Meine Gedanken fliegen wie Schmetterlinge - Eveleen Valadon - E-Book

Meine Gedanken fliegen wie Schmetterlinge E-Book

Eveleen Valadon

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Beschreibung

Eveleen Valadon erinnert sich sehr gut an die Vergangenheit, doch ihr Kurzzeitgedächtnis lässt sie immer öfter im Stich. Vor vier Jahren bekam sie die Diagnose Alzheimer. Aus Scham hielt sie ihre Krankheit anfangs selbst vor ihrem engsten Umfeld geheim. Doch dann beschloss sie zu erzählen. Davon, wie es sich anfühlt, wenn die Gedanken wie Schmetterlinge im Kopf herumflattern. Mit bewundernswertem Mut ringt Eveleen Valadon ihrem inneren Feind ein autonomes Leben ab und beweist auf berührende Weise, dass sie noch immer sie selbst ist.

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Seitenzahl: 192

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Das Buch

Eveleen Valadon erinnert sich sehr gut an die Vergangenheit, doch ihr Kurzzeitgedächtnis lässt sie immer öfter im Stich. Vor vier Jahren bekam sie die Diagnose Alzheimer. Aus Scham hielt sie ihre Krankheit anfangs selbst vor ihrem engsten Umfeld geheim. Doch dann beschloss sie zu erzählen. Davon, wie es sich anfühlt, wenn die Gedanken wie Schmetterlinge im Kopf herumflattern. Begleitet von der Journalistin Jacqueline Remy, lässt Eveleen Valadon Leserinnen und Leser teilhaben an ihren täglichen Herausforderungen, die sie mit bewundernswertem Mut, Einfallsreichtum und enormer Kraft meistert. Sie ringt ihrem inneren Feind ein autonomes Leben ab und beweist auf berührende Weise, dass sie immer noch sie selbst ist.

»Ein eindringliches Buch, das einen unschätzbaren Beitrag dazu leistet, Alzheimer zu verstehen.« PD Dr. med. Michael Nehls, Autor des SPIEGEL-Bestsellers Alzheimer ist heilbar

»Dieses Buch stellt alles auf den Kopf, was wir über Alzheimer-Patienten zu wissen glauben.«   L’OBS

»Eveleen Valadon lässt die Leser hinter die Kulissen ihrer Krankheit blicken und enthüllt ihren täglichen Kampf.«   L’Express

Die Autorinnen

Eveleen Valadon ist Französin mit britisch-irischen Wurzeln, war verheiratet und hat drei Kinder. Sie leitete eine Presseagentur in Paris, unterrichtete Englisch und ist eine vielfach ausgestellte Malerin. In ihrem persönlichen und eindringlichen Buch »Meine Gedanken fliegen wie Schmetterlinge« erzählt sie begleitet von der französischen Journalistin Jacqueline Remy von ihrem Leben mit Alzheimer.

Eveleen Valadon

Jacqueline Remy

MEINE GEDANKEN

FLIEGEN WIE

SCHMETTERLINGE

Wie ich mit Alzheimer lebe

Mit einem Nachwort

von Dr. Lisette Volpe-Gillot

Aus dem Französischen

von Doris Heinemann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © Kero, 2017

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Mes pensées sont des papillons bei Kero, Paris

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Antje Steinhäuser

Umschlaggestaltung: Geviert, München, Andrea Hollerieth, unter Verwendung eines Motivs von © plainpicture

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-23200-9V001

www.diana-verlag.de

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»Das ist just der Geist des Aufruhrs,

hier im Leben Glück zu fordern.«

HENRIK IBSEN

Vorwort

Dieses Buch ist das Ergebnis einer doppelten Herausforderung, die eine nahm Eveleen Valadon an, als sie einwilligte, ihre Erfahrung mit einer Krankheit zu schildern, die dem Normalsterblichen immer noch ein Rätsel ist, die andere ich, als mir die Aufgabe anvertraut wurde, ihr zuzuhören und einen Text zu verfassen, der ihr gerecht wird und die Zufälligkeiten ihres oft sprunghaften Denkens respektiert.

