Gefangenen und Verwundeten der Schutz des ‚Roten Kreuzes‘ versagt würde.“ Ich glaubte, nicht recht zu hören. Außer mir, beschwor ich Vater, „diesen Wahnsinn zu verhindern“. Die Truppe habe trotz hoffnungsloser Unterlegenheit auf der ganzen Linie brav gekämpft, nirgends sei es bei der Fronttruppe zu Auflösungserscheinungen gekommen; es wäre ein Verbrechen, den Soldaten in dieser Lage den Schutz der Genfer Konvention zu entziehen. Im übrigen könne ich mit Sicherheit vorhersagen, daß die Wirkung genau entgegengesetzt der Goebbelsschen Vorstellungen wäre. Die Truppe würde es als letzte Verzweiflungstat, als Amoklauf verstehen, was es ja auch wäre; der Gegner würde um so verbissener kämpfen, da er im Falle der Gefangennahme nicht wisse, was er zu erwarten habe. Die negativen Erfahrungen mit dem sogenannten „Kommissarbefehl“ sollten Warnung genug sein.1 Vater stimmte mir voll zu. Seine nachdrückliche Intervention bei Hitler – in einem unangenehmen Gespräch im Garten der Reichskanzlei – hat dann auch die Kündigung der Genfer Konvention gegenüber dem Westen verhindert. Die Sowjets waren der Genfer Konvention ohnehin nie beigetreten.2

Wir waren während dieser von meiner Seite erregt geführten Unterhaltung bei der weitgehend zerstörten Reichskanzlei angelangt und trafen auf den Adjutanten Hitlers, Otto Günsche (demselben Günsche, der einige Wochen später die Leichen Hitlers und Eva Brauns verbrennen wird). Günsche versicherte, es sei „nichts passiert und der Führer wohlauf“, und fragte, ob „der Herr Reichsminister nicht in den Bunker kommen wolle?“. Vater stimmte zu und forderte mich auf, ihn zu begleiten, was ich zu seiner Verwunderung ablehnte. Mit einer resignierten Geste wandte er sich ab und folgte Günsche.

Ich kann heute nicht mehr zuverlässig nachvollziehen, was mich damals spontan bewog, Vaters Aufforderung abzulehnen, ihn zu Hitler zu begleiten. Wahrscheinlich war es die Wut darüber, daß Hitler mit dem Gedanken spielte, die Genfer Konvention zu kündigen – oder war es das instinktive Gefühl, daß ich mich einem vernichtenden Eindruck werde aussetzen müssen? Anstatt Vater zu begleiten, schlenderte ich über den Wilhelmplatz in Richtung des gegenüberliegenden Hotels Kaiserhof bzw. richtigerweise zu der Ruine, die von ihm übrig geblieben war. Seltsam distanziert schaute ich mich um. Die Gedanken sprangen plötzlich zwölf Jahre zurück. Fast auf den Tag genau vor zwölf Jahren, am 30. Januar 1933, hatte ich – damals elf Jahre alt – an Vaters Hand in den Abendstunden den großen Balkon über dem Eingang des Hotels betreten, um Zeuge des Fackelzuges zu werden, der die Berliner SA an Hitler und Hindenburg vorbeiführte. Mutter hatte Vater gebeten, mich mitzunehmen; sie meinte wohl, ihr Sohn sollte einmal sagen können, „er sei dabei gewesen“. Nun, darüber konnte kein Zweifel bestehen – „ich war dabei gewesen“! Erstaunlich an jenem 4. Februar 1945 war eigentlich nur, daß ich noch immer lebend „dabei war“.

Über den Wilhelmplatz hinweg konnte man damals, am 30. Januar 1933, Hindenburg und Hitler an den Fenstern der Reichskanzlei erkennen, von Scheinwerfern angestrahlt; jetzt gähnten hier nur noch ausgebrannte Fensterhöhlen. Aus den Kolonnen ertönten Marschlieder, in die die begeisterte Menge unter uns immer wieder einstimmte. Vater wie auch die anderen Herren auf dem Balkon zogen den Hut, wenn unten Fahnen vorbeigetragen wurden; eine zur damaligen Zeit noch übliche Reverenz. Ich erinnere mich, daß unter den Anwesenden Prinz „Auwi“ (August-Wilhelm) war, wie er genannt wurde, ein Bruder des Kronprinzen mit einem unverwechselbaren „Hohenzollerngesicht“. Er bekleidete damals einen hohen Rang in der SA. Schacht und Keppler gratulierten Vater zu seinem persönlichen Anteil an den schließlich erfolgreichen Verhandlungen, die zur Regierungsbildung Hitlers geführt hatten.

Statt der Lichteffekte des 30. Januar 1933 gab es nunmehr Brände ringsum; darüber ein grauer Himmel, Brandgeruch, Trümmer und Zerstörung überall. War es ein böser Traum? Zusammengeschlagene Hakken rissen mich aus diesen Gedanken. Ein Wachsoldat der Reichskanzlei forderte mich in tadelloser Haltung auf, „in den Bunker zu kommen“! Ich folgte ihm nunmehr in die Ruine der Reichskanzlei, um schließlich, durch eine Feuertür tretend, Hitler unvermittelt gegenüberzustehen. Ich kam gar nicht dazu, mich vorschriftsmäßig zu melden, als er bereits mit beiden Händen meine Rechte ergriff – eine für Hitler typische Geste – und sich in anerkennender Weise über meine Division ausließ.

Ich stand wie erstarrt, nicht in der Lage, etwas zu erwidern; der Eindruck des physischen Verfalls Hitlers war zu überwältigend! Was war aus dem Mann geworden, dem ich jeweils am 30. April der Jahre 1939 und 1940 – den Geburtstagen Vaters – im familiären Kreis, am selben Tisch sitzend, zuhören durfte und ihn beobachten konnte? Ein körperliches Wrack, wie es schlimmer nicht vorstellbar war. Das Gesicht grau und aufgedunsen, die Haltung in einer Weise gebeugt, daß der Eindruck entstehen konnte, er habe einen Buckel, die eine Hand mit der anderen festhaltend, da sie unkontrolliert zitterte, die Schritte schlurfend! Nur die auffallend blauen Augen hatten eine gewisse Leuchtkraft behalten, ohne aber den Eindruck großer Hinfälligkeit verwischen zu können.

Was er nun äußerte – wir waren mit ihm allein –, war nicht geeignet, den niederschmetternden Eindruck zu mildern, den seine Erscheinung abgab, im Gegenteil! 1939 hatte er die Strategie großer operativer Panzerverbände erläutert, die gegebenenfalls den Stellungskrieg des Ersten Weltkrieges überwinden könnte. Seine Diktion war klar und überzeugend. 1940, noch während bei Narvik schwer gekämpft wurde, erging er sich in Visionen gewaltiger Brücken, die nach dem Kriege einmal Skandinavien mit dem europäischen Festland verbinden sollten. Sehr anerkennend sprach er damals im Zusammenhang mit Verkehrsfragen über Rußland, das sich von vornherein für seine eigene, wesentlich breitere Eisenbahnspur entschieden habe, während Europa einfach das britische Maß übernommen habe. Er würde nach dem Kriege auf die russische Spur umstellen. Nichts war von einem ideologischen Antagonismus gegenüber den Sowjets zu spüren.3

Damals sprach, eindrucksvoll, die Phantasie des Visionärs aus ihm, denn noch stand ihm der entscheidende Westfeldzug bevor, und auch in Norwegen wurde noch gekämpft. In Narvik hatte die Entscheidung auf des Messers Schneide gestanden! Hitler machte in diesem kleinsten Kreise eigentlich auch kein Geheimnis aus der bevorstehenden Offensive im Westen und berichtete, man habe sich zu Lasten der Engländer sogar um zwei Divisionen verschätzt. Er schien in vollem Umfang optimistisch.

Hier im Bunker, es war der 4. Februar 1945, erklärte er Vater und mir: „Jetzt kommt die Wende, denn jetzt geht jeden Tag ein neues Regiment an die Front.“ Diese völlig unprofessionelle Äußerung hatte keinerlei Bezug mehr zur Realität. Hitler fuhr fort: „Die jungen Marschälle“, es fielen die Namen Rendulic und Schörner, „würden jetzt mit der nötigen Härte die Fronten zum Stehen bringen.“ Dann schweifte er ab und kam auf Manstein zu sprechen, dem er attestierte, er wäre „der beste Operateur mit großen Truppenkörpern“, aber er verfüge nicht über die Fähigkeit, eine „ins Laufen gekommene Front“ wieder zu stabilisieren. Für mich, der ich von der Fronttruppe kam, die sich immer wieder einer erdrückenden Übermacht entgegenstemmte, und durch Zufall in den Führerbunker geraten war, eine wiederum gespenstische Szene.

