Mitten aus dem Leben - Arne Kopfermann - E-Book

Mitten aus dem Leben E-Book

Arne Kopfermann

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Beschreibung

Durch einen Autounfall verlieren Arne Kopfermann und seine Frau ihre 10-jährige Tochter Sara. Hier erzählt er seine Geschichte mit all ihren erschütternden, aber auch wundersamen Momenten. Sein Bericht geht unter die Haut, weil er es schafft, das auszudrücken, was so schwer in Worte zu fassen ist. Er erzählt vom unterschiedlichen Umgang mit der Trauer, dem Aufgeben von falschen Glaubensvorstellungen und dem Ringen mit Gott. Aber auch vom Festhalten an der Liebe gegen alle Widerstände und von ewiger Hoffnung. Ein Buch für alle, die angesichts eigener Verlusterfahrungen verzweifelt resignierend, aber auch hoffnungsvoll kämpferisch den Weg zurück ins Leben suchen - und für die, die solche Menschen begleiten.

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Über den Autor

Arne Kopfermann, Jahrgang 1967, ist ein bekannter christlicher Musiker, Produzent und Referent, der in den letzten 25 Jahren auch ungezählte Lieder für Kirchengemeinden geschrieben, übersetzt und produziert hat. Im September 2014 starb seine 10-jährige Tochter Sara an den Folgen eines Autounfalls. Arne Kopfermann lebt mit seiner Familie im Taunus.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Bibelzitate wurden, sofern nicht anders angegeben,

den folgenden Bibelübersetzungen entnommen:Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, StuttgartAußerdem wurden folgende Übersetzungen verwendet:Hoffnung für alle®, © 1983, 1996, 2002 by Biblica, Inc.®Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis – Brunnen BaselEinheitsübersetzung der Heiligen Schrift, © 1980 Katholische Bibelgesellschaft, Stuttgart (EÜ)Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (GN)Auszüge aus Timothy Keller: Gott im Leid begegnen (Brunnen Verlag Gießen, 2015) mit freundlicher Genehmigung. www.Brunnen-Verlag.de© 2017 Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 Asslar1. Auflage 2017

ISBN 978-3-96122-275-9Umschlaggestaltung: Ann-Marie Falk • www.hallobuerobuero.de

Umschlagfoto: Sergej Falk • www.sergejfalk.com

Satz: Uhl + Massopust, Aalenwww.gerth.de

INHALT

VORWORT

Kapitel 1 – DER TRAUER INS AUGE SEHEN

Kapitel 2 – SARA

Kapitel 3 – DER TAG, AN DEM DER SOMMER ZU ENDE GING

Kapitel 4 – LOSLASSEN

Kapitel 5 –WENN NICHTS MEHR IST, WIE ES FRÜHER WAR

Kapitel 6 – ABSCHIED NEHMEN

Kapitel 7 – ERSTE SCHRITTE IN UNSERER NEUEN REALITÄT

Kapitel 8 – VON WEIHNACHTEN UND ANDEREN SCHWIERIGKEITEN

Kapitel 9 – ES GEHT NICHT OHNE HILFE

Kapitel 10 – EINEN EHRLICHEN UMGANG MIT DER TRAUER ZULASSEN

Kapitel 11 –BARMHERZIG WERDEN

Kapitel 12 – DER TROST EINER EWIGEN HOFFNUNG

NACHWORT

RECHTENACHWEIS DER LIEDER

DANK

VORWORT

Dies ist ein besonderes Buch. Ich schaue bei Büchern und Filmen immer, ob die Geschichte auf einer wahren Begebenheit beruht. Dies hier ist eine wahre Geschichte aus dem Leben. Besonders ist das Hauptereignis: Der plötzliche Tod eines fast elfjährigen Mädchens. Besonders ist der Autor, der Vater des Kindes: Musiker, Songschreiber und Musikproduzent. Er ist zudem Christ, singt, erzählt und schreibt schon lange über seinen Glauben. Dann die Katastrophe: der Unfall! Wie damit umgehen? Wie geht es der Familie? Wie wird er das verarbeiten? Ein Künstler im öffentlichen Raum hat den Vor- und Nachteil der Aufmerksamkeit vieler anderer Menschen.

Von all dem und noch mehr erzählt dieses Buch sehr offen. Der Mut, auch heikle Dinge und unangenehme Erfahrungen beim Namen zu nennen und darüber zu schreiben, ist eine segensreiche Gabe. Ich höre als Psychotherapeut beruflich öfter von schweren Schicksalsschlägen und deren Auswirkungen. Welche Rolle eine Psychotherapie bei der Bewältigung spielen kann, schildert das Buch aus der Sicht des Patienten.

Dieses Manuskript habe ich als Therapeut oft mit feuchten Augen und emotionaler Betroffenheit gelesen. Ich kannte die meisten Details bereits aus der Therapie mit dem Autor. Aber die Dichte, alles noch einmal auf wenigen Seiten komprimiert zu lesen, hat mich berührt. Ich selbst musste oft an den Tod unseres 15-jährigen Sohnes vor 17 Jahren denken und fühlte mich an die Anfänge meines Trauerprozesses erinnert.

„Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt!“ So beschreibt die Lutherbibel in Hiob 1, Vers 21 die Trauerreaktion um den Tod der Kinder von Hiob. Wie dies ein Mensch und Christ in der heutigen Zeit nach einer solchen Katastrophe von Tag zu Tag durchbuchstabiert, ist der zentrale Inhalt dieses Buches. Es ist eine besondere Gabe des Autors, diese Momente, die man in der Trauer erlebt, auch für Außenstehende nachvollziehbar zu machen. Gleichzeitig ist es – wie bei Trauer immer – ein sehr persönlicher Prozess, in dem jeder anders reagiert. Auch der Trauernde selbst erlebt sich in diesem Prozess oft zu unterschiedlichen Zeiten sehr verschieden.