Der Gedanke, ein Buch zu schreiben, begeisterte diese kämpferische Frau, eine Lehrerin und Malerin, die nie vor einem Abenteuer zurückgeschreckt ist. Eveleen Valadon, bei der vier Jahre zuvor Alzheimer diagnostiziert worden war und die, von einer Hilfe zwei Stunden am Tag unterstützt, allein lebt, stürzte sich voller Leidenschaft in diese in Wellen aus ihrem ganzen Leben auftauchenden Erinnerungen, obwohl ihr Kurzzeitgedächtnis manchmal aussetzt und sie sich lange ins Leugnen geflüchtet hat.

Sie hüllte sich in eine mit Schmetterlingen bedruckte Stola, als wollte sie auf diese Weise ihre schmetterlingsgleich umherflatternden Gedanken zähmen, und begann zu erzählen. Wir hatten beide nicht ermessen können, welche Mühe und welche Entschlossenheit ihr diese Arbeit abverlangen würde.

Zu einem bestimmten Zeitpunkt war es zu viel. Im Grunde war Eveleen zwar bereit, über sich selbst zu sprechen, nicht aber über ihre Krankheit. Sie brach zusammen, wollte das ganze Vorhaben aufgeben. »Es vervielfacht den Schmerz, wenn man von ihm spricht«, erklärte sie mir.

Doch trotz der Ängste waren unsere Gespräche für sie auch beglückend gewesen. Zudem kam dieses Buchprojekt ihrem Wunsch entgegen, die Krankheit in Schach zu halten. Also rief sie mich noch einmal an. Und dann setzten wir die Gespräche fort, sie mit ihrer Schmetterlingsstola, ich mit meinem Tonbandgerät. Ein »Kampf im Nebel«, sagt sie, was viel aussagt über eine trotz aller über sie kursierenden Klischees wenig bekannte Krankheit. Das ist die Geschichte, die Eveleen Valadon uns hier erzählt.

JACQUELINE REMY

1

Bei Alois

»Sie haben ein Gedächtnis wie ein Elefant.«

Ich hätte mir nie vorstellen können, eines Tages Gedächtnisprobleme zu bekommen. Nie, dass ich hinter meinen Gedanken herrennen müsste, die kommen und gehen und wie Schmetterlinge davonflattern.

Und dennoch ist dies um die Jahrtausendwende herum zu einer ganz verbreiteten Sorge geworden, fast schon zu einer Redewendung. Ich bin sicher, das ist auch Ihnen schon passiert: Sie gehen vom Schlafzimmer in die Küche und wissen nicht mehr, was Sie dort holen wollten … Ihnen fällt der Titel eines Films oder der Vorname der Nachbarin nicht mehr ein … »Wer weiß, vielleicht habe ich Alzheimer!«

Dieser Krankheit werden Budgets, Artikel, Fernsehsendungen und weltweite Gedenktage gewidmet. Unsere Hilflosigkeit wird wissenschaftlich gemessen. Es werden reihenweise bedrückende Statistiken veröffentlicht. Jeder kennt einen, der … Oder einen, dessen Mutter oder Vater … »Vielleicht habe ich schon morgen …«

Nun, was mich betrifft, dieser Gedanke hat mich nie gestreift. Keine Sekunde lang habe ich vorausgesehen, dass ich eines Tages den Faden meiner Erinnerungen, besonders der allerjüngsten, verlieren würde. Niemals habe ich auf das Internet oder ein Lexikon zurückgreifen müssen, um mein Gedächtnis aufzufrischen. Als ich nach mehreren Berufen und drei Kindern mit dreißig Jahren wieder studierte, sagte einer meiner Professoren, dem ich regelmäßig bei Gedächtnislücken beisprang: »Eveleen, Sie haben das Gedächtnis eines Elefanten!«

Inzwischen weiß ich, dass auch Elefanten Gedächtnislücken haben … Das erfuhr ich vor vier Jahren aus dem Mund der Ärztin, die mir sagte, dass ich von dieser Krankheit betroffen war. Oh! Dr. T. blieb ein bisschen vage. Sie verwendete eine Metapher, um den Namen der Krankheit nicht zu bald aussprechen zu müssen. Aber ich habe sie verstanden. Und mir ist der Himmel auf den Kopf gefallen.