Mein damaliger Eindruck war, daß der psychische Verfall dem physischen Verfall Hitlers entsprach. Ich blickte zu Vater, der unbewegten Gesichtes zugehört hatte. Ich wußte, er versuchte durch Konsul Möllhausen in Spanien trotz der Forderung Roosevelts nach „unconditional surrender“ zu sondieren, ob Gespräche mit dem Westen aus der veränderten Situation heraus vielleicht doch noch möglich wären. In diesem Moment betrat in großer Erregung der Reichsbankpräsident Walther Funk den Raum und erklärte Hitler lapidar, die Reichsbank wäre schwer getroffen: „Wir haben kein Geld mehr!“ Noch einmal zeigten sich Hitlers schauspielerische Talente, als er Funk ganz überzeugend und beinahe amüsiert beruhigte, Geld sei im Augenblick nicht so entscheidend.

Wir verabschiedeten uns. Ich war zu keinem Worte fähig gewesen, zu niederschmetternd war der Eindruck dieser Viertelstunde, in der ich dem Manne gegenüberstand, der für uns Soldaten unser Land repräsentierte und auf den wir trotz immer härter werdender Kämpfe glaubten, vertrauen zu müssen. Wir hatten über fünf Jahre unter immer neuen schweren Verlusten für Deutschland, unser Land, gekämpft, nicht für Hitler. Hitler aber war die Personifizierung unseres Landes gewesen. An einen „Sieg“ im üblichen Sinne dachten wir ohnehin schon lange nicht mehr, unsere Motivation war die Hoffnung auf einen Vergleichsfrieden. Statt dessen realisierte ich in diesen wenigen Minuten am Vormittag des 4. Februars 1945 die mit absoluter Sicherheit hereinbrechende Katastrophe. Meine Gedanken kreisten um die Frage: Was sage ich meinen Männern in Fallingbostel? Woher sollte ich, der Dreiundzwanzigjährige, nach dieser furchtbaren Erkenntnis noch die Kraft hernehmen, sie zu motivieren, sich weiterhin einzusetzen? Wenn sich überhaupt noch eine Chance für Verhandlungen ergeben würde, war ein gewisses, noch existierendes militärisches Potential ohne Zweifel ein Vorteil. In diesem Sinne galt es, die Truppe zu motivieren. An der Front im Osten war der Wille, die Zivilbevölkerung vor den sowjetischen Greueln zu schützen, das allgegenwärtige Motiv für den Einsatzwillen der Truppe. Auch diese Motivation mußte ich meinen Soldaten vermitteln können. Sie sind mir darin bis zum letzten Tag des Krieges gefolgt.

Hitler aber würde die Lage nicht mehr wenden, auch ein Wunder würde ihm die Vorsehung, wie er das Schicksal zu nennen pflegte, nicht mehr gewähren. Das „miracle“ des Hauses Brandenburg, als das Friedrich der Große den Tod seiner Feindin, der Zarin Elisabeth, bezeichnete, der ihn im Siebenjährigen Krieg rettete, würde sich für Hitler nicht wiederholen, obwohl sein Hauptgegenspieler Roosevelt fünf Wochen später, nämlich am 12. April 1945, sterben sollte.

Beim Verlassen der Reichskanzlei fiel mein Blick noch einmal auf die gegenüberliegende Ruine des Hotels Kaiserhof. Wieder sah ich mich als kleinen Jungen auf dem Balkon stehen. Noch einmal spannte sich der Bogen von den großen Hoffnungen, die damals in Deutschland aufkeimten, über außergewöhnliche Erfolge zu dem nunmehr mit Sicherheit erkennbaren Untergang. Verzweifelt drängte sich die Frage auf: „Wie konnte es dazu kommen?“ Ein unerbittliches Schicksal stand im Begriffe, sich zu vollziehen. Ich hatte noch einmal Auge in Auge mit dem Verhängnis gestanden. Dieses verhängnisvolle Schicksal trug den Namen „Hitler“.

1 Ich muß dazu allerdings feststellen, daß mir damals bei der Truppe im Osten kein Fall bekannt geworden ist, bei dem ein gefangener politischer Kommissar erschossen worden wäre.

2 Vater hielt in einer Niederschrift fest: „Der Führer war erregt und schnitt mir das Wort ab …“

3 Ribbentrop, Joachim von: Erinnerungen, Leoni 1953, S. 267.

Einleitung

Die Beantwortung der verzweiflungsvollen Frage „Wie konnte es dazu kommen?“ hat mich schließlich bewogen, meine Erinnerungen, Kenntnisse und Erlebnisse aus den Jahren 1933 bis 1945 zu Papier zu bringen. Welche besonderen Umstände aber legitimieren mich, über eine Zeit zu schreiben, die ich als Kind und junger Mann im Alter zwischen 11 und 24 Jahren, ich darf behaupten, durchaus im eigentlichen Sinne des Wortes, „hautnah“ miterlebt habe? Eine Periode der deutschen Geschichte, die unter dem Namen „Drittes Reich“, „Tausendjähriges Reich“ oder „Hitlerdeutschland“ zu einem Trauma der Deutschen geworden und daher zur Zeit im Sinne einer objektiven Analyse – jedenfalls der Außenpolitik – tabuisiert ist. Meine Legitimation sollte für den Leser vielleicht aus dieser Niederschrift hervorgehen: Take it or leave it!

In den mehr als sechzig Jahren seit dem deutschen Zusammenbruch im Jahre 1945 sind die Geschehnisse ab 1933 von der offiziellen deutschen Geschichtsschreibung eingehend untersucht worden, und als Ergebnis wurde festgestellt: Hitler ist sozusagen aus heiterem Himmel (im Sinne der vielzitierten „Golden Twenties“) auf das deutsche Volk herabgestürzt und hat es zum Angriff auf seine friedliebenden Nachbarn geführt, und zwar mit dem Ziel, die Weltherrschaft zu erringen. Die Deutschen seien ihm mit Begeisterung und ohne Bedenken gefolgt, ja sie hätten ihm sogar als „willige Vollstrecker“4 zur Verfügung gestanden, um Verbrechen zu begehen. Dieses recht primitive Cliché stellt die Grundlage dar, die allen Äußerungen bestallter deutscher Historiker und leider auch der meisten deutschen Politiker über unsere Vergangenheit zugrunde liegt. Ich werde dazu aufgrund meiner Kenntnisse – oft aus erster Hand – einiges anmerken können.

Es ist aber nicht meine Absicht, eine umfassende Darstellung des sogenannten Dritten Reiches vorzulegen; und damit man mich nicht mißversteht: Ich habe vor allen Dingen nicht vor, Hitler zu „rehabilitieren“. Ein Politiker, der über eine uneingeschränkte und unkontrollierte Macht in dem Ausmaß verfügte, wie Hitler sie an sich gerissen hatte, ist angesichts der Katastrophe, die unter seiner Herrschaft über das deutsche Volk hereingebrochen ist, nicht zu exkulpieren. Unser Deutschland, das er in Schutt und Asche hinterlassen hat, wird Hitler, solange von einer deutschen Geschichte gesprochen werden kann, unter Anklage sehen, denn er trug – wohlgemerkt nach seinem Selbstverständnis – die volle Verantwortung für alles Geschehen unter seiner Regierung. Die vielen Vorgänge in Hitlers Regierungszeit aber, die Anlaß zu schwersten Vorwürfen an seine Adresse geben, verändern freilich die verzweifelte außenpolitische Ausgangslage Deutschlands nicht, die er bei seinem Regierungsantritt vorgefunden und der seine Außenpolitik zwangsläufig Rechnung zu tragen hatte. Zu dieser Differenzierung muß man fähig sein, wenn man die Außenpolitik Hitlers und seine Beweggründe unvoreingenommen analysieren will.

Es geht mir in meiner Darstellung daher gar nicht in erster Linie um die Person Hitlers, es geht mir vielmehr darum, die deutsche Situation und die deutschen Belange darzustellen, denen er sich bei seinem Regierungsantritt gegenübersah und mit denen er sich wie alle deutschen Regierungen vor ihm und nach ihm zwangsläufig auseinandersetzen mußte. Er ist eben nicht einfach „vom Himmel gefallen“ oder ein unvermeidliches Produkt deutschen Nationalcharakters gewesen, sondern im „Wirbelsturm zusammentreffender Umstände“5 zu einer einmaligen Machtfülle in der deutschen Geschichte emporgetragen worden. Die zusammentreffenden Umstände aber, die ihn „gemacht“ haben, hatte er nicht zu verantworten.

Hier beginnt die Schwierigkeit der Differenzierung: Bis zu welchem Punkt war Hitlers Außenpolitik durch die politischen Verhältnisse, die er vorfand, „zwangsläufig“ bestimmt und ab wann haben seine Entschlüsse den Weg in die Katastrophe programmiert? Es bedarf einer objektiven Analyse der Weltpolitik, eigentlich zumindest ab 1871, um diese Frage beantworten zu können. Die Formel „Hitler hat Verbrechen zu verantworten, also ist er auch der Alleinschuldige am Kriege“ ist zwar einprägsam und trägt dem menschlichen Bedürfnis Rechnung, die Schuld an einem Verhängnis zu personifizieren, nur hat sie mit den geschichtlichen Tatsachen wenig zu tun. So einfach läuft die Weltgeschichte nicht ab. Die Aversionen und Ressentiments gegen Hitler und sein Regime sind verständlich angesichts der Verwüstung, die er hinterlassen hat und die keine Geschichtsschreibung „entschuldigen“ wird. Man muß Hitler verurteilen und, wenn man will, verdammen – aber bitte mit den richtigen Argumenten! Eine echte „Bewältigung“ der deutschen Außenpolitik von 1933 bis 1945 ist nur zu erreichen, wenn die geopolitische Lage Deutschlands der Ausgangspunkt ist und die „Figur Hitler“ in die politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und nicht zuletzt geistigen Zusammenhänge des 19. und 20. Jahrhunderts gerückt wird. Nur auf diesem Wege wird vermieden werden, daß sein langer Schatten noch weitere 60 Jahre oder noch länger auf unserem Gemeinwesen lasten wird.

