Menschen der Renaissance - Rüdiger Kaldewey - E-Book

Menschen der Renaissance E-Book

Rüdiger Kaldewey

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Beschreibung

Machen Menschen Geschichte oder wird die Geschichte gelenkt durch die anonymen Kräfte gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Verhältnisse? Die frühe Neuzeit zeigt beides. Sie ist eine Zeit epochaler Veränderungen und eine Zeit, die reich ist an herausragenden Persönlichkeiten. Christoph Columbus entdeckt 1492 Amerika und weitet den Blick von Europa auf neue Kontinente. Johannes Gutenberg entwickelt um 1450 den Buchdruck mit beweglichen Lettern und begründet damit ein neues Zeitalter der Kommunikation. Nikolaus Kopernikus erkennt, dass die Erde ein Planet ist, der die Sonne umkreist, und revolutioniert damit das bis dahin gültige Weltbild. Die in diesem Buch vorgestellten "Menschen der Renaissance" sind Protagonisten des Umbruchs. Als Päpste und Staatsmänner, als Künstler und Wissenschaftler, als Unternehmer und Kunstmäzene verkörpern sie die Kultur und den Geist ihrer Zeit. Sie sind ehrgeizig und ruhmsüchtig. Sie sind rücksichtslos in der Verfolgung ihrer Ziele. Sie sind Meister der Diplomatie und der Täuschung. Sie sind erfolgreich oder scheitern. Alle aber sind außergewöhnliche Menschen, denen man "Größe" im Guten wie im Abstoßenden nicht absprechen kann. Die in diesem Buch vorgelegten Studien fügen sich zum Bild einer Epoche im Spiegel ihrer herausragenden Gestalten.

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Inhalt
Cover
Rüdiger Kaldewey - Menschen der Renaissance
Einleitung
Enea Silvio Piccolomini
Papst Alexander VI.
Girolamo Savonarola
Papst Julius II.
Die Medici
Niccolo Machiavelli
Benvenuto Cellini
Anhang
Der Autor
Impressum

Einleitung

»Die schönen Künste blühen wieder auf, der Umgang mit beiden Sprachen soll uns mit den Griechen und Italienern verbinden; möge Deutschland sich mit Bildung schmücken, die Barbarei verbannen und verjagen; … O Jahrhundert, o Wissenschaften, es ist eine Lust zu leben … Die Studien blühen, die Geister erwachen! Du Barbarei, nimm den Strick und mache dich auf Verbannung gefasst.« Enthusiastisch begrüßt der Humanist Ulrich von Hutten in einem Brief an seinen Freund Willibald Pirkheimer aus dem Jahre 1518 den Anbruch einer neuen Zeit. Was in Italien über ein Jahrhundert zuvor begonnen hatte, brach sich auch in Deutschland Bahn: das Bewusstsein, Zeuge einer Zeitenwende zu sein.

Bei meinen Studien zur Kulturgeschichte des Christentums1 haben solche Epochen des Wandels mein besonderes Interesse geweckt. Es sind Zeiten, in denen geistesgeschichtliche und soziale Umbrüche spürbar werden, Zeiten, in denen sich Neues ankündigt und Altes gegen den Wandel sich zu behaupten versucht. Entsprechend lebhaft und kontrovers fallen die philosophischen, theologischen und politischen Diskurse aus, die diese Umbrüche literarisch begleiten. Umbruchszeiten sind z. B. das dritte und vierte Jahrhundert, als das junge Christentum sich im Römischen Reich ausbreitet und im Zuge der Konstantinischen Wende als neue Staatsreligion die alten paganen Religionen und Kulte ablöst. Eine Wende leiten auch die Aufklärung und die Französische Revolution ein. Sie lösen ein neues Nachdenken über den Wert von Religion und ihre Stellung in Staat und Gesellschaft aus, ein Reflexionsprozess mit politischen Folgen, der das ganze 19. Jahrhundert beschäftigt und auch heute noch nicht zu einem Ende gelangt ist.

