Merckx - Guy Roger - E-Book
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Merckx E-Book

Guy Roger

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Beschreibung

Eddy Merckx: Eine Radsportlegende Eddy Merckx, bekannt als »der Kannibale«, gilt dank seiner unerreichten 525 Siege als der beste Radsportler aller Zeiten. In dieser fesselnden Erzählung von Guy Roger werfen zahlreiche Wegbegleitern einen Blick auf Merckx' unvergleichliche Karriere und seinen unbändigen Siegeswillen – untermalt von illustrierten Statistiken. Eine Karriere für die Geschichtsbücher Von seinen legendären Siegen bei der Tour de France bis zum Aufstellen des Stundenweltrekords in Mexiko, ergründet das Buch die Geheimnisse hinter Eddy Merckx' Erfolgen. Stimmen von Teamkollegen, Rivalen und Experten vervollständigen das facettenreiche Bild einer Radsportlegende. • Exklusive Erzählungen von Merckx' beeindruckender Radsportkarriere • Umfassende Berichterstattung zum 80. Geburtstag mit Interviews und Dokumentationen • Ein Muss für Radsportfans und eine Bereicherung für jede Sportbibliothek Eine Hommage an Eddy Merckx Das Buch enthält exklusive Inhalte, darunter das Vorwort von Bernard Thévenet und das persönliche Nachwort von Eddy Merckx sowie spannende Statistiken. Es feiert das Erbe eines Mannes, dessen nachhaltiger Einfluss auf den Radsport bis heute präsent ist.

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Seitenzahl: 307

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Aus dem Französischen von Sandra Wisniewski

„Ich habe niemals der Vernunft gehorcht. Mein ganzes Leben lang bin ich ausschließlich meinem Instinkt und spontanen Eingebungen gefolgt.“

Georges Simenon (belgischer Schriftsteller)

Inhalt

Vorwort von Bernard Thévenet

KEMZEKE

WOLUWE-SAINT-PIERRE

LA CIPALE, DIE ERSTE

LA CIPALE, DIE ZWEITE

ORCIÈRES – MARSEILLE – COL DE MENTÉ (LA CIPALE, DIE DRITTE)

LA CIPALE, DIE VIERTE

LA CIPALE, DIE LETZTE

PRA-LOUP

ALPE D’HUEZ, 19. JULI 1977

ITALIEN – LIEBE UND VERRAT

SAVONA

ORDUÑA, 14. MAI 1973

SANREMO

MEERBEKE

ROUBAIX

LÜTTICH

LOMBARDEI

HEERLEN, MENDRISIO, MONTREAL

MEXIKO – 49,431 KILOMETER

GEGNER

TEAMKOLLEGEN

„WIE VIEL WATT TRITTST DU?“

ERBEN

DER UNERREICHTE

Nachwort von Eddy Merckx

Anhang

Die Geschichte hinter dem Bild

Danksagung

Vorwort von Bernard Thévenet

Siebenmal ist Eddy Merckx bei der Tour de France angetreten. Fünfmal hat er gewonnen, die beiden anderen Male ich. Ich habe lange gebraucht, um zu realisieren, dass ich der Erste war, der ihn von seinem Sockel stürzen konnte – denn Merckx war und ist ein Phänomen, ein Ausnahmefahrer, der gewann, wann immer er wollte. Für mich, den Amateurfahrer vom Athletic Club de Boulogne-Billancourt (ACBB), kam er von einem anderen Stern. Ich erinnere mich, dass wir in unserem Zimmer in der Militärsportschule Joinville, das ich mit Bernard Dupuch, Charly Rouxel und Jean-Jacques Sanquer teilte, ein Poster von ihm bei der Zieldurchfahrt der Weltmeisterschaft in Heerlen 1967 hängen hatten. Ich habe das Bild noch vor Augen. Bei diesem Sprint schlug er Jan Janssen um wenige Zentimeter; die Kraft, die er dabei ausstrahlt, ist außergewöhnlich.

Er und ich, wir waren Gegner, aber keine Feinde. Nie habe ich einen Fahrer erlebt, der siegeshungriger war und doch loyal blieb. Gnadenlos, aber anständig, und daran änderte auch der Kampf ums Gelbe Trikot nichts. Ich habe mich immer gut mit Eddy verstanden. Als ich 1970 meine Profikarriere begann, war ich nicht einmal als Ersatzfahrer im Peugeot-Team für die Tour vorgesehen. Dann stellten die Last-Minute-Absagen von Ferdinand Bracke und Gerben Karstens unseren Sportdirektor Gaston Plaud vor vollendete Tatsachen. Ich habe nie erfahren, warum er ausgerechnet mich als zehnten Mann ins Team berief. Vielleicht, weil ich nicht weit von Limoges, dem Startort der Tour, entfernt wohnte. Zwei Wochen später gewann ich eine Etappe in La Mongie; es war der 14. Juli, und ich erinnere mich daran, dass am nächsten Morgen Merckx in der Presse folgendermaßen zitiert wurde: „Der wird einmal ein Guter. Den sehen wir in ein paar Jahren wieder.“ Wenn du mit 22 Jahren ein solches Kompliment aus dem Mund eines Trägers des Gelben Trikots erhältst, verfolgt dich das deine ganze Karriere lang und darüber hinaus.

Ich war auch bei der nächsten Tour wieder dabei, beim berühmten Duell zwischen Merckx und Luis Ocaña. Am Anstieg nach Orcières-Merlettes hatte Luis einen Riesenvorsprung. Merckx und eine Gruppe von Verfolgern, darunter auch ich, lagen sieben Minuten zurück. Ich hätte mich an der Führungsarbeit beteiligen können, aber ich tat es nicht, aus Angst, abgehängt zu werden. Zu einem bestimmten Zeitpunkt fuhren wir nebeneinander, und er fragte mich: „Hast du noch was zu trinken?“, und ich reichte ihm meine Flasche – meine Art, mich für meine passive Haltung zu entschuldigen. Ich bezweifle jedoch, dass er sich noch daran erinnert.

