Mist, die versteht mich ja! - Florence Brokowski-Shekete - E-Book

Mist, die versteht mich ja! E-Book

Florence Brokowski-Shekete

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Beschreibung

 "Ein Mensch mit einer anderen Hautfarbe muss einfach woanders herkommen, die Sprache nicht verstehen und auch sonst kulturell anders gestrickt sein. Anders kann es einfach nicht sein, sonst würde das Weltbild einiger erschüttert." Die kleine Florence, geboren in Hamburg als Kind nigerianischer Eltern, wird Ende der 60er-Jahre in Buxtehude von einer alleinstehenden Frau in Pflege genommen. Mit neun Jahren nehmen die Eltern sie mit nach Lagos, in ein Land, dessen Sprache sie nicht spricht, dessen Kultur ihr fremd ist, zu einer Familie, die sie nicht kennt. Durch das beherzte Eingreifen einer Lehrerin schafft sie es zurück nach Deutschland und macht dort ihren Weg … In ihrer Autobiografie beschreibt die Autorin mit einer guten Prise Humor die Erlebnisse einer Schwarzen Frau in einer weißen Gesellschaft, den schmalen Grat zwischen witzigen Anekdoten und unschönem Alltagsrassismus, zwischen der Herausforderung, Brücken zu bauen, und der Grenzen zu setzen, zwischen Integration und Identitätsfindung, zwischen Beruf und dem Muttersein als Alleinerziehende – kurz: die Lebensgeschichte einer beeindruckenden Frau.

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Florence Brokowski-Shekete

Mist, die versteht mich ja!

Aus dem Leben einer Schwarzen Deutschen

Inhalt

Vorwort

Wie alles begann

Meine Eltern

Immer wieder Freitag

Nigeria – wo liegt das überhaupt?

Das überlebe ich hier nicht!

Eine andere Welt – meine deutsche Enklave

Täglich Transit und zurück

Zurück in die Ferne

Mein schönster Traum

Eine normale Jugend

Das Ende meiner Ankunft?

Keine ganz normale Jugend

Abitur, und dann?

Willkommen im richtigen Leben

Throwback

Wachsende Flügel

Tragende Schwingen

Abflug!

Angekommen?

Zurück in die Zukunft

»Sowas wie Sie hatten wir hier noch nicht!«

Und jetzt?

Die Sache mit der Not und der Tugend

Abschied

Heimatlos

Back to the roots

Die Schwarze Hexe

Und heute?

Epilog

Danksagung

Bildanhang

Für meine Mama und mein Kind

Vorwort

»Wo kommen Sie eigentlich her?«

Das ist wohl die am häufigsten gestellte Frage in meinem Leben – gefühlte mehrere Millionen Mal – in Wirklichkeit dann doch nur ein paar Tausend Mal. Dennoch, oft genug – in Cafés, bei Bewerbungsgesprächen, am Rande von Sitzungen, auf Feiern, beim Einkaufen – auf diese Frage ist Verlass – bis heute. Sie ist stets der Garant für amüsante Begegnungen, zumindest für mich.

Woher ich komme? Meist antworte ich damit, meinen aktuellen Wohnort zu nennen. Mein Gegenüber, sichtlich unzufrieden mit dieser Auskunft, setzt dann an, die Frage zu präzisieren. »Nein, wo Sie wirklich herkommen.« Ah ja, ich verstehe und nenne meine Heimatstadt – Buxtehude – die kenne er doch, oder? Mein Gegenüber, merklich nervös, fast schon peinlich berührt, jedoch entschlossen, nicht aufzugeben, setzt nochmals an: »Nein, ursprünglich.« Nun nenne ich meine Geburtsstadt – Hamburg – und bringe ihn vollends aus der Fassung. Nur die Wenigsten nennen das Kind beim Namen, trauen sich das zu fragen, was sie doch so brennend interessiert, nämlich, wo meine Vorfahren herkommen, warum meine Aussprache so gar nicht mit meinem Äußeren harmoniert, kurz: warum ich Schwarz bin, warum ich Deutsch spreche. Warum fällt es den Menschen nur so schwer, warum ist es ihnen geradezu peinlich, genau das zu fragen, was sie doch so dringend wissen möchten? Bei vielen von ihnen habe ich den Eindruck, als kämpften sie mit einem selbst auferlegten Benimmkodex, der ihnen verbietet, solche Fragen zu stellen. Gleichzeitig wollen sie jedoch die Antwort wissen, verspüren eine Neugierde und versuchen diese zu tarnen, indem sie ungelenk, fast schon verschämt, diese Frage in ein wissenschaftliches Forschungsmäntelchen hüllen. Entweder erzählen sie mir von Auslandssemstern, die sie in Afrika verbracht haben, berichten begeistert, dass Afrikanisch ohnehin eine sehr schöne Sprache sei oder fragen mich übertrieben interessiert, ob ich afrikanisch kochen könne. Dass Afrika kein Land ist, Afrikanisch keine Sprache und man ebenso wenig afrikanisch, wie europäisch kocht, behalte ich zunächst für mich. Dann ertappt, verstricken sie sich in Erklärungen, die die Situation für mich nur noch amüsanter, für sie jedoch noch unbehaglicher werden lässt.

Ich habe den Eindruck, dass das, was man in Deutschland auch im 21. Jahrhundert als normal ansehen möchte, noch lange nicht normal ist. Was auch immer das Wort »normal« in diesem Zusammenhang bedeuten möge. Deutschsein wird noch immer mit einer weißen Hautfarbe verbunden und ausschließlich auf das Äußere reduziert. Dass es zwischenzeitlich Millionen von Menschen gibt, denen man ihr Deutschsein zwar nicht ansieht, eben weil sie nicht »deutsch« aussehen, sich aber der deutschen Kultur nicht nur verbunden, sondern zugehörig fühlen, ist im Innersten vieler Menschen, die sich als »biodeutsch« verstehen, bei aller Weltoffenheit, noch immer nicht restlos angekommen. Nicht aus einer Böswilligkeit heraus, zumindest nicht bei jenen, die sich glaubwürdig als weltoffen, kosmopolitisch und zugewandt bezeichnen und auch so leben.

