Mengele - David Marwell - E-Book
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Mengele E-Book

David Marwell

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Beschreibung

Intelligent, ehrgeizig, skrupellos: Dr. Josef Mengele wurde zum Synonym des Bösen schlechthin. Der »Todesengel« von Auschwitz, der unmenschliche Experimente an Gefangenen durchführte, bei der Selektion an der Rampe Arien pfiff, gilt als einer der berüchtigsten Kriegsverbrecher. Aber obwohl er seit 1945 auf internationalen Fahndungslisten stand, konnte er bis zu seinem Tod 1979 unbelangt in Südamerika leben. David Marwell hat als Spezialist im US-Justizministerium an der Aufdeckung des Schicksals Mengeles mitgewirkt. Er erzählt – nüchtern, klar, genau – das Leben eines fürchterlich fehlgeleiteten Arztes. Und gleichzeitig – für die Zeit zwischen 1945 und 1985 – auch einen Thriller in Zeiten des Kalten Krieges: zwischen Mossad, BND und Burda, zwischen den US-Nazi-Jägern und Mengeles Familie in Günzburg, zu der er bis zu seinem Tod Kontakt hielt. Es ist die Geschichte einer Wissenschaft ohne Moral, einer Flucht ohne Freiheit und schlussendlich der Lösung eines Falls ohne Gerechtigkeit.

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Seitenzahl: 633

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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2020 bei W. W. Norton & Company unter dem Titel Mengele. Unmasking the „Angel of Death“.

© 2020 by David G. Marwell

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,

Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

wbg Theiss ist ein Imprint der wbg

© der deutschen Übersetzung 2021 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft)

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.

Lektorat: Christina Kruschwitz, Berlin Satz: Arnold & Domnick, Leipzig

Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier

Printed in Europe

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-8062-4277-5

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:

eBook (PDF): 978-3-8062-0235-9

eBook (epub): 978-3-8062-0256-4

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Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zum Autor

Impressum

Zur Erinnerung an meine Eltern

Edward M. Marwell 1922–2010

Grace Glass Marwell 1924–2013

Inhalt

Eine Bemerkung zu den Quellen

Vorwort

Teil 1AUFSTIEG

Kapitel 1: „Zündende Leuchtkraft“

Kapitel 2: Wissenschaftler und Soldat

Teil 2AUSCHWITZ

Kapitel 3: Die Hauptstadt des Holocaust

Kapitel 4: „Zufällige Kommandierung“

Kapitel 5: „… weil ich für Rolf ein Bettchen kaufen muß“

Teil 3FLUCHT

Kapitel 6: Gefangenschaft und Versteck

Kapitel 7: Ruhe und Sturm

Teil 4VERFOLGUNG

Kapitel 8: Vorspiel

Kapitel 9: Die Untersuchung

Kapitel 10: São Paulo

Kapitel 11: „Eine Biografie der Knochen“

Kapitel 12: Zweifel

Kapitel 13: Fortschritt und Stillstand

Kapitel 14: Der Fall wird geschlossen

Epilog: Vater und Sohn

ANHANG

Postskriptum

Danksagung

Abkürzungen

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Register

Eine Bemerkung zu den Quellen

Dieses Buch baut auf Primärquellen aus Archiven auf der ganzen Welt und den gründlichen Forschungen vieler hervorragender Forscher auf, aber es benutzt auch Mengeles eigene Schriften. Ich las seine Briefe und Tagebücher aus den Jahren nach dem Krieg und lernte seine Krankheiten, Frustrationen und privaten Überlegungen detailliert kennen, dazu den Stil und Rhythmus seiner Gedanken. Außerdem konnte ich Mengeles eigenen Versuch dessen lesen, womit ich selbst beschäftigt war. Gegen Ende seines Lebens begann er seine Lebensgeschichte zu schreiben, jedoch in Form eines autobiografischen Romans, „der das Leben eines Mannes erzählt, das von seiner Zeit in besonderer Weise geprägt wurde”. In einem Brief an seinen Sohn erklärte er seine Wahl dieses Genres damit, es biete die

Möglichkeit freizügigerer Behandlung schwierigerer Themen, der Austauschbarkeit eigener Erlebnisse und solcher anderer Personen, der Typifizierung von Ereignissen und Menschen jener Zeit, der leichteren Verdeutlichung innerer Zusammenhänge, Ursachen und Abläufe und schließlich der Übertragung eines Einzelschicksals auf ganze Gruppen.1

Er glaubte durch diese Art von „Autofiktion“, die ihn von den Fesseln der wörtlichen Wahrheit entband, aus dem Rohmaterial seines Lebens eine höhere, vielleicht universalere Botschaft formen zu können. Aus Gründen der Sicherheit und des Schutzes fiktionalisierte Mengele die Namen der Personen und Orte. Ich stand vor der Aufgabe, seinen Verschleierungsversuch zu entziffern und die echten Namen und Orte zu ermitteln, die eine Schlüsselrolle in seiner Geschichte spielten. Dadurch ergänzte meine Arbeit die von Mengele – ich entschlüsselte, was er verschlüsselt hatte. Mein Erfolg trug dazu bei, zu klären, was er zu tarnen versucht hatte, wodurch seine „Autobiografie“ zu einer unersetzlichen und überaus wertvollen Quelle wurde.

Vorwort

Josef Mengele wurde am 16. März 1911 geboren und starb am 7. Februar 1979. Fast genau in der Mitte seines Lebens, im Sommer 1944, tat er lange Tage und Nächte seinen Dienst an der Rampe des Konzentrationslagers Auschwitz II (Birkenau), wo er Neuankömmlinge begutachtete und über ihr Schicksal entschied. Der Versuch der Nationalsozialisten, die ungarischen Juden zu ermorden, die letzte verbliebene jüdische Gemeinschaft, die sie vernichten wollten, war in vollem Gange, und eine scheinbar endlose Folge von Waggons fuhr auf einem neu gebauten Gleis durchs Haupttor und ins Zentrum des Lagers, wo sie nicht weit entfernt von den Gaskammern hielten. Dieser neue, wenige Monate zuvor gebaute Eingang ersetzte eine ineffiziente Rampe zwischen dem Hauptlager Auschwitz und Birkenau und vereinfachte das Aussteigen und Registrieren der todgeweihten und desorientierten Passagiere, die in Ungarn in stickige Güterwagen gepfercht worden waren. Das Lager hatte seinen größten Umfang erreicht und arbeitete mit voller Leistung; von Ende April bis Ende Juli wurden fast 430 000 ungarische Juden dorthin deportiert und die große Mehrheit gleich nach der Ankunft ermordet. Man könnte sagen, dass Mengele ebenfalls einen Höhepunkt seines Lebens erreicht hatte.

Könnte man in sein Inneres blicken, würde man wohl große Befriedigung angesichts des Verlaufs sehen, den sein Leben genommen hatte. In jugendlichem Alter, mit nur 33 Jahren, stand er auf dem Gipfel des Erfolgs. Seine Studien, Vorbereitung und harte Arbeit hatten ihn beim Engagement für die Wissenschaft, die seine Leidenschaft war, an einen beispiellosen Ort gebracht. In seinen Augen hatte niemand vor ihm dasselbe Rohmaterial zur Verfügung gehabt oder war so befreit von den Einschränkungen gewesen, die den Ehrgeiz fesselten und den wissenschaftlichen Fortschritt bremsten.

Wenn die erste Hälfte von Josef Mengeles Leben eine stete Reihe von Erfolgen gewesen war, die zu diesem Augenblick führten, so kann man die zweite Hälfte als Demontage all dessen sehen, was er erreicht hatte. In diesem Sommer war das Dritte Reich von seiner weitesten Ausdehnung auf seinen Ausgangspunkt zurückgedrängt worden. In den folgenden Monaten schrumpfte es weiter wie ein sich zusammenziehendes schwarzes Loch. Gleichzeitig wurde Josef Mengele aus dem Zentrum einer schönen neuen Welt immer weiter an den Rand gedrängt. Die Aussichten auf eine vielversprechende Zukunft schwanden, so wie alles andere, das ihm wichtig war, von ihm fortrückte.

Während diese Demontage stattfand, begann ein paralleler Prozess, durch den sein Ruf eine fast mythische Größe annahm: Für die Welt wurde er zur Verkörperung der Bewegung, die ihn so antrieb, wie zu ihrem berüchtigsten Verbrecher. Der von manchen „Todesengel“ genannte Mengele wurde eine bekannte Figur der Populärkultur und suchte die Albträume oder Tagträume zahlreicher Menschen heim. An einem bestimmten Punkt wurde er nicht nur zur Verkörperung des Holocaust, sondern auch des Versagens der Justiz nach Kriegsende – eine Rolle, die unser Verständnis dafür, wer dieser Mann wirklich war und was ihn motivierte, stark beeinträchtigte.

Als ich im Februar 1985 für das Office of Special Investigations (OSI) im US-Justizministerium arbeitete, wurde ich Teil der internationalen Untersuchung, die Mengele finden und vor Gericht bringen sollte. Das OSI war 1979 durch ein von Elizabeth Holtzman, einer unerschrockenen und leidenschaftlichen Kongressabgeordneten aus New York, eingebrachtes Gesetz gegründet worden und löste eine wenig effektive Dienststelle der Einwanderungs- und Einbürgerungsbehörde ab, die Kriegsverbrecher in den USA finden sollte. Das neue Gesetz schuf nicht nur das OSI, sondern siedelte es auch bei der Strafverfolgungsabteilung im Justizministerum an, gab ihm ein ausreichendes Budget und schuf einen rechtlichen Rahmen, innerhalb dessen NS-Verbrecher wegen erschlichener Einwanderung angeklagt werden konnten, weil sie ihre Vergangenheit und ihre Beteiligung an der NS-Verfolgung verschleiert hatten.

Zunächst war das Office wie andere Bundesbehörden zur Strafverfolgung organisiert. Unter der Leitung von Staatsanwälten führten Kriminalbeamte die Untersuchungen durch, indem sie Dokumente und Zeugen ausfindig machten. Bald zeigte sich aber, dass diese Fälle anders gelagert waren. Die untersuchten Verbrechen waren jenseits des Ozeans begangen worden, die Beweismittel lagen in fremden Sprachen vor, und der historische Kontext, in den die Beweismittel gestellt werden mussten, war fast allen entrückt, außer den Zeitzeugen und Historikern, die ihn studierten.

