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Wenn nächtliche Rettungsaktionen zum Alltag gehören: Die Abenteuer der Pferdetierärztin Helga Kausel (@travelling_vet) Helga Kausel ist leidenschaftliche Pferdetierärztin und hat in ihrer langjährigen Arbeit mit ihren behuften Patient*innen schon so einiges erlebt: Sei es das störrische Fohlen, das sich nicht impfen lassen wollte, die Stute, die in den Pool fiel und gerettet werden musste, oder das Shetlandpony, um dessen Leben Helga bei einer Schwergeburt bangte. Von Langeweile keine Spur! In dieser sympathischen Erzählung nimmt uns die gebürtige Österreicherin mit durch ihren turbulenten Alltag inmitten der bayerischen Landidylle. Mit dabei sind auch ihre beiden Hunde, Aana und Sparky, und ihr Chef Herbert, der zum Glück immer nur einen Telefonanruf entfernt ist, wenn es mal brenzlig wird. Aus all ihren Geschichten spricht ihre große Liebe zu den Pferden, den Pferdebesitzer*innen und dem Leben auf dem Land. Ein Buch für alle Pferdeliebhaber*innen und Fans von wahren Tiergeschichten.
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Seitenzahl: 318
Veröffentlichungsjahr: 2025
Helga Kausel
Unterwegs als Pferdeärztin auf dem Land
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Dann bahnte ich mir meinen Weg an den Feuerwehrleuten und der Pferdebesitzerin vorbei, bis ich den Pool vor mir sah. Er war riesig, mehr als zwei Meter tief, und zirka ein Drittel davon waren noch mit Wasser gefüllt, bedeckt von dicken Eisschollen. Genau darin lag die schwarze Stute. Komplett erschöpft und durchnässt, umgeben von Gurten, die um ihren Hals, ihre Brust und ihre Vorderbeine gebunden waren. Der vordere Teil ihres Körpers lag auf einer steilen Rampe. An der Poolkante standen mindestens dreißig Leute der Feuerwehr. Das Herz schlug mir bis zum Hals.
Wenn ihre vierbeinigen Patienten in Not sind, eilt Helga Kausel mit ihrem Praxis-Auto zur Hilfe. Sie behandelt den lahmenden Hengst, die alte Pferdedame, die von alleine nicht mehr aufstehen kann, oder den Koliker mit Bauchschmerzen. Egal um welche Uhrzeit - Helga ist zur Stelle. Dabei improvisiert sie gerne mal, wenn das Stethoskop nicht auffindbar oder die Hufzange außer Reichweite ist.
In ihrer sympathischen Erzählung nimmt uns die gebürtige Österreicherin mit durch ihren turbulenten Alltag inmitten der bayerischen Landidylle.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Widmung
Die Seepferdchen-Prüfung
Kurz vorm Hinschmeißen
Das Stolpern in die Berufung
Willst du in einem Zelt wohnen?
Zum Heulen
Falco
Nur ein bisschen Gefühl
And along came Aana
Vom Pensionisten, der nicht mehr aufstehen wollte
Durchgeröntgt
Der Kaiser von Österreich
Lernt man das in Afrika?
Die Donald-Therapie
A Diva is born
Ein schwieriger Fall
Ein Hühnchen zu rupfen
Luftballon
Konkurrenz
Ho, ho, ho, eine Schlittenfahrt
Der Joker
Fahrkünste
The Darkest Hour
La Bang
Zweigstelle
Bambi
Der frühe Vogel erstickt am Wurm
Tunnelblick
Tansania
Der späte Vogel erstickt auch am Wurm
Wilde Hengste
Hobbit
Strohhalmaffäre
Ein neues Kapitel
Für Helmut,
der mir die Sicherheit gibt, alles zu lernen.
Für Tobi,
der mir die Freiheit gibt, alles zu tun.
Kennt ihr es, wenn man plötzlich einen ausgefallenen Gedanken im Kopf hat? So ging es mir am Morgen des 30.12., einen Tag vor Silvester. Ich sollte schon längst in der Praxis sein und Herbert, meinem Chef, bei der Stallarbeit helfen. Stattdessen war ich hundemüde im Bett liegen geblieben, weil ich mit meiner Freundin Juli viel zu lange Filme geschaut und Chips hineingeschaufelt hatte.
Sie besuchte mich über Silvester. Nun stand ich also mit zerzausten Haaren in meinem Bad und starrte in den Spiegel, während mir ein Gedanke durch den Kopf schoss: ›Was, wenn heute ein richtig schrecklicher Notfall passiert, und ich stehe hier noch seelenruhig im Bad, putze Zähne und weiß gar nicht, worin ich in ein paar Stunden verwickelt sein werde? Schließlich kann in einem Notdienst alles geschehen. Ha! Lustiger Gedanke.‹
Ich verwarf den Gedanken schnell wieder, stolperte aus dem Bad, und Juli und ich fuhren los.
Im Auto drehte ich die Heizung auf die höchste Stufe. Draußen waren es nur minus zwei Grad, aber mein Körper war einfach noch nicht auf Winter eingestellt. Die angenehme Wärme, die ich bei meiner Marokkoreise letzte Woche noch um mich gespürt hatte, war der bitteren Kälte Niederbayerns gewichen. Zwei Wochen Urlaub waren einfach nicht genug.
Madsen, eine meiner Lieblingsbands, dröhnte mit voller Lautstärke durch das Praxisauto, und meine Hunde und Juli waren dem schrecklichen Geträller meiner Stimme hilflos ausgeliefert. Aber Juli war meine Verrücktheit seit über zwanzig Jahren gewohnt und wusste damit umzugehen.
Auf den Straßen war nicht viel los, schließlich war es Samstagmorgen, und der hysterische Einkaufsstress fürs Silvesteressen würde erst nach 8.00 Uhr beginnen.