Mein Deutsch ist lupenrein, der norddeutsche Akzent, inzwischen durch einen leicht badischen Singsang gefärbt, ist deutlich herauszuhören. Dennoch werden mir deutsche Idiome und einzelne Worte extra erklärt, verbunden mit der Frage, wie diese denn in »meiner« Sprache hießen. Dass ich mit meinem Gegenüber bereits über einen längeren Zeitraum problemlos eine Konversation in deutscher Sprache geführt habe, scheint dieser überhört zu haben. Die visuelle Wahrnehmung hat die akustische überlagert, im wahrsten Sinne des Wortes »ausgeschaltet«. Ein Mensch mit einer anderen Hautfarbe muss einfach woanders herkommen, die Sprache nicht verstehen und auch sonst kulturell anders gestrickt sein. Anders kann es nicht sein, sonst würde das Weltbild einiger erschüttert, egal, welchen Hintergrund sie haben. Erstaunlicherweise wurden mir in den letzten Jahren die aberwitzigsten Fragen von den vermeintlich gebildetsten Menschen gestellt. Denn eines scheinen diese Leute zu vergessen: Ein akademischer Titel macht aus einer Grenzüberschreitung keinen wissenschaftlichen Diskurs. Anzunehmen, dass eine Schwarze Frau in Begleitung eines weißen Mannes ein Urlaubsmitbringsel sein muss, ist ebenso absurd, wie zu glauben, dass er sie bezahlt habe. Ebenfalls ist die Vorstellung, dass viele vermeintlich ausländische Menschen bereits in der zweiten oder gar dritten Generation in Deutschland leben, vielen dieser Leute fremd. Die ehrliche Antwort wird nicht gehört, nicht akzeptiert, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Oder vielleicht sogar umgekehrt? Niemand mit dunkler Hautfarbe kommt »einfach« mal so aus Hamburg und schon gar nicht aus Buxtehude, das geht einfach nicht. Als ich die Frage, zu wessen Beerdigung ich führe, mit: »Zu der meines deutschen Onkels«, beantwortete, wurde ich von einem Fremden korrigiert: »Aha, ein Bekannter, ein quasi Onkel also.« Mein Gegenüber erklärte mir meine Familienverhältnisse, denn wie könnte ein weißer alter Mann mein Onkel sein?! Prinzipiell ist gegen ein Interesse an meiner Person nichts einzuwenden, zeugt es doch von einer gewissen Neugier, die den Weg zu einer Offenheit bahnen kann. Diese Fragen nicht zu beantworten, nicht zu erläutern, halte ich daher für ungeschickt. Seine Antworten jedoch jedes Mal rechtfertigen zu müssen, ist mühsam und ermüdend.

Kinder sollen fragen, nur so lernen sie. Soll das für Erwachsene nicht gelten? Ist es beleidigend, wenn eine Oma die Erlaubnis für ihr Enkelkind einholt, die braune Haut einmal anfassen zu dürfen, weil das Kind sich frage, ob diese abfärbe? Würde ein »Nein« dem Kind helfen, diese Frage zu »begreifen«? Natürlich können diese Fragen, besonders von wildfremden Menschen, eine anmaßende Grenzüberschreitung bedeuten. Es ist nicht immer lustig, im Supermarkt zwischen Obst und Gemüse eine Kurzfassung der eigenen Biografie zu präsentieren, die dann womöglich auch noch hinterfragt wird. Wie geht man damit um, wenn das Interesse so weit reicht, dass einem Menschen ungefragt in die Haare fassen, weil sie wissen möchten, wie sich diese anfühlen?

Neugier, die von einem ehrlichen Interesse zeugt, macht Freude und ich begegne ihr mit einer ebensolchen Zugewandtheit. Grenzüberschreitungen jedoch sind inakzeptabel.

Im Normalfall kommen wir ins Gespräch und mein Gegenüber lauscht gebannt und will mehr wissen. Doch nicht immer reicht die Zeit, sodass es am Ende oft heißt: »Mensch, Sie sollten ein Buch schreiben!«

Ein Buch schreiben? Ist meine Geschichte denn wirklich so spannend? Ein Buch über mich, meine Herkunft, meinen Vater, meine Mutter und meine Mama? Über die Tatsache, Einzelkind mit vier Geschwistern zu sein? Über die Alltagserlebnisse in Deutschland als Mensch, Mädchen, Frau mit afrikanischer Herkunft? Darüber, dass diese Erlebnisse nicht immer etwas mit Alltagsrassismus zu tun haben, es diesen aber durchaus gibt? Darüber, wie diese Erlebnisse gehört, empfunden, aufgenommen und verstanden werden können, aber nicht müssen? Darüber, dass es manchmal einfach eines Perspektivwechsels bedarf, um zu verstehen, was der andere, warum sagt? Darüber, wie es sich anfühlt, aufgrund einer anderen Hautfarbe optisch immer herauszustechen, immer anders zu sein und eigentlich nie wirklich dazuzugehören? Darüber immer besser und fleißiger sein zu müssen, als die anderen, um wenigstens als annähernd ähnlich qualifiziert angesehen zu werden? Dies jedoch schon als normal zu empfinden und nicht mehr zu spüren? Darüber, stets adrett gekleidet sein zu müssen, um als halbwegs ordentlich angezogen zu gelten? Darüber, es gewohnt zu sein, beruflich stets über die eigenen Grenzen zu gehen, ohne wahrzunehmen, dass das nicht gesund ist? Sich gar eine »Karriere« anzumaßen?

