Mitte der Welt - Ursula Priess - E-Book

Mitte der Welt E-Book

Ursula Priess

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Beschreibung

Eine sehr persönliche Annäherung an die Stadt der Städte

Eine Frau ist in Istanbul auf der Suche nach der Mitte der Welt. Was sie findet, sind Geschichten von Menschen, die dort leben: von Alteingesessenen und Neuzugezogenen, von Pionieren, die vergangenen Zeiten nachtrauern, und Glückssuchern, die sich eine Zukunft erhoffen in der Stadt, wo das Gold angeblich auf der Straße liegt. Geschichten von Künstlern und Schriftstellern, von Gemüsehändlern und Antiquitätenverkäufern, von einem Gefängnisarzt, der Ulysses liest, von einem Professor, der gleichzeitig Vermieter ist, von einem Taxifahrer, der die falsche Partei wählt, von einer Fee, die einstmals vom Schwarzen Meer kam. Und vom Geliebten, der die Geliebte Granatapfelblüte nennt – und zum Ende hin fragt: Wirst du später einmal, wenn du über Istanbul schreibst, auch über uns und unsere Liebe schreiben? Und auch von jener Übersetzerin, die weiß: Wer über andere schreibt, sagt am meisten über sich selbst! Ein Buch über Istanbul, über das Schreiben und über die Liebe, »die eben doch sterblich ist; nur in der Erinnerung ewig – oder in Geschichten, falls sie gelingen«.

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Seitenzahl: 238

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Ursula Priess

Mitte der Welt

Erkundungen in Istanbul

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Copyright © 2011 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-05561-5V002

www.btb-verlag.de

Für Gemma, Katharina, Martin, Johannes

Deli eder insanı bu dünyaBu gece, bu yıldızlar, bu koku Bu tepeden tırnağa çiçek açmış ağaç

Orhan Veli Kanık (1914–1950)

Verrückt macht den Menschen diese WeltDiese Nacht, diese Sterne, dieser DuftDieser vom Wipfel bis zur Wurzel ganz erblühte Baum

GLÜCK

Wenn ich gewusst hätte, was in Istanbul auf mich zukommt, wäre ich nicht nach Istanbul gefahren. Weil ich es nicht wusste, darum ging ich hin. Und weil ich es heute noch immer nicht weiß, bin ich immer noch hier. Weil so vieles hier so ungewiss ist.

Nicht einmal die Zahl der Einwohner ist bekannt; geschätzt werden elf bis dreizehn Millionen. Und täglich kommen neue hinzu, täglich mehrere hundert. Auch sie kommen, weil sie nicht wissen, was sie hier erwartet. Weil es heißt, auf Istanbuls Straßen liege Gold, du brauchest dich nur zu bücken zu deinem Glück. Die meisten, die hierherkommen, haben keine andere Wahl, als hier ihr Glück zu versuchen.

Ja, auch mein Glück liegt auf Istanbuls Straßen.

EIN WUNSCH

Diese Säule! Und auf Augenhöhe das Loch darin, wenig mehr als daumendick, ummantelt von messingenem Blech – wer seinen Daumen ins Loch steckt und die Hand dreht, streicht mit den Fingern darüber hin; da viele es tun, ist das Messingblech gelb glänzend, frisch poliert.

Sehr viele scheinen davon zu wissen und steuern, wenn sie durchs hohe Portal in den Hauptraum treten, sehr bald die Säule links hinten an.

Einen Hinweis, was es mit dieser Säule mit dem Loch auf sich hat und warum der Daumen hineinzustecken ist und die Hand herumzudrehen, gibt keiner meiner Istanbul-Führer. Stattdessen, versteht sich, woher der grüne Marmor für die einen Säulen stammt und woher der Porphyr für die anderen, welches die Einflüsse waren bei den mit flächig filigranartigen Akanthusblättern überzogenen Kapitellen usw.

Als ich, das erste Mal in der Aya Sofya, zu dieser Säule geraten war und, verwundert über die Menschentraube davor, stehen blieb, fragte ich mich, was sie von den anderen Säulen unterscheide. Worauf ein junger Mann mich ansprach, er sei Student der Kunstgeschichte und versuche sich etwas Geld zu verdienen, indem er Interessierten sein Wissen über diesen Ort weitergebe.

Oh, dann erzählen Sie mir von dieser Säule! Über sie steht nichts in meinem Buch.