Dieses Buch ist sowohl für Betroffene als auch für Angehörige und Freunde von Trauernden geeignet. Es bietet eine sehr reflektierte Hilfe für Außenstehende im Umgang mit Trauer. Nach meiner persönlichen Erfahrung, auch in Therapien, ist dies ein schwieriges Thema in vielen Gemeinden. Sie wollen den Kontakt zur modernen Welt der Eventsuche und des persönlichen Glücks nicht verlieren und geben sich fröhlich und optimistisch. Leid und Trauer sind da eher gemiedene Themen. Ich hoffe und bete deshalb für eine Verbreitung und Diskussion dieses Buches in den Kirchengemeinden.

Die Dankbarkeit dafür, diesen bewegenden, noch im Gang befindlichen Trauerprozess so nahe miterleben zu können, hat mich schon durch die Therapie mit dem Autor begleitet. Ein anderes Thema war und ist die Unverfügbarkeit Gottes, die Frage: „Wie kann Gott dies zulassen?“

Wie gläubige Menschen mit dieser Thematik umgehen ist auch immer wieder eine Frage von Außenstehenden. Eine ehrliche, tiefe Auseinandersetzung mit diesem Dilemma in sehr persönlicher Weise ist in diesem besonderen Buch zu finden. Es gibt keine platten Antworten und lässt Raum für das Geheimnis. Dieser für uns oft dunkle Gott hinterlässt seine Fußspuren in unserem Leben. Wie das zum Segen werden und Gott sei Dank auch bei der Bewältigung helfen kann, ist eindrucksvoll beschrieben.

Die Lesereise durch diese oft schweren Zeiten löst hoffentlich auch in Ihnen Dankbarkeit aus und lässt Sie bereichert und berührt weiter durch dieses Leben gehen.

Oberursel Mai 2017

Dr. Franz Ebner

KAPITEL 1

DER TRAUER INS AUGE SEHEN

Liebe Freunde, heute Morgen haben wir drei und Tante Maren von unserer kleinen Sara Abschied genommen. Ganz sanft hat ihr Herz aufgehört zu schlagen. Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus (Phil. 4,7). Bitte hört nicht auf, für uns zu beten.

Arne, Anja & Tim – am 13.9.14

Noch immer schießen mir die Tränen in die Augen, wenn ich in meinen E-Mails stöbere und wie zufällig wieder auf den Tag stoße, der das Leben meiner Familie für immer verändert hat. Der Tag, an dem wir unser Mädchen in Gottes Hände legen mussten. Hunderte von Menschen haben uns geschrieben und noch eine Vielzahl mehr buchstäblich auf allen Kontinenten dieser Erde mit uns und für uns um ein Wunder gebetet. Das Wunder ist ausgeblieben. Tim hat seine Schwester verloren. Und Anja und ich sind seit jenem Samstag im September 2014 gezwungen, den schwersten Weg zu gehen, den sich Eltern vorstellen können: das eigene Kind vollständig loszulassen.

Wenn man seine Eltern verliert, macht einen Menschen das in der deutschen Sprache zur Waise. Seinen Ehepartner zu verlieren, zum Witwer oder zur Witwe. Für den Verlust des eigenen Kindes gibt es im Deutschen jedoch kein Wort. Auch nicht für den eines Geschwisterteils. Denn die Vorstellung, dass das eigene Kind vor einem selbst stirbt, ist zu schrecklich und die Reihenfolge zu unnatürlich.

Man behilft sich mit Begriffen wie „Verwaiste Eltern“ oder „Trauernde Eltern“, aber die Ohnmacht, diesen Verlust in Worte zu fassen, kommt nicht von ungefähr.

Ein Kind ist uns Eltern zum Schutz anbefohlen. Nicht nur in den Babyjahren, wenn es ganz und gar auf die körperliche und seelische Versorgung durch die Eltern angewiesen ist. Sondern auch später, in den Jahren des Heranwachsens auf dem Weg zum eigenständigen Leben. Und selbst dann hört bei uns das Empfinden nie auf, dafür verantwortlich zu sein, dass es unserem Kind gut geht. Wenn dieser Schutz aber von einem Moment zum nächsten nicht mehr greift, obwohl es doch in meiner Hand gelegen hätte – dann fehlt dafür jedes Wort …

Im Vorwort des Buches „Meine Gedanken sind bei Dir“ der McDonald’s Kinderhilfe Stiftung heißt es: „Sie haben eine der schmerzlichsten Erfahrungen gemacht, die es für Menschen auf dieser Welt geben kann – Ihr Kind ist gestorben. Dieser Tod ist so unfassbar, denn wir gehen davon aus, dass Kinder ihre Eltern überleben. Wir gehen davon aus, dass Eltern die Aufgabe und die nötige Zeit haben, ihre Kinder auf ihrem Weg in und später durch das Leben zu begleiten. Wenn dieser gemeinsame Weg nicht mehr möglich ist, sterben unsere Träume und Hoffnungen für unser weiteres Leben. Oft können wir uns nicht vorstellen, dass unser Leben jemals wieder einen Sinn bekommen wird.