Dass der Begriff »Neger« schon lange vor der Political Correctness nicht mehr salonfähig war, ist jedem bekannt. Auch der Sarotti-Mohr war noch nie wirklich niedlich. Und die Erklärung »Wir meinen es ja nicht böse, aber so sagt man bei uns nun mal« war schon immer beliebig.

Ich könnte schreiben, dass es dennoch verständlich ist, dass Jahrhunderte lang benutzte Begriffe nicht mit einem Fingerschnippen aus dem Sprachgebrauch und den Köpfen verschwinden. Ich könnte beschreiben, dass all dies nicht schwächt, sondern ganz im Gegenteil stärkt. Und, dass fortwährendes Brückenbauen eine Last sein kann, aber nicht sein muss und durchaus eine Bereicherung darstellt.

Und ich könnte beschreiben, wie es mir gelungen ist, die Dinge so zu sehen, wie ich sie sehe und zu welchem Preis.

Ein Buch? Ja, warum eigentlich nicht!

Wie alles begann

Rückblickend war es eine schöne Kindheit, behütet, idyllisch, warmherzig. Diese Frau – sie sah anders aus als ich, ihre Haut war hell – war liebevoll, sie beschützte mich, sorgte für mich, half mir auf, wenn ich hingefallen war, spielte mit mir, wenn unten im Hof kein anderes Kind war. Bei ihr fühlte ich mich wohl. Es heißt, ich habe sie bereits zwei Stunden nach meiner Ankunft »Mama« genannt.

Meine Mama – das ist sie bis heute, meine Herzensmama – ich hatte sie sehr lieb. Und dennoch war immer klar, meine Mutter war sie nicht.

Ich hatte Vater und Mutter, schließlich war ich kein Findeloder Waisenkind. Meine Eltern, mit denen alles begann, die verantwortlich dafür waren, dass es mich, meine Geschichte überhaupt gibt.

Es muss an einem typischen Februarnachmittag gewesen sein, 1969 – stürmisch, trübe, nasskalt. Ein Ehepaar westafrikanischer Herkunft, Mitte, Ende Zwanzig, sucht in einer niedersächsischen Hansestadt eine Bleibe für ihre kleine Tochter. Sie sprechen bereits etwas Deutsch, gut genug, um sich verständigen zu können.

Sie waren beide nach Hamburg gekommen, um dort zu studieren, er vor vier, sie vor drei Jahren. 1967 bekamen sie ihr zweites Kind, ihre zweite Tochter, die erste hatten sie in ihrer westafrikanischen Heimat, Lagos in Nigeria, bei Verwandten zurückgelassen. Nun hatten sie also noch ein Kind, in Deutschland, in einem für sie fremden Land. In einem Land, in dem sie ohne Verwandte und familiäre Unterstützung zurechtkommen mussten. Als Studierende war es für sie schwer, sich um dieses Kind zu kümmern. Sie suchten immer wieder nach Möglichkeiten, ihr Baby unterzubringen. Nach Pflegestellen, die gegen Geld auf es aufpassten. Wenn sie eine Pflegestelle gefunden hatten, waren sie erst mal zufrieden, sie konnten sich in Ruhe ihrem Studium widmen. Doch sollte dieser Zustand nie von Dauer sein, nach einer Weile holten sie ihr Kind von der Pflegestelle ab und suchten eine neue und wieder eine neue und wieder. Warum das so war, sollte sich erst viele Jahre später klären.

Nun also in Niedersachsen, genauer gesagt, in Buxtehude. Meine Eltern suchten erneut eine Bleibe für ihre knapp zwei Jahre alte Tochter Florence – für mich. Natürlich war das nicht einfach. Wer ist bereit, rund um die Uhr ein fremdes Kind bei sich aufzunehmen, sich um es zu kümmern, als sei es das eigene? »Wir suchen eine Frau, die unserer Tochter Liebe gibt«, sollen sie gesagt haben. Natürlich war ihnen klar, dass niemand unentgeltlich ein Kind bei sich aufnimmt. Liebe hin oder her – wer ist schon derart altruistisch? In Buxtehude trafen sie auf den Pfarrer einer evangelischen Kirchengemeinde und berichteten ihm von ihren Sorgen. Warum sie gerade einen Pfarrer und nicht einfach das Jugendamt aufsuchten? Nun, sie waren gläubige Menschen, Baptisten. Sie berichteten dem Pfarrer von ihrem bisherigen Leben, davon, dass sie nach Deutschland gekommen seien, um zu studieren. Es war ihre Chance auf Bildung und auch auf die Bleibeberechtigung. Sich nur um das Kind zu kümmern, war ihnen aufgrund ihres Aufenthaltsstatus in Deutschland nicht möglich. Eine Alternative gab es nicht, aber wohin mit dem Kind?

Der Pfarrer hörte ihnen zu, er verstand ihre Not. Aber konnte er ihnen helfen? Wer würde Ende der Sechzigerjahre ein Schwarzes Kind bei sich aufnehmen und das in einer Stadt, in der es bis zu jenem Zeitpunkt so gut wie keine dunkelhäutigen Menschen gab? Wer wäre bereit, sich anstarren zu lassen, sich den Fragen der Mitmenschen zu stellen? Dem Kind müsste erklärt werden, warum es anders aussähe als alle anderen Kinder in der Umgebung, im Kindergarten, in der Schule. Das Kind müsste beschützt werden, wenn es aufgrund seiner Hautfarbe gehänselt, heute würde man sagen »gemobbt«, werden würde. Im Verwandten- und Bekanntenkreis gäbe es Diskussionen. Der Begriff »Neger« ist kränkend, würde das jeder verstehen? Die Person, die dieses Kind aufnähme, stünde selbst im Fokus. »Warum machst du das? Gib es nicht genug weiße Kinder, die ein Zuhause suchen?« Wer, egal und wenn auch in Gottes Namen, wollte sich freiwillig Ende der Sechzigerjahre diesen Stress antun? So viel Geld konnte eine solche Aufgabe gar nicht einbringen, dass man diese Summe als eine Art Entschädigung betrachten könnte für all das, was der Alltag mit Kind und dazu einem Schwarzen Kind so mit sich brächte.