Um diese Verbrechen differenziert genug untersuchen zu können, brauchte das Team neue Mitglieder. Ich gehörte einer kleinen Gruppe fortgeschrittener Geschichtsstudenten und frisch promovierter Historiker an, die zunächst für die Übersetzung von Dokumenten eingestellt worden waren, aber bald die Ermittler praktisch ersetzten. Mit der Zeit entwickelten wir eine neue Disziplin, die man „forensische Geschichte“ nennen könnte. Zum ersten Mal wurden ausgebildete Historiker als vollwertige Mitglieder eines Strafverfolgungsteams eingestellt, die ihr Wissen und ihre Fähigkeiten dazu nutzten, an Strafverfahren mitzuwirken. Unsere Bedeutung für die Mission des OSI lässt sich am Personalschlüssel ablesen. Ich begann im März 1980 als der dritte Historiker beim OSI, dem ansonsten zehn oder elf Ermittler von verschiedenen Bundesbehörden angehörten. Als ich das Office neun Jahre später verließ, waren es zehn Historiker und nur noch ein Ermittler.

Wir arbeiteten wie Historiker, durchforschten Archive nach Beweismitteln, befragten Personen nach entlegenen Details und konsultierten Experten zum Kontext und zur Zeitabfolge. Doch wir waren auch Anwälte. Und wir arbeiteten mit einigen Beschränkungen: Die Beweisregeln des Bundesrechts setzten dem neue Grenzen, was wir als Beweise vorlegen konnten, und wir lernten wie Jura-Erstsemester die Ausnahmen von der Regel über den grundsätzlichen Ausschluss aller Beweise vom Hörensagen auswendig.

Üblicherweise untersuchten wir beim OSI Fälle gegen nichtdeutsche Helfer auf niedriger Ebene, die sich im Dienst ihrer „Herren“ an der Verfolgung unschuldiger Menschen beteiligt hatten. Die Deutschen hatten bei der Besatzung fremder Länder auf einheimische Hilfskräfte zurückgegriffen, ob als Dolmetscher, Polizisten oder Lagerwachen, und die einheimische Bevölkerung hatte ein starkes Motiv, ihr Schicksal mit dem der Besatzer zu verbinden. Als die Kriegslage sich zuungunsten der Deutschen verschob und diese den Rückzug antreten mussten, folgten ihnen ihre Helfer, denn sie wussten, dass eine Rückkehr nach Hause sowjetische Gerechtigkeit bedeuten würde. Sie tauchten im gewaltigen Meer von Displaced Persons unter, die auf deutsches Territorium kamen, weil sie nirgendwo anders hinkonnten. Seite an Seite mit ihren Opfern profitierten diese Täter von der alliierten Hilfe und fuhren auf denselben Schiffen einer helleren Zukunft in Amerika entgegen wie jene, denen sie Schaden zugefügt hatten. In Amerika ließen sie ihre Vergangenheit hinter sich und fingen ein neues Leben an. Es brauchte vier Jahrzehnte und den entschlossenen Druck einiger weniger engagierter Personen, um die groteske Ironie ans Licht zu bringen, dass die USA nicht nur für die Opfer der NS-Verfolgung eine Zuflucht geworden waren, sondern auch für diejenigen, die geholfen hatten, sie zu verfolgen.

Im März 1983 erweiterte William French Smith, Präsident Reagans erster Justizminister, die Kompetenzen des OSI, indem er uns anwies, die Vorwürfe zu untersuchen, der amerikanische Geheimdienst habe nach dem Krieg den früheren SS- und Gestapooffizier Klaus Barbie angeworben. Diese Anschuldigung war besonders alarmierend, weil Barbie, der Gestapochef von Lyon, an der Festnahme und Deportation von Juden beteiligt gewesen und in Frankreich in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war. Der damalige OSI-Direktor Allan A. Ryan Jr. gab einen umfassenden Bericht heraus, der darstellte, wie die USA Barbie als Geheimdienstquelle rekrutiert, ihn wissentlich vor französischer Strafverfolgung bewahrt und über die sogenannte Rattenlinie über italienische Häfen nach Südamerika gebracht hatten. Ryan machte Schlagzeilen, als er dem Justizminister empfahl, die amerikanische Regierung solle sich bei Frankreich für die Strafvereitelung entschuldigen.

Nach der Barbie-Untersuchung trat eine sehr viel berüchtigtere Figur ins Licht der Öffentlichkeit: Josef Mengele. Mengeles doppelte Bedeutung – als Verkörperung des Holocaust und des Versagens der Justiz – spielte eine Rolle im politischen und moralischen Kalkül der drei Staaten, die 1985 mit der Suche nach ihm begannen.

Für jene Amerikaner, die die Untersuchung am lautesten forderten, war es reine Politik, eine Strategie, um ins Scheinwerferlicht zu kommen und Punkte zu machen. Für die Deutschen war es ein Versuch der Kompensation dafür, in der Vergangenheit nicht gehandelt zu haben. Und für die Israelis war es eine seltsame Mischung aus Politik und Emotionen, wegen der sie den Fall so lange wie möglich nicht abschlossen. Für mich war es sehr persönlich, obwohl niemand aus meiner Familie durch Mengele geschädigt worden war. Im Lauf der Untersuchung besuchte ich seine Heimatstadt und sein Versteck; ich befragte seine Verwandten, Freunde, Kollegen und Opfer; ich besuchte die Orte seiner Verbrechen, las seine privaten Briefe und Aufzeichnungen und hielt schließlich seine Knochen in Händen.

Auch nachdem der Fall Mengele offiziell abgeschlossen war, blieb Mengele bei mir. In zahlreichen Vorträgen in den USA und im Ausland sprach ich über die Untersuchung. Meine Zuhörer blieben von der Figur Mengele und dem, was er repräsentierte, weiter fasziniert. Als sein Tod erklärt wurde und neue Quellen über sein Leben zugänglich wurden, blieb Mengele das Thema ernsthafter wissenschaftlicher und journalistischer Untersuchungen, und er ist nach wie vor eine bekannte und quälende Figur der Populärkultur. Noch heute erbringt eine Google-Alert-Suche nach „Mengele“ fast tägliche Erwähnungen in vielen Zusammenhängen von Geschichte bis Wissenschaft, häufig als Maßstab des Bösen. 2017 ging der prestigereiche französische Renaudot-Literaturpreis an einen Roman über Mengeles Leben nach dem Krieg, La disparition de Josef Mengele von Olivier Guez (deutsche Ausgabe: Das Verschwinden des Josef Mengele, 2018). 2016 war Mischling von Affinity Konar, ein Roman über Mengele in Auschwitz, in den USA erschienen und von der Kritik gelobt worden (deutsche Ausgabe 2017).

Ich las und dachte weiterhin über Mengele nach, und Anfang 2016 begann ich, ein Buch über die Untersuchung und meine Rolle dabei zu schreiben. Viele neue Dokumente über diese einzigartige internationale Aktion waren freigegeben worden und in deutschen, israelischen und US-Archiven zugänglich. Die im Jahr 2000 freigegebene CIA-Akte beleuchtete einen früher unbekannten Teil der Untersuchung, und im September 2017 veröffentlichte der israelische Geheimdienst Mossad einen langen Bericht auf Hebräisch voll neuer Erkenntnisse, die auf seiner geheimen Mengele-Akte beruhten. All dieses Material bot zusammen mit meinen Erinnerungen eine reiche Grundlage dafür, zu verstehen, warum die Bundesrepublik Deutschland, Israel und die Vereinigten Staaten sich 1985 zusammentaten, um Mengele zu finden.

Mein ursprünglicher Plan, nur über die Untersuchung zu schreiben, brach unter dem Gewicht aktueller Literatur und neuer Forschungserkenntnisse zusammen, auf die ich während meiner Recherchen stieß. Ich las viel über Mengeles wissenschaftliche Ausbildung, Erfahrungen und Arbeit und lernte überraschende Zusammenhänge und Details kennen. Dieses Material, zum großen Teil auf Deutsch, untersucht Aspekte von Mengeles Leben und Karriere, die mir unbekannt gewesen waren. Belehrt und fasziniert beschloss ich, mein Thema der Suche nach Mengele auf eine Untersuchung des Menschen auszudehnen – sein Leben, seine Karriere und sein Bild in der Erinnerung und Imagination anderer. Während eine bestimmte Karikatur Mengeles wohlbekannt ist, die durch seine Rolle in Filmen, Büchern und als oft beschworenes Symbol des Bösen genährt wird, weiß man viel weniger über den Menschen selbst.

Mengele in Verschuers Frankfurter Institut, 1935–36.

Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem

Teil 1

AUFSTIEG

Kapitel 1: „Zündende Leuchtkraft“

(März 1911 – September 1938)

Allen Berichten nach ließ wenig darauf schließen, dass Mengeles Zuhause einen Mann hervorbringen würde, der zum „Todesengel“ werden sollte. Anzeichen für extreme politische Überzeugungen, Antisemitismus und Fähigkeit zum Mord sind schwer zu finden. Studien über den sozialen Hintergrund und die Kindheitserfahrungen von Männern, die später Verbrechen unter den Nazis verübten, beschreiben oft die Wirkung des Ersten Weltkriegs auf ihre psychische und emotionale Entwicklung.1 Viele, die später für schreckliche Verbrechen verantwortlich waren, gehörten der Generation an, für die der Erste Weltkrieg eine so wichtige Rolle spielte. Laut einer Theorie raubte der Krieg vielen jungen Deutschen den Vater, und die plötzliche deutsche Kapitulation machte jene Väter, die zurückkehrten, zu schambehafteten Figuren.2 Diese psychische Last zusammen mit den Entbehrungen und politischen Umwälzungen nach dem Krieg habe eine Gruppe von Männern geprägt, die Hitlers Botschaft als machtvollen Aufruf zum Handeln verstanden. Dies ebnete ihm den Weg zum Erfolg und trieb einige an, an einem ideologischen Kampf teilzunehmen, der ihnen erlaubte, Verbrechen und Gräueltaten in beispiellosem Ausmaß zu verüben.