Dank eines besonders nahen Verhältnisses zu Großvater Ribbentrop, der ein außergewöhnlich gebildeter Mann war – er wurde in der Familie „das lebendige Konversationslexikon“ genannt –, erschloß sich mir bereits ab meinem zehnten Lebensjahr sukzessive die europäische Politik mit ihrem Kernproblem „Die deutsche Frage“. Die „deutsche Frage“, wie sie sich in gewissem Sinne auch heute noch stellt,6 hatte ihren Ursprung in der Reichsgründung von 1871, die die Kräfteverhältnisse in Europa mit einem Schlage fundamental verändert hatte. An die Stelle zweier sich bis zu einem gewissen Grade neutralisierender deutscher Staaten, nämlich Preußen und Österreich, war ein Gebilde getreten, das Dank seiner Effizienz auf allen Gebieten zunehmend an Gewicht gewann. „Casca il mondo!“ („Die Welt stürzt ein!“) hatte der Kardinalstaatssekretär Giacomo Antonelli bereits 1866 ausgerufen, als er vom Sieg Preußens über Österreich-Ungarn erfuhr. Der fehlgeschlagene französische Angriff von 1870/71 beendete die deutschen Einigungskriege und komplettierte diesen Einsturz der Alten Welt, wie sie seit der faktischen Zerschlagung des Deutschen Reiches im Westfälischen Frieden von 1648 bestanden hatte. Schon der britische Premierminister Disraeli hatte sich in dem Sinne geäußert, die Reichsgründung verändere die politische Konstellation in Europa grundlegend.

Es waren nunmehr fünf Mächte, die das politische Geschehen in Europa in erster Linie bestimmten: Großbritannien, Frankreich, Rußland, Österreich-Ungarn und nun auch noch das Deutsche Reich. Bismarck hatte die einprägsame Formel gefunden: Unter Fünfen muß man immer dafür sorgen, daß man zu dritt ist. Ihm war das Kunststück gelungen – trotz der Gegensätze zwischen Österreich und Rußland auf dem Balkan –, mit beiden Staaten vertragliche Bindungen einzugehen, mit Österreich ein regelrechtes Bündnis, mit Rußland den berühmten „Rückversicherungsvertrag“, der das Reich im Osten vor einem Zweifrontenkrieg absichern sollte, falls man in Frankreich Revanchegedanken hegen sollte. Zu England gab es damals im Grunde keine Gegensätze, obwohl „sie sich von uns nicht lieben lassen wollen“, wie sich Bismarck einmal ausgedrückt haben soll.

In der Ära Kaiser Wilhelms II. wurde dieses Konzept aufgegeben. Der „Rückversicherungsvertrag“ mit Rußland war nicht verlängert worden. Das sich isoliert sehende Rußland – es bestanden große Spannungen mit England wegen der russischen Expansion in Richtung auf den Persischen Golf und Indien – wurde dadurch veranlaßt, sich mit Frankreich zu verbünden. England, das der jeweils stärksten Kontinentalmacht, mittlerweile hielt es Deutschland dafür, traditionell ohnehin mißtrauisch gegenüberstand, wurde irritiert durch die kaiserliche „Weltpolitik“ und den deutschen Flottenbau, hinter dem man in England feindselige Motive vermutete, obwohl die dahinterstehende seestrategische Konzeption dies nicht beabsichtigte und die deutsche Flotte nicht mit der Absicht aufgebaut wurde, der britischen ebenbürtig zu sein. Die wirtschaftliche Expansion der deutschen Wirtschaft in Richtung Vorderer Orient (Bagdadbahn) berührte zudem britische Interessen in einer sensiblen politischen Zone, durch die der „Weg nach Indien“ (Suezkanal) führte; aber auch Rußland wurde wegen seines Interesses an den türkischen Meerengen von den deutschen Aktivitäten betroffen. Immer wieder kritisierte Großvater die kaiserliche Politik scharf: Herausforderung Englands einerseits – wenn auch ungewollt – und Aufgabe der „Rückversicherung“ mit Rußland andererseits. Erkennt der Leser die Parallelität der Situation des Reiches ab 1933, die verzweiflungsvolle Mittellage? In einer Reichstagsrede im Jahre 1882 hatte Bismarck formuliert, „… daß Millionen Bajonette ihre polare Richtung doch im ganzen in der Hauptsache nach dem Zentrum Europas haben, daß wir im Zentrum Europas stehen und schon infolge unserer geographischen Lage, außerdem infolge der ganzen europäischen Geschichte, den Koalitionen anderer Mächte vorzugsweise ausgesetzt sind“. Der „Albtraum der Koalitionen“, meinte Bismarck, „wird für einen deutschen Minister noch lange und vielleicht für immer ein sehr berechtigter bleiben“.7 Der ehemalige französische Botschafter in Bonn spricht von „einer gewissen, traditionellen politischen Denkweise in Frankreich, die immer Moskau im Auge behält, wenn es sich um Deutschland handelt“.8

Die Politik des Kaisers und seines Kanzlers Bülow ging von einem unüberbrückbaren Gegensatz zwischen England und Rußland aus. Bülow baute auf die „Politik der freien Hand“, die ihm, wie er annahm, jederzeit die Option entweder für England oder für Rußland erlauben würde, bis schließlich die Annäherung Englands und Rußlands (1907) das Reich zwischen alle Stühle, das heißt in die Einkreisung, führte.

Im Jahre 1905 hatte Deutschland die Chance, den „Einkreisungsring“, der sich um das Reich zu legen drohte, zu sprengen, indem man Frankreich präventiv schlug. Rußland hatte den Krieg mit Japan verloren und war durch revolutionäre Aufstände außenpolitisch handlungsunfähig. Der Rüstungsstand hätte dem Reich die Chance verschafft, sich gegenüber Frankreich militärisch durchzusetzen. In der geschichtlichen Phase nationaler Machtpolitik in Europa galten solche Überlegungen als legitim, um möglichen zukünftigen Gefahren rechtzeitig Rechnung zu tragen. So schlug der englische Flottenchef Fisher in dieser Zeit einen Überfall auf Deutschland und die Versenkung der deutschen Flotte vor, was nicht das erste englische Vorgehen dieser Art gewesen wäre – und auch nicht das letzte.9 Der militärische Befreiungsschlag erfolgte 1905 nicht, und so mußte sich das Reich 1914 unter sehr viel ungünstigeren Umständen der militärischen Auseinandersetzung stellen.

Die entscheidende Macht war England. Die Eifersucht gegenüber der deutschen Konkurrenz auf den Weltmärkten spielte eine gravierende Rolle. Man denke nur an die Einführung des Aufdrucks „Made in Germany“ für deutsche Waren im britischen Empire! Sie war aber letztlich nur ein weiteres Symptom für das wachsende Schwergewicht Deutschlands. Englands jahrhundertealtes Prinzip, immer eine Koalition gegen die stärkste Festlandsmacht zustande zu bringen, setzte sich als Leitgedanke der britischen Politik gegenüber dem Deutschen Reich ab dem Beginn des Jahrhunderts durch.10 England hat diese Politik geschickt und erfolgreich betrieben; die Fehlbeurteilung der weltpolitischen Entwicklung und die falschen Schlüsse, die die kaiserliche Regierung zog, haben der britischen Einkreisungspolitik ohne Zweifel in die Hände gearbeitet. Die kaiserliche Außenpolitik hatte keine Konzeption, der immer gefährdeten Mittellage des Reiches in Europa konsequent Rechnung zu tragen.

Der Erste Weltkrieg hatte eine überraschende Stärke des Deutschen Reiches offenbart. Es hatte die Ressourcen fast der ganzen Welt erfordert, um das Reich schließlich niederzuringen. Der „Versailler Vertrag“ sollte dazu dienen, dieses Potential der europäischen Zentralmacht ein für allemal auszuschalten. In der Mitte Europas hatten die Bestimmungen dieses Vertrages daher ein Machtvakuum entstehen lassen. Es war vorauszusehen, daß es, wie jedes Vakuum, auf die eine oder andere Weise gefüllt werden würde und deshalb keinen stabilen Frieden bewirken konnte. Statt dessen stellte es durch die fortschreitende Konsolidierung des Sowjetstaates und seiner wachsenden militärischen Stärke eine latente Gefährdung Europas dar. Die Besorgnisse der Anrainerstaaten vor der potentiellen Stärke der europäischen Zentralmacht Deutschland bestanden aber weiter, wenn auch 1933 von einer „Stärke“ des Reiches nicht einmal andeutungsweise die Rede sein konnte. Wir werden sehen, welche Lösungen die deutsche Politik für dieses Kernproblem der europäischen Politik – leider vergeblich – anbot.