Eines musste auch diesem Pfarrer sehr schnell klar gewesen sein: Wegen des Geldes wird dieses Kind niemand bei sich aufnehmen. Geld, das die Eltern des Kindes ohnehin nicht besaßen, wie sich später noch herausstellen sollte.

Zunächst war er ratlos, wollte das Ehepaar mit der Kleinen wegschicken. Doch dann hatte er eine Idee. Es gab in jener Kirchengemeinde eine Frau, die sich seit Jahrzehnten ehrenamtlich engagierte. Sie führte Kindergottesdienste und Kinderstunden durch. Sie sang im Kirchenchor und nahm an Bibelstunden teil. Der Glaube spielte eine große Rolle in ihrem Leben, sie lebte förmlich in und für die Kirche. Zeitweise hatte sie die ehemaligen Pfarrersleute bei der Betreuung ihrer Kinder unterstützt. Sie liebte Kinder und fühlte sich wohl in ihrer Nähe. Außerdem hieß es, dass sie »Schwarze Kinder so niedlich fände«. Dieser Frau wollte er die Not des Schwarzen Ehepaares schildern. Er wollte nichts unversucht lassen.

Doch wer war diese Frau?

Mitte Vierzig, selbstständige Schneiderin, alleinstehend, kinderlos, eine Vertriebene aus Westpommern eine Geflüchtete, wie es heute heißen würde. Sie galt als sehr korrekt, sprach geschliffenes Hochdeutsch. Sie wusste, wie es sich anfühlte, in der Fremde zu sein, ein neues Zuhause suchen zu müssen. Sie wusste, wie es sich anfühlte, trotz weißer Hautfarbe anders auszusehen, aufgrund eines anderen Kleidungs- oder Haarstils angestarrt zu werden, nicht dazuzugehören und trotzdem dort leben zu müssen – dort leben zu wollen. Sie war dankbar, damals, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Buxtehude ein neues Zuhause gefunden zu haben, Menschen, die ihr wohlwollend begegneten, ihr, einer Vertriebenen aus Stettin. »Wir mussten unsere Stadt verlassen, mussten fliehen und hatten nichts weiter als einen Koffer mit ein paar persönlichen Sachen und der Kleidung am Leib«, erzählte sie später. »Meine Eltern wollten nicht weg, doch ich wusste, dass wir dort, in Stettin, in unserer Heimat, nicht mehr bleiben konnten. Die Stadt wurde besetzt und wir, wir gehörten zum Feind.« Sie berichtete später oft, wie schwer es für sie als junge Frau von 21 Jahren gewesen sei, ihre Eltern und die ältere Schwester davon zu überzeugen, Stettin verlassen zu müssen, in einen Zug zu steigen, von dem niemand wusste, wohin er führe. Schon damals habe ihr der Glaube Halt gegeben, habe ihr, wie sie sagte, geholfen, die dramatischen Situationen durchzustehen.

Diese Hilfe, das Wohlwollen, die Freundlichkeit, ja, auch die Nächstenliebe, die sie damals erfahren habe, wollte sie zurückgeben, wo immer es ihr möglich war. Sie war hilfsbereit, kümmerte sich gerne um andere Menschen und stellte dabei ihre eigenen Bedürfnisse stets zurück. So zu leben, schien ihr zu gefallen, sie zufrieden zu machen und ihr einen Sinn im Leben zu geben.

Diese Frau wollte der Pfarrer also fragen – er war überzeugt, wenn jemand helfen könnte, dann sie.

Natürlich weiß ich dies alles nur aus Erzählungen – Erzählungen von meiner Mama und anderen Menschen, die unsere Geschichte begleitet haben. Und natürlich erzählt sie jeder aus seiner Perspektive. Meine leiblichen Eltern haben kaum über diese frühe Phase meiner Kindheit gesprochen. Emotionalität schien ihnen fremd. Andererseits: Möglicherweise waren sie emotional, möglicherweise blieb mir ihre Art der Emotionalität fremd.

Der Pfarrer stellte den Kontakt zwischen meinen Eltern und dieser Frau her. Ja, sie fand Schwarze Kinder tatsächlich niedlich. Aber sollte sie sich das wirklich antun? »Was würden die Leute sagen?« Diese Frage sollte zu einer der Leitfragen meines Lebens werden. »Was würden die Leute sagen?« War es jedem klar, dass dieses Kind »nur« ein Pflegekind war und nicht ein uneheliches Kind, weil sie sich wohlmöglich von einem Schwarzen Mann hat schwängern lassen und dieser sie dann schnöde hatte sitzenlassen? Was würden ihre Kundinnen sagen, auf die sie angewiesen war, für die sie schneiderte, um Geld zu verdienen? Wie käme sie mit den Eltern dieses Kindes zurecht, Menschen aus einem völlig anderen Kulturkreis? Menschen, die zwar der deutschen Sprache mächtig waren und doch nicht dieselbe Sprache sprachen wie sie. Schließlich geht es nicht nur darum, eine Sprache zu sprechen, sondern auch die Kultur zu begreifen, die es ermöglicht, die Sprache zu fühlen. Hatten sie diese begriffen? Würden sie einander verstehen? Nicht nur rational, sondern auch emotional? Und warum hatten sie derart oft die Pflegestelle gewechselt? Warum hatten sie diesem kleinen Kind derart oft einen Wechsel der Bezugspersonen zugemutet? Ist das Kind nicht erzogen und deshalb schwierig oder sind es etwa sie, die Eltern, die schwierig sind?

Meine Mama hat später oft mit mir darüber gesprochen und mir berichtet, dass ihr die Entscheidung, mich aufzunehmen, nicht leichtgefallen sei. Nicht, weil sie mich nicht »niedlich« fand, sondern, weil sie nicht wusste, was auf sie zukäme, als weiße Frau mit einem Schwarzen Kind. Ich kann sie gut verstehen.