Die Aya Sofya, das Wunderwerk ohnegleichen, war der Legende nach nur mit Gottes Hilfe zu bauen möglich, und auf sein Geheiß hat ein Engel sie, als Fatih Sultan Mehmet sie zur Moschee erklärte, in Richtung Mekka gedreht; das Loch in der Säule ist der Abdruck des kleinen Fingers des Engels, der diese Drehung vollbrachte. Darum, wer seinen Finger in den Engelsfingerabdruck legt und einmal ringsum dreht, dessen Wunsch wird wahr.

Im Gesicht des jungen Mannes, als er es erzählte, die Mischung aus Glauben und Nichtglauben – ich fragte, ob er der Macht des Wünschens misstraue. Sein Lächeln dann –

Ja, Sie haben recht, sagte ich, aufs Wünschen sich einzulassen kann sehr gefährlich sein – und dachte an jenen Mann, der mich, lang ist es her, verführt hatte mit seinem Du darfst dir doch auch etwas wünschen! Fatal, dass ich über den Nachsatz Solange wünschen noch hilft! hinweggegangen war.

Immer stehen Menschen dort bei der Säule und warten, bis sie dran sind mit dem Wünschen. Frauen oder Männer, jüngere, ältere, manchmal ganze Gruppen, auch gemischte.

Viele kommen, erkennbar an Kleidung und Sprache, anderswoher, aus größeren und kleineren Provinzstädten des Landes, um das einzigartige Istanbul einmal im Leben zu erleben. Auch Schulklassen kommen, Ausflug für einen Tag, von Tekirdağ herüber, von Bandırma, Bursa, Kocaeli und folgen, ein flatternder Haufen, ihren Lehrern und Lehrerinnen, die dozierend auf sie einreden und hierhin und dorthin zeigen, allerdings nie zur Säule; trotzdem scheinen viele der Kinder von der Säule zu wissen und laufen zu ihr hin.

Und all die jungen Leute, die sonst lachend und schnatternd durch die Stadt ziehen, verstummen, wenn sie der Säule näher treten; höchstens kichern sie noch und flüstern und tuscheln, aber wenn sie dran sind, ihren Daumen ins Loch zu stecken und mit der offenen Hand übers Messing zu gleiten, stehen sie stumm und hochkonzentriert, um nur ja ohne abzusetzen einmal rundherum zu gelangen und den Kreis ganz zu schließen – und gleichzeitig in sich hineinzutasten, zu jenem Ort hin, wo die Wünsche angesiedelt sind.

Touristen aus westlichen Ländern kommen nur, wenn Ortskundige sie hinführen und ermuntern zum Wünschen – was manche mutig wagen; andere winken ab, verunsichert, dass ihnen Wünsche zugetraut werden, oder ängstlich, falls sie sich erfüllten.

Von außen gesehen, als Baukörper, ist die Aya Sofya ein ziemlich unförmiger Steinhaufen, bar jeder Eleganz wegen der völlig überdimensionierten Stützpfeiler, später hinzugefügt, um den Druck der Kuppel auf die Mauern abzufangen; darüber waren wir uns einig, der junge Mann und ich.

Aber der Innenraum! Die phänomenale Lichtführung, die einzigartigen Lichtverhältnisse – es scheint der Raum von innen zu leuchten und die Kuppel zu schweben. Ja, ein Wunderwerk! Erbaut zu einer Zeit, als das Wissen um die Gesetze von Materie und Raum ein völlig anderes war und die heutige Statik unbekannt.

Nicht das Bauwerk mit all seinen kostbaren Details macht diesen Ort zu dem, was er ist, sondern der Raum selbst: ein corpus politicum mysticum.

Nicht verwunderlich, dass spätere Generationen das Wunder zu ergründen versuchten, zu verstehen, zu errechnen und weiterzuführen, allen voran der geniale Meisterarchitekt Mimâr Sinan. Und verständlich, dass der Eroberer, nachdem diese Stadt seine geworden war, als ersten Ort die Hagia Sophia betrat und sie zur Hauptmoschee seines Reiches machte.

Ebenso verständlich, dass Mustafa Kemal nach der Gründung der Republik den Ort zum Museum erklärte, um ihn aller Transzendenz zu entkleiden und gleichzeitig ihm jeden Anspruch auf irdische Machtentfaltung abzusprechen.

Leichtes Tippen auf meiner Schulter – eine junge Frau, lächelnd, weist zur Säule hin: Sehen Sie, niemand mehr ist dort!