Als ich mit quietschenden Reifen bei der Praxis eintraf, war Herbert schon fleißig bei der Stallarbeit. Normalerweise half ich meinem Chef dabei, aber wisst ihr eigentlich, wie schwer Heulage ist? Eine Heulage ist durch Milchsäuregärung konserviertes Futtermittel für Nutztiere. Leicht erkennbar durch die in weißes Plastik gewickelten Ballen, die oft auf unseren Feldern liegen. Und dieses Futter ist wirklich schwer, durch die Feuchtigkeit um vieles schwerer als Heu. Von daher war ich ehrlich gesagt ganz froh, dass ich mir die Arbeit heute Morgen mal gespart hatte.
Wir stiegen zügig aus und gingen zu Herbert in den Stall.
»Ach Helga, du auch schon hier?«, begrüßte er uns belustigt.
Zum Glück wusste ich, dass er es mir nicht übel nahm, dass ich so spät kam – vor allem, wenn ich Besuch hatte. Er war gerade fertig, und wir gingen über den Hof zu seinem Haus, um wie eigentlich jeden Morgen den Tag zu planen. Von mir aus hätten wir direkt loslegen können, immerhin waren wir heute nur zu zweit im Dienst, doch Herbert musste natürlich erst mal in der angrenzenden Küche einen Kaffee aus der Kaffeemaschine lassen, bevor wir besprechen konnten, wer sich um welche Termine kümmerte.
Die Kaffeemaschine – eines der wichtigsten Geräte in dieser Praxis. Jeder kann damit leben, dass das Röntgengerät mal nicht funktioniert, aber ist die Kaffeemaschine außer Betrieb, herrscht absoluter Ausnahmezustand, den ich als Teetrinkerin immer sehr amüsiert beobachte.
Im Sommer finden die Momente, in denen wir die Tagespläne einteilen oder auch einfach nur zusammensitzen und quatschen, meist unter dem riesigen Kastanienbaum im Hof der Praxis statt. Im Winter oder bei Regen finden wir uns dafür in Herberts Esszimmer und Küche ein.
So auch an diesem Tag. Kaum hatte Herbert sich mit seiner dampfenden Kaffeetasse zu Juli und mir an den Tisch gesetzt, begannen wir mit der Planung des bevorstehenden Arbeitstages.
»Helga, du musst heute zum Narrenhof fahren«, warf mir mein Chef entgegen und konnte sich dabei ein Grinsen nicht verkneifen.
Mir entglitten die Gesichtszüge. »Warte, was? Der Narrenhof? Ich fahre doch gar nicht in diese Richtung, das kannst du bestimmt viel besser!«
Uns grauste es beiden davor, diesen Hof zu besuchen, er ist der Albtraum einer jeden Tierärztin: schlechte Tierhaltung, oftmals betrunkene und verantwortungslose Tierhalter, die keine Diagnose ernst nahmen oder sich an Behandlungspläne hielten. Es war furchtbar, vom Aussteigen bis zu dem Zeitpunkt, an dem man endlich wieder in sein Auto fliehen konnte. Und da sollte ich heute Morgen hinfahren? Das konnte nicht sein Ernst sein.
»Bitte, Herbert, ich will da nicht hinfahren! Kann ich nicht irgendwas anderes erledigen?«, flehte ich, ehe Herbert etwas erwidern konnte.
Vielleicht hatte er ja Erbarmen, da Juli gerade da war.
»Ja, du kannst zur Gerti fahren«, gab er etwas belustigt zurück.
»Heeeerbert, nicht Gerti!«, stöhnte ich und verschränkte dabei die Arme vor der Brust.
Gerti war nicht nur eine leidenschaftliche Züchterin und Besitzerin eines Abfohlbetriebes, in dem sie jährlich Dutzende trächtige Stuten beherbergte und bei den Geburten half, sondern auch die Notfallzentrale der Praxis Dr. Pflaum, ergo meiner Arbeit. Mittlerweile hatte ich sie zwar in mein Herz geschlossen, aber sie war gerade nicht so gut auf mich zu sprechen. Um es mit anderen Worten zu sagen: Ich hatte es wieder einmal geschafft, ihr ans Bein zu pinkeln. Was Herbert natürlich wusste.
»Außerdem hast du heute nur zwei Sachen auf deinem Tagesplan stehen und ich fünf«, versuchte er mich weiter zu überreden und bemühte sich dabei, eine ernste Miene aufzusetzen. Er wollte das wirklich durchziehen.
»Was? So ein Blödsinn!«, entgegnete ich. »Ich hab vier Termine und du auch! Und noch dazu fahre ich in die komplett entgegengesetzte Richtung!«
Meine Freundin beobachtete unser Schauspiel amüsiert, während Herbert mich bestürzt ansah. »Und wann soll ich dann schwimmen gehen?« Ich musste lachen. Wie konnte ich diesen wichtigen Termin nur infrage stellen?
»Na gut, dann fahr ich zum Narrenhof und zu Gerti, aber danach geh ich schwimmen und schmeiß das Handy weg!«, konterte Herbert und warf mir dabei einen gespielt vorwurfsvollen Blick zu.
»Deal!«, jubelte ich, bevor er noch etwas einwenden konnte, und holte mir lachend ein Stück Brot aus der Küche. Da hatte ich wohl noch mal Glück gehabt.
»Ma, aber das is’ so viel, Helga. Und der Zaun in Thal auf der Weide ist auch kaputt. Den machst dafür aber du! Und nimm dir Isolatoren mit!«, rief er mir hinterher.
»Ja, okay, das kann ja nicht so schwer sein«, meinte ich, stopfte mir das Brot in den Mund und fügte mit vollem Mund hinzu: »Du musst mir nur noch sagen, was Isolatoren sind.«
Ausgerüstet mit Klemme und Isolatoren, das waren die Teile, an denen man das Elektroband mit den Stehern verband, machten wir uns also am Weg zur Weide in Thal, bevor wir die Route zu den Patienten begannen. Ich kannte die Weide bereits, und als wir ankamen, sah ich die beiden Pferde und nach einem Moment auch schon, wo der Elektrozaun einen Bogen nach unten machte.
Hach, was für ein guter Deal, fünfzehn Meter gehen, und die Sache hatte sich erledigt. Ich warf meiner Freundin einen freudigen Blick zu, das versprach ein kurzer Tag zu werden.