Ein Sonntagnachmittag im Februar 1969 also – vereinbart war Sonntag bis Freitag, dann würden sie ihre Tochter wieder abholen. Ausgemacht war auch ein Pflegegeld.

Später erzählte Mama, sie hätten mich für die Jahreszeit viel zu dünn angezogen, die Kleidung in meinem Koffer sei nahezu unbrauchbar gewesen. Ich soll einen müden, zurückhaltenden, verschüchterten und kränklichen Eindruck gemacht haben, »spack« nannte Mama diesen Zustand immer.

An jenem Sonntagnachmittag, als meine Eltern mich bei ihr abgaben, stand ich, laut meiner Mama im Flur, mit einer Puppe im Arm und sagte nichts. Was soll ein Kind mit knapp zwei Jahren auch sagen, in einer für es fremden Umgebung? Aber sie hatte vorgesorgt, hatte ihre Freundin gebeten, mit ihrer kleinen Pflegetochter ebenfalls zu kommen, in der Hoffnung, dass mir der Abschied von meinen Eltern dann leichter fiele. Mama erzählte mir später, dass ich nach zwei Stunden noch immer im Flur stand, nichts sagte, aber weinte. Sie konnte sehr gut mit Kindern umgehen und dennoch sei ihr diese Situation fremd gewesen. Hätte ich wenigstens etwas gesagt, wäre es für alle Beteiligten leichter gewesen, aber so. Sie war sich sicher, es müsse das Heimweh sein, das mir zu schaffen machte. Verstand ich doch nicht, warum mich meine Eltern bei diesen fremden Menschen zurückließen. Und das zum wiederholten Mal. Zurückgelassen, wie einen Gegenstand, mit dem man, zumindest vorübergehend, nichts anzufangen wusste. Sie wusste sich zunächst nicht zu helfen und tat kurzerhand das, was wohl in dem Moment das Nächstliegende war – sie wechselte mir die Windel. Nein, ich war mit knapp zwei Jahren noch nicht sauber, was jedoch nicht zu meinem größten Problem im Leben werden sollte. Ein frühkindliches Trauma habe ich jedenfalls nicht davongetragen. Danach, so berichtete Mama weiter, sei buchstäblich alles wieder in trockenen Tüchern gewesen. Es gab etwas zu essen und ich ließ es mir wohl auch schmecken, spielte mit der kleinen Nachbarin und sprach mein erstes Wort an diesem Tag: »Mama«.

Dass ein knapp zweijähriges Kind, auch ein afrikanisches, das Wort »Mama« kennt, war auch zu jener Zeit kein Zeichen von außergewöhnlicher Intelligenz oder einer drohenden Hochbegabung, sondern ganz normal. Trotzdem fing meine neue Mama an, sich Sorgen zu machen, sie glaubte, ich würde bald meine Eltern vermissen und sah die große Herausforderung vor sich, diesem Kind über seinen Kummer hinwegzuhelfen. Doch der Kummer ließ auf sich warten. Weiterhin nannte ich sie »Mama«. Und zwar immer dann, wenn ich etwas von ihr wollte oder sie nicht im Zimmer war. Dann rief ich »Mama« und irgendwann war ihr klar, dass damit wohl nur sie gemeint sein konnte.

Mama war das zunächst gar nicht recht, schließlich hatte ich leibliche Eltern – eine Mutter und einen Vater. Sooft mir meine Mama das erklärte, sooft soll ich sie mit großen Augen angeschaut und erneut »Mama« genannt haben. Meine Eltern wollten in ein paar Tagen, am Freitag, wiederkommen, um mich über das Wochenende abzuholen, so war es vereinbart. Wie würden sie reagieren, wenn sie hörten, dass ich diese fremde Frau »Mama« nannte? »Tante« sollte ich sie nennen, damit es bei meinen Eltern nicht zu Irritationen käme. Das übte sie mit mir, in der Hoffnung, dass ich es bis zum Freitag gelernt hätte.

Ob sie dieses nigerianische Ehepaar sympathisch fand? Sie waren höflich und freundlich, schienen dankbar, dass sie nun wieder jemanden für ihr Kind gefunden hatten. Es war klar, dass sie finanziell nicht auf Rosen gebettet waren, aber sie versicherten, dass sie die vereinbarte Summe pünktlich zahlen würden. Sie sprachen gut Deutsch. Mein Vater etwas besser als meine Mutter, er war aber auch bereits ein Jahr länger in Deutschland als sie. Ohnehin schien er locker und humorvoll zu sein, sie eher ernst. Beide wussten genau, was sie wollten.

Die Tage vergingen und ich lebte mich gut ein. »Tante Irmgard« – so hieß die Frau, die ich weiterhin »Mama« nannte – packte Freitag früh meine Kleidung in meinen Koffer. Während der Woche hatte sie das eine oder andere Kleidungsstück durch ein neues ergänzt. Als Schneiderin fiel ihr das nicht schwer. Die neuen Kleidungsstücke behielt sie jedoch unter Verschluss, nur die mitgebrachten Teile legte sie zurück in den Koffer. Meine Eltern sollten bald da sein, um mich über das Wochenende zu sich zu holen – wie vereinbart. Mama war sich sicher, dass die Wiedersehensfreude für mich, wenn sie erstmal da wären, bestimmt groß sein würde. Welches Kind freut sich nicht über die Ankunft seiner Eltern? Für Mama war es überraschend, wie gut ich mit meinem Heimweh umzugehen schien. An dem Freitag wartete sie, hatte sich für das Wochenende bereits etwas vorgenommen. Sie wartete und sagte mir immer wieder, dass sie jeden Moment kämen, aber sie kamen nicht – nicht am Vormittag, nicht am Mittag. Sie kamen nicht am Nachmittag, und auch am Abend klingelten sie nicht. Der Freitag verging, es wurde Samstag – und sie kamen nicht. Sie riefen auch nicht an, sie meldeten sich gar nicht. Sie hatten mich abgegeben und kamen nicht zurück.