Auch die Renaissance des 15. Jahrhunderts ist eine solche Umbruchszeit. In ihr wird die Wende vom Mittelalter zur frühen Neuzeit sichtbar an Personen, Ereignissen und im Schrifttum. Christoph Columbus wollte nach Indien segeln und entdeckt 1492 Amerika.

In Mainz entwickelt Johannes Gutenberg um 1450 den Buchdruck mit beweglichen Lettern und begründet dadurch ein neues Zeitalter der Kommunikation, die es erlaubt, neue Gedanken schnell und über Länder- und Standesgrenzen hinweg zu verbreiten. Der Astronom Nikolaus Kopernikus (1473 – 1543) stellt die Theorie auf, dass die Erde ein Planet sei, der die Sonne umkreist. Durch genaue Beobachtung mit einem eigens entwickelten Fernrohr gelingt es Galileo Galilei zu Beginn des 17. Jahrhunderts, die Richtigkeit dieser Theorie zu beweisen.

Humanistische Gelehrte fühlen sich angezogen von antiken Anschauungen über den Menschen. Sie sind fasziniert von der Kunst, Literatur und Philosophie der Griechen und Römer, wo der Mensch das Maß aller Dinge war. In Florenz finden sich humanistische Gelehrte zu einer Platonischen Akademie zusammen. Der Humanist Erasmus von Rotterdam gibt das Neue Testament in der griechischen Originalsprache heraus und befeuert den gesellschaftlichen Diskurs mit revolutionären Ideen. Er verwirft den Krieg, tritt für Frauenbildung ein, fordert die Freiheit der Wissenschaft und lehnt den Privatbesitz ab.

Die Suche nach den verborgenen Quellen der antiken Kultur beschränkte sich nicht nur auf die Schriften der Griechen und Römer. Man begann auch die Tempel und Bauwerke in den italienischen Städten, die Skulpturen römischer und griechischer Künstler mit anderen Augen zu sehen als bisher. Maler, Bildhauer und Architekten fanden in ihnen Vorbilder für das eigene Kunstschaffen; für Fürsten, Kardinäle und Liebhaber wurden Antiken zu begehrten Sammelobjekten und Statussymbolen. Weil auf diese Weise die Welt der Antike gleichsam wiedergeboren wurde, bürgerte sich für die Epoche des 15. und 16. Jahrhunderts die Bezeichnung Zeitalter der Renaissance ein.

Auch das politische Denken zeigte Veränderungen. Das Mittelalter hatte alle Herrschaft in eine Hierarchie mit Rechten und Pflichten eingefügt. Jetzt aber spürten viele, dass diese überlieferten politischen Ordnungen keine bindende Kraft mehr besaßen. Schon im 13. Jahrhundert hatten sich oberitalienische Städte aus der Herrschaft von weltlichen und geistlichen Feudalherren befreit. Ihre Bürger entwickelten ein stolzes Selbstbewusstsein und viele gelangten als Kaufleute und Bankiers zu Wohlstand und Reichtum. Auf dem Boden des Heiligen Römischen Reiches war eine Vielzahl von Staatsgebilden entstanden, die sich auf das Recht des Stärkeren beriefen und nicht mehr auf die traditionelle Rechtsordnung, die man auf Gott zurückgeführt hatte. Die theoretische Rechtfertigung dieser rücksichtslosen Machtpolitik lieferte der Florentiner Rechtsgelehrte Niccoló Machiavelli (1469 – 1527) in seinem Buch Der Fürst.