Wir stapften auf die Weide und bahnten uns einen Weg durch den nassen Schnee. In wenigen Minuten waren wir beim Zaun. Aber, da war gar nichts kaputt. Nur dass er auch auf der nächsten Sprosse zu tief hing. Das Seil musste irgendwo anders gerissen sein. Wir folgten der Schnur, aber konnten nirgends einen Riss entdecken. Was ein Scheiß! Motiviert begannen wir den Weg am Zaun entlangzugehen, der uns bald über zweihundert Meter bergauf führte. Wirklich, wie groß war diese Weide, bitte? Und wozu? Die zwei Grazien, die hier gehalten wurden, bewegten sich sowieso keinen Meter zu viel von der Futterstelle weg.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen wir zur Kuppe des Hügels, mein Auto und die Pferde waren schon nicht mehr zu sehen. Da war es. Eine Spur durch den Schnee, die wahrscheinlich von einem Reh stammte, und dazwischen der gerissene Zaun. Die gerissenen Enden lagen ein paar Meter auseinander, aber wir konnten sie leicht verknoten. Wir marschierten zurück zu der Stelle, an der man den Zaun öffnen konnte, und wollten den Zaun wieder verbinden, aber es ging nicht. Es fehlte ein ganzer halber Meter.
»Hab ich so einen verschwenderischen Knoten gemacht?« Ich schaute verdutzt zu meiner Freundin hinüber.
Sie zuckte nur mit den Schultern. »Anscheinend – lass uns noch mal zurückgehen und uns die Stelle anschauen.«
Wir stellten fest, dass die Enden des Knotens wirklich zu lang waren. Ich musste den Knoten so klein wie möglich machen. Dafür hatte ich also studiert, Chirurgen mussten ja schließlich auch immer fadensparend arbeiten!
»Na dann zeig mal, was du draufhast«, witzelte Juli und sah mich herausfordernd an.
Gesagt, getan. Freudig stapften wir zurück zur Zaunöffnung, ich zog an den Zaunenden und konnte den Haken tatsächlich mit letzter Kraft wieder in die Lasche ziehen. »Na endlich!«, rief ich und strahlte Juli entgegen. Nun aber ab ins Auto, wir waren schon ordentlich durchgefroren. Als wir die letzte Steigung hinter uns gelassen hatten und gerade wieder an den friedlich grasenden Stuten vorbeispazierten, passierte es. Klack. Und der Zaun machte wieder einen Bogen. Der Tag begann mir auf die Nerven zu gehen.
»Willst du sonst schon mal zurück zum Auto gehen und da auf mich warten? Wir müssen ja nicht beide durchgefroren enden«, fragte ich Juli, bevor ich wieder von vorn begann. Meine nicht vorhandene Kondition machte sich langsam bemerkbar, als das Handy läutete und Herberts Nummer am Display erschien. »Herbert, der Deal war scheiße!«, schnaufte ich ins Telefon, während ich den Hügel hochstapfte und die gerissenen Enden suchte.
»Tja, das war deine Entscheidung! Aber der Narrenhof war genauso schlimm, wie du gesagt hast. Eine Katastrophe!«, seufzte er und erzählte mir ausführlich von seiner Patientenbegegnung.
»Wusste ich doch! Aber ich find den Deal trotzdem blöd, der Zaun ist zum zweiten Mal gerissen! Und jetzt bring ich die Enden nicht mehr zusammen!«, nörgelte ich ins Telefon. Immerhin hatte ich recht behalten mit meiner Vermutung.
»Na fahr doch in die Praxis und hol ein Stück neues Elektroseil.« Er machte Witze, oder? Ich hatte gerade zwei Mal hintereinander den Mount Everest der Konditionslosen bestiegen, und jetzt sollte ich zur Praxis zurückfahren und noch mal hinaufgehen? Es war kalt! Ich hatte Besuch! Es war Wochenende! Noch dazu war ich durch den ganzen Regen mittlerweile bis zu den Knien durchnässt und hatte immer noch vier Nachbesuche am Plan, die auf mich warteten. Herbert hörte meinen stillen Vorwurf und legte lachend auf. Zähneknirschend stieg ich zu Juli ins Auto, und wir machten uns auf den Weg zur Praxis, es half ja nichts.
Nach einer letzten Mount-Everest-Besteigung und endlich erfolgreicher Reparatur machten wir uns am Weg zu meinen ersten Nachbesuchen. Es lief zum Glück alles reibungslos. Nur noch ein Besuch, und wir konnten uns mit einem warmen Tee auf die Couch kuscheln und uns eine gute Serie anmachen. Freudig drückte ich aufs Gas. Da wurde meine Madsen-Melodie von einem Anruf unterbrochen. Gerti stand auf dem Display.
»Wo bist du denn gerade?«, hallte ihre Stimme durch den Lautsprecher, ohne mich groß zu begrüßen.
Ich hasse diese Frage. »Am Weg zu meinem letzten Besuch, aber da muss ich hin, bevor die heimgehen«, erwiderte ich.
»Ja, na, hilft nix, du musst trotzdem umdrehen, da ist ein Pferd in den Swimmingpool gefallen.«
Meine Freundin schaute mich schockiert an. Dass so etwas auch immer passieren muss, wenn ich Besuch hatte. Könnt ihr euch noch an meinen Gedanken am Morgen erinnern? Das war die Katastrophe, von der ich taggeträumt hatte. »Alles klar, bin auf dem Weg«, rief ich Gerti noch zu, bevor ich mit quietschenden Reifen wendete und wir uns auf den Weg zum Unfallort machten. Fahrzeit eine halbe Stunde, na, mal schauen, was uns da erwartet.
»Helga, wo bist du?« Die weinende Stimme der Besitzerin hallte durch den Praxiswagen.
»Ich fahr gerade die Straße hoch, ich kann die Blaulichter schon sehen!«, rief ich zurück, während wir uns einen Weg durchs Chaos bahnten.