Ein paar Jahre später, bei der Tour 1975, eroberte ich in Pra-Loup das Gelbe Trikot. In der Nacht stand ich auf, um aufs Klo zu gehen. Die Fensterläden meines Zimmers standen halb offen, der Mondschein fiel auf das Gelbe Trikot, das über einer Stuhllehne hing, und ich fragte mich: „Warum hat Eddy denn sein Gelbes Trikot in mein Zimmer gelegt?“ Ich habe erfahren dürfen, wie sehr ein Sieg bei der Tour de France das eigene Leben und den Blick der Leute verändert. Ein Beispiel: Nach-Tour-Kriterium in Château-Chinon, 1974. Ich hatte in jenem Jahr eine Etappe von Paris–Nizza gewonnen und Merckx seine fünfte Tour. Der damals unterlegene Präsidentschaftskandidat François Mitterrand war gekommen, um uns zu begrüßen; mir schüttelte er kaum die Hand. Merckx’ Hand hingegen ließ er gar nicht mehr los. Dasselbe Rennen, ein Jahr später. Wieder ist Mitterrand da. Dieses Mal schüttelt er meine Hand geschlagene fünf Minuten lang. Und woran lag es? Am Gelben Trikot!

Hin und wieder sehen wir uns noch, Eddy und ich – bei Ehemaligentreffen oder Einweihungsfeiern. Wir teilen dieselbe Leidenschaft, die uns auch nicht mehr loslassen wird. Gemeinsame Interessen sind immer stärker als etwaige Streitigkeiten. Wir plaudern über dies und das, über aktuelle und ehemalige Fahrer. Nur ein Thema sprechen wir nie an: unsere Niederlagen. Es wäre zu schmerzhaft – für ihn wie für mich. Man nennt das Respekt. Ich bin stolz, ihn als Gegner gehabt, und noch stolzer, mir seine Wertschätzung erworben zu haben.

KEMZEKE

„Aber eins sag ich dir: Ich mach nicht weiter …“

Jacques Brel („Vesoul“)

In jenem März 1978 hat eine gewisse Aufregung den kleinen ostflämischen Ort Kemzeke nahe der Stadt Sint-Niklaas erfasst, wo einen knappen Monat später die Flandern-Rundfahrt starten soll. Beim Bier im Café De Linde spricht man von nichts anderem mehr. Offenbar soll einige Tage später Eddy Merckx beim Omloop van het Waasland antreten – nach einem bewegten Winter, in dem der belgische Champion statt zu trainieren pausenlos an der Strippe hing, auf der Suche nach einem Sponsor.

Nach der brutalen Absage von Wilkinson hat ihn in letzter Sekunde die Kaufhauskette C&A gerettet. Es war schon alles fertig gewesen – die Trikots, die Hosen, die Fahrräder und der Rennkalender –, als der französische Klingenhersteller einen Rückzieher machte und alles von vorn beginnen musste. Um seine Mannschaft zu beruhigen, hat Eddy Merckx die Gehälter der 18 Fahrer aus eigener Tasche vorgestreckt. Es ist kein Geheimnis, dass der fünffache Tour-de-France-Sieger zu Beginn der 14. Saison seiner Karriere außer Form ist; seine gesundheitlichen Probleme werfen Fragen auf. Zwischen dem 19. Februar und dem 11. März muss er drei von vier Rennen abbrechen. Die Aufgaben beim Grand Prix de Montauroux, beim Omloop Het Volk und beim Großen Preis von Wilsele sowie der fünfte Platz bei der Tour du Haut Var lassen Merckx wie einen Schatten seiner selbst erscheinen. Ein Start bei Mailand–Sanremo, in jenem Jahr 288 Kilometer lang, stand in diesem Zustand gar nicht erst zur Debatte.

Am 19. März, einem novembergrauen Sonntag – einen Tag nachdem Roger de Vlaeminck die „Primavera“ gewonnen hat –, präsentiert sich Merckx trotz all seiner Probleme, die sich auch aufs Gemüt schlagen, am Start des Omloop van het Waasland. Er trägt die ihm zugeteilte Rückennummer vier. Es ist das erste Mal, dass der ruhmreiche Eddy Merckx an diesem Rennen teilnimmt. Seine Anwesenheit ehrt den Wettkampf, der lange Zeit vom Tanzlokal Ponderosa organisiert wurde, bevor auch Profis zugelassen wurden. In einer Reportage für das flämische Radsportmagazin Bahamontes gibt der Journalist Rik van Puymbroeck Einblick in die offizielle Buchhaltung: „Aus der Gesamtsumme der Startprämien in Höhe von 101.500 Belgischen Francs (2.516 Euro) erhält Herr Merckx eine Prämie von 30.000 Belgischen Francs (745 Euro).“

Es ist kalt an jenem Tag, das Pflaster rutschig vom Regen – ein schlechtes Pflaster, mit großen Lücken, in denen man hängen bleibt –, und der belgische Wind verspricht ein Rennen zugunsten der physisch starken Fahrer. Der Mercedes von Merckx, gefahren von seinem Freund und Soigneur Pierrot de Wit, wird umringt, kaum dass der Motor aus ist. Die Start- und Ziellinie unter den Fenstern des Rathauses liegt rund 100 Meter entfernt, und es ist ein echter Kampf, sich dorthin durchzuschlagen. Der Kirchplatz ist zu klein für die gerührte Menge, die wie hypnotisiert von der Anwesenheit ihres Idols ist. Wenn sie nur könnten, würden die Leute ihm Hände und Füße küssen. José de Cauwer, ein guter Beobachter, der für den Rennstall TI-Raleigh mit der Startnummer 65 an den Start geht und noch von sich reden machen wird, ist fassungslos: „Wer ihn kennt, weiß, dass er sich bei diesem Durcheinander gesagt haben muss: ‚Was mache ich hier eigentlich?‘“

Und schließlich ist da noch die Meute Fotografen, die auf der Lauer liegt und ihn von allen Seiten ablichtet, was der Szenerie etwas von einer Götterdämmerung verleiht. Viel später wird de Cauwer sagen: „Dass wir gar nicht wahrgenommen werden, war nicht überraschend, aber dass sie ihn dermaßen bedrängten, hatte etwas Unanständiges.“

In seinem Artikel „Toen Eddy Merckx niet meer was“ (Als Eddy Merckx nicht mehr da war) erwähnt van Puymbroeck auch folgendes Detail: „Um sich vor dem heftigen Wind zu schützen, behielten die Teilnehmer ihre langärmeligen Trikots an und trugen eine Mütze unter dem Sturzring.“ Er interviewte auch René Dillen, einen Teamkollegen von Merckx bei C&A: „Kurz vor dem Start war Eddy wegen der Fans, die ihn belagerten, von den übrigen Teilnehmern getrennt. Nie musste ich so die Ellbogen einsetzen, um ihn an die Startlinie zu bringen. Da war mir schon klar, dass es ein schlimmer Tag für ihn werden würde.“ Doch die Beschwerlichkeiten erdrücken ihn nicht, sondern werden zu einer inneren Kraft, die ihn noch furchteinflößender und majestätischer wirken lässt.