Ich danke für den Hinweis und schaue ihr nach, wie sie zusammen mit anderen jungen Frauen den von Lichtfahnen erfüllten Raum durchquert; und wende mich der Säule zu, schaue aufs schwarze Loch und in mich hinein – und plötzlich, durch mich hindurch, ein ungeheurer Sog, der Raum hinter mir, er dehnt sich, bläht sich auf –

Ja, das ist sie, die Zeit im Raum! Reine, pure Potenz, frei von allem Gewesenen, frei für alles Kommende.

Mein Wunsch jetzt –

EIN WUNDER

Über Nacht ist Schnee gefallen. Die Straßen, die Dächer, die Kuppeln – weiß!

Verzaubertes Istanbul.

Die Stadt nur mehr als Grafik, filigranartig unplastisch, fast unwirklich.

Vor allem die Kuppeln: ihr rundes, prangendes Weiß vor den diversen Grautönen von Stadt, Wasser und Himmel.

Gestern Abend schon roch es nach Schnee.

Ja, ich weiß, Schnee kann es hier geben. Gibt es sogar ziemlich oft, höre ich, jeden Winter einige Male. Nicht ungewöhnlich also, dass es geschneit hat über Nacht.

Nicht einmal knöchelhoch liegt er, drei Finger dick, handbreit höchstens, aber es reicht, sehe ich vom Fenster aus, dass der Verkehr auf der breiten Uferstraße nur noch stockend vorankommt; und die steile Gasse hinter Tophane ist unpassierbar geworden, blockiert von kreuz und quer steckengebliebenen Autos, die mit hochtourig aufheulenden Motoren und durchdrehenden Rädern sich in den Schneematsch hineingefressen haben und seitlich weggerutscht sind.

Lange wird es nicht dauern. Von den Ästen der großen, alten Platane fällt schon Schnee ab in Klumpen, und von den Kuppeln rutschen an den steilen Stellen ganze Placken, so dass dunkles Zinkblech absticht vom Schneeweiß. Der Zauber wird bald zerrinnen. Bald wird Istanbul wieder sein wie vor dem Schnee.

Aber noch liegt er. Noch hält das Wunder an.

EIN WORT VON GESTERN

Heute wäre ein Tag, um ins Hamam zu gehen!

Draußen die Wolken hängen so tief und schwer und nass, dass das asiatische Ufer nur ein trüber Schatten ist, Aksaray ohne Kuppeln und Minarette, und Galata mitsamt Turm ganz verschwunden.

In wohlig warmen Dampfwolken zu liegen müsste herrlich sein heute!

Wenn der Wind durch die Fensterritzen hereindrängt und die Heizung nichts vermag gegen ihn, gehe ich, mit leuchtend rotem Schal um Kopf, Hals und Schultern, gegen die Kälte an. Die feuchte, dunkle Kälte von Poyraz, dem Nordostwind, der, gesättigt von den Nebelschwaden des Schwarzen Meeres, in die Stadt hereinbläst und auf Bosporus und Marmara Meer schaumgekrönte Wellen vor sich herjagt. Oder die klirrende Kälte von Yıldız, dem Nordwind, die alles Leben verstummen und erstarren lässt.

Um warm zu werden in diesen Wintertagen, gehe ich immer sehr rasch, meistens dem Bosporus entlang, oft bis zur Molla Çelebi Moschee, manchmal weiter bis nach Ortaköy oder sogar bis Arnavutköy.

Heute bläst kein Wind, nicht ein Hauch von einem Wind. Die Wolken hocken dicht und schwer auf der Stadt und drücken Rauch und Abgase zurück in die Straßen, und du meinst, du kriegst keinen Schluck Luft in die Lunge. Um aber warm zu werden, musst du schnell gehen, und um schnell gehen zu können, musst du tief Luft holen.

Ja, heute ist wirklich ein Tag fürs Hamam!

Die verlockende Vorstellung, von Fuß bis Kopf massiert, in Tücher gewickelt, Tee trinkend, plaudernd, träumend, dösend den trüben Wintertag zu vertun –

Wen könnte ich anrufen, ob sie mit mir ginge?

Damals, als ich bei S. im Kreis einiger ihrer Freundinnen sagte, dass ich noch nie im Hamam war, aber hinzugehen große Lust hätte, mich jedoch nicht traue allein, weil ich nicht wisse, was ich von all den Schauergeschichten glauben solle – ich hätte gehört und sogar gelesen, im Hamam würde einem nicht nur die Haut vom Leib geschrubbt, sondern das Fleisch so durchgewalkt, dass es fast von den Knochen falle –: schallendes Gelächter.