Nein, darauf war ich nicht gefasst. Vor fünf Jahren musste ich mich an der Hüfte operieren lassen, ich bekam eine Prothese, und es ist nicht besonders gut gelaufen. Die Reha war nicht erfolgreich. Ich musste in ein anderes Rehazentrum wechseln. Doch dort verirrte ich mich andauernd, wenn ich von einer Abteilung in die andere musste, vom Sprechzimmer des Arztes zu dem der Physiotherapeutin oder ins Sekretariat. Obwohl ich immer einen guten Orientierungssinn gehabt hatte, geriet ich ständig ins falsche Stockwerk oder an die falsche Tür. Das war seltsam, aber es bereitete mir zunächst keine besonderen Sorgen.

Dem Leiter der Abteilung hingegen schon. Er schrieb einen Brief an ein benachbartes Krankenhaus, und ich bekam einen Termin bei einer Neurologin. Ich bin keine sonderlich gefügige Patientin, aber ich ging hin, weil ich auch ein tapferer kleiner Soldat bin, wenn es um meine Gesundheit geht. Man untersuchte mein Gehirn, machte Röntgenaufnahmen und ein MRT. Und dann auch noch eine Lumbalpunktion. Ich kann mich nicht mehr so gut erinnern, was noch alles geschah. Die Ärztin bat mich, ein paar Schritte zu gehen. Ich glaube, ich musste auch rückwärtszählen. Als sie hinausging, um meine Unterlagen zu holen, versuchten meine Tochter Christine und mein Sohn Gilles, die bei mir waren, zu scherzen: »Selbst wir können nicht so ohne Weiteres rückwärtszählen!«

Es war ein spannender Augenblick. Endlich kam Dr. T. mit den Ergebnissen zurück.

»Die Untersuchungsergebnisse scheinen auf eine degenerative Erkrankung hinzuweisen«, sagte sie.

Ja, wenn ich jetzt daran zurückdenke, fällt mir auf, dass sie den Namen der Erkrankung nicht nannte.

Danach kamen meine Kinder und ich wieder im Wartezimmer zusammen. Und ich brach in Tränen aus. Normalerweise weine ich innerlich. Die Tränen hebe ich mir für die Momente auf, in denen ich allein bin.

Doch da weinte ich sichtbar. Ich hatte begriffen, dass ich nie wieder so sein würde wie vorher. Diese Bedrohung durch das Alter war für mich sichtbar geworden, mir war, als würde ich in einen Abgrund des Ungewissen fallen. Ich rief meine beste Freundin an, Aileen, deren Mann an dieser Krankheit leidet. Sie reagierte in gereiztem Ton, so, als wollte ich mich nur interessant machen: »Es kann gar nicht sein, dass du das hast, mein Mann hätte niemals zum Telefon gegriffen, um irgendwen anzurufen.«

Diese Reaktion hat mir sehr wehgetan, ich hatte ein wenig Empathie erwartet. Das war vor vier Jahren. Ich glaube, sogar heute noch will sie es nicht glauben. Wir treffen uns nicht mehr. Sie müsste mich jetzt anrufen. Ich habe dazu keine Lust.

Von dieser Freundin und meiner Familie abgesehen, wollte ich mit niemandem darüber sprechen. Vielleicht aus Eitelkeit oder Stolz. Aber wissen Sie, man verbindet so viel Abwertendes mit dieser Krankheit. Die Leute, die sie haben, gelten als ein bisschen plemplem. Ich mochte ihren Namen nicht in den Mund nehmen. Ich nannte sie beim Vornamen, dem Vornamen des Mannes, der sie entdeckt hat. Alois, genau. Ich bin bei Alois.

Nein, ich weigerte mich keineswegs, zu dieser Krankheit zu stehen. Ich hatte Angst, ich habe immer noch Angst. Um mich zu beruhigen, sage ich mir, dass jeder Fall einzigartig ist. Ich vergleiche mich mit den anderen Patienten, denen ich in der Kunsttherapie-Werkstatt im Krankenhaus begegne. Diese Menschen sind alle normal, und das tröstet mich. Man merkt nicht, dass sie manchmal nach Wörtern suchen oder sie verwechseln. Sie drücken sich völlig richtig aus, jedenfalls meistens.

Es gab nämlich in dem Wohnhaus, in dem ich lebe, eine Frau, die an dieser Krankheit litt. Ich war eng mit ihr befreundet. Sie war Mexikanerin. Als ich neu eingezogen war, kam sie als Erste und hieß mich herzlich willkommen. Doch mit der Krankheit wurde sie schwierig. Sie drängte sich auf, die Arme, belästigte mich, klingelte dreimal am Tag bei mir und rief dauernd an. Ich kam nicht mit ihr zurecht, vor allem, nachdem ich wusste, dass ich dasselbe Problem hatte. Ich war verwundbar.