Mama war verunsichert. Was war passiert? War ihnen etwas zugestoßen? Die Tage verstrichen, der nächste Freitag kam, Mama packte erneut meine Sachen in meinen Koffer und wartete, dass meine Eltern kämen, um mich über das Wochenende zu sich zu holen – so war es ja vereinbart.

Auch dieser Tag verging. Sie kamen nicht – nicht an jenem Freitag, nicht an dem Freitag darauf, auch nicht an den Freitagen danach. Mama hörte nichts von ihnen, Mama las nichts von ihnen, Mama wusste nichts von ihnen, Mama hatte nur die mündliche Vereinbarung, an die sie sich nicht zu halten schienen. Was, wenn ihnen doch etwas zugestoßen war? Was sollte sie dann mit dem Kind machen, das nicht ihr gehörte, das aber bei ihr wohnte? Gab es Angehörige, die wussten, dass das Kind bei ihr war? Würden diese sich bei ihr melden und das Kind abholen? Das Kind konnte doch unmöglich einfach so bei ihr, einer Fremden, bleiben.

Mama hörte auf, freitags meine Sachen in den Koffer zu packen. Genaugenommen blieb er einfach gepackt. Und zwar mit meinen alten Sachen. Denn inzwischen hatte sie alle meine Kleidungsstücke ausgetauscht: Kleidchen, Röckchen, Pullover und Blüschen. Es machte Mama Freude, mich anzuziehen. Und obwohl es sie zutiefst verunsicherte, gewöhnte sie sich an den Gedanken, dass meine Eltern wohl nicht mehr kämen, um mich abzuholen, zumindest vorerst nicht.

In der kleinen, dreißig Quadratmeter großen Zwei-Zimmer-Wohnung richtete sie mir eine Spielecke ein, ganz in der Nähe meines Bettchens. Ich fragte nicht nach meinen Eltern und schien mich in meinem neuen Zuhause sehr wohl zu fühlen. Ich war ein pflegeleichtes Kind, pflegeleicht mit eigenem Kopf – damals schon. »Tante Irmgard« blieb hartnäckig »Mama« und Mama war eine kluge Frau – sie gab es auf und gewöhnte sich an den Gedanken, Mama genannt zu werden und Mama zu sein.

Mama war nicht allein, sie hatte eine Mutter, auch diese kümmerte sich liebevoll um mich und war für mich meine Oma. Denn wenn diese alte Frau die Mama meiner Mama war, war sie meine Oma. Dieser Logik folgend, brachte mir Mama das Wort Oma bei. Sie versuchte erst gar nicht, mir für Oma einen alternativen Namen beibringen zu wollen.

Die kleine Nachbarin, die ich gleich am ersten Tag kennengelernt hatte, wurde meine ständige Spielgefährtin. Da sie im Nachbarhaus wohnte, sahen wir uns oft, wuchsen miteinander auf und wurden gute Freundinnen – ein Kontakt, der Jahrzehnte halten sollte.

In dem Mehrfamilienhaus mit acht Parteien, in dem wir wohnten, lebte eine Familie mit zwei Töchtern. Die eine war etwas älter, die andere fast so alt wie ich. Hinter dem Haus hatten alle Bewohner einen kleinen Gartenanteil, auch wir. Diese Familie hatte für ihre beiden Töchter einen Sandkasten und eine Schaukel aufgestellt. Sie luden uns ein, dort gemeinsam zu spielen. Mama erzählte mir später, als ich älter war, wie neugierig die Mädchen damals auf mich reagiert hätten. Aber auch ich fand diese weißen Mädchen sehr spannend und freute mich immer darauf, mit ihnen zu spielen.

Es kehrte etwas Alltag ein. Mama ging ihrer Schneiderarbeit nach, die sie glücklicherweise von Zuhause aus erledigen konnte. Die Nähmaschine stand in der kleinen Wohnung direkt vor dem Fenster. Daneben befand sich ein Sideboard mit einem Spiegel darauf. Vor dem Sideboard war etwas Platz für eine Decke mit meinen Spielsachen. Ich sei ein zufriedenes Kind gewesen, hieß es später. Zufrieden, solange ich meine Spielsachen und meine Mama um mich hatte. Ich war stets Zuhause, ging nicht in den Kindergarten. Warum auch? Schon wieder neue Bezugspersonen? Mama gelang es, ihre Arbeit und das Kind unter einen Hut zu bekommen.

Wenn sie ihre Kirchengemeinde aufsuchte, nahm sie mich mit. Anfänglich verstand ich nicht viel, wusste nicht, worum es ging. Es wurden Geschichten aus der Bibel vorgelesen – die sagte mir nichts. Es wurden Lieder gesungen – die kannte ich nicht. Wie alle anderen Kinder hörte ich zu – auch wenn ich mit meinen zwei Jahren deutlich die Jüngste war. Aber das machte mir nichts aus. Die Menschen in der Gemeinde waren sehr nett zu mir und es gab immer jemanden, der sich anbot, mich zu beschäftigen, wenn mir wirklich einmal langweilig wurde.

Zuhause bekam ich Bilderbücher, die Märchen der Gebrüder Grimm, aber auch biblische Geschichten geschenkt. Mama war es sehr wichtig, dass ich mit den Geschichten aus der Bibel vertraut wurde.