Ja, sagte eine, die Europäischen mit ihrem Rühr-mich-nicht-an-Verhältnis zum eigenen Körper!

Eine andere sagte: Schon möglich, dass sie die aus Europa besonders walken.

Oder, sagte eine dritte, die können sich nicht in die Hände der massierenden Person geben, nicht verwunderlich also, dass es ihnen zur Tortur wird!

Ob eine bereit sei, mich in die Kunst dieser Art von Hingabe einzuweihen.

Wieder lachten sie alle; und eine sagte, sie würde lieber zu Hause duschen und sich pflegen.

Ob es heute nicht mehr üblich sei, unmodern sozusagen.

Einige nickten, andere lächelten.

Nein, unmodern nicht, sagte S., nur eben dass für uns nicht diese prickelnde Exotik damit verbunden ist. Hamam, auch das ist doch eines dieser Bilder, die sie sich in Europa machen vom »Orient« – gleich nach Harem kommt Hamam, faszinierend und schaurig zugleich, ist es nicht so!

Die Frau, die neben mir saß, legte ihre Hand auf meinen Arm: Hör nicht auf sie! Ihre Zunge ist scharf, insbesondere gegen Europa.

S. lachte ihr herrisches Lachen und gab zurück: Wer kennt Europa besser, du oder ich? Und zu mir gewandt: Die europäischen Menschen, sie lieben es, sich im »Orient« zu spiegeln, stimmt’s etwa nicht?

Ich nickte und versuchte zu lächeln; und fragte, wer heutzutage, außer Touristen, noch ins Hamam gehe, ob jene, die zu Hause kein Bad hätten.

Nicht unbedingt. Manche mögen es und gehen hin. Die meisten aber haben einfach nicht die Zeit, einen halben Tag auf der faulen Haut zu liegen.

Wieder fasste mich die neben mir am Arm: Oft ist es auch sehr schmutzig im Hamam, glaub mir, das Hamam ist nichts für dich!

Eine, die bis jetzt zum Hamam geschwiegen hatte, sagte nun, sie jedenfalls gehe oft ins Hamam, besonders im Winter möge sie es, ganz und gar aufgeweicht und durchgewärmt und -geknetet zu werden. Und den Winterdreck, den du mit Duschen allein ja nie ganz weg bekommst, Ruß und Kohlenstaub und was sonst noch alles dir in den Poren sitzt, wirst du wirklich los. Ich kann dich mal mitnehmen. Nächsten Samstag zum Beispiel könnten wir gehen, am Freitagabend telefonieren wir.

Am Freitagabend rief ich sie an, wann wir uns wo treffen sollten.

Leider passe es ihr dieses Wochenende nun doch nicht, aber nächstes ganz bestimmt.

Am nächsten Freitag rief ich wieder an – warum sollte ich nicht anrufen, wir waren ja verabredet!

Tue ihr leid, dass ich so fest damit gerechnet hätte; beruflich müsse sie für zwei Tage nach Ankara, völlig überraschend, aber ganz bestimmt würde sie mich mitnehmen, wenn sie nächstes Mal ins Hamam gehe, kommende Woche vielleicht, sie rufe mich an.

Sie rief nie an.

Auch ich rief nicht mehr an.

Und so bin ich Hasenfüßige aus Angst, dass mir mein seidiges Fell über die Ohren gezogen würde, bis heute nicht im Hamam gewesen und weiß noch immer nicht, wie wohl oder weh es tut. Aber ich weiß: Ein Wort ist ein Wort ist nur ein Wort, und was ist schon ein Wort von gestern angesichts von heute!

PLAUDERN AUF DEUTSCH

Hoch oben im achtzehnten Stock vom Marmara Hotel, mit Panoramablick über das stumpfgraue Häusermeer und die in winterlicher Sonne glitzernden Wasser von Bosporus und Goldenem Horn, sitzen wir, Frauen unterschiedlichen Alters, und feiern Advent mit Filterkaffee, Frucht-Sahnetorten und Geplauder – auf Deutsch.

Neben der deutschen Sprachherkunft ist uns fast allen gemeinsam: die Liebe zu dieser Stadt mit ihren vielen verschiedenen Menschen.

Die meisten der Frauen sind verheiratet hier, verlobt, verliebt oder sonst wie gebunden in aus- oder inländischen Diensten, manche seit langem, eine schon seit über vierzig Jahren. Heute Nachmittag aber haben wir uns freigenommen, von was auch immer.