Vor zehn Tagen, kurz nach Neujahr, erfuhr ich, dass sie im letzten Sommer verstorben ist, das hatte mir niemand gesagt. Es verstörte mich doppelt. Ihr Tod traf mich, und ich fühlte mich ein bisschen schuldig, weil ich mich nicht mehr um sie gekümmert hatte. Angeblich hatte sie, um nicht allein zu sein, einen jungen Mann in ihre Wohnung aufgenommen, der dann mit ihrer gesamten Habe getürmt ist. Er hat es ausgenutzt, dass sie schwach und nicht ganz sie selbst war. Das hat mich schockiert.

Anfangs bekam ich eine Behandlung verschrieben, Wirkstoffpflaster. Nach einiger Zeit jedoch wurde ich allergisch dagegen. Die Geriaterin sagte mir, ich solle sie nicht mehr verwenden. Ich bestellte dann Medikamente, die von einer Berühmtheit empfohlen worden waren; als ich Dr. T. davon erzählte, schien sie nicht viel davon zu halten. Sie verordnete mir ein anderes Medikament, das ich relativ gut vertrage, wenn ich es nur jeden zweiten Tag nehme. Aber ich bin nicht sicher, ob es funktioniert.

Die Krankheit ist in mich eingedrungen, ich bin ein bisschen durcheinander. Aber eigentlich war ich immer so, ich rede und rede und rede. Und jetzt wiederhole ich mich. Wenn ich an die Nachbarin zurückdenke, die mich so belagert hat, sage ich mir, dass es für die anderen ziemlich nervig sein muss.

Ich lebe allein. Sandrine kommt unter der Woche zwei Stunden am Tag, und Madame Mekki übernimmt das Wochenende. Ja, ich brauche ein wenig Hilfe. Ich bekomme mein Essen gekocht, weil ich Angst habe, etwas falsch zu machen. Alles, was mir nicht als Automatismus in Fleisch und Blut übergegangen ist, verlangt mir ungeheure Mühe ab. Es ist die Erinnerung an den Augenblick, die mir fehlt. Wo habe ich meine Armbanduhr hingelegt? Wo ist mein Telefon? Ich erinnere mich an alle Alltagsgesten, doch manchmal frage ich mich: »Und wo bin ich hier?«

Gestern bin ich in die Apotheke gegangen, und als ich ankam, wusste ich nicht mehr, was ich dort holen wollte. Alle Telefonnummern, die ich brauche, sind in meinem Telefon gespeichert, aber manchmal habe ich Mühe, sie zu finden.

An dem Tag, als Dr. T. mir sagte, dass ich jetzt bei Alois bin, wurde mir klar, dass mein Leben kippen würde. Ich war daran gewöhnt, darüber zu bestimmen, ich war diejenige, die das Kommando hatte. Von nun an würde die Krankheit versuchen, die Kontrolle zu übernehmen. Ich war fest entschlossen, mir nichts gefallen zu lassen. Zunächst habe ich die Diagnose wütend abgelehnt. Inzwischen habe ich sie akzeptiert, aber es ist mir wichtig zu kämpfen.

Ich kämpfe und kämpfe. Eine innere Stimme sagt mir, bis wohin und nicht weiter. Denn dieser Kampf ist sehr aufreibend.

Sie hat ihren Vater und ihre Mutter auf das Sofa gestellt. Gerahmte Fotos. Sie sind schön. Er spielt Geige, das fein geschnittene Profil unter dem romantischen Haarschopf zur Seite geneigt. Sie ist hinreißend, gleicht einer Leinwandgöttin aus den Zwanzigern, eine verschwommene Gestalt in Sepiatönen. Ihre großen Brüder sind da, umrahmen sie als Kind, und auch ihre eigenen Kinder, als müsse sie sich alle vergegenwärtigen, die wichtig sind oder waren.

Sie freut sich, ist eine gute Gastgeberin. Keinen Augenblick lang vermittelt Eveleen den Eindruck, sie sei krank. Da ist nur diese subtile Art, abzuschweifen oder eine Volte zu schlagen, um einer Frage auszuweichen, die sie nicht mehr beantworten kann.