»Bitte komm schnell, ich glaube, sie stirbt.« Kaum stiegen wir aus dem Auto, war die Besitzerin mit tränenüberströmtem Gesicht bei uns. Sie warf meiner Freundin nur einen kurzen Blick zu, die sich etwas im Hintergrund hielt. »Helga, ich kann mir das nicht anschauen, bitte rette sie«, schluchzte sie weiter, während sie eine Hand in meinen Arm krallte.
»Ja, bleib hier, du musst das nicht sehen.« Ich tätschelte ihr noch einmal beruhigend über die Schulter, signalisierte den Stallkolleg*innen, dass sie sich um die aufgelöste Besitzerin kümmern sollten. Dann bahnte ich mir meinen Weg an den Feuerwehrleuten und der Pferdebesitzerin vorbei, bis ich den Pool vor mir sah. Er war riesig, mehr als zwei Meter tief, und circa ein Drittel davon war noch mit Wasser gefüllt, bedeckt von dicken Eisschollen. Und genau darin lag die schwarze Stute. Komplett erschöpft und durchnässt, umgeben von Gurten, die um ihren Hals, ihre Brust und ihre Vorderbeine gebunden waren. Der vordere Teil ihres Körpers lag auf einer steilen Rampe. An der Poolkante standen mindestens dreißig Leute der Feuerwehr. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich drückte mich an den Menschen in Uniform vorbei und ging an die obere Kante des Pools.
»Hallo, Helga!«, rief mir der Stallbesitzer erleichtert entgegen, der mit Latzhose und Gummistiefeln bei der Stute stand. »Gut, dass du da bist!«
»Was ist denn der Plan?«, rief ich fragend zu ihm hinunter. Aber ich konnte es mir schon denken. Sie wollten die Stute die steile Rampe hinaufziehen, auf der schon ein Teil ihres Körpers lag. Aber das würde in hundert Jahren nicht funktionieren. Die Stute war viel zu schwer, um sie mit schmalen Leinen einfach hinaufzuziehen. Außerdem war das ein Pferd und keine Kuh. Ein Pferd, das jederzeit in Panik geraten und sich selbst beim Versuch, sich von den Gurten zu befreien, etwas brechen konnte. Ich schritt ein paar Meter um den Pool herum und sah mir das Szenario noch mal von einer anderen Seite an, als der Kommandant der Feuerwehr auf mich zukam.
»Sind Sie die Tierärztin?«, fragte er mich, die Augenbrauen sorgenvoll zusammengezogen. Ein Pferd, das im Pool festhängt, hat man wohl auch nicht alle Tage, selbst bei der Feuerwehr.
»Ja, genau«, antwortete ich und war froh, dass jemand meinen Rat suchte.
»Jeder sagt und macht etwas anderes. Was meinen Sie denn, wie wir das machen sollten?«
Danke. Darauf hatte ich gewartet.
»Okay, wir machen das folgendermaßen«, rief ich und versuchte, mir gleichzeitig die Aufmerksamkeit aller zu verschaffen. Ich hatte einen Plan. »Macht sie von den Gurten los und lasst sie aufstehen. Wir wärmen sie erst einmal auf, und danach baut ihr eine bessere Brücke.« Ich wollte mir meine Unsicherheit nicht anmerken lassen, aber alle hörten auf mich, also schien es zu funktionieren. Wir lösten die Gurte, und während mir die Feuerwehrleute eine Hose und Gummistiefel gaben, schaffte die Stute es bereits aufzustehen. Wobei man von sicherem Stehen nicht reden konnte, denn die Dame stand auf zehn Zentimeter dicken Eisschollen, die immer im ungünstigsten Moment brachen.
Als ich angezogen war, kletterte ich zu ihr hinab. Das Wasser war eiskalt, aber ich versuchte, die Kälte zu ignorieren und mich auf die Stute zu konzentrieren. Ihr linkes Bein blutete stark, das Eis hatte ihr die Haut abgezogen. »Könnt ihr mir Verbandsmaterial aus meinem Auto holen?«, wies ich die beiden Feuerwehrmänner neben mir an. »Und wir brauchen Decken und warmes Wasser, um sie aufzuwärmen.«
Und wieder funktionierte das Team wie ein Uhrwerk. Die Materialien wurden in den Pool gereicht, und ich watete zur Stute, um den Verband anzulegen. Frierend und auf wackligem Untergrund hockte ich mich neben das nervöse Tier und stillte mit einem Verband die Blutungen. Währenddessen wickelten zwei der Feuerwehrleute sie mit allen Decken ein, die sie finden konnten. Als ich mit dem Verbinden fertig war, richtete ich mich auf und streichelte sie, wobei wir uns gegenseitig stützten. Währenddessen begannen die restlichen Feuerwehrleute damit, die Brücke zu bauen.
Die Stute, die Tierärztinnen normalerweise nicht mochte, wusste genau, worum es ging. Brauchten die Feuerwehrleute mehr Platz, folgte sie mir über die Eisschollen durch den Pool und blieb dann wieder felsenfest stehen. Nur kein Schritt zu viel auf dem schwankenden Untergrund. Näherte sie sich mir einen Schritt, spürte ich, wie mich die Scholle unter meinen Füßen in die Höhe hob und knarrte, als wären wir auf einem instabilen Floß. Nach einer Stunde stand die Brücke endlich. Selbst der Lärm der Motorsäge hatte das Pferd kaltgelassen. Na ja, wie auch sonst, in einem Pool voller Eiswasser.
Wir rieben die Stute immer wieder trocken und wechselten die nassen Decken. Schließlich wusste niemand, wie lang sie schon in diesem Pool war, inzwischen zitterte ihr ganzer Körper. Die Temperatur zu messen war dabei ein Ding der Unmöglichkeit. Nicht nur, weil wir auf wackligem Eis standen, sondern weil sie es auch unter normalen Umständen kaum zuließ.
»Also die Brücke wäre so weit, Sie müssen uns nur noch sagen, was Sie für die Stute brauchen«, raunte mir der Kommandant zu.