Immer an Weihnachten habe sie Heimweh, sagt eine der Frauen, das ganze Jahr über nicht, aber wenn Weihnachten nahe, müsse sie an zu Hause denken.

Verständnisvoll nicken einige am Tisch. Ich nicke mit und frage nicht: zu Hause wo? Sondern, was auch sie mich fragen: wie viele Kinder, welcher Beruf, seit wann und so weiter.

Später singen wir Advents- und Weihnachtslieder, ein Lied nach dem anderen, sämtliche Strophen durch, die ganze fotokopierte Liedersammlung. Natürlich singe ich mit, die meisten Lieder kenne ich – warum sollte ich nicht mitsingen!

Aber während wir singen, plötzlich doch: Träumst du, oder was ist das hier? Und: Warum gehst du nicht?

Singen geht nun nicht mehr, aber Gehen auch nicht. Ich flüchte, während immer noch ein Lied gesungen wird und noch eins, in die Rolle der Zuschauerin – und sehe die Frauen nun anders; und dass die Augen einiger feucht sind. Ja, Migrantinnen, auch sie!

Als das Singen endlich doch ein Ende hat, sagt eine der Frauen: Ach, wär ich doch bloß dort geblieben!

Wo?

In Düsseldorf.

Sind Sie nicht gerne in Istanbul?

Man gewöhnt sich dran, sagt sie und seufzt. Woran sie sich gewöhnt hat, sagt sie nicht. Aber ich sehe, ringsum wird genickt.

Ich kenne Düsseldorf nicht, frage, ob es schöner sei als Istanbul.

Das wissende Lächeln der Frauen um mich herum und das Seufzen einiger: Ach wissen Sie –

Ich liebe es, in Istanbul zu sein, sehr sogar, sage ich, entschlossen, mir meine Liebe nicht nehmen zu lassen.

Ach, wenn Sie erst einmal dreißig Jahre hier sind, sagt die aus Düsseldorf und seufzt wieder, und führt ihren Satz wieder nicht zu Ende.

Ich aber, zum Glück, bin nicht mehr gebunden; und also frei für Istanbul!

AUF DEN STRASSEN DIE MENSCHEN MIT IHREN GESICHTERN

Die Gesichter der Menschen auf den Straßen, die schönen, die hässlichen, die jungen, die alten, die städtischen, die ländlichen –

Nein, darum geht es nicht. Es geht nicht um hässlich oder schön oder brutal oder müde oder trüb oder bleich oder finster oder heiter oder zierlich oder grob.

Auf meinen Gängen durch die Stadt schaue ich sie mir an, Tag für Tag, wie sie gehen und wie sie stehen, wie sie reden und lachen oder rufen und, selten, auch schreien; ihre Mimik, ihre Gestik, ihr Tonfall –

Die Menschen mit ihren Gesichtern – ich schaue sie in mich hinein, ich weide sie ab, ich verschlinge sie.

Fress ich ihnen die Seele aus dem Leib?

Ach nein! Ganz im Gegenteil!

Und wenn du keine Füße mehr zum Gehen hättest und keine Augen zum Schauen in dieser Stadt?

Noch kann ich gehen, wohin ich will in dieser Stadt mit ihren Menschen mit ihren Gesichtern, und noch gehe ich weiter und immer weiter durch sie hindurch.

Heute werde ich nach Kasımpaşa hinabgehen.

WASSER FÜR ISTANBUL

Ob mir Istanbul gefallen habe, fragt der Taxifahrer in radebrechendem Englisch, und, mit Blick durch den Rückspiegel, ob mein Urlaub gut gewesen sei.

Istanbul ist schön, versuche ich es auf Türkisch, und ich liebe Istanbul so sehr, dass ich hier sogar lebe; nur manchmal, wie zum Beispiel jetzt, muss ich nach Deutschland.

Sein Blick in den Rückspiegel, mich erneut taxierend – er fragt nicht, was sie sonst immer fragen, ob ich mit einem Türken verheiratet, auch nicht, ob ich Lehrerin sei.

Ich frage: Sind Sie Istanbuler?

Ja, geboren und aufgewachsen sei er in Kars, aber seit zwanzig Jahren lebe er hier.

So lange schon!, sage ich, Blickkontakt durch den Rückspiegel vermeidend. Und immer sind Sie also Taxi gefahren?

Ja, immer, die Stadt kenne ich inzwischen wie die Innenfläche meiner Hand.

Ach, so sagen Sie das im Türkischen!