4 Vgl. Goldhagen, Daniel J.: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996.

5 So eine Formulierung Fjodor M. Dostojewskis in seinem Roman „Die Dämonen“.

6 Ich verweise auf einen Artikel von Maurice Druon, des ständigen Sekretärs der Academie Française, in: Le Figaro, 30. August 1999.

7 Zitiert nach Gall, Lothar: Bismarck, Berlin 1995, S. 517.

8 Froment-Meurice, Henri: Vu du Quai (1945–1983), Paris 1998, S. 660.

9 Man denke an den Überfall auf die französische Flotte in Oran im Jahre 1940, nach Abschluß der Kampfhandlungen des Westfeldzuges. Für diese präventiven Aktionen im Frieden gab es, in Anspielung auf den Überfall der britischen Flotte auf die kontinentalen Seestreitkräfte Napoleons im Jahre 1807, den Begriff „to kopenhagen“.

10 Vgl. Ferguson, Niall: Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999.

Zeitzeuge

„Ich war zum Staatssekretär ernannt, habe es aber abgedreht auf London!“11 – mit diesen Worten kam uns, meiner Mutter und mir, mein Vater im August 1936 auf einer stillen Straße am Stadtrand von Bayreuth entgegen. Ich war damals 15 Jahre alt. Vater war an diesem Vormittag ein zweites Mal zu Hitler in die Villa Wahnfried gebeten worden. Mutter hatte die Gelegenheit genutzt, um mit mir die berühmte „Eremitage“ zu besuchen. Vater umarmte sie. Er stand sichtbar unter dem Eindruck seiner Entscheidung. Sein strahlendes Gesicht bewies es; Mutter aber legte mit einer instinktiven Bewegung die Hand vor den Mund, einer für sie typischen Geste, wenn sie von etwas Unerwartetem, Überraschendem oder Schwerwiegendem Kenntnis erhielt, dessen Tragweite sie im Moment nicht mit allen Konsequenzen abzuschätzen vermochte. Mit der gleichen Gebärde war sie vor dreieinhalb Jahren, am 30. Januar 1933, in das Wohnzimmer unseres Hauses in Berlin-Dahlem getreten, wo unsere Klavierlehrerin Fräulein Munding wieder einmal versuchte, mir klar zu machen, wenn den Noten ein „#“ vorgegeben wäre, „fis“ statt „f“ zu spielen sei. Sie sagte damals nur leise: „Hitler ist Reichskanzler geworden!“ Mit der ihr eigentümlichen Attitüde drückte sie wohl die an sich selbst gestellte Frage aus: „Was wird daraus werden?“ Sie konnte in dem Augenblick nicht im entferntesten ahnen, wie dramatisch und schließlich tragisch dieser Tag das Schicksal ihres Mannes und damit ihr eigenes, ja das der ganzen Familie bestimmen würde.

Vater hatte im Januar 1933 die Kontakte Hitlers zu Hindenburg und Papen hergestellt und war in die entscheidenden Phasen der Verhandlungen, die zur Regierungsbildung Hitlers führten, eingeschaltet gewesen. Für die Eltern wie für viele Deutsche stellte sich am Ende des Jahres 1932 nur die Alternative, daß entweder Hitler die Macht übernimmt oder die Kommunisten, deren Machtübernahme ohne Zweifel die Herrschaft des russischen Bolschewismus stalinistischer Prägung für Deutschland bedeutet hätte.12 Diese damals durchaus realistische Gefahr wird heute oft heruntergespielt oder ganz übergangen.13 Vater selbst dachte zu diesem Zeitpunkt nicht an einen Wechsel aus seinem lukrativen Geschäft in die aktive Politik, obwohl er immer schon, wie wir sehen werden, außenpolitisch sehr interessiert war.14

Hier auf der stillen, sonnenbeschienenen Straße in Bayreuth aber war Mutters spontane Reaktion der Ausdruck ihrer Bedenken. Mein Vater spürte ihre Vorbehalte. Im Weitergehen explizierte er ihr eingehend die Gründe, die ihn veranlaßt hatten, dem „Führer“ im Verlauf einer intensiven außenpolitischen Diskussion – der Anlaß war die Bitte Francos um Flugzeuge zum Transport seiner Truppen von Marokko auf das spanische Festland – vorzuschlagen, ihn als Botschafter und Nachfolger des verstorbenen Leopold von Hoesch nach London zu entsenden und damit die bereits erfolgte Ernennung zum Staatssekretär rückgängig zu machen.15 Sehr eindringlich erklärte Vater, die Führung des Reiches müsse sich Klarheit über die von der britischen Regierung gegenüber Deutschland verfolgte Politik verschaffen. Die Engländer seien Meister in der Taktik, potentielle Gegner über ihre zukünftige Politik „rätseln“ zu lassen, um ihre tatsächlichen Ziele zu verschleiern.16 Eine fatale Überraschung, wie sie die Briten 1914 der kaiserlichen Regierung bereitet hatten, als sie dem Reich den Krieg erklärten und man in Berlin aus allen Wolken fiel, dürfe sich nicht wiederholen. Der damalige deutsche Reichskanzler Bethmann Hollweg gestand dem sich verabschiedenden britischen Botschafter Sir Edward Goschen im August 1914 ein, unter der britischen Kriegserklärung „breche seine ganze Politik wie ein Kartenhaus zusammen“.17

Wir gingen allein die ruhige Vorortstraße auf und ab; niemand begleitete uns. Vater sprach zu Mutter in meiner Gegenwart immer völlig offen über die geheimsten außenpolitischen Zielsetzungen der deutschen Regierung und führte einmal mehr, ganz offenbar, um seine Frau von der Richtigkeit seines Entschlusses zu überzeugen, die grundlegende außenpolitische Konzeption aus, die Hitler seit seinem Regierungsantritt vor dreieinhalb Jahren konsequent verfolgt hatte: die Schaffung eines relativ starken zentraleuropäischen Blocks mit der Rückendeckung Großbritanniens und Frankreichs zur Abwehr der sowjetischen Bedrohung. Für mich bedeutete diese Darstellung der deutschen außenpolitischen Zielsetzungen zu diesem Zeitpunkt nichts grundsätzlich Neues mehr. Ich hatte in den vergangenen drei Jahren in zunehmendem Maße Einblicke in diesem Sinne erhalten, insoweit erschien mir Vaters Vorschlag an Hitler nur folgerichtig. Die damalige sowjetische Gefahr war aus Hitlers Sicht akut, der gerade in diesen Tagen des Sommers 1936 seine „Denkschrift zum Vierjahresplan“ verfaßt hatte, in der er aufgrund des Umfanges der sowjetischen Aufrüstung eine deutsche Reaktion forderte. Die russische militärische Aufrüstung stellte eine nicht wegzudiskutierende Tatsache dar, das haben die spätere Machtentfaltung der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg und die Konfrontation der beiden Weltmächte USA und Sowjetunion im „Kalten Krieg“ eindeutig bewiesen.18 Daß die Sowjetunion den von den USA forcierten technologischen Rüstungswettlauf schließlich aufgeben mußte, spricht nicht dagegen.

Meine Mutter legte mir noch am selben Tage ihre Einwände gegen Vaters Entschluß, nach London zu gehen, dar; wohl, um für sich selbst die Chancen und Risiken dieses Schrittes abzuwägen. Ihre wesentlichen Bedenken drehten sich um drei Momente: Joachim von Ribbentrops politische Aktivitäten hatten sich bisher, nach Hitlers oft praktizierten Verfahren, Rivalitäten entstehen zu lassen, parallel zum Auswärtigen Amt entfaltet. Vater und seine „Dienststelle Ribbentrop“ waren organisatorisch dem sogenannten „Verbindungsstab“ attachiert, dem Rudolf Heß vorstand. Dieser „Verbindungsstab“ hatte die Aufgabe, die Verbindung zwischen der Reichsleitung der NSDAP in München, also der „Partei“, und den Reichsministerien in Berlin aufrechtzuerhalten. Naturgemäß hatte sich eine Rivalität zwischen dem Auswärtigen Amt und der „Dienststelle Ribbentrop“ herausgebildet, wie hätte es auch anders sein können.

Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, daß ein Botschafter Ribbentrop im „Amt“ – wie das Auswärtige Amt im allgemeinen bezeichnet wurde – nicht die für seine Aufgabe notwendige Unterstützung finden würde. Tatsächlich hatte Vater als Missionschef in London später Veranlassung, sich beschwerdeführend an Außenminister v. Neurath zu wenden, um laufend die nötigen Informationen zu erhalten, die für seine Tätigkeit erforderlich waren. Wie recht Mutter mit ihren Befürchtungen hatte, wurde nach dem Krieg von Erich Kordt offengelegt. Kordt war vom Auswärtigen Amt als Verbindungsmann zur „Dienststelle Ribbentrop“ abgestellt worden und hatte von dem damals noch lebenden Staatssekretär Bülow die Weisung mit auf den Weg bekommen, eventuelle „Fehler“ Ribbentrops nicht zu korrigieren, sondern sie ihn ruhig begehen zu lassen.19 „Fehler“ eines Diplomaten aber, wer auch immer er sein mag, wirken sich in jedem Falle zu Lasten des vertretenen Landes, in diesem Falle also Deutschlands, aus.