Wenn ihr ein Datum oder ein Name nicht einfällt, wendet sie sich oft mit fragendem Blick an ihren Sohn oder ihre Tochter, wenn diese da sind. Doch oft wissen auch sie nicht weiter. Denn niemand erinnert sich an alles. Vergessen ist normal, das Gedächtnis muss eine Auswahl treffen. Und man fragt sich, wo die Krankheit anfängt.

Doch mit dieser Frage belastet Eveleen sich nicht unnötig. Sie beklagt sich keinen Moment lang. Geht schnell zu etwas anderem über. Die Krankheit verschwindet aus dem Themenbereich des Gesprächs.

Sie ist ganz einfach eine charmante, lebhafte alte Dame, die von den großen Augenblicken und kleinen Dingen erzählt, die ihre Lebensfreude speisen. Ihr Lehrerinnenberuf, ihre Leidenschaft für die Malerei, ihre Familie, ihre Begegnungen mit anderen Menschen, ihre intellektuellen Freundschaften, ihr Engagement.

Doch wenn wir uns für das nächste Interview verabreden, fragt sie mich plötzlich zum x-ten Mal: »Würden Sie mir noch einmal Ihren Vornamen sagen?«

2

Eine Lebenskunst

»Ich tue so als ob …«

Ich war sehr avantgardistisch, und jetzt fühle ich mich sehr zurückgeblieben. Ich sage einfach mal, was mir dazu einfällt. Zum Beispiel bin ich hilflos bei allem, was mit Informatik zu tun hat. Doch seit dem Ausbruch der Krankheit hat sich die Hilflosigkeit auf tausend Einzelheiten meines täglichen Lebens ausgedehnt. Ich habe eine wunderbare Zugehfrau, die für mich alles wieder in Ordnung bringt.

Es ist nicht schön, das zugeben zu müssen. Diese Krankheit macht mir Komplexe. Ich denke an meinen Vater, der mir, von einem Hirntumor befallen, kindliche Briefe voller Rechtschreibfehler schickte.

Ich empfinde eine ständige Müdigkeit, und es gibt ein Problem bei der Medikation. Die Behandlung ist noch nicht ideal. Alles macht mich schläfrig. Vor meinen Augen wallen Nebel. Und zu dieser enormen Müdigkeit kommt der große seelische Schmerz, nicht mehr zu sein wie vorher. Wie soll ich das verständlich machen? Ich weiß, dass ich nichts weiß, könnte man sagen. Ja, das ist mir bewusst.

Und deshalb setze ich meine ganze Kraft ein, um eine gute Verfassung vorzutäuschen, das zu spielen, was ich früher war: Ich tue so als ob. Ich will den Bildern nicht gleichen, die über Alois im Umlauf sind, es gibt da so viele falsche Vorstellungen. Am nationalen Alzheimertag strahlte France Culture eine Sendung über diese Krankheit aus. Verblüfft hörte ich, wie die Gesprächsteilnehmer immer wieder die Aggressivität der Erkrankten betonten. Sie sagten, die Kranken könnten wirklich bösartig sein. Und sie diskutierten auch ausführlichst über das Thema Demenz. Es war widerlich, ich hielt mir die Ohren zu. Als ich am nächsten Tag ins Krankenhaus kam, waren dort alle geschockt. Und bestätigten mir, das sei abwegig. Die Demenz sei in weiter Ferne. In sehr, sehr weiter Ferne. Sie könne auftreten, aber in der Endphase der Krankheit.

Normalerweise drückt man sich bei France Culture differenziert und angemessen aus. Wenn ich mehr Energie gehabt hätte, hätte ich einen Protestbrief ans Radio geschrieben. Aber ich bin ein bisschen apathisch geworden, ich bin nicht mehr ganz ich. Der kleinste Vorstoß erscheint mir furchtbar mühsam.

Am schlimmsten ist, dass auf den Packungen der Medikamente gegen meine Krankheit das Wort »Demenz« steht. Als ich meine Medikamente zum ersten Mal in der Apotheke kaufen wollte, hatten sie nur Generika vorrätig. Ich kaufte sie. Und dabei sprang mir das Wort in die Augen: »Demenz«! Ich begehrte auf. Das ist skandalös. Ich bin nicht dement. Oder bin ich es etwa doch und habe es nur nicht gemerkt?