Obwohl Mengeles Vater Karl bei Kriegsbeginn eingezogen wurde, wurde er zwei Jahre später freigestellt, um wieder die Fabrik zu leiten, die seinen Namen trug. Sie hatte ihre Produktion von der Agrartechnik auf Ausrüstung für die deutsche Kriegsanstrengung umgestellt. Bei der Herstellung von Bleigewichten für Seeminen und einachsigen Pferdewagen für den Munitionstransport stieg die Zahl der Angestellten der Firma Mengele von 15 im Jahr 1915 auf 91 bei Kriegsende. Auch wenn sie nicht der größte Arbeitgeber in Günzburg war, entwickelte sie sich zu einem wichtigen wirtschaftlichen Faktor in der kleinen Stadt, was Karl Mengeles Status hob und sein Vermögen mehrte.

Mengeles Mutter Walburga, drei Jahre älter als ihr Ehemann, kam aus einer angesehenen Günzburger Familie. Während Mengele seinen Vater später als „gutmütig und weichherzig“ beschrieb, war seine Mutter „äußerst resolut und energisch“. Nach Aussage eines Bekannten war das Erscheinen von Mengeles Mutter in der Fabrik viel mehr gefürchtet als das seines Vaters.3 Sie war fromme Katholikin, und ihre Frömmigkeit färbte anscheinend auf Mengele ab.4 Obgleich er nicht gläubig war, trat er nicht aus der Kirche aus und entschied sich für eine kirchliche Trauung – beides ungewöhnlich unter SS-Angehörigen.5

In seiner Autobiografie widmete Mengele über 100 Seiten seiner Kindheit und Jugend und zeichnete das Bild einer behüteten Kindheit inmitten von Eltern, Großeltern und Hausangestellten. Die Familie sah seine Geburt als wichtiges Ereignis an, das im 31. Lebensjahr seiner Mutter eintrat, zumal ihr erstes Kind wenige Tage nach der Geburt gestorben war. Die Aufregung um Josef Mengeles Geburt zeigte, wie lange er erwartet worden war, und er nahm seinen Platz im Zentrum einer aufmerksamen Familie ein. Mit seinen jüngeren Brüdern Karl und Alois, die in den folgenden drei Jahren geboren wurden, verlebte er eine recht unbeschwerte und ereignislose Kindheit.

Laut einem Freund aus seiner Kindheit war die Atmosphäre in seinem Zuhause „konservativ, katholisch, konventionell“.6 Mengeles Vater gehörte zumindest zeitweise der Deutschnationalen Volkspartei an. Er war damals kein Unterstützer der NSDAP, wie einige meinen, die darauf verweisen, dass er im Oktober 1932 sein Fabrikgebäude für einen Wahlkampfauftritt Hitlers zur Verfügung stellte. Karl trat der NSDAP im Mai 1933 in Verbindung mit seiner Kandidatur für den Stadtrat bei, die ihm 1924 und 1929 nicht geglückt war. Der Historiker Zdenek Zofka ist der Auffassung, dass Karl Mengeles politisches Engagement weniger ideologisch begründet war, als dem Wunsch entsprang, das örtliche Geschäftsklima zu beeinflussen. Tatsächlich warfen Günzburger NS-Funktionäre ihm vor, seinen Sitz durch eine großzügige Spende erworben zu haben.7 Karl trat zwar 1935 der SS bei, seine Mitgliedschaft war jedoch nominell und er leistete keinen Dienst und erreichte keinen Rang. Im Rahmen der Entnazifizierung nach 1945 kam die Spruchkammer zu dem Ergebnis, sein Posten als Kreiswirtschaftsberater von 1936 bis 1945 sei fachlicher Natur gewesen; er habe keine politische Verantwortung getragen und sei kein „überzeugter und zuverlässiger Nationalsozialist“ gewesen. Die Spruchkammer befand außerdem, Karl Mengele habe sich fair und großzügig gegenüber Personen verhalten, die vom NS-Regime verfolgt wurden, darunter politische Gegner und Juden.8

Im Einklang mit den konservativen politischen Anschauungen seines Vaters trat Josef Mengele 1924 dem Großdeutschen Jugendbund (GDJ) bei, und war von 1927 bis zu seinem Austritt 1930 Ältestenführer des Ortsverbands Günzburg, dem 60 Jungen und 30 Mädchen angehörten. Mengele erinnerte sich an eine Sonnenwendfeier, die er mit seiner Gruppe organisierte:

Wir waren stolz auf unser großes Sonnwendfeuer, das auf dem Höhenrücken gegenüber der Vaterstadt in den Himmel lohte und davon Kunde gab, daß ein kleines Häuflein Jungs und Mädels heute die Sonnenwende feierten mit den heißen Gedanken und Wünschen in ihren Herzen, die Menschen ihres Vaterlandes aufzuwecken und aufzurütteln zum heiligen Kampf der Befreiung von den Fesseln des schändlichen Versailler Vertrages. Frei sollte die Flamme machen und … leuchten sollte sie uns auf unserem Weg, wärmen sollte sie uns mit der Liebe zu unserem großen Volk und seiner hohen Kultur und verbrennen sollte in ihr alle Zwietracht unter uns Deutschen.9

Der GDJ nahm keine Juden auf, wie Mengele in seinem Tagebuch erklärte, damit „das Arteigene des deutschen Volkes“ endlich hervortreten und von „Verkrustungen des Artfremden“ befreit werden könnte.10 Manche haben Mengeles deutlich nationalistisch und antisemitisch gefärbten Rückblick auf seine Zeit beim GDJ so interpretiert, dass seine Mitgliedschaft den Weg zu seiner NSDAP-Mitgliedschaft und der Übernahme von deren Ideologie und Weltbild festgelegt hätte, aber der Historiker Sven Keller hält eine solche Deutung für zu weitgehend. Soweit Mengele in seiner Kindheit eine antisemitische Haltung kennenlernte, habe es sich eher um den „für das katholische Milieu der Zeit durchaus typischen latenten kulturellen Antijudaismus gehandelt“.11 Antisemitismus war laut Keller zweifellos im GDJ präsent, so wie in großen Teilen der Jugendbewegung und anderen konservativen bis rechten Organisationen in der Weimarer Republik, doch er wurde weder als ausdrückliches Ziel in den Vordergrund gestellt, noch war er mit dem aggressiven rassischen Antisemitismus der Nazis vergleichbar.12

Die Mitgliedschaft Josef Mengeles im GDJ kann nicht als direkte Vorstufe oder als Zeichen einer bereits vorhandenen Begeisterung für die Ideen und Prinzipien des Nationalsozialismus gewertet werden …; [die neukonservativen Vorstellungen] orientierten sich an den Ideen Ernst Jüngers oder Moeller van den Brucks, nicht an denen Adolf Hitlers oder Alfred Rosenbergs.13

Mengele besuchte das humanistische Gymnasium in Günzburg, wo nach traditionellem Muster Latein und Griechisch als Grundlage der europäischen Kultur gelehrt wurden. Seine Leistungen waren bestenfalls durchschnittlich: in Religion, Englisch, Physik und Geschichte bekam er ein Befriedigend, in Deutsch, Griechisch, Latein und Mathematik ein Mangelhaft. Sein Betragen war ordentlich, aber sein Fleiß und sein Interesse für die Schule ließen zu wünschen übrig. Mengeles Schulakte zeigt, dass er seit dem Schuljahr 1927–28 eine Reihe von Infektionen wie Knochenmarkentzündung, Nierenentzündung und Blutvergiftung hatte und wegen dieser Krankheiten längere Zeit die Schule versäumte. Sie führten auch zu einem bleibenden Nierenschaden. Dies hinderte ihn daran, das Familienunternehmen zu übernehmen, was ihm als ältestem Sohn zugestanden hätte.

Obwohl die Weltwirtschaftskrise die Aussichten der Firma getrübt hatte, warf sie immer noch Gewinn ab, und es wäre natürlich gewesen, wenn Mengele ins Unternehmen eingetreten wäre, vor allem weil er stets von technischen Dingen fasziniert war und großes Interesse für das zeigte, was in den Werkstätten und der Fabrik seines Vaters passierte. Mengeles Mutter war jedoch der Meinung, die Gesundheit ihres Sohnes, die besondere Diät und Ruhe erforderte, spreche gegen einen Posten in der Firma, wo eine robuste Kondition nötig war. Stattdessen wurde der jüngste Bruder Alois, der eine Handelsschule besuchte, dazu ausersehen, in die Firma einzutreten, sodass Josef und sein Bruder Karl ihren Beruf frei wählen konnten.14 Mengele machte 1930 das Abitur, wusste aber noch nicht, welchen Studiengang er wählen würde, und zeigte keine besondere Vorliebe.

München

Als Josef Mengele seine Heimatstadt Günzburg verließ, um das Studium an der Ludwig-Maximilians-Universität in München aufzunehmen, begann er eine Entdeckungsreise und eine Karriere. Er wählte die Medizin und ihre Nachbarfächer Humangenetik und Anthropologie. Seine Wahl war überaus zeitgemäß, denn diese Disziplinen sollten mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus an Bedeutung gewinnen und gingen nach den Worten einer Historikerin „eine symbiotische Beziehung“ mit dem NS-Staat ein,15 die schließlich eine entscheidende Rolle für das Schicksal von Millionen Menschen spielen sollte.

Mengeles Studentenausweis der Universität München, 1930-36.