Mutter hätte es daher, wie sie sagte, für vorteilhafter gehalten, wenn Vater sich zu diesem Zeitpunkt nunmehr in das Auswärtige Amt integrieren würde. Wolle er tatsächlich die Außenpolitik Hitlers auf Dauer nachhaltig mitgestalten, müsse er das dafür vorhandene Instrument – eben das Auswärtige Amt – von innen her kennen. Als Staatssekretär hätte er die beste Möglichkeit gehabt, sowohl die Organisation des Amtes als auch die Qualifikation und die Mentalität der deutschen Diplomaten kennenzulernen.

Die schwerwiegendsten Bedenken aber äußerte Mutter damals bereits im Hinblick auf die Erfolgsaussichten von Vaters Mission. Sie war skeptisch, ob tatsächlich die Chance bestand, eine nachhaltige Übereinstimmung der Politik Großbritanniens und Deutschlands herbeiführen zu können, wenn man die zurückhaltende Politik der britischen Regierung in den vergangenen dreieinhalb Jahren, das heißt seit 1933, gegenüber den deutschen Angeboten in die Zukunft projiziere. In ihren Augen hatte Vater eine Aufgabe übernommen, die eine große Gefahr des Scheiterns in sich barg, wenn sich die Briten „von uns nicht lieben lassen wollen“. Er setze sich dem Risiko aus, für das Nichtzustandekommen einer deutschbritischen Verständigung, zu der eben auch England bereit sein müsse, die Schuld zugeschoben zu bekommen. Mutter hat dieses Risiko vorahnend durchaus richtig gesehen, Vater allerdings vertrat die Auffassung, daß es von fundamentaler Bedeutung für die Politik des Reiches sei, sich Klarheit über die britische Politik zu verschaffen; persönliche Überlegungen hätten in diesem Falle zurückzutreten.

Die deutsch-englische Allianz war keine Lieblingsidee Hitlers im Sinne einer „germanischen“ Marotte. Eine enge deutsch-englische Zusammenarbeit auf der weltpolitischen Ebene war der Schlüssel zu Hitlers Außenpolitik. Wenn Hitler zu Vater sagte, als er sich verabschiedete, um seinen Londoner Posten anzutreten, „Ribbentrop, bringen Sie mir das englische Bündnis!“20, dann war Hitler in vollem Umfang der Meinung, dieses von ihm angestrebte Bündnis der beiden Länder läge auch im britischen Interesse, das heißt im Sinne der Erhaltung des britischen Weltreiches, wie in der Notwendigkeit für das Reich, den Rücken frei zu haben gegen die Bedrohung durch die auf Weltrevolution programmierte Sowjetunion. Hitler hat die Existenz des britischen Weltreiches für die „weiße Rasse“ und damit auch für Deutschland als globale Ordnungsmacht für höchst wünschenswert gehalten21; der entscheidende Gesichtspunkt aber war die gegenseitige Rückendeckung zur Abwehr der Gefahr aus dem Osten, dadurch hätte auch England den Blick frei auf sein weltweites Imperium und dessen Erhaltung richten können.

Man mache es sich klar und halte es sich immer wieder vor Augen: Der Ausgangspunkt der Hitlerschen Außenpolitik war die „Westbindung“ des Reiches, um mich eines modernen Ausdruckes zu bedienen. In den Unterhaltungen zwischen Vater und Großvater Ribbentrop in meiner Gegenwart fiel in den Jahren nach Hitlers Regierungsantritt immer wieder der Ausspruch Vaters: „Wir müssen optieren!“ Ich erinnere mich dieser Gespräche so gut, weil mir als heranwachsendem Jungen die Begriffe „Optieren“ und „Option“ natürlich nicht geläufig waren. Vater und Großvater waren sich vollkommen einig in der Auffassung, es gäbe für Deutschland nur die Option für den Westen, das hieß nach Lage der Dinge eine Positionierung gegen die Sowjetunion. Eine Schaukelpolitik zwischen Ost und West kam für Hitler und Vater nicht in Frage. Die Erfahrungen der kaiserlichen Politik vor dem Ersten Weltkrieg, von dem damaligen Reichskanzler Bülow euphemistisch als „Politik der freien Hand“ bezeichnet, schreckten von der Versuchung ab, den Schwerpunkt der deutschen Außenpolitik ambivalent zu setzen und zu versuchen, „Ost“ und „West“ gegeneinander auszuspielen. Das berühmte britische „sitting on the fence“ („auf dem Zaun sitzen“), also sich je nach Opportunität für die eine oder andere Seite entscheiden zu können, mochte sich eine Insel mit starker maritimer Macht leisten können, nach Meinung meines Vaters nicht aber ein Land mit der geopolitischen Lage des Deutschen Reiches in der Mitte Europas, das stets Gefahr lief, sich schließlich wie 1914 zwischen allen Stühlen wiederzufinden oder, um es konkreter zu formulieren, durch eine übermächtige Koalition „in die Zange genommen“ zu werden.

Joachim von Ribbentrops Entsendung nach London bedeutete den erneuten, großangelegten Versuch Hitlers, sein außenpolitisches Konzept, mit dem er bei seiner Regierungsübernahme 1933 angetreten war, trotz einiger Enttäuschungen in den vergangenen dreieinhalb Jahren doch noch zu verwirklichen: nämlich das Arrangement mit England, wenn möglich in Form eines Bündnisses, dem er weltpolitische Bedeutung zumaß. Hitler hat damals konsequent „Westpolitik“ betrieben! Dieses bedeutungsvolle Geschehen habe ich seit 1933, also ab meinem zwölften Lebensjahr, aus nächster Nähe miterlebt. Die Entsendung meines Vaters auf den Londoner Posten im Jahre 1936 hatte für die deutsche Außenpolitik der damaligen Zeit eine hohe, quasi „dokumentarische“ Bedeutung. Die Motive der beiden Hauptakteure auf deutscher Seite, nämlich Hitlers und meines Vaters, habe ich zum Teil aus erster Hand zur Kenntnis nehmen dürfen. Es handelte sich um die vertraulichsten Gedanken zur deutschen Außenpolitik. Ich war einmal mehr „Zeitzeuge“ geworden; allerdings, ich stelle es in aller Bescheidenheit fest, lag mein Beitrag dazu ausschließlich in meiner Verschwiegenheit, auf die die Eltern glaubten, sich völlig – und ich meine nicht zu Unrecht – verlassen zu können.

Die Einblicke in die „große Politik“ begannen für mich im Sommer 1932. Ich war damals elf Jahre alt. Wir Kinder wuchsen in einer ausgesprochen politischen Atmosphäre auf, obwohl Vater noch nicht in die aktive Politik involviert war. Die Not und damit die kommunistische Gefahr brannten auf den Nägeln. Wir, meine Schulfreunde und ich, waren damals – ungeachtet unseres geringen Alters – an Politik wesentlich interessierter, als es die Gleichaltrigen heute in der Regel sind. Die deutsche Geschichte und damit die aktuelle deutsche Situation, bestimmt durch Versailles, waren uns stets gegenwärtig, sei es in der Schule, in den Jugendorganisationen (Bündische Jugend) und natürlich zu Hause. Die Innenpolitik hatte sich für mich kleinen Jungen zunächst einmal auf die Frage konzentriert, ob die deutsche Flagge Schwarz-Weiß-Rot oder Schwarz-Rot-Gold sein sollte. Ich war wohl etwa sieben oder acht Jahre alt, als darüber zwischen zwei Onkels in Gegenwart meiner Großmutter Henkell (einer überzeugten Demokratin) eine kontroverse Diskussion geführt wurde. Ich wurde spaßeshalber gefragt, welchen Farben ich den Vorzug geben würde, und entschied mich spontan für Schwarz-Rot-Gold. Natürlich wollten die Onkels sofort meine Gründe für diese Entscheidung wissen. „Wenn der Kaiser abgesetzt sei und wir nun eine Republik hätten, müßten wir auch eine neue Fahne haben“, war meine, die Onkels recht verblüffende Antwort. Sollte in dieser Ansicht eines kleinen Jungen einmal mehr die merkwürdige deutsche Gewohnheit zu Tage getreten sein, bei einem innenpolitischen Systemwechsel zugleich Fahne, Nationalhymne, Uniformen, ja Städte- und Straßennamen und, nicht zu vergessen, die Geschichtsbücher und was sonst noch an Symbolen und Merkmalen nationaler Identität vorhanden war, zu verändern oder sie gleich ganz dem Kehrichthaufen der Geschichte zu überlassen?