Ich gab noch ein paar Anweisungen, und dann war es so weit. ›Wenn die Brücke bricht, fällt das Pferd auf mich drauf und erschlägt mich‹, war mein letzter Gedanke, bevor ich das Bein aus dem Eiswasser zog und in Richtung Brücke setzte.
Und los ging’s. Wie schon die restliche Stunde arbeitete die Stute mit mir zusammen, als wären wir ein altes Team. Wir näherten uns der Brücke. Die Feuerwehrleute hatten ein Scheunentor umfunktioniert und mit Heu bedeckt, um das Rutschen zu vermeiden. Ich muss zugeben, dass ich nicht besonders auf ihre Stabilität vertraute, aber es nützte ja nichts. Wir setzten uns also ganz vorsichtig in Bewegung.
Und was machte die Stute, als sie das erste Vorderbein auf das heubedeckte Holz stellte? Sie fraß. Ja, tatsächlich. Sie senkte den Kopf und naschte erst einmal an dem leckeren Heu. Wieso auch nicht? Sie stand ja nur umgeben von dreißig Menschen in einem Eispool und blutete durch ihren durchtränkten Verband das ganze Wasser voll, da musste man sich auf den Schock natürlich erst mal einen Bissen gönnen.
Ich stieß ein nervöses Lachen aus, alle anderen starrten gebannt auf die unwirkliche Szene und hielten die Luft an. Als sie das verletzte Bein auf die Rampe heben wollte, blieb sie mit dem Huf an der Kante des Pools hängen und stolperte, konnte sich jedoch gerade noch mit dem zweiten Vorderbein abfangen. Sie war nervös, musterte die Brücke skeptisch und senkte den Kopf erneut, um sich einen letzten Bissen zur Stärkung zu holen. Ich ging ein paar Schritte voraus und hatte kurz Angst, dass sie sich weigern würde, mir zu folgen. Doch sie kam mir hinterher. Sie war also auch der Meinung, dass die Poolparty mit Feuerwehrleuten nun wirklich ein Ende finden sollte. Es war ja auch schon seit einigen Stunden dunkel. Außerdem war morgen Silvester, da durfte man nicht heute schon das ganze Pulver verschießen.
Begleitet von den Rufen der Leute, die mittlerweile aus ihrer Starre erwacht waren, gingen wir die Brücke in langsamen Schritten hinauf. Und da hörte ich es. Krrk. Die Brücke knackte. ›Das war’s‹, dachte ich.
»Weiter!«, rief der Stallbesitzer hinter uns, und ich schob meine Angst in die hintersten Ecken meines Kopfes und ging so schnell, wie meine rutschigen Stiefel und die eingefrorenen Füße es zuließen, weiter die Brücke hinauf. Die wenigen Meter schienen nicht enden zu wollen, doch dann fühlte ich endlich festen Boden unter meinen Füßen. Jetzt bloß nicht stehen bleiben und dem Pferd Zeit geben, nervös zu werden.
Die Leute um uns herum brachen in lautstarkes Jubeln aus. Sie hatte es geschafft. Wir hatten es geschafft. Die Stute stieß ein erleichtertes Schnauben aus, und auch mein Herzschlag begann sich langsam wieder zu beruhigen. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie schnell er gegen meine Rippen gehämmert hatte, so sehr hatte ich mich darauf konzentriert, Ruhe auszustrahlen.
Ich ging mit ihr immer weiter, bis wir im Stall angelangt waren. »Danke, Helga, danke, danke, danke«, stieß die Besitzerin mit einem Freudenschrei aus. Sie hatte völlig aufgelöst vor Sorge in der Box gewartet und begrüßte ihre Stute mit zitternden Händen. Juli war auch da, ich hatte sie über die ganze Aufregung völlig vergessen. Ich lächelte sie müde an, erleichtert, dass wir beide heile rausgekommen waren.
Doch erst mal musste ich die Stute untersuchen. Ihre Wunden waren tief, und wir wussten zunächst nicht, ob sie die nächsten Tage ohne einen Aufenthalt in der Klinik überstehen würde. Die nächsten zwei Wochen schaute ich fast täglich nach ihr, und ihre Wunden heilten tatsächlich, ohne dass ein Klinikaufenthalt notwendig war.
Als Juli und ich an dem Abend völlig erschöpft im Auto saßen, um nach Hause zu fahren, schaute sie mich von der Seite an. »Also, ich wusste ja, dass dein Job aufregend ist, aber mit so etwas hätte ich nun wirklich nicht gerechnet«, sagte sie und lachte. Ich schüttelte nur müde mit dem Kopf. Nein, das taten wahrscheinlich die wenigsten.
Ich erinnere mich noch gut an den Moment, in dem ich wusste, dass ich Pferdetierärztin werden wollte. Natürlich haben am Ende viele kleine Momente dazu beigetragen, dass ich heute als mobile Ärztin für diese wundervollen Tiere in Bayern arbeitete, aber vor allem eine Situation kurz vor Ende meines Studiums ist mir im Gedächtnis geblieben, die mich dazu gebracht hat, diesen Weg weiter zu verfolgen. Dabei war ich kurz davor gewesen, mein Studium hinzuschmeißen und alles an den Nagel zu hängen.
Ich war in meinem vorletzten Studienjahr an der Veterinärmedizinischen Universität Wien, und seit Tagen beschlich mich ein ungutes Gefühl. Die letzten Jahre waren hart gewesen.
Es gibt einen Grund, warum Veterinärmedizin zu den schwersten Studiengängen zählt, die es gibt. Man spezialisiert sich nämlich nicht nur auf den Menschen, wie in der Humanmedizin, sondern muss sich mit vielen verschiedenen Spezies auskennen: Tiere, die alle eine unterschiedliche Anatomie haben, teilweise sogar innerhalb einer Art. Tiere, die von Rasse zu Rasse unterschiedlich auf Medikamente reagieren, und sich unterschiedlich ernähren, handeln und lebten.
Du musst etwas im Köpfchen haben, aber auch mit Patienten umgehen können, die nicht mit dir sprechen, zumindest nicht mit Worten.