Und doch, auch wenn wir nicht wissen, wie, müssen wir diesen Weg unseres Lebens weitergehen. Schritt für Schritt, so schwer es auch sein mag. Diesen Weg, der zunächst ausschließlich und später immer wieder von der Trauer um unser Kind geprägt sein wird, muss jeder für sich finden. Es gibt keinen richtigen oder falschen Weg im Umgang mit unserer Trauer. Hilfreich kann nur sein, einen eigenen individuellen Weg so anzunehmen, wie er ist. Ja zu sagen zu sich und allen Gefühlen. Zu den Tränen und der Verzweiflung. Der Wut und den möglichen Schuldgefühlen. Zu dem Neid und dem Gefühl der Ungerechtigkeit. Aber versuchen Sie, in Ihrem Schmerz auch anderen Familienmitgliedern ihren Weg der Trauer zu lassen, selbst wenn er so ganz anders als Ihr eigener zu sein scheint.“1

In Deutschland sterben jährlich rund 25 000 Kinder und junge Erwachsene. Das Gros betrifft potenzielle Führerscheininhaber. Vom Babyalter bis 15 Jahren sterben jährlich 5500 Menschen. Dazu kommen Fehlgeburten, Totgeburten und medizinisch indizierte Schwangerschaftsabbrüche. Noch viel schlimmer traf es jedoch Menschen vor ein paar hundert Jahren. Im Mittelalter starb in Europa etwa jedes fünfte Neugeborene vor seinem ersten Geburtstag, und nur die Hälfte der Kinder wurde älter als 10 Jahre. Die durchschnittliche Familie musste die Hälfte ihrer Kinder begraben, wenn sie noch klein waren, und die Kinder starben selbstverständlich zu Hause, vor den Augen und Herzen ihrer Eltern und Geschwister.

Statistisch gesehen sind wir mit unserer Not also nicht ganz allein. Aber es ist die eine Sache zu wissen, dass auch andere Menschen einen ähnlichen Verlust erleiden mussten – und eine ganz andere, damit umgehen zu lernen, wenn das Schicksal die eigene Familie trifft.

Dieses Buch erzählt nur von der ersten Teiletappe meiner Trauer – denn ich habe mich mit dem Gedanken einrichten müssen, dass die Folgen dieses Verlustes uns als Familie das restliche Leben begleiten werden. Und ich habe mich in Absprache mit meinen Lieben und engen Freunden bewusst dazu entschieden, das Buch in einer Phase zu schreiben, in der es sich noch nicht so anfühlt, als würde ich das Leben schon langsam wieder unter den Füßen haben. Als hätten wir das Schlimmste schon hinter uns gebracht. Was oft mit einer Sprache einhergeht, die so verarbeitet, distanziert und abgeklärt klingt, dass sie sich für den akut Trauernden wie ein Schlag ins Gesicht anfühlen kann. Kluge Ratgeberbücher gibt es wohl schon mehr als genug.

Ein Jahr vor unserem Unfall haben wir als Familie unsere Freunde Tanja und Matthias mit ihren Kindern in Kalifornien besucht. Dort gingen wir mit ihnen in einen der Gottesdienste der Saddleback-Gemeinde – eine der zehn größten Kirchen in den USA. An diesem Samstag predigte das leitende Pastorenehepaar Kay und Rick Warren zum ersten Mal wieder. Sie hatten davor eine viermonatige Auszeit genommen, nachdem ihr Sohn Matthew sich im Alter von 27 Jahren das Leben genommen hatte. An diesem Wochenende begannen sie die Predigtreihe „How you are getting through what you are going through“ – „Wie man durch die schweren Zeiten hindurchkommt, die man durchleben muss.“

Kurz nach dem Unfall erinnerten Anja und ich uns an diese Predigt und begannen, die Podcasts der Warrens auf iTunes anzuhören, denn uns waren Rick Warrens Worte noch im Ohr geblieben: „Jeder, der heute zuhört, befindet sich in einer von drei Phasen: Entweder, du kennst jemanden persönlich, der gerade mitten in einer existenziellen Lebenskrise steckt, oder du befindest dich selbst im Moment in einer solchen Lebenskrise, oder dir ist es noch nicht bewusst, aber du steuerst auf eine solche zu. Denn diese Krisen kommen ohne Vorwarnung und passieren immer wieder im Leben.“2

Natürlich kann man sich auf einen Verlust wie den unseren nicht im eigentlichen Sinne „vorbereiten“. Denn ein Mensch, der ständig mit dem Schlimmsten rechnet, wird sich nicht mehr seines Lebens freuen können und vermutlich schon allein über seinen Ängsten und dunklen Vorahnungen depressiv oder krank werden. Aber es ist etwas anderes, bewusst mit dem Wissen zu leben, dass persönliche Verluste zum Leben dazugehören. Dabei muss es sich nicht um den Verlust eines geliebten Menschen handeln, auch wenn das zwangsläufig irgendwann einmal passieren wird. Es kann auch der Verlust eines Lebenstraumes sein, der Verlust meiner Arbeit, das Zerbrechen einer mir sehr wichtigen Beziehung in Familie, Freundschaft, Partnerschaft oder Ehe – oder eine Krankheit, unter der wir zu leiden haben. Solche Erfahrungen können wir nicht vermeiden, aber wir haben die Wahl, wie wir auf sie reagieren. Ob wir sie betrauern oder nicht.