Universitätsarchiv München, Stud-Kart II, Mengele, Josef

Sein Biologielehrer im Günzburger Gymnasium hatte sein Interesse für die Naturwissenschaft geweckt, und er fand die Anthropologie am aufregendsten. Nach dem Abitur dachte er aber an Zahnmedizin als Studienfach, weil er glaubte, damit viel Geld zu verdienen, denn in seiner Heimatstadt gab es keinen einzigen Zahnarzt.16 Als er an der Universität eingetroffen war, unterhielt er sich mit dem ein Jahr älteren Julius Diesbach, der ebenfalls vom Günzburger Gymnasium kam und schon eingeschrieben war. Diesbach meinte, Zahnmedizin sei ein zu spezialisiertes Feld, und plädierte überzeugend für Allgemeinmedizin. Für Mengele lag die besondere Anziehung der Medizin in ihrem breiten Spektrum: „Da auch Anthropologie und Humangenetik zum weiten Feld der Medizin gehörten, entschloß ich mich zu diesem Studium.“17 Trotz der Umstände – ein zwangloses Gespräch – war Mengeles Wahl nicht zufällig; er behauptete, sie habe eine „Leidenschaft“ in ihm geweckt:

Von der Vielseitigkeit der Medizin hatte ich damals keine Ahnung, aber die entfachte Flamme der Begeisterung sollte für immer, wenn auch nicht ihre zündende Leuchtkraft, so doch ihre Wärme behalten. Wie aber war es möglich, in so kurzer Zeit aus einem – man könnte fast sagen – „Resignierten“ einen „Begeisterten“ zu machen?18

Mengele beantwortete die Frage selbst, indem er suggerierte, sein Freund habe ein Potenzial freigelegt, das bereits in ihm schlummerte. Diesbach war ein „Zauberer“, voll von den „Schönheiten, Erhabenheiten und hohen Werten seiner Wissenschaft und Kunst“, der nicht von den praktischen Möglichkeiten der Medizin oder ihrem Karrierewert sprach. Er „verstand es nur – wohl ganz unbewußt – meine naturwissenschaftliche Neugier aufzustacheln und in Begeisterung für ein so vielseitiges Studium umzumünzen. Er brauchte mir ja nur aufzuzählen, welche Fächer ich im ersten Semester zu belegen hätte und meine Wahl stand so felsenfest, als ob ich nie an etwas anderes zu studieren gedacht hätte.“19 Mengele erhob das Eingreifen seines Freundes – „gerade im richtigen Moment“ – zu mythischer Größe und verglich die Begegnung mit dem Erscheinen Athenes in Gestalt eines Hirsches vor Odysseus. Die unheimliche Tatsache, dass er seinen Freund nie wiedersah, ließ ihn spekulieren, er sei vielleicht in Wirklichkeit Athene in anderer Gestalt gewesen.20

Adolf Hitler verstand die Bedeutung der Medizin und hatte genaue Vorstellungen, wie sie im neuen Deutschland praktiziert werden solle. In einer frühen Rede vor dem Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund (NSDÄB) sagte er: „Ich kann euch alle entbehren: Juristen, Baumeister, Ingenieure und was es sei. ... Euch aber, Euch nationalsozialistische Ärzte kann ich nicht einen Tag, nicht eine Stunde entbehren. Wenn Ihr nicht seid, wenn Ihr versagt, ist alles umsonst.“21 Wenn Hitler von Volksgesundheit sprach, meinte er nicht in erster Linie das Wohlbefinden von Individuen. Im Mittelpunkt seines Konzepts der deutschen Medizin stand die Vorstellung, die größte Verantwortung des Arztes gelte nicht dem Einzelnen, sondern dem Volk.22 Dieser entscheidende Fokuswechsel erlaubte es deutschen Ärzten, Patienten auf eine Weise zu behandeln, die ihnen zuvor undenkbar schien, ohne aus ihrer Sicht den hippokratischen Eid zu verletzen, der nun in einem ganz neuen Licht erschien. Der NSDÄB forderte eine neue medizinische Ethik:

Wir haben vom ersten Tage an darauf hingewiesen, daß die große weltanschauliche Umstellung unserer Tage, die zu einem wesentlichen Teil die Überwindung des Individuums durch das Erlebnis „Volk“ ist, auch Moral und Ethik des ärztlichen Berufes entscheidend beeinflussen muß.23

Hans Reiter, der Präsident des Reichsgesundheitsamts, betonte die Verantwortung der Ärzte im Nationalsozialismus, als er 1939 schrieb: „Der Arzt kämpft als biologischer Soldat seines Standes um die Gesundheit seines Volkes“,24 und „das Schicksal des deutschen Volkes liegt in der Hand des deutschen Arztes.“25

Die Verantwortung des deutschen Arztes gegenüber dem Volk statt gegenüber dem Einzelnen ermöglichte eine andere Form der Sorge um den Einzelpatienten. Die französischen Medizinhistoriker Yves Ternon und Socrate Helman haben dazu geschrieben:

[Der Arzt] muss seine alten humanitären Überzeugungen ablegen. Er hat nur einen Patienten: das deutsche Volk. Der Einzelne ist nicht mehr als eine Zelle des ganzen Volkes. Das Volk ist transzendent: es ist der einzige Körper. Dieser Volkskörper muss erhalten und behandelt werden. Um ihn gesund zu erhalten, ist kein Opfer zu groß. Ebenso wie ein Arzt nicht zögern wird, einen Finger zu amputieren, um einen Arm zu retten, oder einen Arm, um ein Leben zu retten, ist der NS-Arzt bereit, jede Aggression gegen den Einzelnen durchzuführen, der das Volk bedroht, gegen einzelne Deutsche und mit noch größerem Recht gegen Fremde.26

In Fällen, in denen die Existenz eines Einzelnen das Wohl des Volkes beeinträchtigte, war die Verantwortung des Arztes klar. Am 5. April 1933 forderte Hitler die deutsche Ärzteschaft auf, sich mit aller Kraft der Rassenfrage zu widmen.27

Hitlers Forderung nach Rassenhygiene als Hauptverantwortung des Arztes im neuen Deutschland spiegelte sich bald in den medizinischen Lehrplänen und der Infrastruktur dieser Berufsgruppe. Das Interesse an diesen neuen Themen war schon vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten gewachsen, sodass Ende der 1920er- und Anfang der 1930er-Jahre die Zahl der Kurse in Genetik, Anthropologie und Rassenhygiene zunahm.28 Die Gründung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927 mit Eugen Fischer als Direktor war „eines der wichtigsten Ereignisse in der Institutionalisierung der Rassenhygiene in der Weimarer Republik“.29

Mengeles Wahl des Studienfachs wurde dramatisch bestätigt, als er am ersten Tag eine Vorlesung des österreichischen Verhaltensforschers Karl von Frisch besuchte. Frisch, der 1973 den Nobelpreis für Medizin erhielt,30 leitete damals das Institut für Zoologie der Universität München und war in den 1920er-Jahren durch seine Studie über Honigbienen bekannt geworden. Der von den Studenten „Bienen-Frisch“ genannte Forscher hielt eine Einführungsvorlesung für alle Studenten der Naturwissenschaften und Medizin. Er war gerade von einer Vortragsreise durch die USA zurückgekehrt,31 und als er vor der großen Schar der Zuhörer stand, schien er direkt zu Mengele zu sprechen, wie dieser sich Jahre später erinnerte:

Er begann mit einem ganz flüchtigen Hinweis auf die Systematik gleich von den Protozoen zu erzählen und seine fast trocken zu nennenden Worte vermochten durch einfache, aber treffende Skizzen an der Tafel unterstützt, ein so anschauliches Bild der vorgetragenen Materie zu vermitteln, wie ich es selten in meinem Leben erfuhr. … War es schon an sich nicht schwer, in mir die „zoologische Flamme“ zu entzünden, so vermochte dies Frisch nicht nur für den Augenblick …, sondern so nachhaltig, daß ich dieses Feuer mein ganzes Leben unterhalten und [mich] auch nur allzu oft daran gewärmt habe.32

In anderen Vorlesungen beschrieb Frisch

das Sehen, Riechen und Schmecken der Insekten oder den Tast- und Gehörsinn der Fische oder die Gleichgewichtsorgane der Krebse. Alles hörte sich so leicht, ja fast spielerisch an und es waren doch die Resultate grundlegend wichtiger und richtungweisender Forschertätigkeit.33

Während Frisch den jungen Mengele mitriss und inspirierte, war sein Chemieprofessor Heinrich Otto Wieland das Gegenteil, denn er betrachtete „diese Vorlesung mehr als unangenehme Unterbrechung seiner wissenschaftlichen Forschertätigkeit …, denn als Gestaltungsmöglichkeit eines pädagogischen Bedürfnisses“.34 Diese pädagogischen Schwächen glich Wieland aber im Labor aus, denn 1927 hatte er für seine Arbeiten zur Gallensäure den Nobelpreis erhalten.35 Später deckte er jüdische Studenten, die an seinem Institut studierten, indem er sie unter seinen persönlichen Schutz stellte.

Noch nach 30 Jahren erinnerte sich Mengele „mit der gleichen Freude“ an die Vorlesungen seines Physikprofessors Walter Gerlach,36 und mit „Ehrfurcht“ an die von Siegfried Mollier, dem Direktor des Anatomischen Instituts. Dass er als junger Medizinstudent einen solchen Lehrer mit „schöner sonorer Stimme“ und „glänzende[r] Erscheinung“ gehabt habe, empfand er als „Gnade“: „Mit einigen, wenigen Worten hatte dieser gottbegnadete Anatomieprofessor mich – und wohl auch alle die anderen – im tiefsten Grund der Seele angerührt und in ihr eine begeisterte Bereitschaft für mein Studium geschaffen.“37

Mollier lehrte seine Studenten, ein guter Arzt müsse Körper und Seele als Einheit begreifen. Er sprach von der Majestät des Todes, der sie in ihrer Arbeit begegnen würden. Über Molliers späteren Unterricht im Anatomielabor schrieb Mengele, der „große Lehrer“ habe von ihnen ein tiefes, sogar intuitives Verständnis der Anatomie verlangt, nicht bloß das Auswendiglernen von Begriffen. Er führte geschickt vor, was beim Sezieren sichtbar wurde, „den funktionellen Zusammenhang und die statische Zweckmäßigkeit“ der Teile des menschlichen Körpers. Mengele war besonders bewegt von Molliers Einführung zu den Sektionsstunden: „Mein ganzes Leben – auch in den schwersten Situationen – sind mir seine feierlichen Worte von damals gegenwärtig geblieben, mit denen er vom Recht des Toten sprach, daß wir ihm stets mit Würde und Ernst gegenüber zu treten hätten.“ Mollier bildete nicht nur eine Generation von Ärzten aus, sondern auch eine Generation von Künstlern, die seine Vorlesungen an der Münchner Akademie der Bildenden Künste hörten und ihm ihr Verständnis der Anatomie verdankten.38