In einer Umbruchsituation befanden sich auch die Kirche und das Papsttum. Das 14. Jahrhundert hatte zu einem machtpolitischen Niedergang des Papsttums geführt. Papst Bonifaz VIII. (1294 – 1303) beschwor in seiner Zwei-Schwerter-Theorie noch einmal die Universalherrschaft des Papstes, forderte damit aber den Widerstand des französischen Königs heraus. Die folgenden Päpste gerieten in Abhängigkeit von Frankreich und verlegten ihre Residenz nach Avignon (1309 ‒ 1377). Nach der Rückkehr aus Avignon führten erneute Auseinandersetzungen zwischen italienischen und französischen Kardinälen und den sie stützenden Staaten zu einer großen Kirchenspaltung, bei der ein Papst in Avignon, der andere in Rom residierte. Die Verwirrung unter den Gläubigen war groß, da beide Päpste Kardinäle ernannten, die wiederum eigene Papstnachfolger wählten. Die einzelnen Länder entschieden nach politischen Erwägungen, welchen Papst sie anerkennen und finanziell unterstützen sollten. Da beide Päpste ihren Gegner und seinen Anhang bannten, war praktisch die ganze abendländische Christenheit exkommuniziert. Als auf einem Konzil in Pisa (1409) ein neuer Papst gewählt wurde, kam es zu einer weiteren Spaltung, da die beiden abgewählten Päpste sich weigerten zurückzutreten. Diesen unwürdigen Zustand dreier Päpste beendete erst das Konzil von Konstanz (1414 – 1418), das von Kaiser Sigismund einberufen wurde und mit Martin V. (1417 – 1431) einen neuen Papst mit dem Sitz in Rom installierte.

Angesichts dieser unglücklich verlaufenen Papstgeschichte war dem Konzil eine Autorität zugewachsen, von der es selbstbewusst Gebrauch machte. Es erklärte, dass das allgemeine Konzil die Kirche vertrete, seine Gewalt unmittelbar von Christus habe und dass ihm zu gehorchen sei in allem, was den Glauben und die Reform der Kirche betrifft. Auch der Papst ist dem Konzil zum Gehorsam verpflichtet und ihm damit untergeordnet. Dieser unter dem Begriff des Konziliarismus in die Kirchengeschichte eingegangene Autoritätsanspruch des Konzils und die den folgenden Päpsten auferlegte Verpflichtung, in regelmäßigen Zeitabständen Konzilien einzuberufen und eine Kirchenreform an Haupt und Gliedern ins Werk zu setzen, empfanden die Päpste als mit dem Amt nicht zu vereinbarende Zumutung und zeigten sich nicht gewillt, ihre Macht durch das Konzil einschränken und kontrollieren zu lassen. Zwar gelang es Papst Eugen IV. (1431 – 1447), die Auseinandersetzung um die Vorherrschaft in der Kirche für das Papsttum zu entscheiden. Doch der Schock saß tief und die wiederholten Drohungen und Versuche politischer Gegner, ein Konzil einzuberufen, schwebten wie ein Damoklesschwert über künftigen Papstgenerationen. Auch die Forderung nach einer Kirchenreform blieb lebendig, wurde in Wahlkapitulationen vor Papstwahlen immer wieder beschworen und versprochen, blieb wegen der unkalkulierbaren Folgen für das Papsttum aber unerfüllt.

Die Mehrzahl der sogenannten Renaissancepäpste genießt in der Kirchengeschichte keinen guten Ruf. Sie waren Regenten des Kirchenstaates und Politiker und als solche verstrickt in internationale und italienische Machtkämpfe. Sie waren bedacht auf die Förderung und dynastische Erhöhung ihrer Familien, sie glichen ihren Lebensstil dem weltlicher Fürsten an und zeigten sich als verschwenderische Förderer der Literatur, der Kunst und der Architektur. Ihr Mäzenatentum steigerte ihren persönlichen Ruhm und den ihrer Familien, diente aber auch dazu, nach einer Zeit des Niedergangs das Papsttum zu stärken und den verblichenen Glanz der Ewigen Stadt Rom als Mittelpunkt der Welt zu erneuern.