Im Sommer des Jahres 1932 wurden wir beiden Geschwister von einer außergewöhnlich hartnäckigen Infektion befallen, die monatelang nicht weichen wollte. Immer wieder folgten eine Halsentzündung, Mittelohrvereiterung und Lungenentzündung der anderen. Mutter hatte unsere Pflege übernommen, es entwickelte sich zwischen ihr und mir schnell ein tiefes Vertrauensverhältnis. Später wird Mutter ihre Mitteilungen immer wieder mit den Worten beginnen: „Du müßtest Dich vierteilen lassen, ehe Du etwas von dem von Dir gibst, was ich Dir jetzt erzählen werde!“ Zu diesen Mitteilungen gehörten beispielsweise die Überlegungen, die allgemeine Wehrpflicht im Alleingang wieder einzuführen oder, noch viel brisanter, die entmilitarisierte Zone im Rheinland gegebenenfalls in einem einseitigen Akt aufzuheben. Ich wurde – Mutter konnte es eigentlich nicht verantworten – zu einem Geheimnisträger erster Ordnung und damit doch wohl auch zum „Zeitzeugen“. Mein einziger Beitrag zu diesem Vertrauensverhältnis war wie gesagt meine absolute Verschwiegenheit, der Mutter voll vertraute. Ich nahm es hin, von meinen Freunden etwas von oben herab gefragt zu werden, ob ich denn kein Interesse an Politik habe, weil ich mich nie äußerte. Ich vermied aus Vorsicht jegliche politischen Gespräche, ein versierter Zuhörer hätte aus meinen Worten vielleicht doch Hinweise herausfiltern können.

11 Ob er auf eigenen Wunsch nach London ging oder entgegen seinen Absichten von Hitler dorthin „abgefunden“ wurde, darüber hat es in der Nachkriegszeit in der Memoirenliteratur groteske Darstellungen gegeben, an die obendrein weitere negative Mutmaßungen über die Botschafterzeit geknüpft wurden. Mein Vater wird in einem persönlichen Bericht an Hitler 1937/38 formulieren: „[…] Als ich den Führer bat, mich nach London zu schicken […].“ Er hätte das wohl kaum an Hitler schreiben können, wenn er Staatssekretär hätte werden oder bleiben wollen, Hitler ihn aber gegen seinen Willen nach London beordert hätte, wie Reinhard Spitzy und Paul Schmidt (siehe dessen Buch: Statist auf diplomatischer Bühne 1923–1945. Erlebnisse des Chefdolmetschers im Auswärtigen Amt mit den Staatsmännern Europas, Bonn 1949) behaupten! Spitzy schreibt in seinem Buch „So haben wir das Reich verspielt. Bekenntnisse eines Illegalen“, München 1986, S. 95: „[…] [Ribbentrop] ging gleich nach der Olympiade, nachdem er große Diplomatenempfänge organisiert hatte, zu Hitler, um den Posten eines Staatssekretärs zu verlangen. Aber Hitler hielt zu Neurath. Ribbentrop wurde mit dem Londoner Botschafterposten abgefunden.“ Die Ernennung wurde allerdings bereits während der Olympiade bekanntgegeben. Wenn man schon diffamierend die Wahrheit auf den Kopf stellt, wie Spitzy es einmal mehr an dieser Stelle tut, sollte man sich vorsichtshalber über die allgemein bekannten Tatsachen informieren; ganz abgesehen davon, daß vor der Bekanntgabe auch noch das Agrément einzuholen war.

12 Striefler, Christian: Kampf um die Macht. Kommunisten und Nationalsozialisten am Ende der Weimarer Republik, Frankfurt/Main 1993.

13 Zu dieser Zeit stand die Rote Armee bereits seit Jahren in Lauerstellung, um politische Verwicklungen zum Marsch nach Westen auszunutzen. Vgl. Musial, Bogdan, FAZ, 14. Januar 2006.

14 Vater hatte im Ersten Weltkrieg während seiner Kommandierung in die Türkei Artikel für die damals sehr bekannte Vossische Zeitung geschrieben.

15 Der Posten des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt war ebenfalls neu zu besetzen, da auch der amtierende Staatssekretär Bernhard Wilhelm von Bülow gestorben war.

16 Eden, Anthony: Memoirs (Bd. 1: Facing Dictators), London 1962, S. 509. Interessant in diesem Zusammenhang auch Ferguson, Niall: Der falsche Krieg, Stuttgart 1999, über die britische Politik vor dem Ersten Weltkrieg.

17 Reventlow, Ernst Graf zu: Deutschlands auswärtige Politik 1888–1914, Berlin 1915 (1918), S. XVIII. In diesem Sinne siehe auch Ferguson, Niall: Der falsche Krieg, Stuttgart 1999.

18 Siehe: Musial, Bogdan: Kampfplatz Deutschland, Berlin 2008.

19 Siehe auch Kordt, Erich: Nicht aus den Akten, S. 70, Stuttgart 1950.

20 Laut unveröffentlichter Denkschrift von Hermann v. Raumer sagte Hitler: „Ribbentrop, […] bringen Sie mir England in den Antikominternpakt, das wäre mein größter Wunsch […].“ Vgl. hierzu auch Michalka, Wolfgang: Ribbentrop und die deutsche Weltpolitik 1933–1980, München 1980, S. 155.

21 Vgl. die Rede Hitlers vor dem Reichstag 29. April 1939: „[…] Dieser Wunsch nach einer deutsch-englischen Freundschaft und Zusammenarbeit deckt sich nicht nur mit meinen Gefühlen, die sich aus der Herkunft unserer beiden Völker ergeben, sondern auch mit meiner Einsicht in die im Interesse der gesamten Menschheit liegende Wichtigkeit der Existenz des britischen Weltreiches.

Ich habe niemals einen Zweifel darüber gelassen, daß ich im Bestande dieses Reiches einen unschätzbaren Wertfaktor für die ganze menschliche Kultur und Wirtschaft sehe […]

Das angelsächsische Volk hat nun ohne Zweifel eine unermeßliche kolonisatorische Leistung auf dieser Welt vollbracht. Dieser Arbeit gehört meine aufrichtige Bewunderung. Der Gedanke an eine Zerstörung dieser Arbeit erschien und erscheint mir von einem höheren menschlichen Standpunkt aus nur als Ausfluß menschlichen Herostratentums.“ Domarus, Max: Hitler – Reden und Proklamationen 1932–1945, Bd. 2, S. 1158.

Schicksalhafte Verhandlungen

In diesen, in meiner Erinnerung schönen Berliner Sommer 1932 fiel der Zeitpunkt, an dem mein Vater zum ersten Mal aktiv in die Politik involviert wurde. Er war unter vertraulichen Umständen nach Berchtesgaden zu Hitler gebeten worden. Mutter erzählte mir damals, Vater sei durch Vermittlung des Grafen Helldorf, des Führers der Berliner SA, veranlaßt worden, Hitler in Berchtesgaden aufzusuchen und ihm vorzuschlagen, den Versuch zu machen, seine Kanzlerschaft durch Verhandlungen mit Hindenburg und Papen zu erreichen. Wolf-Heinrich von Helldorff hatte im Ersten Weltkrieg in demselben Regiment („Torgauer Husaren“) wie mein Vater gedient. Ich erinnere mich noch sehr genau an ihn: ein großer breitschultriger Mann, in brauner Uniform, mit dem Charme eines Landsknechts. Später hat er wohl Vater seine Karriere geneidet, so daß er sich nicht mehr im Hause der Eltern sehen ließ, schließlich ging er in Opposition zur Regierung, an deren Zustandekommen er mitgearbeitet hatte.22

Die Unterhaltung über dieses Treffen mit Hitler war das erste Gespräch mit meiner Mutter über Politik, und ich erinnere mich deshalb sehr gut daran. Nach Vaters Rückkehr aus Berchtesgaden erzählte sie mir, Hitler sei auf seine Anregungen nicht eingegangen. Beide hatten unterschiedliche Auffassungen über den Weg, der einzuschlagen wäre, um Hitlers Ernennung zum Reichskanzler zu erreichen. Vater vertrat dezidiert die Meinung, die in Frage kommenden Gesprächspartner seien Papen und gegebenenfalls der Sohn Hindenburgs, während Hitler glaubte, seine Kanzlerschaft durch eine Verbindung mit Schleicher herbeiführen zu können. Die Unterredung hatte zwei Stunden gedauert. Später wird Hitler äußern: „Ribbentrop ist hartnäckig, ich habe ihm zwei Stunden lang versucht klarzumachen, meine Regierungsbildung ist nur mit Schleicher zu erreichen [Hitler zu Vater: „Ein preußischer General bricht sein Wort nicht.“], um von ihm am Ende wieder zu hören, es werde nur mit Papen und Hindenburg gehen.“ Ein bemerkenswertes Debüt des angeblichen „Jasagers“ Ribbentrop im Umgang mit Hitler. In den letzten Monaten des Jahres 1932 gab es nach dem ergebnislosen Gespräch in Berchtesgaden zunächst keinen engeren Kontakt zwischen beiden.23

In diesem Sommer 1932 lösten Kommunisten und Nationalsozialisten gemeinsam einen Streik der Berliner Verkehrsbetriebe aus. Mutter nahm mir gegenüber dazu mit den Worten Stellung, „wenn die Nazis mit den Kommunisten zusammengehen, können sie mir gestohlen bleiben!“. Dieser Ausspruch erhielt wegen einer späteren Unterhaltung zwischen Vater und Großvater Ribbentrop, der ich beiwohnte, eine gewisse Bedeutung, in der es sich darum drehte, ob Hitler, falls er an die Regierung käme, das kapitalistische Wirtschaftssystem im großen und ganzen beibehalten werde. Ich verstand natürlich damals noch nicht genau, worum es dabei ging, aber die Szene steht deutlich vor meinen Augen. Es sei daran erinnert, daß es auch in der NSDAP eine starke sozialistische Strömung gegeben hat. In dieser Unterhaltung mit Großvater vertrat Vater die Auffassung, das Wirtschaftssystem werde unter Hitler im Prinzip „kapitalistisch“ bleiben. Damit war gemeint, daß das Eigentum an den Produktionsmitteln bei den Eigentümern verblieb, allerdings bei gleichzeitigen Eingriffsrechten des Staates in die Wirtschaft, soweit es erforderlich erschien. Er hat damit recht behalten, obwohl im Jahre 1932 wohl nicht mit völliger Sicherheit davon ausgegangen werden konnte.