In den kurzen Pausen zwischen den Lehrveranstaltungen musste Mengele weit über das ausgedehnte Universitätsgelände laufen, doch seine Gesundheitsprobleme erschwerten das. Also schenkten seine Eltern ihm ein Auto, einen kleinen Opel, was ihn von den meisten seiner Kommilitonen abhob und seine geselligen Aktivitäten steigerte. Dennoch scheinen Mengele trotz der geistigen Anregung und der Begeisterung für seine Studien die Trennung von zu Hause und die erste Erfahrung der Unabhängigkeit schwergefallen zu sein. Wir kennen seine damaligen Gedanken nur aus den nüchternen und introspektiven autobiografischen Aufzeichnungen späterer Jahre, und sie zeigen vielleicht eher seine späteren Erfahrungen als das Heranwachsen eines jungen Mannes. Er schrieb von Einsamkeit und Isolation: „Gerade dieses Gefühl des Alleinseins, des Mangels an vertrautem Anschluß an eine Familie, des Fehlens einer echten Freundschaft habe ich in den ersten Semestern sehr bitter empfunden.“ Diese Gefühle drückten sich in „Unruhe, Unbefriedigtsein, Unlust, oberflächlicher Genußsucht und seichtem Dahinleben“ aus. Er gab sich selbst die Verantwortung für diese „mehr innere als äußere Isolierung“, denn er habe weder seine Familienbeziehungen gepflegt noch sich um „eine ehrliche Freundschaft“ bemüht. Den Grund sah er „tiefer in meiner Persönlichkeit“, sie war „nichts anderes, als Hemmung“. Er behauptete, dass er beim gescheiterten Versuch, seine Isolation zu „überwinden“, „dieses innere Unvermögen in einer – leicht mißzudeutenden – Wahrung der Distanz, kühler Unpersönlichkeit und ungeselliger Arroganz“ tarnte, die dazu führte, dass er „all das abgeschreckt habe, was mir sonst an Freundschaft und Zuneigung von sich aus … zugeflogen wäre“. Mengele fasste seine Reflexion mit der Überlegung zusammen, er habe „mehr als die Hälfte [s]eines Lebens“ gebraucht, um seine Hemmungen und die „Tarnung“ zu überwinden, mit der er sich schützte, doch „ihre Relikte“ seien auf „seinem ganzen Lebensweg“ verstreut.39

Bonn

Nach zwei Semestern in München wechselte Mengele nach Bonn. Es war in Deutschland üblich, dass Studenten an mehreren Orten studierten, und Mengele besuchte bis zum Abschluss fünf Universitäten. Vielleicht war sein Wechsel dadurch bestimmt, dass an der kleineren Universität am Rhein eine ruhigere Atmosphäre herrschte, mit kaum zwei Dritteln der Zahl an Medizinstudenten gegenüber München.40 In Bonn begann auch sein politisches Engagement, möglicherweise als Versuch, mehr Kontakt zu anderen zu finden. In seiner Autobiografie deutete Mengele an, er und seine Kommilitonen seien zunächst „parteipolitisch … in keiner Form gebunden“ gewesen, obwohl er „nationalgesinnt“ war, was die Schule bestärkt hatte. Er behauptete, das „Unglück“ zu fühlen, das Deutschland durch das „Diktat“ von Versailles angetan worden war. In der Parteienlandschaft stand er aber der traditionellen deutschnationalen Haltung seiner Eltern näher als den Nationalsozialisten, die eine überraschende Zahl von Anhängern anzogen, darunter „die älteren [s]einer Studienkollegen“, die bei den „denkwürdigen“ Septemberwahlen 1930 wählen durften, als die NSDAP zur zweitstärksten Fraktion im Reichstag wurde und ihr Anteil von zwölf auf 107 der 577 Sitze stieg. Mengele gab zu, das Programm der Nazis habe „einen starken Reiz“ auf ihn ausgeübt, aber im Mai 1931 (dem Monat seiner Immatrikulation in Bonn) trat er nicht der NSDAP bei, sondern dem Stahlhelm, der 1918 gegründeten nationalkonservativen Organisation mit Bindungen an die DNVP, der sein Vater und mehrere Lehrer des Günzburger Gymnasiums angehörten.41

Der Auslöser für sein wachsendes politisches Engagement kam kurz nach der Ankunft in Bonn. Während er mit einem Kommilitonen und früheren Mitschüler auf dem Alten Zoll stand, einem Teil der Stadtbefestigung mit weitem Blick über den Rhein, beobachtete er eine Demonstration im Arbeiterviertel Beuel auf der anderen Rheinseite. Eine Kolonne von Demonstranten überquerte die Brücke in Richtung Stadtzentrum und trug eine „blutig rote“ Fahne mit fünfzackigem Stern. Sie marschierten in der „wohleingeübte[n] Marschordnung“ der Roten Armee und trugen „Russenkittel, Schirmmütze, Koppel mit Wehrgehänge“. Mengele und sein Freund waren zutiefst erschüttert von diesem bedrohlichen Anblick des kommunistischen Aktivismus, und beim Abschied sagte Mengele: „Nun wissen wir wohl, was wir zu tun haben.“ Das bedeutete, es genügte nicht, an die Nation zu glauben; man musste etwas tun, um die Gefahr des Bolschewismus zu bekämpfen.42

Obwohl Mengele einen Schritt zu größerem politischem Engagement gemacht hatte, war er noch nicht auf dem Weg zum überzeugten Nationalsozialisten; er hätte der Partei oder einer ihrer Organisationen beitreten können, tat es aber nicht, sondern blieb dem konservativen Nationalismus seines Vaters verbunden. Das heißt nicht, dass Mengeles späterer Eintritt in NSDAP und SS von Opportunismus oder Karrierestreben motiviert gewesen wäre, wie bei so vielen. Mengeles Hingabe an nationalsozialistische Ideen und die rückhaltlose Unterstützung der Bewegung erwuchsen aus der Wissenschaft, die ihn in den folgenden Jahren so intensiv beschäftigte.

Mengele blieb drei Semester in Bonn und hatte damit fünf Semerster Medizin studiert, was ihm die Teilnahme am Physikum, der Zwischenprüfung, erlaubte.43 Er bestand die Prüfung, die Anatomie, Physiologie, Physik, Chemie, Zoologie und Botanik umfasste,44 am 12. August 1932 mit „genügend“.45 Im September kehrte Mengele für das sechste Semester nach München zurück, einem Semester, das von der Weimarer Republik zum Beginn der NS-Herrschaft führte. In den Wahlen vom 6. November verlor die NSDAP Stimmen, und auch wenn viele glaubten, der Rückgang werde sich fortsetzen, wurde Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt. Binnen eines Monats, nur eine Woche vor Semesterende, brannte der Reichstag, was den Vorwand zur Beendigung der parlamentarischen Demokratie und zum Beginn der Diktatur lieferte.

Mengele verbrachte das Sommersemester 1933, sein siebentes, in Wien. Er mietete ein Zimmer bei einem Apotheker in einem ansehnlichen Mietshaus am Bennoplatz, nahe dem Stadtzentrum und nicht weit vom Universitätskrankenhaus. Allerdings gab es in seinem Zimmer Wanzen.46 Während also sein Quartier zu wünschen übrig ließ, galt das nicht für die Qualität der Lehrveranstaltungen. Zu seinen Lehrern zählten Dr. Nikolaus von Jagić, der Direktor der Universitätsklinik, und Dr. Wolfgang Denk, der Leiter der chirurgischen Abteilung. Denk genoss einen internationalen Ruf als Chirurg und Lehrer,47 war aber später an Tests mit einem Blutgerinnungsmittel beteiligt, das Sigmund Rascher und Robert Feix in Dachau entwickelt hatten.48 Mengele studierte zudem bei Dr. Leopold Arzt, dem Leiter der Abteilung für Dermatologie und Geschlechtskrankheiten, der 1939 wegen seiner Unterstützung der NS-feindlichen Regierungen Dollfuss und Schuschnigg entlassen wurde.

Schließlich hörte er auch beim Leiter der Kinderklinik, Dr. Franz Hamburger, einem „standhaften Vetreter des rechten, völkischen Lagers“ und Anhänger des Nationalsozialismus. Ab 1934 war Hamburger in der NSDAP aktiv, die damals in Österreich verboten war.49 In einem Lehrbuch, das er gemeinsam mit einem Kollegen schrieb, stand in den Auflagen von 1940 und 1943:

Du sollst Dir die Pflichten des nationalsozialistischen Arztes immer gegenwärtig halten, der nicht nur das einzelne Individuum im Auge hat, sondern den gesamten Volkskörper, in dem das Einzelindividuum nur ein Baustein, nur eine Zelle des gesamten Volkes ist.50

Hamburgers Klinik empfahl nicht nur Euthanasie für Säuglinge mit körperlichen oder geistigen Behinderungen, sie schickte auch regelmäßig Kinder in die berüchtigte Wiener Fürsorgeanstalt Am Spiegelgrund, wo Hunderte unter dem NS-Euthanasieprogramm ermordet wurden.51

Dr. Bertha Aichinger, eine Ärztin aus Linz, wohnte mit ihren Zwillingen Ilse und Helga in einer Wohnung an der Gumpendorffer Straße, etwa 25 Minuten zu Fuß von Mengeles Quartier entfernt. In ihren Memoiren schrieb Ilse Aichinger, inzwischen eine anerkannte Autorin, über einen seltsamen Besuch in ihrer Kindheit. Ihre Mutter verkündete, ein „freundlicher Herr“, den sie aus dem Krankenhaus kenne, werde Ilse und Helga besuchen.