Ich traue mir nicht zu, eine Geschichte der Renaissance zu schreiben, deren es im Übrigen vorzügliche in großer Zahl gibt. Ich habe in zahlreichen Vorträgen für ein gebildetes Laienpublikum Persönlichkeiten vorgestellt, in deren Leben sich typische Haltungen und Bestrebungen des Humanismus und der Renaissance verkörpern. Gemeinsam ist allen diesen Menschen eine gewisse Größe. Mit dem Attribut Größe strebe ich keine Heroisierung oder Verklärung an, sondern sehe darin eine Wertung, die das Außergewöhnliche, das Außerordentliche eines Menschen zum Ausdruck bringt, das sich auch im Abstoßenden und Schrecklichen oder in der Radikalität einer Lebensform äußern kann, wie sie der religiöse Fanatiker Girolamo Savonarola vorgelebt hat.

Auch Enea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II., war ein solch Großer angesichts der Vielfalt seiner Begabungen und Tätigkeiten: für die Antike begeisterter Humanist, an Cicero geschulter Redner, weitgereister Diplomat, zum poeta laureatus gekrönter Dichter, Naturfreund und Forschungsreisender. Nach einem abenteuerlichen Leben wird er Papst und übt dieses Amt in einer überraschend persönlichen und eigenwilligen Weise aus. Seine Geburtsstadt Pienza hat er als die erste nach neuen architektonischen Maßstäben entworfene Stadt der Frührenaissance hinterlassen.

Rodrigo Borgia, Papst Alexander VI., gilt im Urteil der Kirchengeschichte als der Renaissancepapst schlechthin, mit dem das Papsttum seinen moralischen Tiefpunkt erreicht hat. Aber auch er zeigt in seiner Art Größe. Im politischen Ränkespiel erweist er sich als gerissener Politiker und versierter Diplomat, der auch vor Vertragsbruch und Mord nicht zurückschreckt, wenn es gilt, seine Ziele und vor allem die seiner Familie durchzusetzen. Auch die Art, wie er sich mit Mätressen und einer stattlichen Kinderzahl über Normen und Konventionen hinwegsetzt und eine emanzipierte Sexualität lebt, die modern anmutet, lässt ihn noch im Amoralischen als groß erscheinen.

In dem Dominikanermönch Girolamo Savonarola erwuchs Alexander ein Gegner nicht minderen Formats. Sein religiöser und moralischer Fanatismus, mit dem er gegen die Dekadenz und moralische Verderbnis der Zeit kämpfte, verleiht ihm die Größe eines alttestamentlichen Propheten, setzt aber bürgerliches Zusammenleben aufs Spiel und ist in seinen Konsequenzen furchterregend.

Papst Julius II. (1503 – 1513) erschien schon den Zeitgenossen wegen seiner unbändigen Willenskraft und seiner rücksichtslosen Durchsetzungsstärke als furchterregend und sie nannten ihn deshalb Il terribile. Als Anführer setzte er sich an die Spitze des Heeres, um den Kirchenstaat gegen innere und äußere Feinde zu verteidigen. Zum Ruhme Roms und des Papstes zwang er die bedeutendsten Künstler der Zeit an seinen Hof und wurde Auftraggeber für Kunstwerke, die bis heute Weltruhm beanspruchen.

Größe zeigten auch die Ahnherren der Familie Medici in Florenz, Giovanni Bicci de’Medici und sein Sohn Cosimo der Alte. Als weitsichtige Unternehmer und Repräsentanten eines frühen Kapitalismus legten sie mit der Gründung eines modern anmutenden Konzerns aus Banken, Fabriken und Grundbesitz die Grundlagen dafür, dass aus der Unternehmerfamilie eine europäische Adelsdynastie wurde.

In Bevenuto Cellini begegnet uns aus der Spätzeit der Renaissance ein vielseitig begabter Künstler, ein genialer Goldschmied und Bildhauer, aber auch ein Aufschneider und Mörder, der vor seinen Widersachern und der Justiz ständig auf der Flucht ist. Sein abenteuerliches Leben hat er in einer umfangreichen Autobiografie beschrieben. Goethe hat sie ins Deutsche übersetzt; als Lebens- und Zeitdokument fesselt sie auch den heutigen Leser.