In einem blöden Witz heißt es so schön: Sage einem Mediziner, er soll das Wörterbuch auswendig lernen, und er fragt, »warum?«. Sage einem Tiermediziner, er soll das Wörterbuch auswendig lernen, und er fragt, »bis wann?«.
So ist sie, die Tiermedizin.
Und so war das Studium, das ich hoffentlich bald hinter mir lassen konnte. Und mein großes Ziel, Tierärztin zu werden, rückte in greifbare Nähe.
Doch plötzlich veränderte sich etwas: Es waren gerade Ferien, und so arbeitete ich fast täglich in einer Kleintierklinik, um mir Geld dazuzuverdienen. Das bedeutete, dass ich Zwölf-Stunden-Dienste machen musste, in denen ich der Depp vom Dienst war: Tiere versorgte, Medikamente herrichtete, aber vor allem größtenteils sehr, sehr viel Scheiße wegputzte. Es war wortwörtlich ein beschissenes Studentenleben, und mir stand es bis obenhin. Ich hatte nur noch einen Gedanken: ›Ich will nicht mehr.‹ Ich genoss die Arbeit nicht, sondern zählte jedes Mal die Stunden, bis ich endlich heimkonnte. Doch nach so vielen Semestern alles hinschmeißen? Wäre das ein Fehler, den ich bereue?
›Wahrscheinlich, aber unglücklich sein wäre noch ein viel größerer‹, dachte ich mir.
Zum Glück waren die Ferien bald vorbei, und mein Job in der Kleintierklinik gehörte erst mal der Vergangenheit an. Ich schlenderte schlecht gelaunt um 6.30 Uhr über das Unigelände – ich war noch nie eine große Frühaufsteherin –, um rechtzeitig vor der Visite um 8.00 Uhr meine Patienten präsentieren zu können, die ich bis dahin untersucht und mit Medikamenten versorgt haben musste.
Ich war mittlerweile in der Pferdespezialisierung, etwas Besonderes an der Uni Wien. Nach viereinhalb Jahren hatte ich den allgemeinen Teil des Studiums abgeschlossen. Dank guter Noten war ich in meine Wunsch-Spezialisierung »Pferd« gekommen und verbrachte die restlichen drei Semester im Pferdebereich. Nun standen die Klinikrotationen an. Das hieß, ich rotierte zwischen den unterschiedlichen Pferdekliniken umher, also der Chirurgie, der internen Medizin, der Orthopädie und der Gynäkologie, und hatte je nach Klinik meine »eigenen« Patienten, bei denen ich die Patientengeschichte kennen musste, Medikamente gab, die Behandlungen mitverfolgte – und sie eben morgens um 8.00 Uhr in der Visite den anderen Studierenden und Ärzt*innen präsentieren musste.
Heute war ich in der Chirurgie. Als ich den hellen Stall der Pferdeklinik betrat, bemerkte ich zuerst den Geruch. Es roch nach Pferden und dem Heu, das sie gemächlich fraßen. Ich liebte diesen Geruch, er gab mir etwas Urvertrautes und Sicheres und erinnerte mich an meine Kindheit, mit unseren Pferden im Garten.
Ich sah zur Seite, und da standen sie in ihren Boxen. Diese wundervollen Tiere, die mich schon mein ganzes Leben begleitet hatten. Mit ihren großen Augen blickten sie mich an und schnaubten leise in die Stille hinein. Ich streckte den Arm nach einer der Stuten aus, die mir ihren Kopf entgegenstreckte. Sie schnupperte an meiner Hand und ließ mich ihre große Wange streicheln. Kein Zucken, keine Ungeduld. Wir standen nur da, während die anderen Pferde weiterfraßen, und genossen die Ruhe, die wir einander gaben.
Und da wusste ich es. Dieses Gefühl der Zufriedenheit, das ich jedes Mal verspürte, wenn ich ein Pferd ansah, wollte ich jeden Tag in meinem Beruf fühlen. Ja, die letzten drei Semester würden hart werden. Aber plötzlich hatte ich wieder die Gewissheit, dass es sich lohnen würde. Die Vorstellung, mein Leben als Pferdetierärztin zu führen, erfüllte mich mit purem Glück.
Und was wird aus UNS, wenn du nach Deutschland gehst?«
Da war sie, die Frage der Fragen. Was würde passieren, wenn Tobi nach Deutschland ging und ich in Österreich bleiben würde?
Ihr fragt euch jetzt sicher, wer Tobi ist. Kurz gesagt, Tobi ist die Liebe meines Lebens. Wir hatten uns vor einem Jahr kennengelernt, im schlimmsten Jahr meines Lebens. In diesem Jahr war ich auf Weltreise gewesen, und alles hatte sich geändert: Ich hatte die Beziehung zu meinem Ex-Freund zerstört, Liebeskummer wegen eines Engländers, den ich in Australien kennengelernt hatte, mein Vater hatte in seiner dritten Scheidung gesteckt und ich es einfach nicht geschafft, meine Diplomarbeit fertigzustellen und mein Studium zu beenden.
Zwar war ich endlich in der Pferdespezialisierung angekommen, aber das Ende meines Studiums war dennoch gefühlte Welten entfernt. Ich war in eine tiefe Depression gerutscht und wurde krank, Diagnose: Hashimoto mit einem Schilddrüsentumor.
Das Einzige, das mich dazu gebracht hatte, weiterzumachen, waren meine vier besten Freund*innen gewesen. Sie hatten meinen Kopf über Wasser gehalten und dafür gesorgt, dass ich nicht unterging.
Doch auch sie hatten es nicht geschafft, mich aus dem tiefen Loch zu holen, in dem ich steckte. Das war Tobi gewesen. Im dunkelsten Moment meines Lebens war er in mein Leben getreten, und schlagartig wurde alles besser.
Unser Lied, das in diesem Jahr rauskam, war Flash mich von Mark Forster: »Seit du da bist, sind alle Lichter an«, besser konnte man meine Liebe zu diesem Mann nicht beschreiben.