Was wollen Sie von ihnen wissen, fragte sie, als er in der Tür stand. Ich habe nur einige Fragen, sagte der Herr. Sie sind eher schüchtern, sagte unsere Mutter, ich werde dabei sein. Dann fragte er, wie es denn so wäre, wenn man immer jemanden neben sich hätte, der genauso aussähe wie man selbst. Und noch einige wenig spektakuläre Fragen. Dazwischen musterte er meine Schwester und mich mit einer großen Neugier. Er ging zögernd, aber er ging bald wieder. Schade, sagten wir, als er draußen war, was macht der Herr den ganzen Tag? Er ist Zwillingsforscher. Ach schon wieder nur deshalb, sagten wir enttäuscht. Und wie heißt der Herr? Er heißt Dr. Mengele.52

Als ich Helgas Tochter, die Malerin Ruth Rix, fragte, ob Helga je über die Begegnung gesprochen habe, bestätigte sie, der Besuch habe stattgefunden und ihre Mutter habe sich „eindeutig“ daran erinnert.53 Obwohl Mengele in seiner Wiener Zeit noch kein Zwillingsforscher oder Arzt war, studierte er doch Medizin und interessierte sich vielleicht schon für Zwillingsforschung.54

In dieser Zeit erlebte Mengele einen „Wendepunkt“ in seiner Gesundheit. In seiner Autobiografie beschreibt er, dass er die Einschränkungen der körperlichen Aktivität, die sein Nierenschaden erzwang, ignorierte und an einem 10 000-Meter-Lauf teilnahm, worauf er Blut in seinem Urin feststellte. Er behauptet, keine ärztliche Hilfe gesucht und eine Woche später das Deutsche Sportabzeichen gemacht zu haben. Im Lauf des nächsten Jahres ging sein Leiden so weit zurück, dass er bei einer gründlichen Untersuchung 1937, als er eine Lebensversicherung beantragte, erfuhr, er sei völlig genesen.55

Im Herbst 1933 kehrte Mengele nach München zurück, wo er neben Medizin auch Anthropologie unter dem prominenten Forscher Theodor Mollison zu studieren begann, der sein Doktorvater wurde. Mollison, „einer der fruchtbarsten methodischen und technischen Innovatoren auf dem Gebiet der Messung und Fotografie“,56 wurde 1876 als Sohn eines schottischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren und studierte in Freiburg. Er entwickelte oder perfektionierte eine Reihe von Mess- und Aufzeichnungstechniken, die dazu beitrugen, die Präzision der Messungen, auf denen die physische Anthropologie beruhte, zu standardisieren und zu steigern. Seine Standards und Richtlinien zum Gebrauch der Fotografie bei anthropologischen Studien sollten „eindeutige und vergleichbare Resultate“ garantieren,57 und er erfand eine neue Technik zur Darstellung und Analyse von Daten, die seine Disziplin weithin beeinflusste. Neben seinen methodologischen Beiträgen beschäftigte er sich mit dem Studium des Blutserums als Mittel der Unterscheidung von Rassen.

Mollison half dabei, die Anthropologie aus einer „epistemologischen, methodologischen und theoretischen Sackgasse“58 herauszuführen, die „den grundlegendsten Baustein dieser Disziplin … das Verständnis der Rasse an sich zu untergraben drohte.“59 Laut Amir Teicher mussten die Anthropologen für die Lösung dieses Problems „den Werkzeugkasten ihres Fachs modernisieren … praktische Verwendungszwecke für ihre Disziplin finden und … sich den politischen Zielen des deutschen Staats unterordnen“. Dadurch wurde „physische Anthropologie allmählich zur ‚Rassenkunde‘, übernahm populäre rassische Klassifikationen und fügte den bisherigen, rein deskriptiven anatomischen Darstellungen kulturelle und geistige Bestandteile hinzu.“60 1934 schrieb Mengeles neuer Mentor Mollison:

Die neue weltanschauliche Einstellung unseres Volkes hat dazu geführt, daß Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung genützt werden, die einer früheren Regierung entweder gleichgültig oder ein Ärgernis waren. Die unwahre Behauptung von der Gleichwertigkeit der Menschen, die man uns Jahrhunderte lang vorredete, und an die in Wirklichkeit kein Mensch glaubte, gab den Vorwand dafür ab, das Minderwertige zu stützen und das Hochwertige herabzuziehen.61

Die Wissenschaft, die Mengele zu studieren begann, sollte ein wichtiges Hilfsmittel der neuen Politik werden. Otto Aichel, der stellvertretende Vorsitzende der Gesellschaft für physische Anthropologie, schrieb 1934:

Der Führer Adolf Hitler setzt zum ersten Male in der Weltgeschichte die Erkenntnisse über die biologischen Grundlagen der Entwicklung der Völker – Rasse, Erbe, Auslese – in die Tat um. Es ist kein Zufall, daß Deutschland der Ort dieses Geschehens ist: Die deutsche Wissenschaft legt dem Politiker das Werkzeug in die Hand.62

Im selben Jahr schrieb der Kieler Anthropologieprofessor Hans Weinert: „Heute ist also die Biologie als ‚ein Kernstück der nationalsozialistischen Weltanschauung‘ erkannt und festgestellt“, und er fuhr fort, „unter allen Wissenschaften … steht die Anthropologie … mit den praktischen Ausnützungen der Rassenkunde und Rassenhygiene im Mittelpunkt der gesamten Biologie.“63 Schon 1931 hatte der führende deutsche Forscher Fritz Lenz den Nationalsozialismus als „angewandte Wissenschaft“ und „in erster Linie [als] angewandte Biologie, angewandte Rassenkunde“ bezeichnet.64 Diese Symbiose von Wissenschaft und Politik gab Mengeles akademischer Betätigung eine zusätzliche Dimension und rüstete ihn dafür, in vorderster Front des Rassenkampfs zu dienen, der im Zentrum der NS-Weltanschauung stand.

Während der nächsten vier Semester nahm der Name Mollison eine zentrale Stelle in Mengeles Liste der Lehrveranstaltungen ein. Neben seinen klinischen und theoretischen Studien in der Allgemeinmedizin (einschließlich Geburtshilfe, Orthopädie und Chirurgie) studierte Mengele intensiv Anthropologie, und die Kurse bei Mollison füllten zwei Drittel seiner Zeit aus.65 Kurz nach Hitlers Machtantritt schlug Mollison vor, die anthropologische Sammlung des von ihm geleiteten Instituts für eine Ausstellung über Rassenkunde zu organisieren.66 Eine frühere Ausstellung des Instituts war 1917 von seinem Vorgänger geschlossen worden, doch Mollison argumentierte, die Zeit sei reif, um eine neue zu zeigen, die nicht nur den Studenten, sondern auch der Öffentlichkeit dienen könne. Die anthropologische Ausstellung wolle auf die wirksamste Art das Ziel der Regierung unterstützen, ein Verständnis der Rassenfrage in der gesamten Bevölkerung zu wecken.67

Mollison betonte, die Prinzipien der Rassenkunde, die er eine unverzichtbare Grundlage der nationalsozialistischen Weltanschauung nannte, würden als Leitfaden der Ausstellung dienen und verdeutlichen, dass unterschiedliche Rassen unterschiedlichen Wert besäßen.68 In seinem Buch über die deutsche Anthropologie während des Ersten Weltkriegs kommt Andrew Evans zu dem Schluss, der Vorschlag für die Münchner Ausstellung zeige klar, dass die Anthropologie nicht nur „völlig für Staat und Volk mobilisiert worden war, sondern auch eine durchgehend rassistische und völkische Perspektive eingenommen hatte“.69 Die Jahre, die es dauerte, bis die Ausstellung genehmigt und eingerichtet war – sie eröffnete am 2. April 1938 –, waren genau die Zeit, in der Mengele bei Mollison studierte. Angesichts Mollisons intensiver Beschäftigung mit der Ausstellung und Mengeles Begeisterung für das Thema ist es mehr als wahrscheinlich, dass Mengele bei der Planung und Ausführung mithalf.

Für seine Doktorarbeit wählte Mengele ein Thema, das völlig damit übereinstimmte, wie Anthropologie im Dritten Reich gesehen und praktiziert wurde. In „Rassenmorphologische Untersuchung des vorderen Unterkieferabschnittes bei vier rassischen Gruppen“ wollte er „ein Gesamtbild der rassischen Verschiedenheiten des vorderen Kieferabschnittes“ geben.70 Dies muss im größeren Zusammenhang von Versuchen gesehen werden, Unterschiede bei körperlichen Merkmalen mit der Zugehörigkeit zu einer Rasse zu verbinden und letztlich eine „Rassendiagnose“ zu entwickeln. Mengele setzte sich mit früheren Versuchen von Anthropologen auseinander, rassisch begründete Unterschiede in der Form des vorderen Unterkiefers zu finden, und kritisierte sie als methodisch unzulänglich.71

Mengeles Arbeit basierte auf der sorgfältigen Untersuchung von 122 Unterkiefern aus sechs rassischen Gruppen, die zur anthropologischen Sammlung der Universität gehörten. Mengele betrachtete nur den vordersten Teil des Unterkiefers – einen Bereich, dessen horizontale Begrenzungen die Foramina mentale (zwei Knochenöffnungen) waren und der vertikal bis zum Rand der Zahnalveolen und der Schädelbasis reichte – und bestimmte dabei 32 lineare und fünf Winkelbestimmungen in Bezug auf wichtige Punkte in diesem Bereich, aus denen er neun Größenverhältnisse und andere relative Funktionen ableitete. Er wandte diese Analytik an und untersuchte dabei ihren Wert als Anzeichen der Rasse, indem er einen Wertigkeitsindex erstellte, der durch Vergleich der Variationen eines Merkmals innerhalb rassischer Gruppen und zwischen ihnen entstand. Je höher der Wertigkeitsindex, desto wichtiger war dieses Merkmal für die Bestimmung. Mengele analysierte die Daten auch statistisch in Hinsicht auf die Präzision und Zuverlässigkeit seiner Messungen.