Eines Tages im Januar 1933 erschienen zum Mittagessen zwei Herren und wurden vor Tisch von den Eltern kurz in den Garten geführt. Es schien uns nichts Bemerkenswertes vorzugehen, denn wenn auch der frühere gesellschaftliche Verkehr der Eltern wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse reduziert worden war, so kamen doch oft Gäste zu den Mahlzeiten, und zwar, wie damals üblich, häufig auch mittags; zum „Frühstück“, wie man das in Berlin nannte. Es fiel uns aber durchaus auf, daß der Ton und die Atmosphäre zwischen den Eltern und den Besuchern ein ganz anderer war als sonst mit ihren Freunden und Gästen. Es herrschte nicht die übliche und auch von uns Kindern bereits bemerkte vergnügte Leichtigkeit der Unterhaltung. Wir konnten nicht ahnen, was dieser Besuch für unser aller Leben bedeuten sollte. Unauffällig, beinahe lautlos, war das Schicksal in das Haus unserer Kindheit getreten.

Bei den beiden Herren – es waren Himmler und Keppler24 – handelte es sich um Abgesandte Hitlers. Sie hatten den Auftrag, meinen Vater zu bitten, die Vermittlung von Verhandlungen mit Papen und Oskar von Hindenburg, dem Sohn des Reichspräsidenten, über die Möglichkeiten einer Regierungsbildung zu übernehmen, ausgehend von den Vorstellungen, die er vor Monaten Hitler in dem oben erwähnten Gespräch vergeblich dargelegt hatte.

Einige Tage nach dem bereits erwähnten Besuch der Herren Himmler und Keppler, wir Kinder saßen beim Abendessen, erschien mein Vater im Eßzimmer und gab dem Diener einige Anweisungen für den Besuch mehrerer Herren, die er erwartete. Wir registrierten das Ungewöhnliche dieses Vorgangs, denn nie hatte er sich um Vorbereitungen für irgendeinen Besuch oder eine Gastlichkeit gekümmert. Durch seine Vermittlung waren die Gespräche in seinem Sinne wiederaufgenommen worden und fanden wegen der gewünschten Vertraulichkeit unter Teilnahme Hitlers, Papens, des Hindenburg-Sohnes und anderer mehrere Male in unserem Hause statt. Sie sollten streng geheimgehalten werden, daher wurde Hitler bei Dunkelheit durch den Garteneingang in das Haus geführt. Die Gespräche führten schließlich zu Hitlers Ernennung zum Reichskanzler.

Meine Eltern haben die dramatischen Tage im Januar 1933 stichwortartig festgehalten. Ich will die Stichworte hier wiedergeben, weil sie zwischen den Zeilen einmal die unabhängige Rolle meines Vaters im Rahmen der Verhandlungen widerspiegeln, und auch zum anderen deshalb, weil diese Umstände vielfach unkorrekt verkürzt wiedergegeben worden sind.25 Meine Mutter schrieb:

Die Zusammenkünfte in unserem Hause blieben streng geheim, was für das Gelingen der Regierungsbildung nicht unwichtig war. Ich erinnere mich besonders deutlich an die Besprechung, die in der Nacht vom 10. zum 11. Januar 1933 stattfand, weil ich an diesem Abend mit Adolf Hitler zum ersten Male zusammentraf. Ich begrüßte ihn im Arbeitszimmer meines Mannes, wo er mit Herrn von Papen eine Besprechung unter vier Augen führte. Am 12. Januar erwarteten wir Hitler und Papen zum Mittagessen; Hitler sagte ab; Papen kam allein und äußerte sich besorgt hinsichtlich der Lippe-Wahlen. Von dem erwarteten Erfolg der NSDAP befürchtete er eine Versteifung der Haltung Hitlers.

Zu den Besprechungen wurde Herr von Papen von unserem langjährigen Fahrer abgeholt und zurückgebracht. Hitler dagegen pflegte auf unserem Garagengrundstück aus- und einzusteigen, um unser Haus durch den Garten unbemerkt zu erreichen. Über den Gang der Besprechungen diktierte ich nach Angaben meines Mannes tägliche Notizen, die mein Mann in den letzten Januartagen selbst fortführte. Ich gebe diese Aufzeichnungen, wie sie mir vorliegen, nachstehend wieder:

Dienstag 10. 1. 33. Unterredung mit Hitler und Papen. Hitler will keine weitere Zusammenkunft mit Papen vor der Lippeschen Wahl.

Sonntag 15. 1. Joachim fährt nach Oeynhausen. Lange Besprechung mit Hitler allein. Nachts zurück nach Berlin. Verabredete Besprechung Papen – Hitler entweder Montagabend bei Schultze-Naumburg oder Dienstag in Halle.

Montag 16. 1. Unterredung hat nicht stattgefunden, da Papen abends bei Lersner.

Dienstag 17. 1. Papen in Halle, Hitler in Weimar. Keine Zusammenkunft. Abends kommt Hitler nach Berlin zurück.

Mittwoch 18. 1., 12 Uhr, in Dahlem bei uns: Hitler, Röhm, Himmler, Papen. Hitler besteht auf Kanzlerschaft. Papen hält dies erneut für unmöglich. Das durchzusetzen, übersteigt seinen Einfluß bei Hindenburg. Hitler verabredet keine weiteren Besprechungen. Joachim macht versuchsweise den Vorschlag, den Sohn Hindenburgs mit Hitler zusammenzubringen.

Donnerstag 19. 1. Lange Verhandlungen Joachim und Papen allein.

Freitag 20. 1. Abends lange Unterredung bei Papen. Papen teilt mit, daß Sohn Hindenburg und Meißner Sonntag nach Dahlem kommen werden.

Samstag 21. 1. Joachim berichtet Hitler von bevorstehender Zusammenkunft. Hitler erklärt darauf, aus welchem Grund er „Schleicher“ nicht einladen will. Hitler will Göring und Epp mitbringen.

Sonntag 22. 1. Abends 10 Uhr Zusammenkunft in Dahlem. Papen kommt allein schon um 9 Uhr. Anwesend sind: Hitler, Frick, Göring, Körner, Meißner, Sohn Hindenburg, Papen und Joachim. Hitler spricht zwei Stunden allein mit Sohn Hindenburg. Daraufhin Aussprache Papen – Hitler. Papen will jetzt Kanzlerschaft Hitlers durchsetzen, sagt aber zu Hitler, wenn dieser kein Vertrauen zu ihm habe, wolle er sofort die Sache niederlegen.

Montag 23. 1. Papen morgens bei Hindenburg. Dieser hat alles abgelehnt, Joachim geht zu Hitler, um ihm dies zu erklären. Lange Aussprache über die Möglichkeit eines Kabinetts Schacht. Hitler lehnt alles ab.

Dienstag 24. 1. Tee in Dahlem (wieder bei uns): Frick, Göring, Papen, Joachim. Beschlußfassung über eine nationale Front zur Unterstützung Papens beim alten Hindenburg.

Mittwoch 25. 1. Wieder Tee in Dahlem. Joachim spricht mit Sohn Hindenburg allein. Es ergibt sich, daß eine Kanzlerschaft Hitlers unter den Auspizien einer neuen nationalen Front nicht ganz aussichtslos sei. Sohn Hindenburg sagt Joachim zu, daß er vor endgültiger Stellungnahme seines Vaters nochmals Rücksprache mit Joachim halten werde.

Donnerstag 26. 1. Lange Aussprache mit Frick und Göring im Reichstag. Verhandlungen mit den Deutschnationalen abends bei Prinz Oskar in Potsdam, Brief an Hugenberg.