Ich widme diese Schrift meiner verstorbenen Frau, meinen Zuhörern und den Freunden, mit denen ich Italien und Rom bereisen durfte.

Saarbrücken im Oktober 2016

Rüdiger Kaldewey

1 Kaldewey/Wener, Christentum

Enea Silvio Piccolomini: Commentarii. Die Lebenserinnerungen eines Humanistenpapstes

Er wurde adlig und arm in einem Nest in der Toskana geboren. Seine Aussichten, eine bedeutende Karriere zu machen, schienen gering. Doch als er starb, war er eine der großen Figuren der Renaissance. Ehrgeiz und Geist, seine umfassende Bildung und seine Fähigkeit, sich den jeweiligen Machtverhältnissen anzupassen, ließen ihn aufsteigen. So wurde aus Enea Silvio Piccolomini Papst Pius II. – bis heute einer der schillerndsten und faszinierendsten Männer auf dem Thron Petri: vielgelesener Autor erotischer Erzählungen und Gedichte, gelehrter und sprachgewaltiger Humanist, weltläufiger und weitgereister Diplomat im Dienst von Kaiser und Papst und schließlich selbst Inhaber des höchsten Amtes, das die damalige Welt zu vergeben hatte.

Er ist eine Persönlichkeit, die wie kaum eine andere den Herbst des Mittelalters und die Aufbrüche der frühen Neuzeit verkörpert: Er folgt einem neuzeitlichen Wissenschaftsideal, das sich auf Empirie statt auf Tradition stützt. In seinen frühen Dichtungen huldigt er einem Eros, der sich aus den Bindungen kirchlicher Moral befreit. Und schließlich gewinnt er politisches Profil, indem er den Konziliarismus verteidigt, jene papstkritische Bewegung, die das allgemeine Konzil über die Autorität des Papstes stellt. Aber selbst Pontifex maximus, besteht er auf dem Vorrang des Papstes und reibt sich auf für ein mittelalterliches Ideal: den Kreuzzug gegen die Türken. – Und scheitert.

Wer war diese schillernde und widersprüchliche Persönlichkeit? Wir kennen sein turbulentes Leben recht genau. Denn er lässt uns daran teilhaben in einem umfangreichen Konvolut von Briefen und Reden, die er hinterlassen hat, vor allem aber in seiner Autobiografie: den Commmentarii.

Zum literarischen Charakter der Commentarii

Der vollständige Titel der Commentarii lautet: Pii II. Commentarii rerum memorabilium que temporibus suis contingerunt ( Pius’ II. Tagebuch über die denkwürdigen Begebenheiten, die sich zu seinen Lebzeiten ereigneten). Pius II. hat sie in seinen beiden letzten Lebensjahren zwischen Ostern 1462 und Weihnachten 1463 niedergeschrieben oder diktiert.

Die Commentarii sind ein Lebensrückblick in Form eines literarischen Kunstwerks mit einer deutlichen Zielsetzung. Sie sollen zeigen, dass hinter den Irrungen und Wirrungen eines an Kehrtwenden reichen Lebens ein großer Plan der Vorsehung steht.2 Der aus ärmsten Verhältnissen stammende Literat besteigt nach vielen Irrtümern und abenteuerlichen Verwicklungen den Thron Petri. Mit dieser Selbststilisierung folgt Piccolomini bekannten literarischen und religiösen Mustern. Der berüchtigte Christenverfolger Saulus bekehrte sich zum Völkerapostel Paulus. Der heidnische Rhetorikprofessor Augustinus fand, nachdem er falschen Philosophen aufgesessen war, seinen inneren Frieden im Christentum, wurde Bischof und schrieb sich hinauf zum einflussreichsten Kirchenvater des Abendlandes. Ähnlich verläuft der Lebensweg unseres Helden. Auch sein Leben stellt sich ihm im Rückblick dar als ein Ringen um die Wahrheit und als Kampf für die richtige Verfassung der Kirche. Dieser Lebenskampf wird am Ende von Gott belohnt.