Ich sagte es dem Apotheker. Ich beklagte mich bei der Geriaterin, die mich behandelt, einer sehr zugewandten Frau. Sie seufzte. Ich sagte es auch der Spezialistin, Dr. T. Sie gab dazu keinen Kommentar ab. Doch seither sind meine Rezepte für diese Medikamente mit dem Vermerk »nur das Originalpräparat« versehen, damit mir nicht wieder Generika ausgehändigt werden. Auf den anderen Schachteln steht nämlich nichts von Demenz.

Wissen Sie, wenn man diese Krankheit hat, glaubt man, man sei daneben, nicht ganz normal. Es gibt da all diese stigmatisierenden Märchen. Man sei plemplem, gaga … Und deshalb verstecke ich mich. Um mein Image zu bewahren. Lange habe ich mit niemandem darüber gesprochen.

Vor einigen Tagen rief ich eine langjährige Freundin an, Geneviève, sie hat die agrégation, die Lehrbefugnis für die gymnasiale Oberstufe, und unterrichtete Mathematik in den Hochschulvorbereitungsklassen. Ich hatte ihr seit vier Jahren nie richtig ins Gesicht gesagt, was ich habe. Und an diesem Abend gab ich mir einen Ruck: »Ich schreibe über meine Krankheit.«

Das war immer noch ziemlich vage. Und sie antwortete, ohne mich verstanden zu haben: »Ja, du hast ja auch wirklich eine ganze Reihe gesundheitlicher Probleme gehabt!«

In der Tat hatte ich im Laufe des Lebens einige inzwischen geheilte gesundheitliche Beeinträchtigungen und dann diese schiefgegangene Hüftoperation, deretwegen ich immer noch am Stock gehe. Und wir redeten und redeten und redeten. Ich erzählte ihr, dass ich einmal in der Woche zur Kunsttherapie ins Krankenhaus ginge. Sie begriff immer noch nicht. Ich erzählte immer weiter von meinen täglichen kleinen Misslichkeiten.

Ich war nicht deutlich genug, oder es lag an meiner wenig geradlinigen Art, mich auszudrücken. Jedenfalls verstand sie ganz offensichtlich nicht, dass ich Gedächtnisprobleme habe, und deshalb sagte ich ihr schließlich die Wahrheit ins Gesicht. Sie erschrak.

»Das ist doch nicht möglich!«

Nie wird mir geglaubt, das regt mich auf.

»Ich werde jetzt nicht lange Plädoyers halten, um dich davon zu überzeugen, dass mir etwas fehlt«, sagte ich.

Meine Freundin fiel aus allen Wolken.

Um ehrlich zu sein, freute ich mich im Grunde darüber. Ich schloss daraus, dass ich gar nicht so schlecht war im Verbergen.

Geneviève sagte verwundert: »Du hast dich übrigens in deiner Art, dich auszudrücken, überhaupt nicht verändert!«

Was sie nicht weiß: Dahinter steckt eine enorme Arbeit. Es ist hart, so zu tun als ob.

Vielleicht habe ich von meiner Mutter eine gewisse Schamhaftigkeit geerbt. Sie, die Frau des Chefarztes des Krankenhauses von Salon-de-Provence, bekam Brustkrebs und musste sich eine Brust amputieren lassen. Ich weiß noch, dass sie es zu verschweigen versuchte. Sie wollte nicht, dass darüber geredet wurde.

So zu tun, als wäre ich normal, ist meine Art, mein Leiden zu ignorieren, es von oben herab zu behandeln. Aber es ist auch meine Art, diese gewisse Schmach zu verbergen, als die ich es unwillkürlich empfinde. Anfangs merkte niemand etwas.

Schon bevor ich die Diagnose bekam, tat ich so als ob. Man erzählt es seinen Lieben nicht, wenn man sich plötzlich überfordert und desorientiert fühlt. Ich fand mich nicht mehr zurecht. Ich merkte, dass etwas nicht stimmte, aber was, konnte ich nicht herausfinden. Im Laufe der Monate wurde es schwierig, weil ich mich in meiner Behörden- und Bankpost verhedderte und immer mehr Fristen nicht einhielt. Inzwischen hat mir meine Tochter Christine erzählt, dass ich den ganzen Papierkram, die Steuern, die Rechnungen und so, versteckt hatte, damit er mich nicht mehr stresste, sie fand immer mehr davon, es war schließlich ein vierzig Zentimeter hoher Stapel. Inzwischen werden alle Rechnungen abgebucht.