Um 13 Uhr gibt der Organisator das Startsignal für die 65 Teilnehmer, die seit geraumer Zeit mit den Hufen scharren. Sobald sich die Flagge senkt, attackiert Dillen. Er erarbeitet sich einen kleinen Vorsprung von vielleicht 30 Sekunden: „Als ich mich umdrehte, um den Abstand einzuschätzen, wer hatte sich da an die Spitze der Verfolgergruppe gesetzt? Eddy.“ Merckx war eben Merckx. Auch wenn die Beine nicht mitmachten, blieb er ein unermüdlicher Kämpfer. Er schafft es sogar in eine Fluchtgruppe, um noch einmal dieses Gefühl zu spüren. So liebt er den Radsport. Alles auf Angriff! Doch manchmal ist alles nicht genug, und nach der Hälfte des Rennens haben sie ihn wieder eingeholt. „Ihm Geschenke zu machen, kam gar nicht infrage“, erklärt de Cauwer. „Er hat ja auch nie welche gemacht. Und die Jungs bestritten hier ihr persönliches Mailand–Sanremo gegen Merckx und hatten nur eines im Sinn: ihn abzuschießen.“ Letzten Endes erwies sich Frans van Looy als der Schnellste der Ausgabe 1978, vor Walter Planckaert, den er in einem umkämpften Schlussspurt besiegte. Merckx erreichte das Ziel ein paar Sekunden später in einer ungefähr zehn Mann starken Gruppe. Für ihn ging es um Platz elf, den ihm jedoch José de Cauwer wegschnappte. „Noch nie war ich ihm so nah gekommen. 200 Meter vor dem Ziel fuhren wir Schulter an Schulter. Dass ich ihn im Sprint geschlagen habe, werde ich bis ans Ende meiner Tage nicht vergessen.“

Dann wird es emotional. Merckx’ Soigneur und Masseur Pierrot De Wit, von Generationen von Fahrern – von Maspes über Faggin, Timoner, van Steenbergen, Koblet, Darrigade und Sercu bis hin zu Doyle – schlicht „Goldfinger“ genannt, erzählt: „Ich hatte ihm gerade die Beine mit einem Waschlappen abgewaschen. Er schloss die Tür und sagte ganz ruhig: ‚Es ist vorbei, Pierrot. Ich höre auf. Sag’s keinem, aber das war mein letztes Rennen. Die Belgien-Rundfahrt mach ich nicht mehr. Ich mach nicht weiter.‘ Ich hab natürlich versucht, ihm zu sagen, dass es so schlecht nicht war. Aber er schüttelte den Kopf und antwortete: ‚Nein, Pierrot. Ich will nicht mehr leiden. Das war’s.‘“ Sein Geheimnis wurde noch ein paar Tage gewahrt, aber in diesem Moment hatte ihn die „normale“ Welt, die er 1965 hinter sich gelassen hatte, wie ein Bumerang getroffen.

46 Jahre später kam die Geschichte des Omloop van het Waasland 1978 noch einmal zur Sprache, dank José de Cauwer, mittlerweile Kommentator beim flämischsprachigen belgischen Sender BRT, nachdem er zuvor sportlicher Leiter des ADR-Teams und treibende Kraft hinter dem Tour-de-France-Sieg von Greg LeMond über Laurent Fignon 1989 gewesen war – die acht berühmtesten Sekunden der Radsportgeschichte. De Cauwer hat vor Kurzem zusammen mit dem ehemaligen Journalisten Rik Vanwalleghem das Buch geschrieben, das er schon immer hatte schreiben wollen. Es heißt De 10 geboden van José de Cauwer (Die zehn Gebote von José de Cauwer) und verkauft sich außerordentlich gut. Merckx und LeMond kommt darin große Aufmerksamkeit zu. Im Mittelpunkt stehen all die Dinge aus dem Leben eines Rennfahrers, über die man gewöhnlich nicht spricht. Als ich mich mit de Cauwer verabredete, wusste ich nicht, ob er mir etwas über die Hintergründe des letzten Rennens von Eddy Merckx verraten würde, der in seinen „zehn Geboten“ eine so prominente Rolle spielt.

In einem Lesecafé nahe dem Bahnhof Sint-Pieters in Gent hört José dann gar nicht mehr auf zu erzählen. Der Zuhörer erfährt, dass De Cauwer „zu Merckx’ engstem Freundeskreis“ gehöre, dass „Merckx als Mensch genauso ist wie als Fahrer, nur sentimentaler“, und dass „ein ganz Kleiner wie ich das Privileg hatte, ihn im Sprint zu schlagen, auch wenn es nur um Platz elf ging“. Das Originelle am Ansatz des Autorenduos besteht darin, dass sie dem Publikum nicht aus dem Inhalt des Buchs erzählen, sondern die Hintergründe. Und so tingeln de Cauwer und Vanwalleghem über das platte Land ihrer Heimat Flandern, begleitet von einem Gitarristen, der die Pausen mit Country-Klängen füllt – von Stadt zu Stadt, durch Gemeindesäle und Turnhallen. Bald 50 Lesungen haben sie so hinter sich gebracht. Bei diesen Begegnungen schweifen sie ab und schmücken sie aus, lassen sie sich von den neugierigen Fragen des Publikums inspirieren. De Cauwer gibt einige ganz persönliche Einblicke: „Mit 14 Jahren ging ich schon malochen, in einer Gießerei, 50 Stunden die Woche.“ Mut und Bescheidenheit bilden die Pfeiler seiner Karriere, aus Freundschaft zu Hennie Kuiper wurde er zum Wasserträger. „In diesem Umfeld habe ich öfter einfach ans Überleben gedacht statt an den Sieg“, bekennt er (er gewann eine Etappe bei der Spanien-Rundfahrt 1976), und: „Durch das, was ich sah und hörte, lernte ich, dass man zwei Wörter niemals aussprechen durfte: Glück und Pech. Ersteres, weil das, was einem passiert, nie einfach Glück ist. Und Letzteres, weil diejenigen, die nach Ausreden suchen, niemals gewinnen werden.“