Ich habe mich entschieden, meiner persönlichen Trauer mit offenen Augen entgegenzutreten. Den Schmerz anzuschauen und mich nicht abzuwenden. So war eines meiner ersten Gebete, das ich im Krankenhaus gesprochen habe: „Herr, hilf mir, in all dem Unfassbaren, was mit uns passiert, nicht hart und bitter zu werden. Lass mich dich ‚wahr‘-nehmen und weich und empfindsam bleiben.“

Und so füllen sich diese Seiten auch beharrlich mit Tränen, während ich zu Papier bringe, was ich damals direkt nach dem Verlust empfunden habe, was in der ersten Zeit danach – und auch, was ich jetzt, zweieinhalb Jahre nach Saras Tod, immer noch empfinde. Ich erwarte von niemandem, es genauso zu machen wie ich, denn wer das tut, ist wohl ein Seelenverwandter, von denen wir im Leben nur wenige treffen. Selbst die engsten Angehörigen verarbeiten ihren Schmerz ganz unterschiedlich, und Trauer kann eine solche Geißel sein, dass man sich von ihr immer wieder bewusst abwenden muss, um den Überlebenswillen nicht zu verlieren.

Ich möchte mit meinem Buch denen eine Stimme leihen, die selbst durch die erdrutschartige Erfahrung eines überwältigenden persönlichen Verlustes gehen müssen und sich – genauso wie ich – dieser Aufgabe in keiner Weise gewachsen fühlen.

Die manchmal verzweifelt resignieren und dann wieder hoffnungsvoll kämpferisch den Weg zurück ins Leben suchen und die Zerreißprobe zwischen Zweifel und Glaube, Selbstkasteiung und Selbstannahme, Eigen- und Fremdtrauer, Orientierungssuche und Bewusstsein der eigenen Bestimmung nur allzu gut kennen. Ich möchte Mut machen, ehrlich zu sein und keine vorschnellen Antworten zu geben. Geduldig zu sein mit sich selbst und mit anderen. Dem übermäßigen Drang nicht nachzugeben, ad hoc alles verändern zu wollen, weil ja nichts mehr ist, wie es einmal war. Aber sich auch nicht der Chance einer prozesshaften Veränderung zu verschließen.

Mein Vater hat mir den Satz mitgegeben, dass er ein lebenslang Lernender sein möchte. Und ich entdecke inmitten meines größten persönlichen Verlustes die Möglichkeit, mich verändern zu lassen. Stärker als vorher. Der ausschlaggebendste Grund dafür ist vermutlich, dass ich mich nicht mehr annähernd so stark von der Meinung und Wertschätzung anderer Menschen von mir abhängig mache. Dass mir nicht mehr so wichtig ist, wie sie mich sehen. Denn ich kann nicht von ihnen erwarten, dass sie verstehen, was in mir vorgeht. Das kann ich ja nicht mal von meiner engsten Familie erwarten.

Dieser zunächst sehr einsame, isolierte Zustand ermöglicht auf den zweiten Blick Veränderung. Mein Stolz ist auf so vielen Ebenen gebrochen, dass es mir nichts mehr ausmacht, schwach dazustehen. Die Hilfe von anderen anzunehmen. Zuzugeben, dass ich ergänzungsbedürftig bin. Mich nicht mehr mit meinen gut einstudierten Selbstrechtfertigungssätzen zufrieden zu geben. Aber auch nicht alles über den Haufen zu werfen, was sich für mich über die Jahre als gut und richtig herauskristallisiert hat.

Albert und Andrea, zwei langjährige Kollegen von mir und bemerkenswerte Menschen, haben ihre musikalische Tätigkeit mit dem Claim „Von der Herrlichkeit Gottes und der Zerbrechlichkeit des Menschen“ überschrieben. Ich finde diesen Zweiklang sehr treffend, und er wird in diesem Buch großen Raum einnehmen.

Es ist ein Buch über den Umgang mit Trauer und Verlust, Schuld und Veränderung. Es ist aber auch ein Buch über meinen Glauben und eine ehrliche Bestandsaufnahme, welchen Veränderungen dieser Glaube in den letzten Jahren unterworfen war. Dass er sich verändert hat, heißt auch, dass er weiter zu mir gehört. Vielleicht sogar noch bewusster, allumfassender und existenzieller. Aber ich werde nicht verschweigen, dass so ein einschneidender Verlust die eigene Vorstellung von Gott oder sogar die Beziehung zu Gott wenigstens phasenweise in Frage stellen und auf jeden Fall verändern wird.

Wir neigen dazu, uns für alle elementaren Dinge des Lebens Systeme zu schaffen, in denen wir unsere eigene Erlebniswelt einordnen und ihr so Sinn verleihen. Wenn die Grundfesten aber erschüttert werden, greifen oft auch die Systeme nicht mehr, die wir über viele Jahre gepflegt haben. Die eigene Wirklichkeit jetzt aus der Perspektive des Verlustes ehrlich anzuschauen gehört zu den besonders schmerzhaften Aufgaben des Trauernden. Das kann sich mitunter sehr nackt anfühlen.