Andererseits ist Piccolomini ein zu selbstbewusster Mann, als dass er sein Leben ganz der Vorsehung verdanken möchte. Für ihn gilt: Das Glück ist mit dem Tüchtigen. Theologisch gesprochen: Das Walten der Vorsehung schränkt die Eigeninitiative und die Freiheit des Menschen nicht ein. Piccolomini erklimmt die höchste Würde, die die Welt zu vergeben hat, auch durch eigene Tüchtigkeit und Intelligenz, vor allem durch seine rhetorische Überzeugungskraft und die Kunst der Diplomatie.

Unter diesem Gesichtspunkt sind die Commentarii Teil einer großen Inszenierung des eigenen Lebens. Sie sind Propaganda in eigener Sache, Selbstdarstellung eines Menschen, der vom armen Poeten zum Papst emporsteigt. Die Selbstinszenierung wird zum durchgehenden Leitmotiv der Commentarii. Bühnen zur Selbstinszenierung finden sich allenthalben: an Fürstenhöfen, auf Reichstagen, bei Konzilsversammlungen. Aber auch die zauberhafte Landschaft seiner toskanischen Heimat bietet eine idyllische Kulisse, um die Naturverbundenheit, den einfachen Lebensstil und die Volksnähe des Pontifex Pius zu demonstrieren.

Die Commentarii sind Dichtung und Wahrheit zugleich. Insofern sind sie – Goethes Dichtung und Wahrheit vergleichbar – ein Lebensroman. Für ihren Verfasser sind die Commentarii sicher ein authentischer Tatsachenbericht. Für den heutigen Historiker eher eine Lebensbilanz aus persönlicher Sicht. Wie bei vielen Menschen, die ihre Lebenserinnerungen zu Papier bringen, werden sie geleitet von dem Wunsch, dass das Leben nicht nur eine zufällige Aneinanderreihung von Ereignissen ist, die passiv hingenommen oder erlitten werden. Wir möchten, dass unser Leben sich im Rückblick als ein gestaltetes und erfolgreiches Ganzes darstellt. Der Historiker muss die Commentarii deshalb auch kritisch lesen und sie mit anderen Quellen vergleichen. Nur so kann er den geschichtlichen Wahrheitsgehalt aus der Dichtung herausfiltern.

Für den Laien ist dies schwierig, weil die dargestellten Ereignisse über ein halbes Jahrtausend zurückliegen, Aber auch deshalb, weil sich der Lebensroman des Enea Silvio Piccolomini auf weite Strecken so angenehm süffig liest. Piccolomini erzählt persönlich und wertet subjektiv, obwohl er in der dritten Person schreibt. Er schildert lebendig die politischen, kirchlichen und gesellschaftlichen Ereignisse der Zeit, scheut vor Abschweifungen nicht zurück, verteilt eifrig Zensuren und gibt in Sentenzen seine Lebenserfahrung zum Besten: »Das ist aber leider heute ein allgemeines Übel, dass man lieber ein hohes Amt für einen Mann als ein Mann für ein hohes Amt sucht«.3

Als universal gebildeten Humanisten interessiert ihn schlechthin alles, was ihm begegnet, seien es Menschen, Landschaften Naturereignisse, aber auch Gerüchte, Wunderliches und Fabelhaftes. Er bringt all dies, Wichtiges und Unwichtiges, in bunter Reihe grob chronologisch geordnet zu Papier und wünscht sich einen späteren Redaktor, der an seinem Werk feilen und es verbessern möge. Den hat es zwar gegeben in der Person des Erzbischofs Francesco Bandini Piccolomini. Er hat Jahrzehnte nach Pius’ Tod die Commentarii zur Drucklegung bearbeitet (1584), aber nicht nach stilistischen, sondern nach moralischen Gesichtspunkten. Er strich alles heraus, was irgendwie kompromittierend erscheinen konnte. Sei es, dass Personen in ein schiefes Licht gerieten oder dass die Kirche kritisiert wurde, kurz: Er strich alles, was für uns Heutige interessant ist.