In seinen „zehn Geboten“ zeichnet er also mit viel Einfühlungsvermögen und Sinn für Humor jenes Rennen vom 19. März 1978 nach – es war der letzte Wettkampf des großen Eddy Merckx. Zunächst sagt er in bedauerndem, emotionsgeladenem Ton: „Hätten wir gewusst, dass er uns so sehr fehlen würde, hätten wir es noch mehr genossen.“ In einer kleinen Schauspieleinlage stellen sie sich dann gar Eddys Rückkehr nach Hause vor, wo ihn seine Frau Claudine erwartet:

Eddy (José streckt sich, tut ein bisschen erschöpft): „Weißt du, was passiert ist?“

Claudine: „Nein. Ist dein Rennen wenigstens gut gelaufen?“

Eddy (nach einer kurzen Stille): „De Cauwer hat mich im Sprint geschlagen. (wieder Stille) Um den elften Platz.“

Claudine: „Ich glaube, langsam wird es wirklich Zeit, dass du ans Aufhören denkst.“

Das Publikum lacht, und das Buch findet reißenden Absatz. Eines ist indessen unbestritten: Auch ein halbes Jahrhundert nach seiner großen Zeit beflügelt der Name „Eddy Merckx“ noch die Fantasie der Massen.

Eddy und José sind seit Langem befreundet; von Zeit zu Zeit verabreden sie sich zu einem gediegenen Essen. Mitte Dezember 2023 lieferte ihnen die angekündigte Schließung des berühmten Drei-Sterne-Restaurants Hof Van Cleeve in Kruishoutem, das neben der Michelin-Auszeichnung auch 19,5 von 20 Punkten im Gault-Millau vorweisen kann, den perfekten Vorwand. Küchenchef Peter Goossens gab ihnen den besonders gefragten Tisch direkt neben der Küche, an dem acht Tage später auch der belgische König Philippe speisen sollte. Am Rande des Essens kam das Gespräch auf die „zehn Gebote“ von de Cauwer und den berühmten erfundenen Dialog rund um die Rückkehr des Kriegers an den heimischen Herd.

„Also“, habe ich gefragt. „Was war seine Reaktion?“

„Eddy bog sich vor Lachen.“

WOLUWE-SAINT-PIERRE

„Auf seine Art ist er ein Raumfahrer in einer Rakete mit menschlichem Antrieb.“

Jean-Baptiste Baronian, Schriftsteller

Sich in der Startaufstellung eines Buchs wiederzufinden, das dem größten Radsportler aller Zeiten gewidmet ist, bedeutet ein monumentales Abenteuer, das schwindelerregende Gefühl, sich auf eine Weltreise zu begeben, zurück in eine Zeit, als der Radsport den Menschen noch am Herzen lag.

In den Sechziger- und Siebzigerjahren drückte Eddy Merckx praktisch allen Rennen, die er bestritt, seinen Stempel auf. Laut Statistik trat er insgesamt 1.800-mal an, und 525 Siege auf der Straße überstrahlen seine 14-jährige Karriere. Eine Leistung, die noch bemerkenswerter erscheint angesichts der überwältigenden Konkurrenz jener Jahre, die zu den denkwürdigsten Auseinandersetzungen führte. Es überrascht keineswegs, dass Merckx, der größte „Kannibale“ der Radsportgeschichte, dieselbe Luft atmete wie Roger de Vlaeminck, Walter Godefroot, Freddy Maertens, Roger Rosiers, André Dierickx, Frans Verbeeck, Patrick Sercu, Jan Janssen, Felice Gimondi, Luis Ocaña, Gianni Motta, Lucien van Impe, Joop Zoetemelk, Bernard Thévenet und Rik van Looy.

Aus den Stationen seiner zahllosen Erfolge ließe sich ohne Weiteres ein schöner Hobby-Radwanderführer zusammenstellen. Von Vilvoorde, wo er am 11. Mai 1965 seinen ersten Sieg feierte, bis Kluisbergen, wo er am 17. September 1977 zum letzten Mal ganz oben stand, könnte der geneigte Radtourist die Weltkulturerbestätten des Radsports entdecken: Poggio, Sormano, Ghisallo, Grammont, Oude Kwaremont, Arenberg, Carrefour de l’Arbre, Stockeu, La Redoute und viele andere mehr. Besonders hervorzuheben wäre dabei Woluwe-Saint-Pierre, der Brüsseler Stadtteil, in dem Merckx aufwuchs und der durch ihn bekannt wurde.

Womöglich lag es daran, dass Belgien verzweifelt auf einen Nachfolger für Sylvère Maes wartete, der 1939 als letzter Belgier die Tour de France gewonnen hatte, dass das Auftauchen von Eddy Merckx das Land mit der Geschwindigkeit eines Waldbrandes in Flammen versetzte. Schnell wurde er zu einer Maschine, die unaufhörlich fuhr und siegte: Tag und Nacht, von einem Land zum anderen, vom 1. Januar des einen bis zum 1. Januar des nächsten Jahres – sein Leben kannte keine Pausen. Ein Start beim morgendlichen Kriterium durch Brüssel, ein Flug nach Lissabon am Mittag und ein Sieg bei einem weiteren Kriterium am Nachmittag, bevor es weiterging nach Mailand, wo am Abend ein Zweier-Mannschaftsfahren auf der Vigorelli-Bahn anstand – das schreckte ihn nicht. Der Journalist Rik Vanwalleghem schrieb einmal, „Merckx, der Entdecker“, habe auf dem Höhepunkt seiner Karriere „zwölfmal die Erde umrundet“. „Auf seine Art ist er ein Raumfahrer in einer Rakete mit menschlichem Antrieb“, so formulierte es Jean-Baptiste Baronian1, und Frans Verbeeck, ein durchaus solider Profi, empfand wohl ähnlich, als er sagte: „Eddy Merckx sorgte für das Spektakel; daneben hatten wir nur eine ganz kleine Rolle zu spielen.“ Peter Post, der sportliche Leiter des Raleigh-Teams, drückte es am Abend von Merckx’ Demonstration beim Rennen von Paris–Roubaix 1973 noch einmal anders aus: „Warum will der belgische Premierminister Vanden Boeynants Mirage- oder F-16-Kampfjets kaufen, wo er doch schon Merckx hat?“2