Freitag 27. 1. Hitler wieder in Berlin. Lange Aussprache mit ihm in Görings Wohnung. Hitler will sofort abreisen. Joachim schlägt Vereinigung mit Hugenberg vor, zur Herstellung einer nationalen Front. Erneute Zusammenkunft mit altem Hindenburg wird vereinbart. Hitler erklärt, daß er dem Feldmarschall alles gesagt habe und nicht mehr wüßte, was er ihm noch sagen solle. Joachim überredet Hitler, daß das als letztes versucht werden müßte und die Sache absolut nicht hoffnungslos sei. Joachim schlägt Hitler vor, nationale Front schnellstmöglich herzustellen und sich mit Papen zu endgültiger Aussprache abends 10 Uhr in Dahlem zu treffen. Hitler sagt zu, in diesem Sinne vorzugehen und abends mit Papen über Einigung mit Hugenberg zu verhandeln. Im Anschluß daran lange Aussprache mit Göring, wobei weitere Taktik besprochen wurde. Am späten Nachmittag Anruf von Göring, Joachim möge sofort ins Reichstagspräsidentenhaus kommen. Dort Unterredung mit Hugenberg. Hitler und Göring (zwei Namen unleserlich) mit Krach auseinandergegangen wegen unmöglicher Forderungen der Deutschnationalen. Hitler, der über diese Verhandlung sehr empört ist, will sofort nach München abreisen. Göring überredet ihn, noch zu bleiben oder wenigstens nur bis Weimar zu fahren. Allmählich gelingt es Göring und Joachim, Hitler zu beruhigen. Aber alles Mißtrauen Hitlers ist neu geweckt. Situation sehr bedenklich. Hitler erklärt, daß er Papen abends in Dahlem nicht sehen könne, da er nicht in der Lage sei, sich auszusprechen.

Im folgenden das unmittelbare Diktat meines Vaters26:

Ich habe Hitler noch nie in einem solchen Zustand gesehen; ich schlage ihm und Göring vor, Papen abends allein zu sprechen und ihm die ganze Situation klarzulegen. Abends spreche ich mit Papen und überzeuge ihn schließlich, daß nur die Kanzlerschaft Hitlers, für die er sich ganz einsetzen müsse, einen Sinn hätte. Papen sagt, daß die Hugenbergsche Sache nur eine untergeordnete Rolle spiele, und erklärt, daß er sich jetzt voll und ganz zur Kanzlerschaft Hitlers bekenne, was den entscheidenden Wendepunkt in der Haltung Papens bedeutete. Papen wird sich seiner Verantwortung bewußt – drei Möglichkeiten: entweder Präsidialkabinett mit nachfolgender (unleserlich) oder Rückkehr des Marxismus unter Schleicher oder Rücktritt Hindenburgs. Dagegen die wirklich einzige klare Lösung: Kanzlerschaft Hitlers. Papen wird sich nun restlos klar, daß er jetzt unter allen Umständen Hitlers Kanzlerschaft durchsetzen muß und nicht wie bisher glauben darf, sich Hindenburg auf jeden Fall zur Verfügung halten zu müssen. Diese Erkenntnis Papens ist meines Erachtens der Wendepunkt der ganzen Frage. Papen ist am Sonnabendvormittag 10 Uhr bei Hindenburg angesagt.

Sonnabend 28. 1. Ich bin gegen 11 Uhr bei Papen, der mich mit der Frage empfängt: „Wo ist Hitler?“ Ich sagte ihm, daß er wahrscheinlich schon abgereist ist, vielleicht noch in Weimar erreichbar. Papen erklärt, man müsse ihn sofort zurückholen, da ein Wendepunkt eingetreten sei und er die Kanzlerschaft Hitlers nach seiner langen Aussprache mit Hindenburg für möglich halte. Ich gehe sofort zu Göring und höre, daß Hitler noch im Kaiserhof ist. Göring ruft an, Hitler bleibt in Berlin. Dann kommt eine neue Schwierigkeit auf: die Preußenfrage27. Lange Aussprache und Auseinandersetzung mit Göring. Ich erkläre ihm, daß ich sofort niederlege, wenn nochmals Mißtrauen gegen Papen vorgebracht wird. Göring lenkt ein und erklärt sich restlos einig mit mir und verspricht nunmehr, mit Hitler zusammen alles zu versuchen, um die Sache zum guten Ende zu führen. Göring will Hitler überreden, die Preußenfrage im Sinne Papens zu erledigen. Ich fahre sofort mit Göring zu Hitler. Habe Hitler lange allein gesprochen und nochmals klargemacht, daß die Sache nur mit Vertrauen zu machen sei und die Kanzlerschaft nicht mehr unmöglich scheine. Ich habe Hitler gebeten, noch nachmittags zu Papen zu kommen. Hitler will jedoch wegen der Preußenfrage noch überlegen und erst Sonntag vormittag zu Papen gehen. Diesen Entschluß habe ich Papen überbracht, der erneut in große Sorge geriet. Er sagte: „Ich kenne die Preußen!“ Dann wird eine Besprechung Hitler–Papen für Sonntag 11 Uhr morgens verabredet.

Sonntag 29. 1. Um 11 Uhr lange Aussprache Hitler–Papen. Hitler erklärt, daß im großen und ganzen alles im klaren sei. Es müßten aber Neuwahlen angesetzt werden und ein Ermächtigungsgesetz müsse kommen. Papen begibt sich sofort zu Hindenburg. Ich frühstücke im Kaiserhof mit Hitler. Die Frage der Neuwahlen wird besprochen. Da Hindenburg nicht wählen lassen will, bittet er mich, Hindenburg zu sagen, daß dies die letzten Wahlen seien. Nachmittags gehen Göring und ich zu Papen. Papen erklärt, daß alle Hindernisse beseitigt seien und daß Hindenburg Hitler morgen um 11 Uhr erwartet.

Montag 30. 1. Hitler ist zum Reichskanzler ernannt.

Einen besonderen Wendepunkt stellte das Treffen vom 24. Januar dar, an dem die „Beschlußfassung über eine nationale Front“ erging, die der Hebel wurde, mit dem Hindenburgs Abneigung gegen eine Kanzlerschaft Hitlers letztlich überwunden werden konnte. Diese Zusammenkunft von Hitler, Papen, Göring, Frick und meinem Vater könnte man als die eigentliche Geburtsstunde des „Dritten Reiches“ bezeichnen.

Eine kleine amüsante Geschichte sollte ich deshalb anhängen: Goebbels schrieb ein Buch über die „Regierungsbildung Hitlers“, wie es damals hieß, unter dem Titel „Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei“, in dem er die Geschehnisse bis zum 30. Januar 1933 authentisch geschildert haben will. Vater, dessen Rolle aus dem Vorstehenden deutlich sichtbar wird, wurde von Goebbels, der selbst nicht einbezogen oder auch nur im Detail informiert worden war, mit keinem Wort erwähnt. Das veranlaßte Vater, beim Mittagessen in Dahlem lachend zu erklären: „Eines habe ich bereits in der aktiven Politik gelernt, Geschichtsfälschung wird nicht erst nach hundert Jahren betrieben, sondern im Augenblick, in dem sie gemacht wird!“ Er konnte nicht ahnen, wie sein Ausspruch einmal auf ihn selbst und sein politisches Handeln zutreffen würde. Damals jedenfalls konnte Vater über solche Vorfälle und die einbezogenen Akteure noch lachen! Für mich war Vaters Feststellung – ich erinnere mich genauestens – beinahe eine „kleine Offenbarung“ und begründete die wachsende Erkenntnis; absolute historische Wahrheit gibt es wohl nie! Dieses Wissen hat mir enorm geholfen, die Vergangenheit gelassen zu „bewältigen“ und sie vor allen Dingen unvoreingenommen zu beurteilen.

Verständlich, daß Mutter mir elfjährigem Jungen zunächst nichts von den Vorgängen berichtete. Noch hatte sich für meine Mutter keine Gelegenheit ergeben, meine Verschwiegenheit zu testen. Das sollte sich aber schon bald ändern. Hitler hatte meinen Vater nach seinem Regierungsantritt gebeten, private Sondierungen in England und Frankreich zum deutsch-englischen bzw. deutsch-französischen Verhältnis vorzunehmen und zu berichten. Vaters Berichte waren unmittelbar an Hitler gerichtet, denn er war zunächst völlig inoffiziell, das heißt nur in Hitlers persönlichem Auftrag tätig. Er konnte diese Berichte keinesfalls den Sekretärinnen in seiner Firma diktieren. Er hätte alle Regeln der Geheimhaltung verletzt! So wurde ich eines Tages von Mutter darauf angesprochen, ob ich in der Lage wäre, einen strengvertraulichen Brief „an den Reichskanzler“ zu tippen? Meine modern denkenden Eltern hatten mir etwa im Alter von sieben oder acht Jahren zu Weihnachten eine kleine amerikanische Reiseschreibmaschine vom Typ „Underwood“ geschenkt. Sie waren der Meinung, man könne nicht früh genug lernen, damit umzugehen. Sehr ernst machte sie mich darauf aufmerksam, ich dürfte nie auch nur ein Sterbenswörtchen über den Inhalt des Briefes von mir geben, es handle sich um Staatsgeheimnisse. So tippte ich verschiedentlich immer gerade die Berichte mit vertraulichstem Inhalt. Oft allerdings blieb meinem Vater aber nichts anderes übrig, als seine Berichte mit der Hand zu schreiben!28