„Des Kaisers neue Kleider“ ist ein bekanntes Märchen des dänischen Schriftstellers Hans Christian Andersen aus dem 19. Jahrhundert. In dieser Parabel erzählt er die Geschichte eines Kaisers, der sich von zwei Schneidern für viel Geld neue königliche Kleidung anfertigen lässt. Die Schneider sind aber Betrüger. Sie reden ihm ein, die neu geschneiderten Kleider seien nicht gewöhnlich und könnten daher nur von hochherrschaftlichen Menschen gesehen werden. Nur wer seines Amtes würdig sei und nicht dumm wie der normale Pöbel, wisse sie zu schätzen. So geben die Schneider am Ende nur vor, dem Kaiser irgendwelche Kleidung zu überreichen, und betrügen ihn nach Strich und Faden. Doch aus Eitelkeit und innerer Unsicherheit gibt er nicht zu, dass er seine kaiserliche Robe selbst nicht sehen kann. Und auch die Menschen im Hofstaat und im gemeinen Volk, denen er seine neuen Gewänder präsentiert, heucheln Begeisterung über die angeblich einzigartig schönen Stoffe. Der Schwindel fliegt erst bei einem Festumzug auf, als ein Kind auf einmal auf den Kaiser zeigt und laut ruft: „Der ist ja nackt!“ Erst jetzt fällt es auf einmal allen wie Schuppen von den Augen. Doch als der Kaiser spürt, dass die bittere Wahrheit ans Licht gekommen ist, entscheidet er sich dazu, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und den Schein zu wahren. Er setzt zusammen mit seinem Hofstaat die Parade fort, als sei nichts geschehen.

Manchmal können sich die uns überlieferten Glaubenssysteme genauso überzeugend und stringent anhören … bis uns das Leben zwingt, uns nicht mehr leichtgläubig und unkritisch mit den Erklärungsansätzen vermeintlicher geistlicher Autoritäten zufriedenzugeben, sondern aus freien Stücken um einen Glauben zu ringen, der auch den Krisen und Ausnahmezuständen unseres Lebens und seinen Begrenzungen standhält.

Wie wunderschön ist es dann zu sehen, wenn auf dem Weg das eigene kindliche Vertrauen nicht verloren geht, sondern am Ende des Ringens Gott noch größer und gewaltiger dasteht als vorher. Denn so hoch, wie der Himmel über der Erde ist, so viel höher sind seine Gedanken als unsere Gedanken und seine Wege als unsere Wege (nach Jesaja 55,9).

11 Claudia Berning/Sonja Heyder/Iris Neumann-Hohlbeck: Meine Gedanken sind bei Dir, München 2008

2 übersetzt vom Autor. Rick Warrens Podcasts finden sich hier: https://itunes.apple.com/WebObjects/MZStore.woa/wa/viewPodcast?id=664894243&i=163337685

KAPITEL 2

SARA

Dann seh ich dich

Ich wär so gern schon mal im Traum zu dir geflogen

In dieses einzigartig schöne Land

Hinter dem Horizont, weit hinterm Regenbogen

Ich hielte lachend deine Hand

Du würdest mir all deine Lieblingsecken zeigen

Und Farben, die man hier nicht finden kann

Ganz ausgelassen hoch auf bunte Wolken steigen

So fühlt sich wohl dein Himmel an

Der Tag, er kommt bestimmt

Wenn wir zusammen sind

Wenn sich die Lücke schließt

Dann seh ich dich, mein Kind

Du bist unsagbar früh von hier weitergezogen

Dorthin, wo jetzt schon deine Heimat ist

Hinter den Horizont und auch den Regenbogen

Wo du wohl restlos glücklich bist

Ich würde mich so gern an deine Seite träumen

In diese unbeschreiblich schöne Welt

Und nicht gestrandet sein in Zeiten und in Räumen

Wo du mir noch so lange fehlst

Der Tag, er kommt bestimmt …

Denn der Schmerz und die Schönheit

sind zwei Seiten einer Münze

Ja, das Leid und der Glaube

widersprechen sich nicht

Da ist kein Licht ohne Schatten

Kein Vertrauen ohne Zweifel

Doch am Ende steht Schönheit

Und der Schatten verweist aufs Licht

Ja, der Schatten verweist aufs Licht

Sara wäre am Tag nach ihrem Tod elf Jahre alt geworden. Sie stand an der Schwelle zur Pubertät, war aber noch ganz Kind. Und sie bleibt für uns und alle, die sie kannten, ein einzigartiges Mädchen. So wie jeder Mensch auf dieser Erde einzigartig ist. Und unersetzbar.

Es fällt mir sehr schwer, in Worte zu fassen, was ich als Vater für meine Tochter empfinde. Auch heute noch, wo ich voller Schmerz feststelle, dass manche Erinnerungen an sie bereits zu verblassen beginnen. Weil in meiner Wahrnehmung von ihr die Zeit stehen geblieben ist. Sie war meine einzige Tochter. Und wir waren uns sehr ähnlich. Diese gemeinsamen Wesenszüge werden uns bis zu meinem Lebensende auf besondere Art und Weise verbinden.

Sara wusste, dass ich sie als Papa heiß und innig liebte. Und wenn sie in jüngeren Kinderjahren der Ausdruck dieser Vaterliebe ab und zu genervt hat, hab ich sie spielerisch durchs halbe Haus gejagt. Und am Ende fest gedrückt, auf die Wange geküsst und einen Satz gesagt, der bald zum geflügelten Wort zwischen uns geworden ist: „Papas müssen küssen!“

Sara war extrovertiert und keck, lebensfroh und lustig, verschmitzt und laut, aufgeweckt und aufgedreht. Sie erfüllte unser Haus und jeden Raum, in dem sie sich aufhielt, mit Leben. Sie hatte ein süßes, glucksendes Lachen und lachte gern und oft. Damit konnte sie die Menschen anstecken, und es war fast unmöglich, sie nicht gern zu haben. Sie handelte impulsiv und nur ganz selten berechnend, war sehr direkt und machte sich oft über die Folgen ihres Handelns keine Gedanken. Ihre Emotionen brachte sie oft so vehement zum Ausdruck, dass es ihr in unserer Familie den Spitznamen „Drama Queen“ einbrachte. Aber sie war im selben Maße mitfühlend und besorgt, wenn es jemandem nicht gut ging. Sie kleckerte oft, hinterließ in ihrem Zimmer und an anderen Orten eine Spur der Verwüstung und war auch sonst recht tollpatschig, was ihrem Selbstbewusstsein aber anscheinend keinen Abbruch tat.