Nichts kann man weglassen von seinen gigantischen Rennsaisons, die teilweise mehr als 160 Renntage umfasst haben. Man darf sie nicht an einzelnen, wenn auch legendär gewordenen Stationen wie Mourenx-Ville-Nouvelle, Tre Cime di Lavaredo, Mendrisio oder Mexiko festmachen. Im Gegenteil: Man muss sie als Ganzes betrachten, so wie man eine flämische Landschaft von Bruegel oder Rubens betrachtet, mit ihren Bergen, ihrem Schnee, ihren Gewittern, ihren Windböen und ihrem Kopfsteinpflaster.

Wenn Baronian vom „Gott der Götter und der babylonischen Liste seiner Erfolge“ spricht, dann bezieht er sich auf Alfred Jarry, der lange vor der Geburt der Kultfigur die Behauptung aufstellte, dass „der Radsport, diese ganz besondere Sportart, zu den Schönen Künsten zählt“. Der Künstler Merckx erschuf mithin ein zeitloses Werk, ganz wie seine berühmten Vorgänger Binda, Coppi, Bartali, Bobet und Anquetil oder seine Nachfolger Thévenet, Hinault, Indurain, Froome und Pogačar. Dabei bin ich versucht einzuwerfen, dass der belgische Champion eine Sache hatte, die allen anderen fehlte: Er schaffte es, das Fantastische in die reale Welt zu übertragen. „Weil er über eine unveränderliche Eigenschaft verfügte, nämlich einen außerordentlich starken Willen, der sein Lebensprinzip war“, so Radsporthistoriker Pascal Sergent, der zahlreiche Bücher über den belgischen Radsport jenes Jahrzehnts verfasst hat. Dieses Prinzip war bei Merckx so stark, dass sein unfassbarer Wille, sein riesiger Ehrgeiz, ihm geradezu Balzac’sche Züge verlieh. Wie Merckx sind die Helden in Balzacs Werken ehrgeizig, unersättlich und machthungrig. Mal erinnert er dabei an Rastignac, den loyalen und aufrechten Karrieristen und Welteneroberer, mal eher an Vautrin, der von einer unbezwingbaren inneren Kraft angetrieben wird.

Seine Überlegenheit ist dergestalt, dass er in Belgien als gesellschaftliches Phänomen gilt. Robert Janssens, Autor und einst Journalist der Tageszeitung Het Laatste Nieuws, der Merckx’ Karriere eng begleitet hat und als ausgemachter Kenner gilt, stellt die These auf, dass „der Name Merckx Einzug in die Schulen gehalten und damit eine pädagogische Dimension erhalten hat“, was er so erklärt: „Merckx ist Teil unseres nationalen Erbes. Er ist eine Art Prestigebotschafter Belgiens in all seinen Ausformungen, und seine Legende wird von jeder Generation weitererzählt und damit am Leben gehalten. Sie hat die Herzen eines ganzen Volkes erobert.“ Wer Merckx’ Karriere analysiert, betreibt somit immer auch ein wenig sozialhistorische Forschung. In seinem meisterhaften Werk Die Welt von gestern schreibt Stefan Zweig: „Im normalen Zustande ist der Name, den ein Mensch trägt, nicht mehr als das, was das Deckblatt für die Zigarre ist: eine Erkennungsmarke, ein äußeres, fast belangloses Objekt, das mit dem wirklichen Subjekt, dem eigentlichen Ich, nur lose verbunden ist.“ Und weiter: „Im Falle eines Erfolges schwillt nun dieser Name gleichsam an. Er löst sich los von dem Menschen, der ihn trägt, und wird selbst eine Macht, eine Kraft, ein Ding an sich, ein Handelsartikel, ein Kapital, und innerlich wiederum im heftigen Rückstoß eine Kraft, die den Menschen, der ihn trägt, zu beeinflussen, zu dominieren, zu verwandeln beginnt.“ Beispielhaft lässt sich das am Namen Pelés aufzeigen, des ersten Weltstars des Fußballs und größten Spielers aller Zeiten, „der mit seiner bloßen Präsenz einen Krieg stoppen und die US-Amerikaner für den Fußball begeistern konnte“, wie Stéphane Cohen in seiner ausgezeichneten Biografie über den Brasilianer schreibt.

Bei Merckx ist es noch nicht ganz so weit, aber es lässt sich mit Gewissheit sagen, dass der Name des belgischen Triumphators schon lange über einen einfachen Namen hinausgeht. Er taucht in Filmen auf (La Course en tête, von Joël Santoni, zu Deutsch: Das Rennen an der Spitze; Die Sieger – American Flyers, von John Badham; Das Rennrad, von Philippe Harel), Liedern (von Jacques Higelin oder der Gruppe Sttellla) und Comics (Die Abenteuer des Kommissars San-Antonio; Asterix bei den Belgiern); Metrostationen (in Brüssel, an der Linie 5), Schulzentren (in Woluwe-Saint-Pierre) und Radrennbahnen (in Gent) sind nach ihm benannt, ihm zu Ehren wurden Statuen und Denkmäler errichtet, Goldmünzen mit seinem Antlitz geprägt. Auch ist der fünffache Tour-de-France-Sieger mit großer Sicherheit der Fahrer, über den am meisten geschrieben wurde: So finden sich in der französischen Nationalbibliothek 82 französische Werke; das Koers, ein sehr schönes Radsportmuseum im westflämischen Roeselare, beherbergt über 100 Publikationen in niederländischer Sprache über Merckx. Ganz zu schweigen von dem nie dagewesenen Medienrummel, der ihn während und nach seiner Karriere umgab. Wie Rik van Puymbroeck im Magazin Bahamontes berichtet, machte sich der Journalist Lucien Berghmans von Het Laatste Nieuws, der Merckx’ Karriere über 14 Jahre ununterbrochen, Tag für Tag, journalistisch begleitet hatte, am 18. Mai 1978, dem Abend seines Abschieds, „sehr viel mehr Sorgen, was aus ihm werden würde, als über Merckx’ Rückzug“.