Sein verwunderter Blick – er versteht nicht, wie ich es meine; also frage ich, wie sich die Stadt verändert habe in den zwanzig Jahren, seiner Meinung nach.

Jetzt endlich – der Taxifahrer dreht sich kurz zu mir um, in seinem Blick ist freudiger Stolz –, seit wir den neuen Oberbürgermeister haben, gibt es immer und überall in Istanbul Wasser! Er ist ein guter Mann, er hält, was er verspricht.

Ich zögere – was sollte ich darauf sagen.

Sie als Neu-Istanbulerin haben doch bestimmt gehört von seinem Wahlerfolg?

Ja, als Neu-Istanbulerin, sage ich – der Titel gefällt mir, wenn auch verliehen von einem, dessen Partei mir suspekt ist, weil sie, soweit ich weiß, das Paradies auf Erden verspricht –, ich habe natürlich gehört, dass er an die Macht gekommen ist, aber das mit dem Wasser wusste ich nicht. Wie schön, dass er geschafft hat, was keiner vorher schaffte: Wasser für Istanbul, immerzu und überall.

Worauf der Taxifahrer sagt, wieder mit Blick durch den Rückspiegel, nun voller triumphierendem Glück: Endlich ist einer an der Macht, der fürs Volk etwas tut, nicht nur in die eigene Tasche schafft.

Ich erzähle von Freunden, in deren Stadtviertel im vergangenen Sommer oft tagelang kein Tropfen Wasser aus dem Hahn floss; und dass mich für sie freue, wenn das Wasserwunder wahr würde. Aber, denke ich, noch ist nicht Sommer!

Der erwartungsvolle Blick des Taxifahrers durch den Rückspiegel – nein, weiter will ich nichts sagen. Ein Taxifahrer ist ein Taxifahrer, und ich, Gast in seinem Auto, bin abhängig von ihm. Stattdessen frage ich, welche Straße zum Flughafen er fahren werde.

Welche Strecke wünschen Sie?

Ich appelliere an seine Erfahrung, er möge beurteilen, welche um diese Uhrzeit am wenigsten verstopft sei.

Er dankt für mein Vertrauen. Es zeige ihm, nicht alle Ausländischen seien gleich, auch wenn er oft erlebe, dass Nichthiesige, vor allem die aus Europa, meinten, sie wüssten alles besser. Sogar auf Istanbuls Straßen! Und als er noch einmal zu mir nach hinten schaut, schenkt er mir ein fast brüderliches Lächeln. Auf mich können Sie sich verlassen, ich werde Sie sicher und schnell zum Flughafen bringen!

Mein Taxifahrer fährt nicht tranig oder hektisch, wie sonst fast immer auf Istanbuls Straßen die Taxifahrer fahren. Und was er erzählt, nachdem er nun auch noch mein Türkisch gelobt hat – na ja, wer tut das nicht in diesem freundlichen Land; trotzdem freut mich das Lob! –, ist weder doppeldeutig noch anmaßend, sondern schlicht, wie es war, als er mit seiner Familie nach Istanbul kam, und wie weit sie es bis heute gebracht haben.

Und als wir auf einer der neuen Schnellstraßen an Hügeln voller Hütten- und Häusergewurstel vorbeifahren: Schauen Sie, dort gibt es nichts, keinen Strom, kein fließendes Wasser, keine festen Straßen, absolut nichts!

Ich gestehe, dass ich noch nie in einem dieser Vororte war, und wie es sich dort lebt, kann ich mir kaum vorstellen. Er jedoch weiß Bescheid. Und während er mir vom Leben dort erzählt, nicke ich immer wieder bestätigend, obwohl ich nicht alles verstehe, sage mal: Ja!, und mal: Ach so! Und noch einmal kommt er auf den neuen Oberbürgermeister zu sprechen und zählt auf, welche Wohltaten er über die Stadt zu bringen versprochen habe und wie viel besser alles sein werde, menschenwürdig und gottgefällig; und in seiner Stimme klingt neben Triumph echte Überzeugung mit. Und auf sein abschließendes: Da er nun endlich doch an die Macht gekommen ist!, fällt mir nichts zu sagen ein. Er, denke ich, der nun an der Macht ist, wir werden ja sehen, was er wirklich kann; wirst schon sehen, überall wird nur mit Wasser gekocht, auch er wird nichts anderes können! Wunder nähme mich nur, ob dieses Wasser-Wort auch im Türkischen möglich ist, frage aber nicht, sondern schaue hinaus in die vorbeiziehende Stadtlandschaft. Und gebe, sicher und pünktlich am Flughafen angekommen, reichlich Trinkgeld. Wofür der Taxifahrer sich mit offenem Blick und klarem Gute Reise! bedankt.