Mengeles nächste Herausforderung, die möglichst zweckmäßige Darstellung seiner Daten, war zweifellos von Mollison beeinflusst. 1907 hatte Mollison eine Technik entwickelt, die Ergebnisse anthropometrischer Forschungen zur rassischen Differenzierung darzustellen, die seine Disziplin umwälzte und die objektiven Messwerte, auf denen die physische Anthropologie beruhte, wirksam visuell ausdrückte. Traditionell wurden Daten in Tabellenform dargestellt, mit Spalten für Minimal-, Maximal- und berechnete Mittelwerte für bestimmte Messungen; eine solche Darstellung war aber wenig nützlich für die Analyse, vor allem beim Vergleich von Daten mehrerer unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen, was natürlich das Ziel jener war, die rassische Unterschiede studierten. Mollisons Methode erlaubte den Vergleich großer Mengen von Messungen auf eine solche Art, dass die einfache Beobachtung Verbindungen und Einflüsse bestimmen konnte, die keine noch so umfangreiche Untersuchung der Rohdaten ermöglichte.

Mollison nannte seine Technik Abweichungskurve, weil sie den Grad anzeigte, in dem die Merkmale eines getesteten Beispiels von den Werten der Ausgangsgruppe abwichen. Sie erreichte eine „Übersetzung von Zahlenwerten in Punkte auf einer Fläche, und indem sie diese Punkte verbanden, um eine Kurve zu bilden, verwandelten Anthropologen Zahlen in sichtbare Gebilde. Statistische Daten hatten nun eine Form, die visuell beurteilt werden konnte und vielleicht auch sollte.“72 Mengele stellte das Potenzial dieser Methode heraus: „An Hand der graphischen Darstellungen ist es ohne weiteres möglich, sich ein klares Bild zu verschaffen über die Merkmalsausprägungen bei den einzelnen rassischen Gruppen.“73

Seine Schlussfolgerungen waren unzweideutig: „Die Kiefer der untersuchten rassischen Gruppen weisen in ihren vorderen Abschnitten Unterschiede auf, die so deutlich sind, daß sie eine Rassenunterscheidung gut ermöglichen.“74 Für seine Methoden galt das aber weniger. In einer der wenigen kritischen Analysen von Mengeles Münchner Dissertation nannten Udo Benzenhöfer und seine Kollegen 2008 Mengeles Ansatz grundsätzlich fehlerhaft, da er bestimmte statistische Techniken nicht benutzt habe, die ihm damals zur Verfügung standen, und kritisierten einige seiner analytischen Entscheidungen. Mit dem scharfem Blick des Nachgeborenen kamen sie zu dem Schluss, Mengele habe kein tragfähiges Konzept der Rasse etablieren können, weil es keines gab (oder gibt), wobei sie sich auf das Buch Gene, Völker und Sprachen der Genetikers Luigi Luca Cavalli-Sforza bezogen.75 In eine ähnliche Richtung zielt die Kritik des Historikers Michael Kater:

Formal betrachtet, bewegte sich Mengeles Arbeit hier auf den exakt-naturwissenschaftlichen Gleisen, auf denen sein Lehrer Mollison geschult worden war. Dennoch gab es bereits zu Anfang von Mengeles wissenschaftlicher Tätigkeit alarmierende Anzeichen von unzulässigem Subjektivismus, der den hoffnungsvollen Akademiker frühzeitig stigmatisierte. Das eine war die von ihm postulierte Sicherheit, daß „Rassen“ sich ja voneinander unterschieden … und daß daher, als Konsequenz, qualitative Werturteile zu vertreten seien.76

Mollison hegte offenbar selbst Zweifel an der Qualität von Mengeles Arbeit: „Die Arbeit leidet unter einer etwas ungeschickten Darstellungs- und Ausdrucksweise, darf jedoch als den Anforderungen, die an eine Dissertation zu stellen sind, entsprechend bezeichnet werden.“77

Diese lauwarme Bewertung konnte Mengele bei den mündlichen Prüfungen zwei Wochen später aber ausgleichen. Am 11. November 1935 wurde er im Nebenfach Zoologie von Karl von Frisch geprüft und bestand mit 2 oder magna cum laude. Am 13. November prüfte Theodor Mollison ihn im Hauptfach Anthropologie und gab ihm die Note 1–2, also zwischen summa und magna cum laude. Im zweiten Nebenfach Physiologie78 wurde er von Philipp Broemser geprüft und erhielt ein summa cum laude.79 Durch diese Erfüllung aller Anforderungen wurde Mengele am 13. November 1935 mit summa cum laude promoviert.

Mengele setzte seine Studien fort und bestand im Sommer 1936 in München das Staatsexamen in Medizin. Als Nächstes musste er ein einjähriges Praktikum ablegen, das ihn vom September bis Dezember 1936 an die Leipziger Universitätsklinik80 und ab dem 1. Januar 1937 ans Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene der Universität Frankfurt führte.

Frankfurt

An der Universität Frankfurt lehrte ein Mann, der eine außerordentlich wichtige Rolle in Mengeles geistigem und beruflichen Leben spielen sollte: Otmar Freiherr von Verschuer, ein prominenter deutscher Arzt und Rassenhygieniker. Er war im Ersten Weltkrieg Infanterieoffizier gewesen, hatte in Marburg, Hamburg, Freiburg und München Medizin studiert und 1923 mit einer Arbeit über den Eiweißgehalt des Blutserums promoviert – ein Thema, das mit dem verwandt war, welches er 1943–44 mit Mengeles Hilfe bearbeitete.81 Er erhielt eine Stelle an der Poliklinik der Universität Tübingen dank Fritz Lenz, eines der Autoren des Standardwerks zu Vererbung und Rassenhygiene, das als „Baur-Fischer-Lenz“ bekannt wurde und das Hitler angeblich in seiner Haft in Landsberg nach dem Hitler-Ludendorff-Putsch las. 1927 habilitierte sich Verschuer mit einer genetischen Studie zur Zwillingsforschung, die seine Spezialität wurde. Im selben Jahr wurde Eugen Fischer, eine wissenschaftliche Koryphäe in Deutschland, Gründungsdirektor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWI-A) und ernannte Verschuer zum Leiter der Abteilung für menschliche Erblehre. Hier führte er seine Zwillingsforschung weiter, die auch von der Rockefeller-Stiftung unterstützt wurde.82

1935 verließ Verschuer das Kaiser-Wilhelm-Institut und wurde Direktor des neu gegründeten Instituts für Erbbiologie und Rassenhygiene an der Universität Frankfurt. Man kann Verschuers Einfluss auf die deutsche Rassenkunde dieser Zeit kaum überschätzen. Zwischen 1923 und 1945 veröffentlichte er mindestens 109 Artikel und Bücher, darunter Erbpathologie. Ein Lehrbuch für Ärzte und Medizinstudierende, das drei Auflagen erlebte, die letzte noch 1945. Verschuer war auch Gründer und Herausgeber der Zeitschrift Der Erbarzt, die ein einflussreiches Forum für die Veröffentlichung und Diskussion von Ideen zur Rassenkunde und Gesundheitspolitik wurde, und veröffentlichte eine Reihe von Mengeles Rezensionen und anderen Aufsätzen.

Das Gebäude des Universitätsinstituts für Erbbiologie und Rassenhygiene am Mainufer in Frankfurt.

Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem

Das Frankfurter Institut wurde im Frühjahr 1935 gegründet und am 19. Juni eröffnet. Es war Teil der medizinischen Fakultät und verband als erstes Institut Forschung, Lehre und genetische Praxis.83 Seine Raison d’Être war der Gedanke, dass Genetik und Rassenhygiene notwendige Elemente der ärztlichen Ausbildung wie auch ein unabhängiges medizinisches Forschungsfeld seien. In einem großen Gebäude am südlichen Mainufer nahm es 58 Räume im ersten Stock ein: Büros, Labore, Untersuchungsräume und andere Funktionen einer Universitätseinrichtung, die auch öffentliche Aufgaben übernahm. Otmar von Verschuer beschrieb diese öffentliche Funktion so:

Wie der Pathologe Sektionen, der Hygieniker bakteriologische Untersuchungen durchführt und der Kliniker neben seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit Chefarzt eines Krankenhauses ist, so ist der Universitätsvertreter für Erbbiologie und Rassenhygiene Leiter einer staatlichen Beratungsstelle für Erb- und Rassenpflege. Er ist der erbärztliche Fachberater für die Gesundheitsämter und Obergutachter für die Erbgesundheitsgerichte und -obergerichte.84

In dieser Funktion bereitete das Institut Gutachten über die rassische Zugehörigkeit von Einzelpersonen vor.

Mengele (zweiter von links) scherzend mit Kollegen im Frankfurter Institut, 1935–36.

Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem

Durch seine Forschung wollte Verschuer sein Institut eng an den NS-Staat binden:

Die Geschichte unserer Wissenschaft ist aufs engste verknüpft mit der deutschen Geschichte der jüngsten Vergangenheit. Der Führer des Deutschen Reiches ist der erste Staatsmann, der die Erkenntnisse der Erbbiologie und Rassenhygiene zu einem leitenden Prinzip in der Staatsführung gemacht hat. Damit hat sich der Wirkungskreis unserer Wissenschaft weit über die Grenzen eines naturwissenschaftlichen Sonderfaches ausgedehnt.85

Er stellte sich ein ehrgeiziges Forschungsprogramm vor, das dem Staat dienen und von diesem unterstützt werden würde, denn er war überzeugt, „praktische Ziele“ stellten wichtige Fragen, die nur „unermüdliche Forschung“ beantworten könne. Verschuer war der Auffassung, „lebendige Wissenschaft fordert immer neues Forschen“, und verwies auf „reiche Ergebnisse der Erbforschung“, die „heute schon die Grundlage für die Rassenpolitik des nationalsozialistischen Staates und für die Erbgesundheitspflege“ seien. Er sah eine Ausweitung solcher Gesetze und ein entsprechendes Bedürfnis nach wissenschaftlicher Unterstützung voraus und machte aus seiner Haltung keinen Hehl:

[Wir können] die Maßnahmen, die bisher getroffen sind zur erblichen Gesundung unseres Volkes, nur begrüßen in der festen Überzeugung, daß sie der richtige Weg sind, der zum Wiederaufbau führen wird. Unsere Forschung soll und wird sich dafür verantwortlich fühlen, daß die Erb- und Rassenpflege, in der Deutschland in der Welt führend dasteht, in ihren Grundlagen so gefestigt ist, daß sie jedem Angriff von außen gewachsen ist.86

Zu seinen Plänen gehörte auch ein Großprojekt zur Identifizierung und Registrierung aller Zwillinge im Frankfurter Raum, was klar anzeigt, dass die Zwillingsforschung einer der wichtigsten Ansätze in der Erbbiologie war. Weitere Forschungsprojekte zur Familiengeschichte versuchten die Erblichkeit bestimmter Krankheiten zu bestimmen, indem sie so viele Verwandte einer erkrankten Person untersuchten wie möglich. Mit dieser Methode wurden Krankheiten und Leiden wie Muskelschwund und Diabetes sowie bestimmte körperliche Fehlbildungen wie Arachnodaktylie (Marfan-Syndrom oder Spinnenfinger), Polyzythämie (Vermehrung der roten Blutkörperchen) und Gaumenspalten erforscht. Außerdem startete man ein ehrgeiziges Projekt zur erbbiologischen Analyse der ganzen Bevölkerung von acht Dörfern einer hessischen Gegend.