Ging Mama abends weg, passten die Nachbarin von nebenan oder Oma auf mich auf. Das war ein leichter Job, denn schon damals gehörte Schlafen zu meinen liebsten Hobbys. Und Mama kleidete mich ein, mit noch mehr Kleidchen, Röckchen, Blüschen. Sie kaufte mir Schuhe, Strumpfhosen und alles, was ein Kind so braucht. Sie versuchte, mit meinen Haaren klarzukommen, die für eine weiße Frau sehr ungewohnt waren. Sie lernte, dass meine Haut nach dem Waschen sehr trocken war und deshalb regelmäßig eingecremt werden musste. Sie lernte meine alltäglichen Bedürfnisse kennen. Ich lernte, dass es jemanden gab, der sich um mich kümmerte, auf den ich mich verlassen konnte. Jemand, der da war, wenn ich aufwachte und da war, wenn ich einschlafen sollte. Jemand, der sich Zeit für mich nahm, mir zu essen gab und der vorsichtig mit mir umging, mich mit seinem Temperament nicht erschreckte.

Mama war gewissenhaft, sie wollte, dass es das kleine Mädchen gut bei ihr hatte. Und sie wollte, dass das kleine Mädchen lernte, ein Töpfchen zu benutzen. »Lass endlich diese Windeln weg«, soll Oma gemahnt haben. »Wie soll sie lernen, sauber zu werden, wenn sie immer diese Dinger umhat.«

Inzwischen war ein halbes Jahr vergangen, es war zur Routine geworden: Es war Freitagabend und von meinen Eltern keine Spur. Ob sie jemals wiederkämen? Waren sie wohlmöglich zurückgeflogen in ihre Heimat, ohne ihre Tochter mitzunehmen? War das vielleicht ihr ursprünglicher Plan gewesen? Niemand wusste etwas. Man schrieb das Jahr 1969. Mama hatte keine Telefonnummer, um bei ihnen anzurufen und nachzufragen. Wenn sie sich meldeten, dann riefen sie von einer Telefonzelle an. Aber das kam wohl erst später vor.

Meine Eltern

Wieder ein Freitagabend, Mama hatte mir, wie jeden Abend, eine Geschichte vorgelesen und mich dann ins Bett gebracht. Plötzlich hörte sie ein großes Stimmengewirr auf der Straße, sie schaute aus dem Fenster. Da waren sie – meine Eltern. Sie waren nicht allein gekommen, sondern in Begleitung einiger Freunde. Sie redeten durcheinander, sie redeten laut, sie redeten energisch, sie schienen aufgeregt. Stritten sie sich? Was war los? War etwas passiert?

Sie klingelten, kamen die Treppe hoch. Nun standen viele Menschen in der kleinen Wohnung, zu viele für diese Wohnung. Nun waren sie da, waren bereit, wollten ihre Tochter abholen, denn es war ja Freitag.

Meine Eltern hatten in Lagos/Nigeria geheiratet, das muss 1963 gewesen sein. Er, Jahrgang 1938, sie, Jahrgang 1942, beide dem Stamm der Yoruba angehörend. Ich kenne nur wenige Bilder aus dieser Zeit. Die jedoch, die ich kenne, zeigen zwei große, sehr schöne Menschen, mit einer besonderen Eleganz, Anmut und Grazie.

Lagos als größte Stadt Nigerias war schon damals eine der bevölkerungsreichsten Städte des Landes. Armut und Reichtum lagen dicht nebeneinander, die soziale Schere klaffte weit auseinander. Im Mai 1964 bekamen sie ihr erstes Kind, ein Mädchen. Sie hatten Träume, träumten von einem besseren Leben in Europa. Deutschland war ihr Ziel. Obwohl sie die Sprache nicht beherrschten, trauten sie sich ein Leben in dem fremden Land zu, wollten dort studieren. Die Voraussetzungen besaßen sie, sie hatten beide einen höheren Schulabschluss. 1965 ging mein Vater voraus, wohl um zu schauen, wie das Leben in dem gelobten Land ist. Er wollte alles vorbereiten, denn eines war klar, seine Frau sollte nachkommen. Sie hatten viele Verwandte in Lagos, die Familie war groß, sehr groß. Es hieß, alle hätten zusammengelegt, um ihnen die Reise nach Europa zu ermöglichen. Denn wenn beide ein erfolgreiches Leben in Europa hätten, würde es auch den zurückgebliebenen Verwandten in der Heimat gutgehen. Man hielt zusammen, sorgte füreinander, teilte, was man hatte. Natürlich würden sie Geld von Deutschland in die Heimat senden. Sein Vater, ein nicht weniger stattlicher, stolzer und geachteter Mann, besaß in Lagos eine Baufirma, diese sollte er nach seinem erfolgreich absolvierten Studium übernehmen – daher wollte er Bauingenieurwesen studieren. Doch erst galt es, die Sprache zu lernen. Das war nicht leicht. Aber er lernte sehr schnell. Wenig später, es musste im Juni oder Juli 1966 gewesen sein, folgte ihm seine Frau nach Deutschland. Allein, ohne ihre Tochter. Diese ließ sie bei Verwandten in Lagos zurück. Gemäß dem afrikanischen Sprichwort: »Um Kinder zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf«.

Aus welchem Grund auch immer, sie ihre Tochter zurückließ, beide waren sie nun in Deutschland – um genau zu sein, in Hamburg. Er kannte sich bereits aus, hatte Leute kennengelernt, für sie war alles neu. Unterhielt er sich auf Deutsch, fühlte sie sich sicherlich ausgeschlossen, aber das währte nicht lang. Auch sie lernte die neue Sprache sehr schnell. Tatsächlich sollten beide die deutsche Sprache nie wieder verlernen. Selbst nach der Rückkehr in ihre Heimat beherrschten sie sie bis ins hohe Alter. Sie waren kluge Menschen – ihre Intelligenz half ihnen sehr, in diesem fremden Land zurechtzukommen.

Gut neun Monate nach ihrer Ankunft in Hamburg kam die zweite Tochter zur Welt.