Moderne Ausgaben enthalten natürlich den Originaltext. Dennoch ist auch die einzige in Deutsch vorliegende (gekürzte) Ausgabe von Günter Stölzl unbefriedigend. Die Übersetzung ist zwar flüssig, aber es fehlen Anmerkungen zu Personen, Ortsangaben und historischen Ereignissen, die der heutige Leser zum Verständnis dringend braucht.

Weiter hilft hier die jüngst erschienen Biografie: Volker Reinhardt, Pius II. Piccolomini. Der Papst, mit dem die Renaissance begann. Eine Biographie. München (Beck) 2013.4

Aus der Fülle der Lebenserinnerungen möchte ich vier Themen herausgreifen: Piccolominis Aufstieg zu internationalem Ruhm, seine abenteuerliche Reise nach Schottland, seine Wahl zum Papst und schließlich sein eigenwilliges Pontifikat als Pius II.

Piccolominis Aufstieg zu internationalem Ruhm

Von Corsignano nach Siena (1405 – 1431)

Geboren wurde Enea Silvio Piccolomini in Corsignano, dem heutigen Pienza, einem Dorf 50 Kilometer südöstlich von Siena. Er entstammt dem verarmten Zweig einer alten sienesischen Adelsfamilie. Die Mutter schenkte 18 Kindern das Leben, von denen aber nur Enea und zwei Schwestern das Erwachsenenalter erreichten.

In Siena beginnt er ein Studium der Rechte, ohne aber einen Abschluss ernsthaft anzustreben. Denn sein Interesse an der Jurisprudenz ist gering und wird überlagert von seiner Leidenschaft für die antike Literatur. Nächtelang studiert er bei Kerzenlicht Vergil, Ovid und Tibull, deren Stil er in eigenen Gedichten nacheifert. Cicero wird sein Lehrmeister bei dem Bemühen, sich eine an klassischen Vorbildern geschulte Rhetorik anzueignen.

Erste Lorbeeren erwirbt Piccolomini sich als Autor freizügiger Liebesgedichte und erotischer Literatur. Diese Dichtungen aus dem Geist eines vorchristlichen Heidentums begründen seinen Ruhm, erweisen sich später aber als Stolpersteine auf dem Weg zu einer kirchlichen Karriere und machen ihn noch als Papst angreifbar. Der alte Mann muss sich angesichts der Sünden seiner Jugend verteidigen: »Folgt der Lehre, die wir jetzt verkünden! Schenkt dem Greis mehr Glauben als dem jungen Mann! Schätzt den Laien niedriger ein als den Papst! Verwerft Äneas, nehmt Pius auf!«5

Im Dienst des Konzils und des Kaisers (1432 – 1442)

Eine Wende in seinem Leben brachte das Jahr 1432. Ein einflussreicher Kirchenfürst, der Kardinal Capranica, machte Station in Siena. Dessen Gefolge schloss sich der inzwischen bekannte Humanist und Dichter an. Der Kardinal befand sich auf dem Weg zu einem Konzil, das nach Basel einberufen war. Capranica führte ein persönliches Anliegen nach Basel. Er war von Papst Martin V. (1417 – 1431) zum Kardinal ernannt worden, ohne dass diese Ernennung veröffentlicht worden war und so juristische Gültigkeit erlangt hätte. Als der Nachfolger Martins, Papst Eugen IV. (1431 – 1447), sich weigerte, die Erhebung Capranicas zum Kardinal zu publizieren, wandte sich Capranica an das Konzil, um sein Recht gegen den amtierenden Papst durchzusetzen.