Im Laufe der Jahre haben wir einige weitere Spitznamen für sie gefunden: Lotta, Charlotte oder Saralabalotta. Hätten wir ihren Namen erst ausgesucht, nachdem wir sie ein paar Jahre kannten, wäre uns das freche „Lotta“ als Zweitname wohl bezeichnender vorgekommen als das zarte „Sara Marie“, obwohl Marie von der ursprünglichen Wortbedeutung auch „die Widerspenstige und Ungezähmte“ heißt. Und das trifft ihren Charakter sehr gut, denn sie hatte extrem viel Energie und brauchte vermutlich auch deswegen weniger Schlaf als andere Kinder. Den wollte sie allerdings auch Zeit ihres Lebens nicht sonderlich gern in ihrem eigenen Zimmer finden, sondern lieber in den Armen ihrer Mama. Wir bekamen also über all die Jahre häufig nächtlichen Besuch, und oft zog meine Frau nachts in Saras Zimmer um. Nur gut, dass Anja die Gabe besitzt, schnell wieder einzuschlafen.

Sara hatte eine so blühende Fantasie, dass es ihr abends oft schwergefallen ist, zur Ruhe zu kommen, weil ihr Filme, Bücher, Theaterstücke und die Erlebnisse des Tages in den schillerndsten Farben nachgingen. Sie liebte die Aufmerksamkeit anderer Menschen und kletterte schon in frühen Jahren ungeniert zu Papa auf die Bühne hoch, wann immer sie bei einem Konzert dabei war.

Später fand sie Freude daran, ein fester Bestandteil der „Burgspielschar“ zu werden, einer Laienschauspielgruppe in unserem Wohnort. Von Kindergartentagen an liebte sie es, sich bei Aufführungen in Szene zu setzen, und ließ sich nur sehr ungern auf weniger als die Hauptrolle ein. Auch im Gymnasium wollte sie unbedingt in die „Singklasse“ ihres Jahrgangs und liebte die Auftritte dort. Sie genoss die Teilnahme an Sing-Freizeiten und die Mitwirkung beim gemeindlichen Krippenspiel in der Weihnachtszeit.

Sara hatte keine Scheu, vor vielen Menschen zu sprechen, denn Worte waren ihre vorrangige Ausdrucksform. Sie redete viel, war aber auch sehr redegewandt. Sie erfand Geschichten und schrieb sie auf, liebte es, aus spannenden Büchern vorgelesen zu bekommen und Hörspiele und später TV-Serien wieder und wieder zu hören und zu sehen. Mit neun Jahren begann sie ihr erstes Lied zu schreiben, als eine andere Sara, eine befreundete Sängerin, zu einer Studiosession bei uns im Haus war und unser Mädchen sie am Abend fragte, ob sie ihr beim Komponieren helfen würde.

Sara sang sowohl zu Hause als auch bei Freunden leidenschaftlich gerne und oft in Dauerschleife – sie war nicht zu stoppen, wenn sie ein Lied liebte.

Ich habe seit ihren Babyjahren immer an Saras Bett mit ihr gesungen, und als sie zwei Jahre alt war, ein ganz einfaches Schlaflied komponiert: „Watch Over Me“, das ursprünglich für eine englische Produktion gedacht gewesen war. Über die Jahre hat sie das Lied liebgewonnen, und als ich im Frühjahr 2014 eine deutsche Version davon geschrieben habe, bin ich dazu übergegangen, diese Fassung an ihrem Bett zu singen.

Aber schon beim ersten Mal war Sara mit dem Text nicht ganz zufrieden und fand, ich müsste zwei Reime ändern. Den Gefallen habe ich ihr gern getan, denn ihre Zeilen waren einfach besser! Im „Feiert Jesus Kids“-Liederbuch unter der Nummer 184 erschien dann 2015 „Gib auf mich acht“ – ein Lied über Schutz in der Nacht und das einzige, das ich in diesem Leben mit meiner Tochter zusammen schreiben konnte. Ich wünschte, Sara hätte das noch erlebt. Sie wäre so stolz gewesen …

Aber sie sang nicht nur ständig, sie malte auch gern – und wenn, dann meist fröhliche Bilder. Das war für uns umso bemerkenswerter, da diese Leidenschaft wohl eine Generation übersprungen haben muss. Ihre beiden Omas malen gerne und gut, aber Anja und ich haben für Pinsel, Acryl und Kohlestift wohl eher zwei linke Hände.

Sara war kämpferisch, wenn sie etwas ungerecht fand oder sich eine feste Meinung gebildet hatte. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, verfolgte sie es auch mit der unserer Familie eigenen Hartnäckigkeit.