Das Ziel dieses Buchs ist es nicht, die Karriere einer historischen Persönlichkeit nachzuerzählen. Das wurde bereits erfolgreich getan. Es soll auch keine Reise ins Privatleben des Stars werden – hier bildet die Biografie des belgischen Politikjournalisten Johny Vansevenant das in jederlei Hinsicht bemerkenswerte und unumgängliche Standardwerk. Nein, in seinen 14 Rennsaisons, die bisweilen romanhafte Züge tragen, lebt und atmet eine ganze Generation, eine ganze Epoche, und die Ausreißversuche des „Kannibalen“ und seine verrückten Aktionen werden in den Erinnerungen seiner Mitstreiter und seiner Gegner wieder lebendig. Hier einige Auszüge, z. B. von Gianni Motta, der bei Mailand–Sanremo regelmäßig den Kürzeren zog: „Er war alles, was wir träumten zu sein und was wir werden wollten. Das Dumme war nur, dass man manchmal das Gefühl hatte, hinter einem Motorrad herzufahren.“ Oder Bernard Thévenets Helfer Jean-Pierre Danguillaume: „Es war wie ein Boxkampf zwischen einem Leicht- und einem Schwergewicht. Hast du schon mal erlebt, dass Cassius Clay von einem Leichtgewicht besiegt wurde?“ Oder Jean-Claude Genty, Teamkamerad von Luis Ocaña: „Bei den Rennen in Belgien haben wir, die Franzosen, uns abgestrampelt, während Eddy Merckx und Roger de Vlaeminck sich kaputtlachten.“ Oder Roger Rosiers, der Sieger von Paris–Roubaix 1971: „Sobald er an die Spitze ging, wusste man, dass etwas passieren würde. Ich habe keinen anderen gesehen, der eine solche Kraft mitbrachte.“

Es sind Gesichter und Persönlichkeiten, die eine bestimmte Atmosphäre wieder aufleben lassen, welche man eine Epoche nennt – in diesem Fall die der Rolling Stones und Bob Dylans, der Apollo 11 und des Brasiliens Pelés, das 1970 zum dritten Mal Fußballweltmeister wurde. All meine Treffen mit diesen glorreichen Radsportlern der Vergangenheit, die auch „die Giganten der Straße“ genannt werden, sei es in Belgien, Italien, den Niederlanden, Spanien oder Frankreich, waren einzigartige Erlebnisse. Sie haben mir echte Kostbarkeiten geschenkt, bisher unbekannte Geschichten, und ein wenig geweint. Das alles können Sie hier nachlesen.

Nur noch eine persönliche Anmerkung vorab: Eddy Merckx war nicht direkt der Auslöser meiner Leidenschaft für den Radsport; ich würde mich nicht als „Merckxist“ bezeichnen. Jahre später habe ich ihn interviewt und eine seiner Ausfahrten mit seinem Sohn Axel begleitet, der darauf brannte, seine Chance zu bekommen (was man im Blut hat, hat man eben im Blut); es folgte ein weiteres Interview mit ihm und seinen Donnerstags-Kumpanen. Aber ich habe ihn niemals fahren sehen, bis ich eines Tages in den Archiven des französischen nationalen Instituts für audiovisuelle Medien (INA) atemberaubendes Bildmaterial, teils in Schwarz-Weiß, entdeckte, das mich faszinierte und in eine andere Zeit katapultierte. So beschloss ich, das wahre Leben des Rennfahrers Eddy Merckx zu ergründen. Im Verlauf meiner Recherchen habe ich mir zwei Fragen immer wieder gestellt: Erstens, ist er der größte Radrennfahrer aller Zeiten? Und zweitens, was zieht einen in den Bann seiner Persönlichkeit? Meine Antwort auf die zweite Frage war immer dieselbe: Ich habe ihn in den alten INA-Filmen stets als nobel, couragiert und würdevoll empfunden. Merckx ist nicht nur ein außergewöhnlicher Siegertyp, er ist eine Institution. Dies ist meine Antwort auf die erste Frage, die von der erdrückenden Mehrheit der von mir gesammelten Äußerungen über ihn bestätigt wird.

  1Dictionnaire amoureux de la Belgique, Jean-Baptiste Baronian.

  2Mannen tegen Merckx, Johny Vansevenant.

LA CIPALE, DIE ERSTE

„Am Tourmalet die Führung zu übernehmen … das ist ein Moment, der fürs Leben zählt. Als Bergfahrer haben wir alle solche Gipfel, die uns stolz machen und uns besondere Emotionen bescheren.“

Martin van den Bossche, Mannschaftsfahrer

Die Tour de France ist der Sockel, auf dem die gesamte Euphorie um Eddy Merckx fußt. Die Tour 1969 stellt die erste persönliche Berührung von Merckx mit der „Grande Boucle“ dar. Sie fasziniert ihn seit seiner Kindheit, als er davon träumte, Stan Ockers, sein großes Vorbild, zu sein. Die Frankreich-Rundfahrt ist die Veranstaltung, die sein Leben am stärksten geprägt hat. So sehr, dass ihn die Kunden des Lebensmittelgeschäfts seiner Eltern Jenny und Jules an der Place des Bouvreuils schon „Tour de France“ nannten, lange bevor er den Spitznamen „Kannibale“ bekam. Sein Auftritt 1969, mit dem ersten seiner fünf Siege, ist der maßloseste von allen. Nach einer Woche ist die Konkurrenz bereits geschluckt. Am Ende der Tour hat der Zweitplatzierte, Roger Pingeon, einen Rückstand von 17:54 Minuten, der Dritte, Raymond Poulidor, 22:13 Minuten. Jan Janssen, der Vorjahressieger, wird Zehnter mit 52:56 Minuten Rückstand. Lucien van Impe kommt bei seiner ersten von insgesamt 15 Teilnahmen 56:17 Minuten nach Merckx ins Ziel. Luis Ocaña hatte nach einem Sturz bereits zu Beginn der zweiten Woche aufgegeben.