Aus schlechtem Gewissen gab ich ihm so viel, ich weiß; oder vielleicht ja nur, weil er mein Türkisch gelobt und mir den schönen Titel verliehen hat.

DIE FEE VOM SCHWARZEN MEER

Warum erzählst du so etwas?, fragt Hatice empört.

Du meinst vom Taxifahrer?

Ja, damit schmierst du doch Butter aufs Brot von Erdoğans Partei!

Butter aufs Brot, der Ausdruck gefällt mir, sage ich, sehe aber, Hatice versucht, die ihr übers Gesicht flammende Empörung zu verbergen, indem sie das Kopftuch abnimmt, sich die Haare aus dem Gesicht streicht und es neu bindet unter ihrem dicken, braunen Zopf.

Jede Woche, wenn Hatice bei mir ist, um meine Wohnung zu putzen, sage ich gegen elf: Hatice meine Fee, jetzt trinken wir Tee!

Und jedes Mal sagt sie, zum Putzen sei sie gekommen, nicht zum Teetrinken.

Pause muss sein, Hatice, deine Arbeit ist schwer, und erst recht heute, bei der Hitze!

Aber, sagt sie dann, dass du, meine Patronin, mit mir sitzt und Tee trinkst – keine der Damen, bei denen ich geputzt habe, schon gar nicht die türkischen, hätte das je getan.

Komm, sage ich und lache ihr zu und mache jedes Mal wieder denselben Scherz: Sogar in deiner Pause benutze ich dich noch zum Türkischsprechen mit mir!

Dann lacht auch sie.

Ich verstehe nicht, dass wir dieses Ritual immer wieder durchspielen müssen. Und sie versteht nicht, obwohl sie oft über ihr Ehefrauen- und Mutterjoch stöhnt, dass ich allein hier lebe, ohne Mann und Kinder. Dass ich auch in Deutschland von dem Mann, der Vater meiner Kinder ist, getrennt bin, sage ich ihr nicht. Später vielleicht werde ich es ihr sagen, wenn ich sicher bin, dass sie mich nicht mehr nur als Europäerin sieht.

Einmal erzählte Hatice, dass sie bei einer Französin geputzt habe, von der sie nicht wisse, was die in Istanbul mache. Dabei schaute sie mich an, nahm einen mit zuckersüßem Mandelmus gefüllten Blätterteigkringel, trank einen Schluck Tee hinterher und sagte dann: Aber Männerbesuch hatte sie! Als ich auf dieses Stichwort nicht reagierte, schüttelte Hatice den Kopf, schnalzte mit der Zunge: Eine schlechte Frau! Zu der gehe sie nicht mehr hin. Ömer, ihr Mann, habe es verboten. Und als ich dazu weiter schwieg, sagte sie entschieden: Aber du, du bist ganz anders!

Nun wusste ich Bescheid, was sie sehen will und was nicht. Und so sprechen wir jede Woche, wenn wir zusammensitzen und Tee trinken, über die Freuden und Leiden mit Kindern, Küche und kocam, dem Ehemann. Und jedes Mal, wenn ich ihr zum dritten Mal Tee und Gebäck anbiete, sagt sie, dass sie nicht so viel essen dürfe, sie werde dick und dicker. Wenn du wüsstest, wie hübsch und schlank ich früher war!

Du gefällst mir, so wie du bist!, sage ich dann und finde immer wieder erstaunlich, mit welcher Entschiedenheit sie abwehrt, unverführbar, trotz meines an Nötigung grenzenden Aufdrängens, was, wie ich weiß, zum Ritual gehört; aber später dann, wenn sie gegangen ist, sehe ich, dass sie in der Küche, während sie das Geschirr wusch, offenbar doch weitergenascht hat. Insistiere ich nicht genug? Oder vielleicht packt sie es ein für ihre Kinder, Marzipan und Schokolade aus Deutschland.

Seit neun Jahren lebt Hatice in Istanbul. Zusammen mit ihrem Mann kam sie, jungverheiratet damals, vom Schwarzen Meer, um hier Arbeit zu finden.