In ihrem Land war es üblich, dass ein Kind erst vierzig Tage nach der Geburt seinen Namen erhielt. Bis dahin hieß es schlicht »Baby«, vielleicht ergänzt durch das Geschlecht, »Baby boy« oder »Baby girl«. Auch war es üblich, dass alle Verwandten bei der Wahl des Namens beteiligt waren. Um sich nicht auf einen Namen einigen zu müssen, erhielt das Kind mehrere. Sicherlich hatten auch bei diesem Kind viele Verwandte Namensvorschläge gemacht und sie ihnen bei den gelegentlichen Telefonaten übermittelt. Es waren nigerianische Namen, für europäische Zungen schwierig auszusprechen. Aus diesem Grund dachten sie vermutlich, es sei klug, einen europäischen Namen voranzustellen, »Florence«. Ein schöner Name, ja, aber die Aussprache und Schreibweise sollte dann doch für den einen oder anderen Deutschsprachigen ebenfalls zu einer Herausforderung werden.

Sie gehörten dem baptistischen Glauben an. In der Nähe ihres Wohnortes hatten sie eine baptistische Gemeinde gefunden. Die Gemeinschaft gab ihnen Halt, sie knüpften Kontakte und lernten so immer mehr Menschen kennen. Das neue Baby wurde nicht getauft, das ist bei den Baptisten nicht üblich, es wurde »dargebracht«, der Gemeinde gezeigt, gesegnet und in die Gemeinschaft aufgenommen. Und genau so machten sie es. Sie stellten ihre Tochter vor und erst dann bekam sie ihren vollständigen Namen: Florence Olatunde Gbolajoko Oluwadamilare.

»Florence« – so nannte mich bis zu meinem 18. Lebensjahr eigentlich niemand. Von meiner Mama wurde ich »Flori« gerufen. Meine Eltern, besonders mein Vater, wurde jedoch nicht müde, mich stets mit allen mir zugedachten nigerianischen Namen anzusprechen, etwas, das – und diese Erinnerungen reichen weit in meine frühe Kindheit zurück – mir stets missfiel. Mehr noch, ich hasste es. »Olatunde Gbolajoko Oluwadamilare«. Es hatte den Anschein, als wollte er mir deutlich machen, dass das, womit ich mich zunehmend identifizierte – identifizieren musste, identifizieren wollte, denn sie hatten mich schließlich zu dieser weißen Frau gebracht – nicht das war, mit dem ich mich zu identifizieren hatte. Es hatte den Anschein, als wollte er mir mittels meiner Namen deutlich machen, mit was ich mich zu identifizieren hatte – zumindest dann, wenn sie anwesend waren. Nämlich mit Lagos, mit Nigeria, mit der nigerianischen Kultur, der Sprache, dem Essen, dem Verhalten, dem Temperament. Alles Dinge, die ich nicht kannte, alles Dinge, von denen ich nur gehört hatte, und zwar von ihnen.

Mit der Zeit fingen sie an, mich ab und an zu sich zu holen. Ich sollte dann einige Tage mit ihnen verbringen. Tage, an denen ich traurig war, denn ich vermisste Mama. Meine Mutter kochte. Das Essen schmeckte scharf, es roch streng. Sie aßen mit den Fingern, so war es üblich. Das Essen mochte ich nicht, ich brauchte eine Gabel, einen Löffel, mein gewohntes Leben, meine Mama, die zu jeder Zeit wusste, was gut für mich war. Je mehr sie versuchten, vor allem mein Vater, mir die Dinge im wahrsten Sinne des Wortes schmackhaft zu machen, umso mehr lehnte ich sie ab, hasste sie, wollte nichts damit zu tun haben. Weder mit den Namen noch mit der Sprache, die ich ohnehin nicht verstand, und auch nicht mit der Hautfarbe. Die Hautfarbe. Wenn ich in der weißen deutschen Gesellschaft war, vergaß ich meine Hautfarbe. Natürlich fiel ich den Menschen auf, sie fanden dieses kleine Schwarze Mädchen niedlich. Trotzdem, meine Hautfarbe war mir in diesen Momenten nicht bewusst. Wann immer meine Eltern jedoch anwesend waren, wurde aus Flori, dem Mädchen, das unter Weißen lebte, die Schwarze Olatunde Gbolajoko Oluwadamilare. Eine Transformation, gegen die ich mich von klein auf wehrte. Und meine Eltern bestimmten, wann diese stattfand, sie bestimmten es spontan, unangekündigt, willkürlich.

Bereits als kleines Kind wuchs in mir Wut. Eine Wut auf mir vorgeschriebene Dinge, die ich nicht nachvollziehen, nicht nachfühlen konnte. Dinge, die mir übergestülpt wurden, die nichts mit meiner Mama und meiner weißen deutschen Welt zu tun hatten. Ich wollte nichts zu tun haben, mit einer Identität, die ich nicht kannte, die mir fremd war, die nicht meine war. Ich wollte nichts zu tun haben, mit einem Land, das in meiner Vorstellung niemals so schön sein konnte wie mein Zuhause in Buxtehude.

Mein Alltag war behütet und liebevoll. Geprägt von Berechenbarkeit und Regelmäßigkeit, von Ruhe und Harmonie. Ich hatte, was ich brauchte: Mama, Oma, Freundinnen, die Gemeinschaft der Kirchengemeinde. Meine Spielsachen lagen immer dort, wo ich sie abgelegt hatte, meine Puppen, die Teddybären, die Eimer und Schaufeln für den Sandkasten. Ich war noch sehr klein, doch liebte ich diese Sachen. Sachen, die mir gehörten, Sachen, die mir niemand wegnahm. Ganz anders bei meinen Eltern. Sobald sie kamen, war es vorbei mit dem ruhigen Leben. Sie standen vor der Tür, unangekündigt, völlig überraschend, von einer Minute auf die andere. Sie rissen mich aus meiner Welt, aus der Harmonie, aus dem Paradies, aus meinem Zuhause, aus dem, was sie für mich als Zuhause ausgewählt hatten.