So hat sie im Sommer 2014, nur wenige Wochen vor ihrem Tod, beschlossen, unbedingt den „Junior Open Water Diver“-Tauchschein machen zu wollen. Sie ließ sich durch keines unserer Argumente wie den hohen Preis oder die mangelnde Gelegenheit zum Tauchen bei uns zu Hause davon abbringen. Stattdessen nahm sie in ihren Ferien die sehr frühen Aufstehzeiten und das Durcharbeiten eines quälend langen Theoriebuches in Kauf, das auch die erwachsenen Kursteilnehmer lesen mussten. Den Kurs hat sie dann ganz allein durchgezogen, ohne eine Freundin oder ein Familienmitglied an der Seite zu haben. Sie war so geknickt, als kurz vor Ende des Kurses eine sich anbahnende Erkältung dem erfolgreichen Abschluss im Weg zu stehen drohte. Und stolz wie Oskar, als sie schließlich am letztmöglichen Tag am Urlaubsort doch noch das Zertifikat in Händen hielt.

Sara hatte keine Scheu davor, Dinge zu tun, auch wenn sie ihr nicht lagen. Sie war beispielsweise nicht besonders sportlich, aber nahm um ihrer Freundinnen willen sogar an Wettkämpfen teil. Sie ließ sich nicht anmerken, dass es ihr etwas ausmachte, etwas abgeschlagen unter „ferner liefen“ anzukommen, weil sie ganz im Moment sein konnte und sich sofort an den Erfolgen ihrer Freunde mitfreute.

Auch hatte sie die Gabe, rasend schnell Bekanntschaften zu schließen. Im Urlaub war sie immer die erste von uns, die andere Kinder kennenlernte. Mehrfach geschah das schon am Tag der Anreise frühmorgens in der Schalterhalle am Flughafen, während Eltern und Bruder noch Streichhölzer brauchten, um ihre Augen aufhalten zu können. Und mit der neu gewonnenen Freundin wurde dann der gesamte Urlaub verbracht.

Sara hatte eine sehr starke Bindung an unsere Familie: an mich, besonders ausgeprägt aber an ihre Mama, mit der sie ein beinahe symbiotisches Verhältnis verband. Ich vergleiche die Innigkeit ihrer Beziehung immer gerne mit der Mutter-Tochter-Beziehung von Lorelai und Rory von den „Gilmore Girls“ – eine Fernsehserie, die Sara von Herzen liebte und deren Episoden sie wieder und wieder anschaute. Anja und Sara waren ähnlich unzertrennlich, und obwohl Sara ein großes Herz hatte, in dem viele Menschen Platz fanden, gehörte ihrer Mama der Ehrenplatz.

Ein Klassiker war allabendlich die Verhandlung, wer sie ins Bett bringen darf: Sara hatte das seltene Talent, 80 % Mama und 20 % Papa so darzustellen, als wäre es in Wirklichkeit ein fairer 50/50-Split. Auch ihre Tante Maren und ihre Oma Helga wurden von ihr heiß geliebt. Diese Liebe brachte sie gern zum Ausdruck, in dem sie immer wieder kleine Kärtchen schrieb und der Person aufs Kopfkissen oder den Schreibtisch legte.

Eine dieser Grußkarten wurde für ihre Oma Helga zum Vermächtnis, die am Tag unseres Unfalls von einer mehrtägigen Auslandsreise zurückkam. Sara hatte sich wenige Tage zuvor auf der Durchreise zu unserem Feriendomizil an der Ostsee für eine Weile in Omas Schlafzimmer zurückgezogen, und als Helga am Abend ihrer Rückkehr die Bettdecke zurückschlug, fand sie eine Karte von Sara: „Ich hab dich lieb, Oma!“

Sie war in unserer Familie eine Verbinderin; sie hatte das Gemeinwohl vor Augen und ist dafür auch immer wieder Kompromisse mit ihren eigenen Vorlieben eingegangen, solange dadurch nur eine gute Atmosphäre herrschte oder möglichst viele glücklich gemacht werden konnten. Und obwohl sie für ihre Interessen kämpfte und empfundene Ungerechtigkeit deutlich beim Namen nannte, war sie selten nachtragend. Sie konnte sehr großzügig sein und teilte sogar ab und zu ihr Taschengeld mit ihrem Bruder, wenn der gerade klamm war. Gab von ihren Süßigkeiten ab, auch wenn sie die besonders gern mochte. Oft sagte sie zuerst „Nein“, und das auch mit dem ihr eigenen Nachdruck, aber am Ende half sie, teilte und lenkte ein.

Sie durchlief in unserer Kirchengemeinde, der Ichthys-Gemeinde in Frankfurt, alle Kindergruppen und war zum Schluss Teil der „Jesus Girls“ – der Glaube war schon früh ein natürlicher Bestandteil ihres Lebens. Beim Mittagessen und zur Nacht, aber auch, wenn wir auf eine längere Reise gingen, hat sie oft das Wort ergriffen und gebetet – mal aus Ungeduld, um endlich essen zu können, dann wieder, wenn die Atmosphäre gerade angespannt war. Beten fiel ihr nicht schwer.

Als ich im Jahr 2008 mein Album „Geheimnisvoller Gott“ veröffentlichte, war sie gerade fünf Jahre alt. Im Vorfeld der Veröffentlichung hat sie sich mit Anja über das Cover unterhalten, auf dem ein kleiner Junge vor einem lichtdurchfluteten Vorhang steht.