Merckx’ Ausbeute ist kolossal: Er erobert das Gelbe Trikot, holt sechs Etappensiege, das Grüne Trikot für die Punktewertung, die Preise für den besten Bergfahrer und den kämpferischsten Fahrer; zudem ist Faema, seine italienische Equipe, als einzige vollständig in Paris angekommen und hat so die Mannschaftswertung gewonnen. Seine Obsession, einen „Kommandotrupp“ mit 20 Typen anzuführen, die ihr Leben für ihn geben würden, ist endlich belohnt worden. Weit weg sind die Zeiten zu Beginn seiner Profikarriere 1965, als er unter den Spötteleien und der Geringschätzung Rik van Looys, seines Teamkapitäns bei Solo-Superia, zu leiden hatten. Weit weg der Egoismus eines Tom Simpson oder eines Roger Pingeon, den Kapitänen der Equipe Peugeot: „Ich erinnere mich nicht, dass in diesen zwei Jahren ein einziger Teamkamerad Führungsarbeit für mich geleistet oder mich abgelöst hätte.“3

Merckx ist gerade 23 Jahre alt, als er herausgefunden hat, was er will: die bestehende Ordnung der Generation van Looy über den Haufen werfen. Sich durchboxen, und sei es mit den Schultern, denn er ist nicht der Typ, der sich hinter einer Fahne einreiht. Niemals wird er akzeptieren, unter den Domestiken zu enden. Seine ersten Auftritte in Italien 1968 bestärken ihn in diesem Standpunkt. Der Giro D’Italia und Paris–Roubaix gehen in jenem Jahr an ihn, der bereits in den Vorjahren die Weltmeisterschaft (1967) und zweimal Mailand–Sanremo (1966, 1967) gewonnen hat. Bei den Klassikern 1969 räumt er dann so richtig ab: Neben einem dritten Sieg bei Mailand–Sanremo holt er sich auch die Flandern-Rundfahrt, Lüttich–Bastogne–Lüttich, Gent– Wevelgem, den Flèche Wallonne und Paris–Nizza als Sahnehäubchen obendrauf. Dass er Guido Reybrouck die Auswahl seiner Mitfahrer überlässt – Männer wie er, treue und solidarische Arbeiter, die ein perfektes Mannschaftsgefüge bilden werden –, erweist sich als gutes Näschen. „Keine Holländer!“, hatte Merckx gewarnt, und die Vorgabe des Chefs war berücksichtigt worden. Mit einem Team bestehend aus zwölf Belgiern starten sie 1968 in das Abenteuer bei italienischen Mannschaften, das sich über neun Jahre hinziehen wird.

Die italienische Leitung des Rennstalls bestückt die erste Faema-Equipe mit sechs ihrer Landsleute. Doch schon bald bilden sich zwei konkurrierende Clans. Die Italiener, die für Vittorio Adorni fahren, und die Belgier, die nur auf Eddy Merckx’ Kommando hören. Adorni hat den Giro 1965 gewonnen und ist Kapitän bei der Spanien-Rundfahrt 1968; Merckx soll der Anführer beim einen Monat später stattfindenden Giro sein. Doch in Spanien läuft nichts wie geplant, und nach einem obskuren Manöver von Adorni fällt das Team auseinander. Martin van den Bossche, den Tourdirektor Jacques Goddet in einem Leitartikel zum „Leutnant der Pässe“ erhoben hatte, beschuldigt den Italiener: „Adorni hat uns verraten. Ich bin Zeuge.“

Wir haben uns mit dem früheren Bergspezialisten mit den „unermüdlichen Beinen“, wie Goddet weiter schrieb, in seinem Haus in Bornem, einer Gemeinde auf halbem Weg zwischen Brüssel und Antwerpen, getroffen. Ich bin in Begleitung von Robert Janssens, der nach vier Jahrzehnten in Diensten von Het Laatste Nieuws Schriftsteller geworden ist. „Bei uns gab es zwei Clans, die nicht miteinander sprachen“, erklärt uns van den Bossche weiter. „Aber wir mussten unseren Job machen und Gimondi im Auge behalten, den großen Rivalen, der für Salvarani fuhr. In Wirklichkeit war alles nur vorgetäuscht. Auf der großen Bergetappe griff Gimondi an, ich hängte mich an sein Hinterrad, aber im selben Moment hielt mich Adorni am Trikot fest, sodass ich nicht vom Fleck kam. Auf diese Weise gewann Gimondi die Spanien-Rundfahrt. Abends, bei Tisch, habe ich Daumen und Zeigefinger aneinandergerieben und auf Flämisch zu Adorni – der die Sprache nicht spricht, aber ich bin sicher, dass er keinen Übersetzer benötigte – gesagt: ‚He, wie viel hast du gekriegt?‘, und dann: ‚Entweder du teilst mit uns, die wir die ganze Zeit für dich gefahren sind, oder es wird nicht gut ausgehen, wenn ich Eddy erzähle, dass du diese Vuelta verkauft hast.‘ Sogleich ging unser sportlicher Leiter, Marino Vigna, dazwischen, zeigte mit dem Finger auf mich und versuchte, mir Angst zu machen: ‚Ich kann dir sagen, dass du dir den nächsten Giro ganz sicher vor dem Fernseher anschauen wirst.‘ Da aber Eddy derjenige war, der bestimmte, war ich beim Giro 68 trotzdem dabei, und er muss sich gesagt haben, dass er mit mir eine gute Wahl getroffen hatte, als wir auf dem Weg nach Tre Cime di Lavaredo in einen Schneesturm gerieten.“

Zu diesem Zeitpunkt ahnt Merckx noch nicht, dass er 1969, bei der nächsten Ausgabe des Giro, den er mit seiner Stärke förmlich erdrücken wird, Opfer der größten Ungerechtigkeit seines Lebens werden wird. Nach zwei Wochen wird er in Savona wegen einer positiven Dopingprobe auf das Stimulans Fencamfamin disqualifiziert und für einen Monat gesperrt. „Das ist der größte ‚Zufall‘, der mir je begegnet ist“, seufzt van den Bossche, der bei dieser Italien-Rundfahrt das Zimmer mit dem Träger des Rosa Trikots teilte. „Wenn Sie wüssten, wie diese Kontrollen nach der Ankunft abliefen! Es war eine Art ambulantes Labor, in dem die Fans ein und aus gingen, wie sie wollten. Manchmal war ein gutes Dutzend Leute da, die dort nichts zu suchen hatten. Die Urinproben wurden nicht einmal vor unseren Augen versiegelt. Wenn da einer böse Absichten hatte, konnte er alles Mögliche in die Probenflasche mischen. Savona war in meinen Augen ein Rachefeldzug.“ „La Bomba di Savona“ wird sogar im belgischen Parlament debattiert. Letzten Endes wird Merckx’ Sperre wegen mehrerer Verfahrensfehler aufgehoben, und am 28. Juni 1969 steht er in Roubaix am Start seiner ersten Tour de France.