Nachdem Mengele die erste Hälfte seines Praktikums in Leipzig absolviert hatte, kam er für die zweite Hälfte nach Frankfurt. Als es am 1. September 1937 endete, hatte Mengele alle Bedingungen für das medizinische Staatsexamen erfüllt und erhielt die ärztliche Zulassung. Er arbeitete einen Monat als Volontär am Institut und war ab dem 1. Oktober dort Stipendiat der Kerckhoff-Stiftung.87 Dann begann er mit seiner zweiten Doktorarbeit bei Otmar von Verschuer, diesmal in Medizin. Als zugelassener Arzt brauchte Mengele diesen Abschluss nicht, um praktizieren zu können, aber er war notwendig für eine akademische Karriere an einem Universitätslabor oder -institut. Es überrascht nicht, dass Mengeles Thema genau ins Forschungsprogramm des Instituts passte.

Otmar von Verschuer prüft die Augenfarbe von Zwillingen.

Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem

Er untersuchte die Geburtsdefekte von Lippen-, Gaumen- und Kieferspalte – Missbildungen, die sich als besonders interessant im Zusammenhang der Rassenhygiene herausgestellt hatten, seit neue chirurgische Techniken sie beheben und ein Merkmal verstecken konnten, das sonst eine rassisch belastete Person identifiziert hätte. Mengele benutzte bei der Bearbeitung seines Themas die Forschungsmethode der Familiengeschichte, welche die Verwandten einer Person, die ein bestimmtes Merkmal zeigte, identifizierte und untersuchte, um zu bestimmen, ob und in welchem Maße sie dasselbe Merkmal besaßen. Frühere Forschungen hatten keine eindeutigen Antworten auf die Frage gebracht, ob die Gaumenspalte ein genetischer Defekt sei,88 und die Familienforschung, die auf einer breiten, generationenübergreifenden Untersuchung beruhte, galt als vielversprechender Ansatz, von dem sich Mengele klare und zuverlässige Resultate erhoffte. Der Vorgang war recht einfach. Nachdem man „ein bestimmtes Merkmal oder eine Anomalie“ für die Analyse ausgewählt hatte, musste der Forscher so viele Menschen wie möglich mit diesem Merkmal finden, dazu möglichst viele ihrer Angehörigen. Dann wurden die Verwandten sorgfältig auf jedes Anzeichen des fraglichen Merkmals untersucht und die Ergebnisse in einen Stammbaum eingetragen und statistisch analysiert, um zu bestimmen, „ob das interessierende Merkmal tatsächlich in einem Mendelschen Übertragungsmodus vererbt wurde oder nicht“.89

Für seine Dissertation konnte Mengele 110 Kinder identifizieren, die von 1925 bis 1935 in der chirurgischen Abteilung der Frankfurter Universitätsklinik wegen Gaumenspalten behandelt worden waren. Diese Zahl grenzte er auf 17 Kinder ein, die im Frankfurter Raum lebten und sowohl Gaumen- wie Lippenspalten (Hasenscharten) hatten. Durch Gespräche mit den Eltern der Kinder konnte Mengele Stammbäume der 17 Familien aufstellen, die insgesamt 1222 lebende Personen umfassten. Mengele untersuchte 583 von ihnen persönlich, und wenn ihm das nicht möglich war, sah er alle relevanten medizinischen Unterlagen der örtlichen Gesundheitsämter ein. Innerhalb der 17 von ihm untersuchten Familien fand er acht Fälle von „Spaltbildung“, etwa die Hälfte der Gesamtzahl, was er als klares Anzeichen von Vererbung ansah.

Dann ging er einen Schritt weiter bei der Suche in allen 17 Familien nach dem, was er „Mikromanifestationen“ nannte. Eine Mikromanifestation war eine „Mikroform“ der Gaumenspalte, die auf unterschiedliche Weise auftreten konnte, als submuköse Spalte, gespaltenes Zäpfchen, Oberlippenfalte oder falsch sitzende oder fehlende Zähne. Da er wusste, dass solche Merkmale in der Allgemeinbevölkerung nicht ungewöhnlich waren, entschied er offenbar willkürlich, das Auftreten zweier solcher Mikroformen als bedeutend für seine Studie zu betrachten.90 Mit dieser Norm bestimmte er, dass 13 der 17 Familien entweder eine voll entwickelte Gaumenspalte oder mindestens zwei von deren Mikroformen zeigten, woraus er schloss, es gebe einen „einfach dominanten Erbgang“ der Gaumenspalte. Seine Untersuchung der 17 Familien führte ihn auch zu dem Schluss, dass „eine Abhängigkeit der Manifestierung von anderen Entwicklungsstörungen besteht“, denn er beobachtete eine hohe Korrelation zwischen einer Gaumenspalte (und ihrer Mikroformen) und anderen Behinderungen wie „Poly- und Syndaktylien [Vielfingrigkeit bzw. Vielzehigkeit und Verwachsen von Fingern oder Zehen], mangelnder Spaltenschluß der Wirbelsäule und der Schädelknochen (Spina bifida und Meningocystocele), … u. a.m., sowie Schwachsinn und geistige Störungen“, aber auch harmloseren Leiden wie Leistenbrüchen.91

Mengele selbst besaß mindestens zwei der Merkmale, die er als Mikromanifestationen einer Gaumenspalte identifizierte: Diastema (angeborene Zahnlücken) und Hypodontie (fehlende Zähne). Er litt auch an einem Leistenbruch, einem Leiden, das eine relevante Korrelation zu einer Gaumenspalte hatte. Michael Kater ist der Auffassung, diese Tatsache habe vielleicht eine Rolle bei Mengeles Wahl eines Dissertationsthemas gespielt und stelle seine Objektivität infrage.92 Tatsächlich kann man sich fragen, warum der junge Forscher, der so viel Zeit mit der Untersuchung von Kieferknochen für seine erste Dissertation verbracht hatte, sich für seine zweite wieder auf diesen Bereich konzentrierte. Dass er sorgfältig die Existenz bestimmter Merkmale, die er selber besaß, als direkt mit einem körperlichen Defekt verbunden darstellte, der wiederum auf weitere schwere Entwicklungsstörungen hindeutete, muss seine Bedeutung gehabt haben.

Die 9. Tagung der Deutschen Gesellschaft für physische Anthropologie in Tübingen im September 1937. Mengele steht ganz links in der zweiten Reihe. Seine Mentoren Theodor Mollison, sein Doktorvater in Anthropologie an der Universität München, und Otmar von Verschuer stehen in der Mitte derselben Reihe (10. und 14. von links).

Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem

Mengele reichte seine Dissertation im Sommer 1938 ein und verteidigte sie. In seinem Gutachten schrieb Verschuer: „Bei der Dissertationsschrift von Herrn Dr. Mengele handelt es sich um eine originale, selbständig durchgeführte, wissenschaftliche Arbeit, deren Durchführung nicht nur großen Fleiß und Zähigkeit in der Überwindung aller äußeren Schwierigkeiten verlangte, sondern auch eine gute Beobachtungsgabe und Sorgfalt bei der Durchführung der Untersuchungen voraussetzte.“93 Er wiederholte diese begeisterte Einschätzung von Mengeles Leistung und Talent auch öffentlich in der Zeitschrift Der Erbarzt. In einem Artikel über die ersten vier Jahre seines Instituts hob Verschuer Mengeles Dissertation als Fortschritt gegenüber den Arbeiten anderer hervor, die vielleicht eine erbliche Grundlage der Gaumenspalte gezeigt hatten, aber nicht die unterschwelligen Indikationen dieses Leidens durch eine breit angelegte Untersuchung erweiterter Familien betrachteten und keine Verbindung zu anderen Entwicklungsstörungen herstellten.94

Mengeles Dissertation wurde ein Jahr später in der angesehenen Zeitschrift für menschliche Vererbungs- und Konstitutionslehre abgedruckt und fand Aufmerksamkeit im international angesehenen Handbuch der Erbbiologie des Menschen, wo sie als „sehr sorgfältige Arbeit“ bezeichnet wurde, die „einen Fortschritt in der Erforschung der Erbpathologie der Lippen-Kiefer-Gaumenspalten“ darstelle.95 Eine weitere angesehene Zeitschrift veröffentlichte einen langen Rezensionsaufsatz zum Thema Gaumenspalten und nannte Mengeles Arbeit „sehr ausgedehnt und gründlich“.96 Noch 1970 wurde Mengeles Arbeit in einer japanischen Veröffentlichung über Gaumenspalten genannt und 1972 in einer britischen Zeitschrift für Zahnmedizin.97 Der Historiker Karl Heinz Roth hat die Auffassung vertreten, Mengeles Dissertation habe Verschuer „als letzter Baustein für die endgültige Errichtung des neuen humangenetischen Paradigmas gedient, … Zusammen mit den ersten Nachweisen des sog. Crossing over-Mechanismus auch beim Menschen, an denen Verschuers Institut ebenfalls führend beteiligt war, entstand eine neue humanbiologische Grundwissenschaft, die sich nun tatsächlich anschickte, die bisherigen Selektionstheorien zu verwissenschaftlichen.“98