„Mama, was ist hinter diesem Vorhang?“

„Das wissen wir nicht!“

„Ich glaube doch: Gott!“

Kurz darauf, auf den Tag genau sechs Jahre vor dem Unfall, kamen wir auf Menschen im hohen Alter zu sprechen, und ich sagte: „Sara, ich kenne niemanden, der über hundert Jahre alt ist und noch lebt!“

„Ich aber. Gott ist doch über hundert Jahre alt und lebt im Himmel!“

Und irgendwann im Sommer 2013 lagen Mutter und Tochter abends gemeinsam im Bett, als Sara den denkwürdigen Satz sagte, der uns noch lange im Herzen bleiben wird:

„Mama, manchmal habe ich das komische Gefühl, dass ich gar nicht hierher gehöre – hier in diese Welt …“

KAPITEL 3

DER TAG, AN DEM DER SOMMER ZU ENDE GING

Ich halt dich fest

Wenn ein Sturm aus dem Nichts

deine Welt aus den Angeln hebt

Das Leben, das du kanntest

Löst sich von innen auf

Wenn dein Innerstes schreit

Doch der Schmerz keine Worte hat

Halte ich dich fest

Wenn du nichts mehr verstehst

Nur zurück willst, was früher war

Alles fühlt sich erstarrt an

Du weißt nicht mehr ein noch aus

Wenn die Kraft dir erlahmt

Und du nicht mal mehr essen magst

Halte ich dich fest

Halte ein, halte aus

Atme ein und atme aus

Lass mich rein, lass es raus

Ich halt dich fest, wenn du mich lässt

Wenn du mich nur lässt

Wenn das Glück, das dir bleibt

Sich beständig mit Schmerz vermischt

Die gut gemeinten Worte

Prallen einfach an dir ab

Wenn du Trauer und Wut

Nur noch tiefer im Glas versenkst

Halte ich dich fest

Halte ein, halte aus …

Bei jedem noch so schweren Schritt

versprech ich dir, ich gehe mit

An jedem noch so dunklen Tag

versprech ich dir, dass ich dich trag

Wir waren fast am Ende unserer gemeinsamen Ferienzeit an der Ostsee angekommen. Am Tag zuvor waren Anja, Sara und ich – ohne Tim, der keine Lust hatte mitzukommen – noch zu einer Fahrradtour an die Niendorfer Steilküste aufgebrochen und hatten einen schönen Tag miteinander verbracht. Wir aßen wie jedes Jahr Fisch mit Kartoffelsalat am Niendorfer Hafen, genossen die Sonne und den Ausblick und machten Fotos voneinander.

Ein besonders schönes Bild von Sara, auf dem sie mich direkt ansieht, habe ich mit der Bildunterschrift „Sara … Cola holen!“ auf Facebook gestellt. Es sollte das letzte Portrait von unserer Tochter sein.

Eine kritische Situation hatte es auf dem Ausflug gegeben, aber die war schnell vergessen: Sara und ich waren mit unseren Fahrrädern etwas unachtsam aus einer Lücke zwischen zwei Fahrzeugen herausgefahren und dabei einem uns entgegenkommenden Auto näher gekommen, als es der Sicherheitsabstand vorsah. Was uns völlig zu Recht einen kräftigen Rüffel von Anja einbrachte, die hinter uns fuhr.

Kurz vor Toresschluss haben wir bei Niederegger Torte gegessen und danach im „Dänischen Bettenlager“ noch eine große Luftmatratze für Sara gekauft, da das eine Bett im Gästezimmer unserer Ferienwohnung für beide Kinder zu klein war. Am Abend war es dann mit großer Anstrengung verbunden, das Monstrum aufzupumpen, zumal auf halber Strecke die Luftpumpe den Geist aufzugeben schien. Aber Sara hatte sich fest in den Kopf gesetzt, noch diese Nacht auf der neuen Unterlage zu schlafen, und stampfte halb auf den Blasebalg ein, halb versuchte sie es mit Mund-zu-Mund-Beatmung, und wenn sie keine Luft mehr hatte, forderte sie vollen Körpereinsatz von der gesamten Restfamilie. Am Ende war wohl genug Luft in der Matratze, um darauf schlafen zu können, aber einen Preis für die bequemste Unterlage hätte man damit nicht gewinnen können! Auch ein kaputtes Ventil vermochte unsere Tochter nicht von ihrem Vorhaben abzubringen …

Für den nächsten Tag war ein gemeinsamer Ausflug in den Hansa-Park geplant. Es wäre nicht unser erster gewesen, und als sich die Kinder dann zur Bettgehzeit kräftig in die Haare bekamen, bin ich echt sauer geworden und hab ihnen angedroht, dass sie bei einem solchen Verhalten den Ausflug vergessen könnten. Kein ganz so schönes Ende eines ansonsten sehr schönen Tages.

Und dann kam der 3. September. Als ich morgens aufwachte und den wolkenverhangenen Himmel sah, hab ich Anja gefragt, ob wir den Ausflug nicht lieber ausfallen lassen wollen. Aber an der Küste wechselt das Wetter sehr schnell, und als Anja die Frage an Sara weitergab, ob wir den Besuch des Hansa-Parks nicht verschieben wollen, kam als Antwort nur: „Nein, Mama! Wir haben uns doch schon so darauf gefreut. Aber komm noch ein bisschen unter meine Bettdecke zum Kuscheln“ – es sollte das letzte Mal für Mama und Tochter sein.

Bei Ausflügen wie diesen achte ich immer darauf, dass wir möglichst schon zur Öffnungszeit des Parks ankommen, um langen Schlangen an den Attraktionen zuvorzukommen. Meine Familie neigt eher ein bisschen zum Trödeln, deswegen war ich schon nach unten gegangen und hatte das Auto vorgefahren. Anja und Sara kamen ein paar Minuten später, nach einer Weile auch Tim, und dann fuhren wir los in Richtung unseres nächsten Abenteuers. Im CD-Player lief das Album „Ghost Stories“ von Coldplay.