Bei Faema steht auf der Teilnehmerliste nur ein einziger italienischer Fahrer: Pietro Scandelli. Die Lektion der Vuelta 1968 ist gelernt worden. Bei den acht anderen handelt es sich um waschechte Flamen, die wie dereinst die Ritter der Tafelrunde einen eisernen Pakt geschlossen haben. Mit einer makellosen Leistung laugen Mintjens, Reybrouck, Spruyt, Stevens, Swerts, Vandenberghe, van Schil und van den Bossche das Fahrerfeld drei Wochen lang aus. „Bei Faema hatte jeder eine genaue, unveränderliche Aufgabe. Improvisationen oder Überraschungen lagen nicht drin. Meine Spezialität war der Berg“, erklärt Martin van den Bossche. Dennoch tut sich intern ein Riss auf, der lange Zeit einen Schatten auf Merckx’ erdrückende Dominanz bei dieser Tour werfen wird.

Werfen wir stattdessen einen Blick auf die Straße. Es ist der 15. Juli 1969. Am Anstieg des Tourmalet brennt die Sonne gnadenlos auf den Rücken der Fahrer. Über 50 Jahre liegen zwischen dieser Pyrenäen-Etappe und unserem Besuch bei Martin van den Bossche an einem dieser kalten, regnerischen Morgen, die noch nie einen Flamen davon abgehalten haben, sich auf den Sattel zu schwingen. Die zahlreichen Stunden, die er über den Lenker gebeugt saß, haben seinen Rücken nicht krumm werden lassen – ebenso wenig wie die 70-Stunden-Wochen, in denen er sein Fliesengeschäft aufbaute, das sich heute auf 18.000 Quadratmeter erstreckt und das von seinem Sohn geführt wird. Schnell kommt unser Gespräch auf die Tour 1969.

Nachdem Raymond Delisle am Vortag, dem französischen Nationalfeiertag, im Trikot des französischen Meisters die Etappe gewonnen hatte, übernimmt Faema wieder das Ruder. Am Fuße des Tourmalet setzt sich van den Bossche an die Spitze. Ohne sich umzudrehen, weiß er, dass Merckx in seinem Windschatten fährt, und wie gewohnt erhöht er Kehre für Kehre das Tempo, immer weiter, „bis ich von der kleinen Gruppe von Ausreißern niemanden mehr sprechen oder jammern hörte. Da bemerkte ich, dass wir nur noch zu zweit waren, Eddy und ich. Wir näherten uns der Passhöhe, ich würde den Tourmalet als Erster passieren – ein Moment, der fürs Leben zählt. Als Bergfahrer haben wir alle solche Gipfel, die uns stolz machen und uns besondere Emotionen bescheren. Bei mir ist es der Tourmalet. Ich dachte schon, dass ich ihn bezwungen hätte, als Eddy 200 Meter vor dem Banner für die Bergwertung ausscherte und mich, ohne mich eines Blickes zu würdigen, stehen ließ und in Windeseile auf der Abfahrt verschwunden war.“

Enttäuscht muss van den Bossche abreißen lassen, eine kleine Gruppe Verfolger nimmt ihn auf, während das Gelbe Trikot einem der glorreichsten Kapitel seiner Karriere entgegenrast. „Aber wenn auch nur Wahn, so war es doch ein wundervoller und edler Wahn“4, hätte der Schriftsteller Stefan Zweig sich begeistern können, wäre er Zeuge dieses waghalsigen Coups 140 Kilometer vor dem Ziel geworden. „Merckxissimo“, jubiliert Jacques Goddet am darauffolgenden Tag in der Zeitung L’Équipe und wagt erstmals einen Vergleich mit dem „Campionissimo“, dem unvergesslichen Fausto Coppi: „Was Merckx gerade vollbringt, habe ich noch nie zuvor gesehen. Selbst zu seiner großen Zeit ist Fausto Coppi nie eine solche Tour gefahren. Merckx wird als einzigartig in die Annalen des Radsports eingehen. Dies ist meine 35. Ausgabe, und bis heute habe ich warten müssen, um den idealen Chef des Pelotons zu entdecken. Wie viele Generationen werden folgen, bis ein neuer Merckx auftritt? Das einzig Missliche an einem solchen Phänomen ist, dass er alle anderen zu Statisten degradiert. Sie sind die Ersten in der Geschichte, die auf einen solchen in der Historie des Radsports beispiellosen Charakter stoßen. Merckx dominiert seine Generation nicht nur, er ist einfach eine Klasse für sich.“

In Mourenx-Ville-Nouvelle kommt die erste Verfolgergruppe um Martin van den Bossche mit einem Rückstand von 7:46 Minuten an. „Ich habe den zweiten Platz Dancelli überlassen, für 20 Schlauchreifen“, lächelt der Flame.

Abends im Hotel treibt ihn die Wendung der Ereignisse des Tages immer noch um. Wie er so vor sich hin grübelt, kommt er am Zimmer von Merckx vorbei. Ohne lange nachzudenken, klopft er an. Er sieht sich noch heute vor sich, wie er zu ihm sagt: „Als Domestik, der ich bin, würde ich heute eine kleine Geste von dem großen Champion, der du bist, erwarten.“ Doch dann denkt er noch einmal über die Vorgänge der letzten Tage nach, bis er schließlich versteht: Einige Tage zuvor hatte der Italiener Marino Basso, ein Molteni-Sprinter, ihn wissen lassen, dass sein Chef Pietro Molteni, der „Salamikönig“, van den Bossche in sein Team holen wolle für ein Gehalt, das viermal höher liege als das bei Faema.

„Aus Aufrichtigkeit habe ich Eddy davon erzählt. Er meinte nur, dass es eine Tour de France zu gewinnen gebe, aber er war gekränkt, das habe ich gemerkt.“ Van den Bossche versichert