Aber, sagt sie, Arbeit finden hier ist sehr, sehr schwer, besonders für uns, die wir vom Dorf kommen. Im Dorf ist das Leben viel besser, die Luft ist gut und das Wasser auch, und im Garten wächst alles, was du willst – fast alle türkischen Gemüse- und Obstnamen habe ich von Hatice während unserer Teepausen gelernt –; in der Stadt gibt es nur Lärm und Gestank, die Kinder können zum Spielen nicht raus, viel zu gefährlich auf der Straße, und in die Wohnung scheint nie die Sonne herein, das ganze Jahr nicht.

Ihr Unverständnis dann, dass ich nach Istanbul gekommen bin, in diese schmutzige, stinkende Stadt; Deutschland sei doch viel schöner, und erst die Schweiz! Ihrem Bruder, der in Wettingen bei Zürich lebe, verheiratet mit einer Schweizerin, dem gehe es gut, sagt sie dann und schaut mich an mit ihren Augen so blau und rein. Die haben dort wirklich alles!

Manchmal, wenn mir die Glorifizierung des verlorenen Paradieses zu weit geht, frage ich, warum sie von dort, wo alles besser sei, wegging.

Um der Kinder willen, weil es im Dorf keine Zukunft gibt, und Arbeit schon gar nicht, und auch die Schule ist schlecht dort, sagt sie dann und seufzt.

Ihr Seufzen immer mal zwischendurch, wenn sie erzählt oder wenn sie die Treppe hochkommt und zur Tür herein und sich ihre Schuhe von den Füßen schüttelt und sagt, wie heiß es doch heute wieder sei oder wie kühl oder regnerisch oder nass oder schwül, ein Seufzen, mit dem sie hinnimmt, wie’s nun mal ist, das Leben. Sie nimmt es an; mit ihrem Seufzen kann sie es.

Einmal sagte sie und seufzte: Ömer ist ein guter Mann, er schlägt mich nicht und geht nicht ins Männercafé spielen.

Ob sie ihren Ömer liebt? Nein, Liebe ist kein Thema zwischen Hatice und mir; über die Liebe zu Männern sprechen wir nie, nur über die zu den Kindern.

Aber von der Technik des Umgangs mit dem Ehemann erzählt sie. Wie sie’s hält mit ihrem, wie sie ihn hinhält und herholt, wie sie ihm schmeichelt und wie ihn kommandiert. Auch dass und wie sie verhütet. Zwei Kinder in der Stadt sind genug, Allah hin oder her, mehr kann er von uns nicht verlangen! Ömers Lohn als Hauswart und Pförtner in einer Schule ist so schlecht, dass eine Familie davon nicht leben kann. Immer hinkt der Ausgleich ein Jahr hinter der Inflation her, und wie die rennt, weißt du ja!

Wenn Hatice über die ständig steigenden Preise klagt – allein was die Kinder brauchen! – und mir vorrechnet, was alles sie noch besorgen muss – ohne anständige Schuhe können die Kinder doch nicht zur Schule gehen! –, und mich dabei anschaut mit ihren blauen Augen – auch sie müsse doch ihren Kindern manchmal etwas kaufen können, etwas Hübsches oder auch nur etwas Süßes, was andere Kinder doch täglich hätten –, dann verstehe ich, dass sie mich in ihrer Art darauf hinweist, dass auch ich wieder der galoppierenden Inflation hinterher soll.

Du musst von dir aus erhöhen, sagte mir eine Freundin, die mich mütterlich besorgt einführt in die Gepflogenheiten hierzulande. Hatice wird niemals von sich aus darum bitten. Wenn sie es aber doch tut, ist es zu spät, und sie wird dich nicht mehr achten, weil du sie nicht zu achten scheinst in ihrem berechtigten Anspruch. Du musst heraushören, wann es an der Zeit ist. Andererseits, wenn du zu viel erhöhst, machst du die hiesigen Preise kaputt und bedienst unnötig das Bild von den reichen Ausländischen.

Hatices verschämter Blick und ihr honigsüßer Dank, wenn ich erhöhe. Sie habe es doch immer gesagt – wem eigentlich, ihrem Ömer vielleicht? –, dass ich anders sei und dass sie mich nie vergessen werde.

Und ich werde dich nie vergessen, weil du so gut über mich denkst!, sage ich lachend; obwohl ich nicht weiß, ob sie nicht doch weiß, was ich ihr verberge.

Und jedes Mal, wenn ich ihr sage, dass ich wieder für ein paar Tage nach Deutschland muss, sie also nächste Woche nicht zu kommen brauche, sagt sie: Vergiss nicht, deine Verwandten und Freunde nach Arbeit zu fragen für Ömer!