Ich begann endlich zu heilen, sowohl seelisch als auch körperlich. Meine Schilddrüse wurde eingestellt, der Tumor war zum Glück gutartig, und aus Dunkelheit wurde langsam Licht. Und ich hatte endlich Motivation, mein Studium zu beenden.
So also kam Tobi in mein Leben. Und was tat Tobi? Er spielte Geige, und das mit Leib und Seele. Und das wollte er nach seinem Bachelorstudium in Deutschland. Genauer gesagt, in München. Doch wie unsere Beziehung weitergehen würde, sollte er eine Stelle in einem Orchester oder einen Studienplatz bekommen, wussten wir beide nicht. Unsere Beziehung war damals noch kein Jahr alt, und für Tobi war klar – er wollte keine Fernbeziehung. Doch gefragt, ob ich mit nach Deutschland kommen möchte, hatte er mich auch nicht. Tja, so kann es gehen. Gerade mal ein Jahr zusammen und das Ende der Beziehung schon in Sichtweite.
Eines Tages kam endlich die ersehnte Frage: »Kommst du mit nach Deutschland, wenn ich gehe?« Die Antwort lag natürlich auf der Hand – ja, ich wollte mit. Alles hinter uns lassen und ein neues Leben in Deutschland beginnen. Wobei Deutschland nicht ganz korrekt war. Wir bewarben uns nämlich nicht in Deutschland, sondern im wunderschönen BAYERN.
So klemmten wir uns hinter unsere Bewerbungen, und während Tobi in München vorspielte, bewarb ich mich in einer Pferdeklinik ganz in der Nähe. Klinik! Das war der einzige Ort, an dem ich zu diesem Zeitpunkt arbeiten wollte. Eine Fahrpraxis kam für mich nicht infrage – da sitzt man doch den ganzen Tag nur im Auto. Es musste definitiv eine Klinik sein.
Doch sosehr ich von einem Job in einer Klinik träumte, keine der Stellen, bei denen ich mich beworben hatte, wollte mich haben. Also war die einzige Alternative wohl München. Bei der Klinik dort durfte ich immerhin zwei Tage zum Probearbeiten vorbeikommen. Danach sollte feststehen, für wen sich die Klinikleitung entschieden hatte. Das Probearbeiten verlief gut, und ich konnte mir auch vorstellen, dort anzufangen. Doch ich sollte kein Glück haben. Die Wahl fiel, schweren Herzens, auf eine andere Bewerberin.
Na ja, eine weitere Absage. Aber ich war nicht allein, auch Tobi bekam die Stelle in München nicht. Wir würden also erst mal weiter in Österreich bleiben und einen Job suchen.
»Ich hab den Job nicht«, erzählte ich Tobi und versuchte, nicht besonders betroffen zu wirken. Die Devise war, einfach ruhig zu bleiben und so zu tun, als wäre das völlig okay.
»Bewirbst du dich jetzt weiterhin in Deutschland?«, fragte Tobi, während er etwas wirklich Seltenes tat: Er räumte seine Tassen in den Geschirrspüler, die er immer in der ganzen Wohnung verstreute.
»Nein, wozu? Du bleibst ja jetzt auch erst mal hier. Obwohl, eine Sache ist schon cool, die Chefin von der Klinik in München hat mir mit der Absage die Infos zu vier weiteren Jobs geschickt, für die ich mich bewerben kann!«, erwähnte ich beiläufig und warf mich währenddessen auf die Couch, auf die mir Sparky und Aana, unsere zwei vierbeinigen Begleiter, natürlich sofort folgten. »Ich habe mir das aber schon angeschaut, das ist irgendwo in Bayern, da gibt’s ja gar nichts. Und außerdem ist es voll weit weg von dir.«
»Ja, wird sich schon was anderes ergeben«, meinte Tobi und griff zu seiner Geige. Egal wie viel ihm gerade durch den Kopf geht, Üben ist für Tobi wie auf die Toilette gehen, das vergisst er niemals. Das tut er sogar im Halbschlaf, wenn die Geige brav in ihrem Koffer ruht.
Bayern war somit erledigt. Tobi übte weiter für seinen Bachelor, und ich kellnerte in einer Bar, um Geld für meine nächste Reise zu verdienen. Drei Tage später kam eine weitere E-Mail der Chefin der Pferdeklinik in München, die mir mehrere Tierärzte empfahl, die eine Assistenzärztin suchten. Wow. Ich hatte wohl doch einen ganz guten Eindruck hinterlassen. Aber, da war es wieder – Bayern. Um ehrlich zu sein, war das nicht der Ort, den ich mir für meine Zukunft vorstellte. Und so wurde auch diese E-Mail mit einem netten »Vielen Dank« beantwortet und abgelegt.
Kurz entschlossen buchte ich einen Flug nach Costa Rica. Ein neues Land auf meiner Länderliste mit dem einen Ziel: Jedes Land der Welt zu bereisen. Tobi und ich hatten mittlerweile unsere Wohnung gekündigt und waren in das Haus meines Vaters gezogen. Wozu weiter eine Wohnung zahlen, wenn ich bald einen Monat mit einem Freund durch Costa Rica reisen und Tobi wieder anderthalb Monate mit dem EUYO, dem European Union Youth Orchestra, durch Europa touren würde?
»Helga, dass das klar ist, wenn der Freund nicht mitfliegt, FLIEGST DU NICHT NACH COSTA RICA«, ploppte die Nachricht meines Vaters auf meinem Handydisplay auf. Es war ein netter Versuch von ihm, mich von meinem Vorhaben abzuhalten. Funktionierte aber wie immer sowieso nicht. Mein Begleiter hatte mir tatsächlich eine Woche vor der Reise abgesagt, aber ich war es schon gewohnt, allein zu reisen. Ich hatte den Schock schnell überwunden und mich entschieden, trotzdem zu fliegen. Schließlich hatte ich dort eine Freundin, die ich in Vietnam kennengelernt hatte. Irgendwie würde ich mich schon durchschlagen.