Ich verirre mich in Flusswindungen, die nicht unbedingt etwas mit Wasser, eher etwas mit Treibsand zu tun haben. Verstehen Sie? Irgendwie ist man deprimiert, wenn man an die Krankheit denkt, man mag sich nicht mehr so wie früher.

Welche Demütigung, wenn mir jemand eine einfache Frage stellt und ich nicht antworten kann! Mein Hirn sucht vergeblich, aber ich sage es nicht.

Diese Krankheit ist nicht greifbar. Ein Gedanke, den man vergisst, lässt sich nicht aussprechen, nicht einfangen – genauso wenig wie Schmetterlinge! Es gibt keine körperlichen Symptome wie Husten oder Kopfschmerzen. Man sieht nichts. Es ist wie eine Entgleisung, aber eine, die man bewusst erlebt. Man sieht sich dahintreiben. Man ist ich und eine andere. Es gleicht einer Verdoppelung der Persönlichkeit.

Und dieser andere Mensch, der bei Alois lebt, den muss man kennenlernen und zähmen. Er ist ein adoptiertes Kind. Es beginnt ein ständiges Hin und Her. Manchmal akzeptiert man ihn, manchmal nicht. Ich versuche, ihn gut aufzunehmen, nicht zu wütend auf ihn zu sein. Aber es ist eine große Umwälzung. Es ist mehr eine Anpassung als eine Krankheit.

Was geschieht im Hirn? Ich weiß es auch nicht so genau. Wenn Sie erfahren, dass Sie bei Alois sind, fangen Sie nicht an, sich zu informieren, wollen Sie nichts Genaueres wissen. Ich jedenfalls wollte es nicht. Ich habe nur in den Zeitschriften der französischen Alzheimer-Gesellschaft gelesen, dass Depression + Bluthochdruck = diese Krankheit. Das war immerhin ein Indiz, denn ich habe Bluthochdruck und habe Phasen der Depression durchlebt. Diese Beeinträchtigungen sind der Krankheit förderlich, glaube ich.

Diese Krankheit ist wie die Luft, die man atmet, ganz subtil und bei jedem anders. Im Grunde verstehe ich nicht viel davon. Was mich interessiert, ist die Behandlung. Die Forschung kommt mit Riesenschritten voran. In fünf Jahren wird man ein wirksames Medikament gefunden haben. Hoffe ich.

Ich habe nicht besonders viele Fragen gestellt. Ich habe weder im Lexikon nachgeschlagen noch im Internet recherchiert. Lesen fällt mir übrigens schwer, und ich gehe nicht ins Internet. Ich habe mich bei Dr. T. informiert. Sie hat mir erklärt, man müsse, um bei der Diagnose hundertprozentige Sicherheit zu haben, nach dem Tod die Gehirnzellen analysieren. Das war ein Schlag auf den Kopf, mit anderen Worten kann ich es nicht sagen.

Ich habe keine entsprechenden Vorkehrungen getroffen. Die Arzttochter in mir könnte Ja sagen. Aber müssen meine Kinder wirklich wissen, dass …? Es ist eine wichtige ethische Frage, und sie verfolgt mich. Wenn ich zu sehr darüber nachdenke, zerstört es mich.

Auch als meine Gastgeberin beherrscht Eveleen die Kunst, so zu tun als ob. Sie empfängt mich im Stehen, sehr aufrecht an ihrem Stock, und immer mit einem Lächeln. »Der Himmel hat für sie eine hübsche Farandole in Orange vorbereitet!« Fast immer lässt sie mich als Erstes die besonders schöne Aussicht auf Paris bewundern, die man von ihrem dreizehnten Stock aus hat. Der Eiffelturm, der wie ein Leuchtturm in den Sonnenuntergang ragt, bezaubert sie ebenso, wie sie die gelbliche Färbung, die der Dunst an Tagen hoher Luftverschmutzung annimmt, betrübt.

Sie achtet auf ihre Kleidung und hüllt sich in den leichten Stoff mit den aufgedruckten Schmetterlingen, der ihr in diesen Zeiten als Flagge dient. Das Poetische, das von ihr und