Dieses Vorgehen wirft ein bezeichnendes Licht auf die kirchenpolitische Situation in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt theologischer und kirchenpolitischer Auseinandersetzungen stand die Frage: Wer hat das Sagen in der Kirche? Wer hat die höchste Entscheidungsgewalt? Der Papst oder das Konzil? Diese Frage war akut geworden, als es am Ende des 14. Jahrhunderts (seit 1378) zwei miteinander rivalisierende Päpste mit je einem eigenen Hofstaat, internationalen Unterstützern und Finanziers gab. Der eine Papst residierte in Rom, der andere im französischen Avignon. Das Problem eskalierte, als seit dem Jahre 1409 ein weiterer Papst den Alleinvertretungsanspruch in der Kirche für sich reklamierte. Was war zu tun, um die Überzahl von drei Päpsten auf das Normmaß eines Pontifex maximus zurückzuführen? Angesichts der unklaren Rechtslage und der Unversöhnlichkeit der Streithähne konnte nur der Spruch eines allgemeinen Konzils Abhilfe schaffen. Diese Entscheidung traf das Konzil von Konstanz (1414 – 1418). Es setzte die drei Päpste ab und installierte einen neuen: Martin V.

Aber damit war eine theologische Grundsatzfrage aufgebrochen. Wer hat die letzte Entscheidungsgewalt in der Kirche? Das Konzil, sagten die Konziliaristen; der Papst, hielten die so genannten Papalisten dagegen. Dieser Kampf zwischen den beiden Parteien bestimmte das gesamte Pontifikat Eugens IV. Unser Held Enea Silvio Piccolomini ergriff Partei und profilierte sich als Anhänger des Konziliarismus, der »modernen« Lehre von der Vorherrschaft des Konzils über den Papst. Damit mischte er mit in einem Kampf, der mit gegenseitigen Ausschlüssen aus der Kirche, der Absetzung des regierenden Papstes, der Wahl eines Gegenpapstes, der Einberufung eines neuen Konzils und anderen juristischen Winkelzügen erbittert geführt wurde. Sieger in der Schlacht blieb schließlich Eugen IV. Seine Gegner mussten aufgeben, da die europäischen Fürsten, des Theologenstreits überdrüssig, nach und nach dem Konzil von Basel und seinem Gegenpapst Felix die Unterstützung entzogen.

Das Konzil von Basel (1431 – 1437), zu dem Piccolomini seinen ersten Arbeitgeber als Sekretär begleitete, bildete die Bühne, auf der sich der Aufstieg des Sieneser Poeten zum internationalen Spitzendiplomaten vollzog. Einige wenige Stufen seiner Karriereleiter seien genannt: Schon bald nach seiner Ankunft in Basel ist er als offizieller Schreiber für das Konzil tätig. Er wird Mitglied der zentralen Steuerungskommission des Konzils, ohne selbst Theologe zu sein. 1435 tritt er in die Dienste des päpstlichen Konzilslegaten, des hochangesehenen Kardinals Niccolò Albergati. Internationale Anerkennung verdient er sich als erfolgreicher Diplomat und Unterhändler im Auftrag der Kirchenversammlung; Dienstreisen führen ihn nach Schottland, mehrfach nach Deutschland, nach Italien und Savoyen. Schließlich wird er, der als Parteigänger der Konziliaristen die Interessen des Konzils gegen Papst Eugen vertritt, Privatsekretär des Gegenpapstes Felix V.

Grundlage dieser Karriere bilden herausragende Begabungen, die Piccolomini für den diplomatischen Dienst der damaligen Zeit mitbrachte: eine an klassischen Mustern geschulte humanistische Rhetorik, eine virtuose Beherrschung der lateinischen Sprache und geschmeidige diplomatische Umgangsformen, die an den Renaissance-Höfen mit ihrer sorgfältigen Inszenierung von Macht und Repräsentation unerlässlich waren.