»Wir sehen uns in vier Wochen«, rief ich Tobi nach, als ich in Richtung Check-in ging und wir unsere Reisen antraten. Während er durch Europa tourte und einen Konzertsaal nach dem anderen sah, war ich mit meinem Rucksack quer durch Costa Rica unterwegs. Wie auf jeder meiner Reisen lernte ich viele neue Leute kennen und schloss Freundschaften für die Ewigkeit. Doch mit einer Person hatte ich nicht gerechnet.
Es war einer dieser Tage, an dem ich morgens im Hotel beim Frühstück saß, den Blick vom Balkon in den Dschungel genoss und meine E-Mails checkte. Und dann las ich eine E-Mail mit dem Betreff: Pferdepraxis Dr. Herbert Pflaum.
Hallo, Frau Kollegin Meier,
von der Tierklinik in München habe ich erfahren, dass Sie auf Stellensuche sind.
Wir sind ein 6-köpfiges Team in einer ambulanten Pferdepraxis in Niederbayern (Landkreis Passau) mit kleinem stationärem Anteil und suchen zum Oktober eine neue Assistenzärztin.
Wenn Sie Interesse haben, melden Sie sich bitte gerne.
Hab Sie telefonisch leider nicht erreichen können.
Mit freundlichen Grüßen,
Herbert Pflaum
Natürlich konnte er mich telefonisch nicht erreichen, ich saß irgendwo im Dschungel Costa Ricas, und die Vorwahl 0049 war mir damals sowieso nicht geläufig, ich hatte den Anruf einfach ignoriert. Und das Thema Bayern war für mich eigentlich schon längst abgehakt.
›Egal‹, dachte ich, ›einen Versuch war es wert‹, schließlich wollte ich ja doch irgendwann einen Job in der Pferdemedizin. Kurzerhand tippte ich eine Antwort ins Mailprogramm:
Lieber Herr Pflaum,
ich bin noch bis 13. August im Ausland, darum konnten Sie mich wahrscheinlich nicht erreichen (das Netz hier kann sehr unstabil sein).
Ich hätte großes Interesse an der Stelle und würde mich gerne wieder melden, sobald ich zu Hause bin. Ich habe im Moment leider weder meinen Lebenslauf noch Empfehlungsschreiben, die ich Ihnen weitersenden könnte, da ich nur mein Handy dabeihabe.
Mit freundlichen Grüßen,
Helga Meier
Nach kurzer Zeit folgte eine weitere Mail von Herrn Pflaum.
Liebe Frau Meier,
kein Problem. Ich habe Ihre Unterlagen von der Klinik in München. Alles gut. Wollen Sie zum Probearbeiten kommen, wenn Sie wieder da sind?
Gute Rückreise,
Herbert Pflaum
Und wieder schoss mir ein »WOW« durch den Kopf. Die Chefin der Klinik hatte wirklich Head Hunter für mich gespielt. Aber ich war immer noch nicht ganz davon überzeugt, irgendwohin nach Bayern zu gehen. Ich startete also einen halbherzigen Versuch, mein Probearbeiten abzusagen, indem ich schrieb, dass ich für Deutschland noch keine Approbation, also die Erlaubnis, in Deutschland zu praktizieren, hatte. Doch dieses Argument wurde von Dr. Pflaum kurzerhand mit den Worten »ach, die bekommst du schon bis dahin« abgewiesen und das Thema war damit erledigt. Also machten wir einen Termin aus, und ein paar Tage nachdem ich aus Costa Rica zurückgekehrt war, fuhr ich nach Bayern und stellte mich vor.
Dr. Pflaum sah aus, wie man sich einen bayerischen Pferdetierarzt vorstellte: groß, von kräftiger Statur und mit Händen, die zeigten, dass er in seinem Leben schon viel gearbeitet hatte. Er war im Alter meiner Eltern, um die sechzig, und strahlte das Gefühl aus, dass er jedes Problem lösen konnte. Ich verbrachte drei Tage in Bayern, den Großteil der Zeit davon im Auto, um von einem Hof zum nächsten zu kommen. Und obwohl das eigentlich mal der Grund war, warum ich in eine Klinik und in keine mobile Praxis wollte, war es diesmal anders.
In diesen drei Tagen mit Dr. Pflaum lernte ich mehr als in einem ganzen Monat in meinem vorherigen Praktikum. Er erklärte mir alles, ließ mich die Patienten untersuchen, und schnell bekam ich ein Gefühl dafür, wie es in seiner Praxis lief. Und das gefiel mir überraschend gut. Geld und Arbeitszeiten waren mir damals nicht wichtig. Auf einmal war ich mir ganz sicher, dass ich diesen Job machen wollte, und alles, was dabei raussprang, war ein Bonus. Ich hoffte plötzlich, dass ich den Job, irgendwo in Bayern, bekommen würde.
Wieder daheim, erzählte ich Tobi vom Probearbeiten. »Und wie machst du das, wenn du den Job bekommst?«, fragte er, und ich merkte, dass ihn das Thema beunruhigte.
»Ach, ich bekomm den eh nicht«, antwortete ich und merkte, wie sich seine Anspannung etwas löste.
Einige Tage später bekam ich eine E-Mail:
Hallo, Helga und schönen Sonntag,
wollte mich heut melden, weil wir fertig gebrütet haben.
Wir würden uns freuen, wenn Du bei uns im Team anfangen würdest, wenn möglich, zum 1. Oktober.
Bitte gib mir baldmöglichst Bescheid, ob das für Dich infrage kommt.
Gruß,
Herbert
SHIT! Sosehr ich befürchtet hatte, schon wieder eine Absage zu bekommen, so groß war dann doch der Schock, den Job tatsächlich bekommen zu haben. Ich konnte nach Bayern gehen! Aber alleine. Und gerade war September, also hatte ich nur einen Monat bis zu meinem Arbeitsbeginn, falls ich den Job annahm. Ich legte den Laptop auf meinem Schoß zur Seite und schaute erst mal ungläubig ins Wohnzimmer.
Die Melodie von Tobis Üben im Nachbarzimmer klang durch den Raum. Ich saß noch einen Moment still da, stand auf und ging rüber.